Ed King

Guterson / Ed King Ed King, der fünfte Roman des amerikanischen Bestseller Autors David Guterson, sorgte in seiner Heimat bereits für reichlich Schlagzeilen. Die Fachzeitschrift Literary Review verlieh ihm den Preis für die schlechteste literarische Beschreibung einer Sex-Szene. Wenn das nicht Erwartungen weckt. Genau wie das Thema des Buches. Ödipus in die Moderne transferiert. Es braucht wohl neben guten Nerven auch eine besondere Form literarischer Obsession, das Wagnis einzugehen, ein Motiv aus der klassischen Antike zu entlehnen. Das Fazit vorab: Es ist Guterson durchweg gelungen, des Königs Drama neu, relevant und glaubwüdig ins 21. Jahrhundert zu übertragen. Schlechter Sex hin oder her.

Gutersons König ist kein Royal per se, sondern sein zeitgenössisches Äquivalent. Ein Milliardär und Hightech-Titan. Ed King ist das Ergebnis einer flüchtigen Affäre zwischen einem verheirateten Mann und einem jungen Au-pair-Mädchen. Auf einer Türschwelle abgelegt, von einem wohlmeinenden, gut situierten Ehepaar adoptiert, mathematisch hochbegabt. Strotzend vor Selbstvertrauen, bar jeden Zweifels nutzt er die Chancen seiner von Technologie besessenen Zeit und steigt auf zum König der Suchmaschinen. Er führt das beste Leben, das man für Geld kaufen kann, “der Wind der Freiheit weht aus seinen Servern“. Und doch bleibt ihm am Ende nur die Frage, was ihm all die technischen Errungenschaften genutzt haben, wenn er vor der Unveränderbarkeit fundamentaler Gewissheiten menschlicher Natur steht.

Ed King ist ein schillerndes Buch. Guterson nimmt den Leser mit auf einen mal traurigen, mal wilden Parforceritt durch die letzten fünfzig Jahre amerikanischer Geschichte. Der Leser kennt zwar den Zielort, doch der Weg dorthin ist wie eine literarische Route voller Sehenswürdigkeiten. Manche Handlung ist arg weit hergeholt, doch die Persönlichkeiten und das Verhalten seiner Figuren sind immer glaubwürdig und dabei sympathisch. So ist Diane, die tragische Mutter und Ehefrau, zwar ein ausgekochtes Rabenaas, aber eins, das man mögen muss. Guterson erzählt von normalen Menschen, die ihr Bestes geben, um sich durch ihr Leben zu kämpfen. Er bündelt seinen Roman aus einzelnen Erzählsträngen, jeder einzelne in Ruhe auserzählt und am Ende eines jeden Kapitels lakonisch zusammengefasst. Seine bisherigen Romane waren oft getragen von einem elegischen, fast melancholischen Ton. Die Prosa in seinem neuen Roman ist gewohnt gestochen scharf, mit elegisch oder melancholisch ist aber größtenteils Schluss. Er erzählt gewinnend gutmütig, ab und an mit dreckigem Humor gewürzt, absichtlich ins Lächerliche abdriftend. Auch wenn er gelegentlich zwar nicht gerade die Moralkeule schwingt, den mahnenden Zeigefinger hebt er durchaus. Es ist schließlich eine Jahrtausende alte Geschichte, eine von denen, die uns sagen, dass man hingehen und Tabus brechen kann, dass man aber den Folgen von Hybris, übermäßiger Arroganz und lang zurückliegender Sünden nie ausweichen kann.

