Almost young

cohenZwischen 2008 und 2010 war Leonard Cohen nochmals auf Tournee, darunter auch Auftritte in Europa und vielleicht beschlich schon damals einige Zuschauer das mulmige Gefühl, dass es ja die letzte sein könnte. Im selben Jahr war er auch in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen worden. Im Herbst 2016 trat der „bibelfeste Jude aus Westmount/Montreal“ wie ihn zuletzt ein Kollege nannte seine letzte Reise und viele mögen dabei in das von ihm oft gespielte „Hallelujah“ eingestimmt haben, leise, zum Abschied eines Sängers, der eigentlich Schriftsteller werden wollte: „I did my best, it wasn’t much/I couldn’t feel, so I tried to touch/I’ve told the truth/I didn’t come to fool you/And even though it all went wrong/I’ll stand before the lord of song/With nothing on my tongue but hallelujah“. Leonard Cohen starb mit 82 Jahren und hinterließ einen „Tower of Songs“, also viel mehr als in dem Song Hallelujah anklingt: it was really much and it it still is.

Kanadischer Star der Melancholie: Leonard Cohen

In der Hippie-Ära lebte Cohen auf der griechischen Insel Hydra und versuchte dort sein schriftstellerisches Werk voranzubringen, aber aus Geldnot musste er dann doch die Bühne betreten. 1967 erschien sein erstes selbstbetiteltes Album, das vor allem aufgrund seiner tiefsinnigen Melancholie den europäischen Zeitgeist traf, denn der „Summer of Love“ war bereits in einen ernüchternden Herbst übergegangen und führte zu dem Aufbruch der Jugend von 1968, in dem die eben verloren gegangene Woodstock-Idylle neu eingefordert wurde. Leonhard Cohen verweigerte es ebenso wie Bob Dylan zum Sprachrohr seiner Generation zu werden, aber er traf dennoch den Nerv der Zeit. Der vorliegende Bildband feiert den 80. Geburtstag Leonhard Cohens im Jahre 2014 und zeigt intime Bilder aus Hydra, aber auch Konzertfotos seiner unzähligen Auftritte in Farbe und Duotone.

Wiedergeburt im Kloster in L.A.

Wie Sparschuh in seinem Vorwort erzählt, habe Cohen auch einmal den Versuch unternommen, mit seiner Olivetti unter Wasser zu schreiben – in der Badewanne. Sein Großvater sei der Rabbi Solomon Klonitzki-Kline gewesen, der lebte allerdings nicht in Kanada, sondern in Litauen. Der selbsternannte „lazy bastard living in a suit“, der nie ohne Zigarette abgelichtet wurde, schuf mit „Suzanne“, „So long, Marianne“ und „Sisters of Mercy“ Meilensteine des Songwritings und lernte seine Stimme durch Hypnose zu beherrschen: „Senken Sie Ihre stimme tiefer und tiefer, bis sie beinahe einem Flüstern gleicht“, eine Erinnerung aus Jugendjahren, die er später auch auf den Bühnen der Welt so eindrücklich beherzigte. Federico Garcia Lorca, der von den Faschisten Francos umgebrachte spanische Dichter, gehörte zu seinen dichterischen Vorbildern, aber das Gitarrespielen soll er von einem in einem Park Montreals spielenden Zigeuner gelernt haben. Woher seine Melancholie kam? Vielleicht weil er seinen Vater schon im Alter von neun Jahre verloren hatte? „Jikan“ war der Name den er in dem Mount Bald Zen Kloster 80 km östliche von L.A. erhielt: der Stille. Die Jahre im Kloster hatte er dringend benötigt, denn als er wieder zurück kam, erfuhr er, dass seine Managerin und Vertraute Kelley Lynch (nomen est omen) sein ganzes Geld beiseite geschafft hatte. Totalverlust. Ein Grund, warum er sich 2008 wieder auf Tournee begab: er wollte sich seine Pension verdienen.

Ein intimes Porträt voller schöner Eindrücke und eine wunderbare Möglichkeit, Abschied von Leonard Cohen Abschied zu nehmen, während im Kamin ein Feuer brennt und eine Flasche Rotwein entkorkt am Couchtisch steht. Auf die Frage nach seiner Wiedergeburt soll Cohen 2012 auf einer Pressekonferenz in Paris geantwortet haben: „Als Hund meiner Tochter.“

Leonard Cohen
almost young
Eine Bildbiographie
Mit einem Text von Jens Sparschuh
schirmer/mosel, 168 Seiten, 75 Abbildungen in Farbe und Duotone
ISBN: 9783829606639


Genre: Bildbiographie, Biographien, Biographien, Dokumentation, Fotobuch, Kunst, Sachbuch
Illustrated by schirmer/mosel

Köstlicher Orient

peter-heineDer kulinarische Orient ist in jedem Fall einen Besuch wert und mit vorliegendem Kochbuch “Köstlicher Orient. Eine Geschichte der Esskultur. Mit über 100 Rezepten” noch dazu ein Kinderspiel. Und außerdem: Essen verbindet! Im Sinne einer invented tradition wurde für den Hummus und das Falafel als typisch jüdisches – oder israelisches – Gericht sogar die Thora bemüht, in der von Kichererbsengerichten die Rede sein soll. Der Zionismus hatte nämlich bei der Gründung des Staates Israel die beiden Gerichte als Nationalgerichte definiert, um auch durch diese Speisen Identität für den neuen Staat zu schaffen. Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dass es sich um rein vegetarische Gerichte handelt, die keinerlei religionsbedingte Probleme für die beiden größten Bevölkerungsgruppen Israels befürchten ließen. Aber die Reaktionen der nicht-jüdischen Bewohner Israels ließ nicht lange auf sich warten: „Sie haben uns nicht allein unser Land genommen. Nun nehmen sie auch noch unsere Küche.“, soll der syrische Soziologe und Kenner der arabischen Küche Sadiq al-Azm beklagt haben, schreibt Peter Heine in seiner Geschichte der orientalischen Esskultur und veranschaulicht damit deutlich, dass selbst das Essen ideologisch benutzt werden kann – von beiden Seiten!

Khmar oder nabidh?

Das arabische Dorf Abu Gosh soll daraufhin einen Humus in einer Satellitenschüssel von sechs Metern angerichtet haben, in dem 10 452 kg von dem Aufstrich angerührt wurden. Der Libanon wollte damit Israel den Titel des Nationalgerichtes wieder abjagen, aber immerhin kam es auf diese Weise zu keinem Krieg, denn auch dafür sind Kochrezepte gut: sich der gemeinsamen Ursprünge bewusst werden und die Unterschiede zu pflegen. Darauf legt auch der Verfasser des vorliegenden Kochbuches mit vielen Rezepten sehr viel Wert, wenn er schon im Eingangskapitel erklärt, warum auf „Schwein und Wein“ verzichtet wird. Auch das rituelle Schlachten auch als Schächten bekannt wird erklärt und darauf hingewiesen, dass es in manchen europäischen Ländern immer noch verboten ist und die Muslime mancher Länder das halal-Fleisch deswegen importieren müssen. Weniger Einigkeit gibt es da schon beim Wein, denn im Koran steht zwar vom Verbot des Traubenweins (khamr) nichts aber vom Verbot des Dattelweins (nabidh). Außerdem existieren neben diesen beiden Weinen noch 148 weitere Worte resp. Bezeichnungen für Wein, was natürlich automatisch zu religiösen Spitzfindigkeiten führen kann. Aber eigentlich verbiete der Koran ohnehin nur den Rausch und nicht den Alkohol an sich, so Peter Heine. Also auf, auf einen halib al-asad!