Ob der rasanten Handlung läuft man oft Gefahr, das Buch schneller zu lesen, als ihm gut tut. Man riskiert dabei, etliche klug versteckte Anspielungen – beispielsweise bei der Namensgebung handelnder Personen oder Erfindungen – zu überlesen. So gönnt der Autor sich einen äußerst geschickten Cameo-Effekt in Gestalt von Ed Kings Privat-Piloten Guido Sternvad. Dieser Pilot geht dem Leser mit seinem nicht enden wollenden Spaß an Anagrammen unsäglich auf die Nerven – bis man dahinter kommt, was ein mögliches Anagramm von Guido Sternvad wäre..Man kann nicht anders, als Guterson für diesen geschickten Schachzug zu bewundern. Ausgerechnet der Wegbereiter, von Ed King auch seine persönliche schwarze Nemesis genannt. Solcher Rätsel durchziehen den Roman wie ein roter Faden und machen, auch gerade weil sie reichlich Allgemeinwissen und Kenntnis klassischer Geschichten voraussetzen, einfach Spaß.

Und der bad sex in fiction award? Zugegeben – Sexszenen sind Gutersons Stärke nicht. Mit etwas bösem Willen ließen sich seine hölzernen Umschreibungen auch direkt auf jedes beliebige zu verrichtende Handwerk übertragen. Aber geschenkt. Die Literatur hat schon weit schlechtere Szenen dieser Art hervorgebracht. Auch wenn der Autor den Leser kurz vorher direkt anspricht. “Also gut, wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist” und vermutet, dass es wegen voyeuristischer Neugier auf eine Sexszene zwischen Mutter und Sohn sei – weit gefehlt. Die Erwartungshaltung, mit der man an ein Buch zu diesem Thema herangeht, beinhaltet andere Erregungszustände als ausgerechnet solche sexueller Art. Das Interessante, das Gelungene an Ed King ist, wie er dieses Jedem bekannte Motiv in die Moderne überträgt und die Spannung durchweg hält. Die Frechheit und die Chuzpe, mit der der Autor an das vermeintliche übergroße Thema herangeht, sind das halbe Lesevergnügen. Der Autor kommentierte die zweifelhafte Auszeichnung im übrigen mit der Aussage, Ödipus habe schlechten Sex praktisch erfunden. Er sei also nicht im Mindesten überrascht. Umso überraschter dürften etliche auch seiner treuen Leser dafür über sein gewagtes, aber im Großen und Ganzen gelungenes neues Buch sein.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Das geheime Prinzip der Liebe

40096_1_gremillion_bb_web1Ein ungewöhnlicher Brief erreicht die junge Verlegerin Camille in Paris. Ein langer Brief ohne Unterschrift, aber an sie persönlich adressiert. Sie findet ihn unter den Kondolenzschreiben zum Tode der geliebten Mutter. Der Brief drückt kein Beileid aus, er berichtet von den bittersüßen Anfängen einer Geschichte aus längst vergangenen Tagen. Camille glaubt zunächst an eine Verwechslung. Doch sie erhält weitere Briefe, immer pünktlich an einem Dienstag. Ihr Argwohn ist geweckt, möglicherweise hat sie es mit der besonders raffinierten Methode eines Autors zu tun, der ihr auf diese Weise sein Manuskript anbietet. Gegen ihren Willen ist sie von der Geschichte gefesselt. Sie beginnt zu verstehen, dass “Geheimnisse doch nicht mit denen sterben, die sie getragen haben”. Lange wehrt sie sich gegen den in ihr aufkeimenden Verdacht, sie selbst könne weit mehr mit der Geschichte zu tun haben, als ihr lieb ist. Nur zaghaft beginnt Camille, den verschlüsselten Hinweisen in den Briefen zu folgen.