Köstlicher Orient: Freundschaft mit Nachbarn

Fastenregeln und Fastenbrechen (Iftar) sowie das muslimische Paradies werden ebenso erklärt wie andere Regeln der orientalischen Küche. So wird im Westen der Ramadan oft falsch verstanden: eigentlich gehe es dabei nämlich darum, „in dem Familienbeziehungen, Nachbarschaften und Freundschaften intensiver gepflegt werden“. Im Verlaufe des vorangegangenen Jahres entstandene Konflikte werden in dieser Zeit durch Besuche beigelegt und mit dem gemeinsamen nächtlichen Fastenbrechen Iftar besiegelt. Eigentlich eine schöne Tradition, oder? Die vorliegende Publikation des Wagenbach Verlages ist in einem besonders schönen Umschlag auf Leinen gedruckt verpackt, damit etwaige Kochflecken auch schnell wieder abgewischt werden können. 1500 Jahre orientalische Küche und Essgewohnheiten mit über 100 Rezepten zum Nachkochen, genießen Sie mit Peter Heines Anleitung Falafel, Hummus und Döner, Couscous, Dolma und Marzipan und viele andere Köstlichkeiten des Orients.

Peter Heine

Köstlicher Orient

Eine Geschichte der Esskultur. Mit über 100 Rezepten

Sachbuch. 2016

240 Seiten. 16 x 24 cm. Bedrucktes Leinen

Zweifarbig gedruckt und mit sehr vielen Abbildungen

29,90 €

ISBN 978-3-8031-3661-9

Verlag Klaus Wagenbach


Genre: Kulturgeschichte, Ratgeber, Volkskunde und Brauchtum
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Twin Peaks 3.0.: Das langersehnte Wiedersehen

reclamMit dem Ausspruch „If you miss it tonight, you won’t know what everyone’s talking about tomorrow“ warb der amerikanische Sender ABC für die zweite Staffel der wohl besten Serie über einen der „wunderbarsten und zugleich seltsamsten Orte“ des Nordwestens der USA und wenn 2017 das Twin Peaks Fieber anlässlich der dritten Staffel wieder ausbrechen wird und alle Münder nach einem „Damn Good Coffee“ und Kirschkuchen verlangen werden kann man sich jetzt schon sicher sein, dass die TV-Landschaft danach wieder nicht mehr dieselbe sein wird. Schon vor 25 Jahren revolutionierte Twin Peaks nämlich das Genre indem es das Zeitalter der „Autorenserien“ eröffnete und das Ende des Mediums zweiter Wahl einläutete. Twin Peaks 3.0 wird von Showtime ausgestrahlt werden und wahrscheinlich wieder in 30 Episoden aufgeteilt sein. Mit dabei sind natürlich wieder die Gründer der Serie allen voran David Lynch und Mark Frost sowie Kyle MacLachlan als Special Agent Dale Cooper.

Twin Peaks: Hommage an den Cliffhanger

„I will see you again in 25 years“, sagte Laura Palmer in der surrealen Traumsequenz der finalen Episode vom 10. Juni 1991 und tatsächlich wird es nun beinahe auf den Tag genau zu einem Wiedersehen kommen. Grund genug dafür, das bisher Geschehene nochmals auf 100 Seiten zusammenzufassen und in die nunmehr ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Ereignisse erneut einzutauchen. Dabei hilft nun besonders der hier vorliegende kleine Reclam-Führer der nicht nur mit genauen Personenbeschreibungen, sondern auch schönen Grafiken zu Twin Peaks aufwartet. Zudem erfährt man natürlich auch, was in der Dritten Staffel geschehen wird und wer alles wieder mit dabei sein wird, aber auch was in den vergangenen 30 Episoden alles geschehen ist. Mit dem Satz: „Und da gibt es diesen Wind, der durch die Bäume streift“ soll David Lynch damals den ABC-Programmverantwortlichen davon überzeugt haben, sich an die Serie zu wagen, die damals alles bisher in der TV-Geschichte Dagewesene in den Schatten stellte. Leider war es dann auch ABC, die für den Einbruch der Einschaltquoten verantwortlich war, als der Mörder von Laura Palmer schon in der 18. Episode gestellt wurde. Natürlich war für den Einbruch auch die Sendeplatzverlegung auf den „graveyard slot“ verantwortlich, aber sicher nicht die Serie selbst, die man auch als Hommage an den Cliffhanger bezeichnen könnte.

2017: Give Peaks a chance!

Die vorliegende liebevoll zusammengestellte Publikation erzählt auch vom COOP (Citizens Outraged at the Offing of Peaks), die 1991 schon „All we are saying is give Peaks a chance“ skandierten. Auch Kritik an der zweiten Staffel ist zu vernehmen, die cinematographischen Vorbilder der Serie werden genannt sowie die Twin Peaks eigene Magie erklärt, etwa schon beim Vorspann: „mit seinen sanften Überblendungen steht für die Entdeckung der Langsamkeit, Entschleunigung, Kontemplation, für eine Traumreise, er erzeugt eine hypnotische Wirkung, lässt einen eintauchen in eine fremde Welt, entführt einen an einen idyllischen Meditationsort“. Wenn der Vorspann dann verklungen ist, sei man in einer Traumwelt angekommen, in der immer wieder die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt würden.

Die Reihe “100 Seiten” erscheint bei Reclam als Taschenbuch im Format 11,4 x 17 cm auf 100 Seiten und enthält auch einige Abbildungen. Weitere Themen der Reihe sind: Asterix, Superhelden, David Bowie, Reformation, JOhn F. Kennedy, Resilienz u.v.a. Themen mehr.

 

Gunther Reinhardt

Twin Peaks. 100 Seiten

Broschiert. Format 11,4 x 17 cm

100 S. 7 Abb. Reclam Verlag

ISBN: 978-3-15-020421-4


Genre: Agentenroman, Biographien, Biographien, Kriminalromane, Kult, Kulturgeschichte
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Die Wahrheit sagen

Leben und Lieben in Zeiten des Krieges

formánek_mluviti-pravdu_coverJosef Formáneks zweiter Roman. In einer Straßenbahn auf die Welt gerutscht wurde der kleine Bernhard Mares von seiner Mutter bald weggegeben und seinem Schicksal überlassen. Mehr aus Zufall denn Überzeugung landet der „Sudetendeutsche“ bei der Waffen-SS und ist dort zwar nur der Fahrer, aber dennoch auf der Seite der Gewinner. Vorläufig. Als Kind hatten ihn seine tschechischen Klassenkameraden immer gehänselt, weil er der Deutsche war, als Erwachsener merkt er, dass er vielmehr Österreicher ist oder eigentlich sogar Tscheche. Und beinahe am Ende seines Lebens, auf der Suche nach seiner verschollenen Mutter in Caracas, findet er heraus, dass er eigentlich Jude ist. Sein ganzes Leben erzählt Mares – in einer Art Lebensbeichte – dem Schriftsteller Josef Formánek, der sich mit diesem auch im Buch im Dialog befindet. Selbst gezeichnet von seiner Alkoholsucht und dem gleichzeitigen Ekel und der Faszination an seiner Figur gelingt es Formánek ein wahrhaftiges Porträt eines Menschen zu zeichnen, das ehrlicher nicht sein könnte. Nicht umsonst lautet der Titel ja: „Die Wahrheit sagen“.

Wahre Liebe wartet

Der vielschichtige zweite Roman des tschechischen Schriftstellers, der gleichzeitig auch einen Verlag gegründet hat, um die Literatur seines Landes in der Welt besser bekannt zu machen, beginnt auf einer Müllhalde wo der Journalist dem Protagonisten begegnet. Der eine will eine Geschichte, der andere seine Sophie zurück. Die Liebschaft aus den Tagen bei der SS ist eigentlich auch der rote Faden dieses Lebens, denn eine wirkliche wahrhaft große Liebe kann einem tatsächlich das Leben retten. So geschehen im Falle Bernhard Mares, der zwanzig Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte um dann als „letzter deutscher Soldat des Zweiten Weltkriegs aus der Gefangenschaft entlassen zu werden“. Das war erst 1969, das Jahr in dem Josef Formánek gerade seinen ersten Schrei in die Welt abgab. Denn obwohl es Mares nach dem Krieg bis zum kommunistischen Kreissekretär gebracht hatte, holte ihn doch die Vergangenheit ein. Eine seiner Liebschaften hatte ausgeplaudert, dass er früher einmal bei der SS war. Aber die große Liebe, Sophie, die trifft er immer wieder, wegen ihr bricht er sogar dreimal aus dem Gefängnis aus, nur um sie wieder zu “im Heustadel zu lieben” wie einst. Die Liebe ist aber genauso unmöglich wie sein Leben und am Ende, bei der letzten Begegnung in einem Prager Café muss wohl auch er einsehen, dass er sich getäuscht hat. Oder doch nicht? “Warum?” frägt er sie zuletzt noch, ihre Antwort: “weil es sonst ewig so weitergegangen wäre”. Lesen Sie es selbst wie Mares rückwärts: “remmi rüf”.