Die Briefe schreibt ein geheimnisvoller Louis, er erzählt die Geschichte einer fatalen Frauenfreundschaft. Er erzählt von seiner Lebensliebe Annie, einer jungen, begabten Malerin, mit der er gemeinsam in einem kleinen Dorf unweit von Paris aufwächst. Annie freundet sich mit Elisabeth, auch Madame M. genannt, an. Eine weltgewandte Dame, die kurz vor Ausbruch des 2.Weltkrieges mit ihrem Ehemann das Herrenhaus im kleinen Dorf bezieht. Madame M. erkennt das Talent der jungen Annie. Sie wird ihre Mäzenin und stellt ihr im Herrenhaus ein “Zimmer ohne Wände” zur Verfügung. Die Gönnerin ist eine unglückliche Frau, ihr sehnlichster Wunsch – ein Kind – bleibt ihr verwehrt. Noch dazu treibt sie ihr gesellschaftliches Umfeld zur Verzweiflung. “Macht Kinder! Die Verluste von 1914 müssen ausgeglichen werden.” Es ist Annie, die der von ihr verehrten Madame M. einen Ausweg bietet und sich aus Dankbarkeit bereit erklärt, ein Kind für sie zu empfangen und auszutragen. Doch “Irrtümer beruhen oft auf Überzeugungen” und was als Freundschaftsdienst entstand, entwickelt sich bald nicht mehr zur geheimen Kraft der Liebe, sondern zu ihrer zerstörerischen. Vor dem Hintergrund des erbarmungslosen Weltkriegs beginnt eine ebenso erbarmungslos geführte private Schlacht, ausgetragen um ein infames Konstrukt aus Lüge, Hass, Rivalität und Manipulation, welches seine grausamen Kreise bis in Camilles Gegenwart zieht.

Das “geheime Prinzip der Liebe” ist ein Roman, der auch von unvorhersehbaren Wendungen und Erkenntnissen lebt, die dem Leser erst Schritt für Schritt klar werden. Die manchmal groteske, aber immer realistisch anmutende Geschichte wird von gleich vier Ich-Erzählern entschlüsselt. Erst ganz zum Schluss meint man, wirklich alle Zusammenhänge verstanden zu haben. Vorausgesetzt, die eigene Phantasie hat einem keinen Streich gespielt. Somit eins der Bücher, über die man vorab nicht mehr als oben getan verraten möchte, um seine sorgsam komponierte Wirkung nicht zu schmälern. Es ist ein beeindruckender, manchmal bedrückender, manchmal berückender Roman, den die Französin Hélène Grémillon als ihr Debüt vorlegt. In Frankreich ist das Buch bereits ein Bestseller, in Deutschland soeben erschienen schickt es sich an, in mehr als 20 Sprachen übersetzt zu werden und die geheime Kraft des Buches global zu entfalten. Der Roman beginnt vorsichtig, fast zart, um bis zu einem leichten Aufatmen am Schluss den Leser zunehmend in den düsteren Bann eines verhängnisvollen Dramas zu ziehen. Mit einer eleganten, aber nicht charmanten Sprache spielt die Autorin eindringlich mit dem Grundgedanken der Ambivalenz. Sie führt dem Leser erschreckend klar vor Augen, dass Schuld und Sühne, Opfer und Täter nur zwei Seiten einer Medaille sind. “Es sind nicht die anderen, die uns die schlimmsten Enttäuschungen bereiten, sondern der Zusammenprall der Wirklichkeit mit unserer überschwänglichen Phantasie.” Die Charaktere sind überzeugend gezeichnet, mit fortschreitender Handlung ändert sich das Bild, dass der Leser von ihnen hat. Alleine dadurch, dass sie ihr Handeln erklären, wandeln sich die empfundenen Sympathien und Antipathien fast mit jedem neuen Kapitel. Das andere, große Thema der Autorin ist die Lüge, genauer die Lebenslüge. Eine Lebenslüge, die sich fortsetzt und nie “zu einer unverrückbaren und über jeden Verdacht erhabenen, endgültigen Wahrheit” wurde. Eine Lüge, deren zerstörerische Kraft nur dann aufgehalten werden kann, wenn irgendwann der Erste den Mut aufbringt, sie zu beenden.