Einsiedlerkrebs auf Quartiersuche

Die Sprache des Romans erinnert an Bukowski, Céline, Kafka und zuletzt auch Hrabal, denn sie ist geradlinig, ehrlich und nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Stilistisch ist es als Dialog konzipiert, der immer wieder von lateinischen Zitaten und Sinnsprüchen unterbrochen wird. Der aufmerksame Leser wird auch bemerken, woher diese Sprüche stammen, wie sie den Krieg überlebten und wo er sie sich hinstecken kann. Die Reflektionen Formáneks, seine Gedanken über den Sinn des Lebens, die Liebe und den Tod, die er Mares in den Mund legt, sind prätentiös und wahrhaftig und reißen einen tatsächlich vom Hocker, etwa wenn er die Geschichte des Einsiedlerkrebses in seinem Kleiderkasten erzählt, der sich immer wieder größere Behausungen sucht, aber letztlich in seinem Schrank vertrocknet, weil er nichts größeres mehr findet. „Zum anderen, weil im Dunkel, in der Einsamkeit hinter dem Schrank, nicht nur Einsiedler sterben“, schreibt Formánek nicht ganz ohne Selbstmitleid. Immer wieder betont er auch, dass wir selbst die Meister unseres Schicksals wären und uns unser Leben ja auch selbst aussuchten, wie es auch in der psychologischen Richtung des Konstruktivismus heißt. „Nur in der Gegenwart, im einzelnen Augenblick kann man die Zukunft finden.“, alle Fragen nach dem Sinn seien aber sinnlos. Am Ende vergisst Josef Formánek auch nicht darauf eine von vielen Pointen einzubauen, denn als Mares von dem Buch erzählt in dem ein Computer die Wahrheit über den Sinn des Lebens errechnet und ihn dann ausspuckt lautet die Antwort im Gegensatz zum Original nicht „42“, sondern „48“, das Jahr in dem die Kommunisten die Tschechoslowakei für sich reklamierten.

Ein tiefsinniger Roman, den man gelesen haben muss, da er in seiner Vielschichtigkeit und Ehrlichkeit mindestens so viel über den Sinn des Lebens vermittelt, wie die lateinischen Zitate, die der Autor so gerne verwendet: Victrix fortunae sapientia (Siegerin über das Schicksal ist die Weisheit).

Josef Formánek
Die Wahrheit sagen. Brutaler Roman über die Liebe zum Leben.
Gekko Verlag
480 Seiten
ISBN-13: 978-8090635401
23 Euro


Genre: Biographien, Briefe, Dokumentation, Dystopie, Erinnerungen, Liebesroman, Memoiren, Politische Romane
Illustrated by Gekko

Alles schick in Kreuzberg?

Alles schick in Berlin? Wer Berlin liebt, wird gerne mit dem Verleger und Autor Klaus Bittermann durch sein Viertel Kreuzberg flanieren, das unlängst mit dem Ost-Bezirk Friedrichshain zu einer Verwaltungszone vereint wurde. So soll Ost und West zusammenwachsen und (wieder)vereinen was einst getrennt. Dass das aber nicht unbedingt immer friktionslos geschehen muss, erzählt Bittermann in kurzen Episoden aus seinem Alltagsleben, in denen der passionierte Flaneur sich inbesondere mit Touristen, Pennern und Gentrifizierten auseinandersetzt. Bittermann, der seit 1981 in Berlin lebt, kennt seine Wahlheimat und ihre Sprache, die ist oft abrupt und wirkt sehr aggressiv, aber die Berliner meinen das dann ja alles gar nicht so. Es geht eigentlich mehr darum, das Terrain abzustecken und abzuchecken wie der andere so drauf ist. Das mag für Uneingeweihte etwas ruppig wirken, für andere aber sehr witzig, mitunter auch unabsichtlich. Vielleicht ist es dem Autor ja damals auch so gegangen, als er von Kulmbach in die geteilte Stadt zog.Bittermann-SchickinKreuzberg