Fazit: Wer sich gerne überraschen lässt, wer gerne eigene Theorien –zur Geschichte und den Leitmotiven- immer wieder umstößt und neu überdenkt, ist mit diesem Buch bestens beraten. Zum Schluss eine Warnung: Es besteht große Suchtgefahr. Jedem, der dieses Buch zur Hand nimmt, sollte klar sein, dass es die geheime Kraft des Buches ist, es kaum mehr aus der Hand legen zu können. Die Autorin versteht es meisterlich, den Leser in den Bann ihrer Geschichte zu ziehen. Mit Sicherheit kann man schon jetzt sagen, dass mit dem “geheimen Prinzip der Liebe” eines der beachtlichsten Debüts des Jahres vorliegt.

Die Autorin: Die studierte Literaturwissenschaftlerin Hélène Grémillon hat sich in Frankreich bisher vor allem als Drehbuchautorin einen Namen gemacht, was der sorgsam komponierten Dramaturgie des Buches zugute gekommen sein dürfte. Im Poitou geboren, lebt sie heute mit dem Sänger Julien Clerc und ihrem Sohn in Paris. In Frankreich wurde sie für ihr Debüt mit dem Prix Robles ausgezeichnet

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Je schneller ich gehe, desto klener bin ich

skomsvold“Ich habe schon immer gern Dinge zu Ende gebracht. Ohrenwärmer. Sommer. Herbst. Frühling. Winter. Epsilons Berufsleben. Die Sachen erledigt.”

So beginnt ein kleiner, feiner, außergewöhnlicher Roman der jungen Norwegerin Kjersti A. Skomsvold. Ihre Heldin Mathea Martinsen ist fast hundert Jahre alt und am liebsten würde sie sich einfrieren. Solange, bis sie sich überlegt hat, wie sie den Rest ihrer Lebenszeit am besten nutzen kann. Epsilon – so nannte sie ihren vor kurzem verstorbenen Mann und so wie er lebenslang ihr Maßstab, ihre Orientierungsmarke war, so orientiert sie sich nun am Epsilon als statistische Einheit. Sie resümiert ihr Leben, ihre Ehe und wird gewahr, dass nichts von ihr überdauern wird, dass sie ihre Lebenszeit nicht genutzt hat. Sei es aus Überdruss, aus Schüchternheit, aus Bequemlichkeit. So ganz kann sie das selber nicht mehr klären. Gerne würde sie etwas hinterlassen, damit die Nachwelt weiß, dass sie überhaupt gelebt hat. Schliesslich leben momentan mehr Menschen auf der Welt, als jemals gestorben sind. Und da wäre es doch “fein, das Zünglein an der Waage zu sein”. Aber ist eine vergrabene Kiste, ihr Brautkleid und Legionen von für Epsilon gestrickte Ohrenwärmern enthaltend, dafür ein probates Mittel? Obwohl sie in ihrem (Ehe-)leben nur ein einziges Mal Besuch erhielten, versucht sie nun eine zaghafte Annäherung an ihre Mitmenschen. Eigentlich geht sie nur aus dem Haus, bevor sie sich durch ihren Türspion versichert hat, dass ausser ihr niemand im Treppenhaus ist. Nun grüßt sie mutig den Mann ohne Namen im Wald, sogar dem Nachbarn, den sie ihr Leben lang nur von oben herab gesehen hat, leiht sie Zucker. Mutig geworden geht sie gar zu einem Senioren-Kaffeeklatsch mit Bingo “Vergnügen” – und scheitert. Wieder einmal an ihrer eigenen Unsichtbarkeit, in langen Jahren zur Perfektion ausgebildet. Sie gehört nicht zu der Spezies, die Kuchen bekommen und ihre Jacke wird als Kuriosität versteigert.

Kjersti A. Skomsvold erzählt mehr ein versponnenes Märchen denn eine Handlung oder gar eine Biographie. Anrührend, bisweilen recht vergnüglich erzählt sie von der Kunst des Lebens und Sterbens und dem Scheitern an diesen Künsten. Noch vor dem bittersüßen Ende kommt Mathea zu der Erkenntnis “so muss es sein, wenn man tot ist, wie als man noch nicht geboren war, und das war ja nicht die schlechteste Zeit.”
Die junge norwegische Autorin hat ein ganz beachtenswertes Debüt geschrieben, in Norwegen viel bejubelt – und ja, zumindest dort schon mit Preisen dekoriert. In diesem Bücherherbst ist viel von gescheiterten Lebensentwürfen zu lesen. So auch in diesem. Dennoch ist es nicht ein weiteres zu dieser Thematik, denn es ist gleichzeitig auch ein Buch, welches Hoffnung mitgibt – zudem so einige Wahrheiten und Erkenntnisse über das Leben.