“Ich schwör! Echt ma’…“

Es bärlinert. Nicht nur Harry Rowohlt (Pu, der Bär) beherrscht das Idiom bei der Live-Lesung dieses Buches, das gleichzeitig auch auf CD beim selben Verlag erschienen ist. Man hört aber auch die Stimme des Autors, die beiden wechseln sich mit einigen Kalauern ab und das Publikum lauscht aufmerksam. Besonders unterhaltsam sind natürlich die Passagen, wo sich das typisch Berlinerische mit anderen Idiomen mischt, etwa wenn ein Zuwanderer von einem Baseballschlägertypen verfolgt wird und ruft: „Ich schwör! Echt ma, frag die Leute da.“ Die versammelten Polizisten – wohl bei einer 1.Mai Demo – stehen aber mit ihren Sprüchen keineswegs im sozialen Abseits. „Niemand fickt hier jemanden“ heißt der titelgebende Satz dieser Episode aus Bittermann’s Berliner Leben zwischen Absturz und Chaos. Das neueste sind nun aber keine 1.Mai-Demos mehr, sondern Flashmobs anstelle von Solidaritätskundgebungen. „Capulcu 36“ heißt es hier auf einem T-Shirt, so hat Erdogan regimekritische Demonstranten genannt und es bedeutet Marodeur. Das „36“ steht für das Viertel in dem sich das alles ereignet, der alte Postleitbezirk um das Kottbusser Tor und die verschriene Oranienstraße (nicht Oranienburger!) sind das politische Zentrum Berlins, damals, als es noch politisch war. „Aber seitdem hier ständig deeskaliert wird, kann man nicht mal mehr was Illegales machen“, beklagt sich der Flaneur ironisch provokant.

Lese- und Hörspaß

Alte FraKLAUS2uen mit Tourette-Syndrom, baseballschwingende Demonstranten, freundliche Polizisten und ein Design-Festival in Berlin, das eigentlich ja eine „contradictio in adjecto“ darstellt, wie Bittermann beflissen hinzufügt, denn eigentlich ist Berlin ja hässlich oder worin besteht der Widerspruch? Der Hangar des Tempelhofer Flughafens ist zwar eine besonders gut gewählte Location dafür, aber in den Hangar-Hallen gehen die Design-Stücke fast unter. Denn Tempelhof steht für faschistische Architektur: Schwerindustrie, Kruppstahl, Stahlstreben und –treppen. Aber auch für die Rosinenbomber nach dem Krieg. Die CD-Lesung mit dem Titel „Möbel zu Hause, aber kein Geld für Alkohol“, worauf auch einige Passagen aus „Alles schick in Kreuzberg“ enthalten sind, sowie das Buch sind in der Editon Tiamat erschienen. Auch auf dieser 140-minütigen (zweiten) DoppelCD des leider kürzlich verstorbenen Vorlesers Harry Rowohlt verteidigt er seinen Ehrentitel „Paganini der Abschweifung“ (Titel der ebenfalls bei Tiamat erschienen 1. CD) und berlinert, flucht, schreit, schimpft oder flötet liebevoll Bittermanns Beobachtungen in der neuen deutschen Hauptstadt. Ein kurzweiliger Lese- und Hörspaß für einen lustigen Sommer, vielleicht ja in Berlin?

Klaus Bittermann
Alles schick in Kreuzberg.
Unter Touristen, Pennern, Gentrifizierten.
Edition Tiamat Critica Diabolis 212, 2016


Genre: Humor und Satire, Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Edition Tiamat Berlin