In Presseberichten wurde Mathea eine rührende alte Dame voller Weisheit genannt. Das kann ich so nicht sehen. Es ist nicht rührend, eigentlich ist es erschütternd. Man liest das Buch mit einem Schmunzeln, kann sich aber des traurigen Mitleidens für die des Lebens so unfähige Mathea und ihres dadurch sehr eingeschränkten Epsilon nicht erwehren.
Jeder Leser wird nach der Lektüre seine eigene Interpretationsmöglichkeit des sperrigen Titels finden, jeder Leser wird die Geschichte auch auf seine eigene, auf ihn selbst gemünzte Art interpretieren. Und das ist sicher die eigentliche Kunst des Buches. Es regt zum Nachdenken an – und zu eigener Entscheidungsfindung.

Ich hatte in diesem Portal schon eindringlich die Bücher der norwegischen Ausnahme-Autorin Anne B. Ragde empfohlen. Die junge Osloerin schickt sich an, in ihre Fußstapfen zu treten. Kjersti A. Skomsvold beweist in meinen Augen einmal mehr, dass es sich lohnt, die skandinavische Literatur jenseits der Krimis und Thriller für sich zu entdecken. Ich bin mir sicher, von ihr wird noch viel zu lesen sein.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Der Seiltänzer

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Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas in Münster begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen. Diese Fahrt, von mehreren Anlaufstellen unterbrochen, wird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, “viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer” als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend “dass es kein ungefährlicher Bund für ihn” ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann “über dem das Seil aufgespannt ist, auf dem er geht.”

Michael Göring erzählt in einer sehr klaren, fast nüchternen Sprache von Wendepunkten, vom sich Entscheiden müssen, von den Anfechtungen des Alltags, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters. Er blickt dennoch liebevoll und wohlwollend auf seine Protagonisten und bewahrt seine Erzählung so vor einem bitteren Unterton. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Die Rückblenden beginnen in den frühen Siebzigern und werden mal aus Andreas’, mal aus Thomas’ Perspektive erzählt. Thomas übernimmt dabei den Part des Skeptikers und Mahners. Die Geschehnisse in der Gegenwart – (im Roman Frühjahr 2010) werden bis auf die allerletzte Seite ausschließlich aus der Sicht von Andreas erzählt und vermitteln ein sehr eindringliches Bild von Problemen und Anfechtungen, die in unserer Zeit sehr ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld und Generalverdacht führen können. Darüber hinaus vermittelt er in seinem Buch noch eine Erkenntnis, der nicht wenige aus täglichem Erleben heraus zustimmen werden. Kirche als Institution wird heute kaum mehr gehört und akzeptiert. Auch nicht von denen, die den Wunsch, ihren Glauben zu leben, noch nicht aufgegeben haben. Kirche ist für die meisten nur noch die Gemeinde vor Ort. Nicht mehr, aber eben doch auch nicht weniger.

Als Dreingabe neben all diesen “schweren” Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Ein Unterfangen, um das sich noch nicht allzu viele Autoren verdient gemacht haben.

Zum Ende hin verliert der Roman etwas von seinem Schwung, die Dialoge auf den letzten Seiten wirken auf einmal gestelzt und zu bemüht. Auch das Ende selbst – es hat mir so nicht gefallen. Um es westfälisch zu sagen, es war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches. Ohne zuviel verraten zu wollen – es ist völlig in Ordnung und auch folgerichtig, wenn der Autor die allgemeingültige Lösung nicht geben will. Mir als Leser wäre es jedoch wesentlich lieber gewesen, er hätte sich klar zum offenen Ende bekannt.

Mein Fazit: Der Seiltänzer ist ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema, dem Erfolg zu wünschen ist. Nicht zuletzt verbunden mit dem Wunsch, dass die überfälligen Diskussionen in der katholischen Kirche wieder aufleben – wenn möglich auf einer sachlicheren und weniger von persönlichen Eitelkeiten geprägten Ebene als zuletzt. .

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Für ‘ne Moment

mit Oliver Kobold – Autobiographie

W.N. Für ne Moment »… und was in der Gegenwart einzelne Momente sind, ordnet sich in der Erinnerung zu einer Geschichte, die unerschütterlich behauptet: Das bist du, das ist dein Leben«

Wolfgang Niedecken (im folgenden W.N.), Frontmann, Gründungsmitglied der legendären, seit Jahrzehnten bestehenden Kölsch-Rock-Band BAP erzählt. Von diesen Momenten. Momentaufnahmen einer Kindheit zwischen Trümmern und dem Lebensmittelgeschäft der Familie unter dem heiligen Severin im Nachkriegs-Köln. Von Jahren in einem katholischen Konvikt und der Rebellion gegen Autoritäten und auch seinem Vater. Von seiner Liebe zur Kunst und Malerei, den ersten Ausstellungen und der 70erJahre Kunstszene, schon damals begleitet von späteren auch musikalischen Weggefährten. Von den ersten unbeholfenen musikalischen Gehversuchen und der bei allem Dilettantismus daraus resultierenden fast schon religiös anmutenden Befriedigung. Von den Anfängen der Kölsch-Rockern und den späteren Erfolgen mit BAP. Von Unruhe in der Seele, dem ständigen Getriebensein zwischen Start und Ziel. Von Wendepunkten und Zufällen, von Liebe und Verantwortung. Von Heinrich Böll und Wim Wenders. Von den geplatzten Konzerten in der DDR und den Auftritten in China und Nicaragua. Von Afrikareisen und den aus dem Mut der Verzweiflung von Noh Gulu entstandenen Hilfsprojekten.

W.N. erzählt all dies, so wie er spricht. So wie er eben auf der Bühne seine Geschichten und Hintergründe zu den Songs erklärt. Oft genug findet der aufmerksame Leser und geübte Bap-Hörer auch Zitate aus seinen Songs, so daß man erfreut auch diese Stücke in einen Zusammenhang bringen kann. Die SongZitate sind nicht gekennzeichnet, wozu auch. Sind ja seine, brauch er sich um Urheberrechte keine Gedanken zu machen, ganz in der Tradition der in Amerika so geliebten Eastereggs.
W.N. erzählt nur bedingt chronologisch, mehr ist es so, als wenn er vom Höcksken aufs Stöcksken kommt. Für den Leser manchmal anstrengend, aber immer voller Poesie, voller Zuneigung zu denen, die ihn begleitet haben und denen, mit denen er heute seinen Weg weitergeht. Es ist ein liebevoller Blick zurück auf ein erstaunliches Leben, welches er selbst sich eigentlich ganz anders vorgestellt hatte, brotloser befürchtet wohl auch. Der Leser, der sich ein Nachkarten über den damals vieldiskutieren Ausstieg von Klaus “Major” Heuser und anderen langjährigen Bandmitgliedern erhofft hatte, bleibt unbedient. Er spricht über diese Zeit, ebenso wie über seine erste Frau Carmen. Et ess evven so, wie et ess. Man lebt sich auseinander, entwickelt sich in verschiedene Richtungen und geht den Weg in diese alleine weiter. So einfach, so schwierig.
Ich gebe zu, als langjähriger BAP-Fan hätte ich schon ganz gerne gewusst, was aus Schmal Boecker und Effendi Büchel wurde, aber gut – ist respektiert. Auch über die musikalische Zusammenarbeit mit Anne de Wolff hätte ich gerne mehr als eine halbe Seite gelesen, doch im Großen und Ganzen war es schön, dieses Buch zu lesen. Der geneigte Fan, der auch schon seit Jahren W.N.’s Logbuch liest (und sich dadurch auch selbst zum Bloggen hat inspirieren lassen ) erfährt zwar wenig Neues, aber er begibt sich mit diesem Buch auf eine Art Zeitreise. Oft genug waren es in den vergangenen Jahrzehnten auch meine Gedanken, die ich in seinen Worten wiederfand, oft genug war ich auf den Konzerten oder Premieren, die er beschreibt, oft genug war auch ich auf den beschriebenen Demonstrationen, hörte diesselbe Musik und las dieselben Bücher, fühlte mich von der Politik und der Entwicklung dieser Jahre ebenso beeinflusst. Von daher – für den Fan sicher ein unbedingtes Muß, aber auch zu empfehlen für die, die gerne die Geschichte eines so spannenden Lebens im Nachkriegsdeutschland lesen mögen.

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Hoffmann und Campe

Buntschatten und Fledermäuse

Muß man Buntschatten für voll nehmen? fragt sich Axel, der in seiner eigenen Welt lebt. Die Menschen um ihn herum sind für ihn Fledermäuse und Buntschatten, die Geräusche und bestenfalls Klang produzieren, Gefühle und Reaktionen zeigen, die einfach nicht zu begreifen sind. Ihre Sitten und Gebräuche bleiben ihm fremd, wiewohl er zunehmend in der Lage ist, sie zu beachten.

Immer wenn er glaubt, die Buntschattengesetze endlich zu durchschauen, passiert wieder etwas Undurchschaubares. »Dummbart« wurde er als Kind genannt, nun ist Axel ein Muster-Abiturient, dem alle Türen offenstehen. Doch: Warum kann er schwierige Aufgaben der Stochastik mit links lösen, an simplen Fragen des Alltags aber scheitert er kläglich? Er kennt die Hauptstädte aller Länder dieser Erde, aber wie heißt die Hauptstadt von Geselligkeit? Wo liegt die Hauptstadt von Freundschaft? Und wie kommt man in die Hauptstadt von Verliebtsein?

Axel ist enttäuscht von sich. Schlägt denn ein steinernes Herz in seiner Brust? Nur wenn er krank ist, spürt er sich und seinen Körper, ansonsten prägt innere Abwesenheit sein Dasein. Gefühle erreichen ihn nur schwer – man kann sie nicht auswendig lernen. Wie machen Buntschatten das bloß? Axel sorgt für Liebeskummer, ohne ihn selbst spüren zu können.

Als sein Vater stirbt, ist ihm die Traurigkeit der Buntschatten unbegreiflich. Was ist dabei, in die köstliche Ruhe des Friedhofs umzuziehen? Ohne Hilfe der heulenden Buntschatten wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, an einem solchen Tag zu weinen. Als er es vergeblich versucht, wurmt es ihn, dass er bei einer so einfachen Aufgabe versagt.

Zu seinem 18. Geburtstag wünscht sich Axel nichts sehnlicher als Vollständigkeit. Endlich würden seine innere Abgeschiedenheit und Benommenheit verschwinden, um Platz zu machen für Klarheit und Einsicht. Doch auch dieser große Tag endet mit Ernüchterung …
Axel Brauns hat einen großen, schlichten Roman geschrieben. Es ist die Geschichte eines Autisten, es ist seine persönliche Geschichte. Er hat sich das Reich der Sprache souverän erobert und schafft es auf bewundernswert einfache und eindringliche Weise, Einblick in sein abgeschiedenes Leben zu gewähren. Am faszinierendsten aber erscheint der so andere Blick auf unsere eigene Welt. Wie absurd erscheint einiges von dem, was wir Buntschatten wollen und tun! Dergestalt eröffnet uns der Autor gleich zwei neue Weltenräume: seinen speziellen und unseren vermeintlich allbekannten.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe