Tyll

Vergegenwärtigung des Vergangenen

Nach vier Jahren ist mit «Tyll» wieder ein Roman von Daniel Kehlmann erschienen, der das Zeug dazu hat, an den großen Erfolg seines Bestsellers «Die Vermessung der Welt» anzuknüpfen, und auch hier wird Realität und Fiktion zu einer unterhaltsamen Geschichte verknüpft. Der Trick dabei, die Eulenspiegelei also, ist eine lässliche Schummelei des Autors: Die legendäre Figur tauchte erstmals gegen Ende des Mittelalters auf, der Roman hingegen weist dem berühmten Schelm gut hundert Jahre später eine Rolle mitten im Dreißigjährigen Krieg zu. Und um den geht es letztendlich auch in diesem historischen Roman.

Kehlmann erzählt seine Geschichte in acht Episoden, beginnend mit einem bösen Streich, bei dem Tyll Ulenspiegel den einfältigen, bisher vom Krieg noch verschonten Bewohnern einer Stadt als Schauspieler, Seiltänzer und Bauchredner das Geld aus den Taschen zieht und die euphorisierte Menge am Ende zu einem kollektiven Schuhwerfen anstiftet. Lachend über das damit angerichtete Chaos zieht der notorische Spötter mit seinem Eselskarren und den zwei Begleiterinnen weiter. Tyll stammt aus einer Müllerfamilie, erfahren wir in der Rückblende des nächsten Kapitels, sein autodidaktisch gelehrter Vater beschäftigt sich mit allerlei Zauber, mit Astrologie und Experimenten, bis er als Hexer denunziert und von einem melancholischen Henker «einfühlsam» zu Tode gebracht wird. Als junger Bengel flüchtet der heimatlos gewordene Tyll daraufhin mit der Bäckertochter Nele in die Welt hinaus, in ein durch den barbarischen Krieg verheertes Land. Sie treffen auf den bösartigen Gaukler Pirmin, der sie mitnimmt und ihnen zwar vieles beibringt, sie aber auch sehr schlecht behandelt, – bis Nele ihm schließlich ein finales Pilzgericht kocht: Einige Hände voll Pfifferlinge, gemischt mit etwas Fliegenpilz und Knollenblätterpilz. Jeden der Giftpilze allein kann man herausschmecken, weiß Nele, mit beiden zusammen aber verliert sich der verräterische Beigeschmack völlig.

Die Figur des Tyll bildet eine lose Klammer um das Geschehen im Roman, das sich kapitelweise allmählich von den Bedrängnissen der kleinen Leute hin zu den oft nicht weniger gebeutelten Majestäten entwickelt. In kürzeren und längeren Episoden wird da beispielsweise von der Schlacht von Zusmarshausen berichtet, ein in seiner Brutalität heute kaum noch vorstellbares Gemetzel, oder von den Prager «Winterkönigen», Friedrich V mit seiner schönen Gemahlin Liz, Elisabeth Stuart, Enkelin der berühmten Maria. Die tragische Geschichte dieses böhmischen Königs wird als einer der Auslöser des verheerenden Glaubenskrieges angesehen. Aber auch der faszinierenden Person des berühmten Jesuiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher ist zum Beispiel ein Kapitel gewidmet. Als, Jahrzehnte später, im letzten Kapitel, die inzwischen verwitwete und völlig verarmte Liz, die unbeirrt weiterhin kurfürstliche Rechte für ihren Sohn geltend macht, aus ihrem Exil nach Westfalen reist, zu den Friedensverhandlungen, trifft sie dort auf Tyll, Hofnarr des Kaisers. Sie bietet ihm an, mit ihr nach England zu kommen, «Um der alten Zeiten willen», wie sie sagt. «Du weißt so gut wie ich, dass der Kaiser sich früher oder später über dich ärgert. Dann bist du wieder auf der Straße. Du hast es besser bei mir.» Er erwidert: «Aber weißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben?» «Sag es mir.» «Nicht sterben, kleine Liz. Das ist viel besser.» Dem Autor gelingt hier ein versöhnliches Ende ohne jeden Kitsch, Chapeau!

Zur Unsterblichkeit dieser legendären Figur dürfte Kehlmann seinerseits einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten mit seinem kreativ erdachten und grandios erzählten Roman, der ebenso unterhaltsam ist wie bereichernd, sein bester bisher. Eine gelungene Vergegenwärtigung des Vergangenen, sprachlich brillant, herrlich leichtfüßig erzählt, dabei – gottlob – jedwedes Zeitidiom meidend, mit feiner Ironie angereichert zudem, – eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre!

Fazir: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Leere Herzen

Gescheit gescheitert

Auch in ihrem neuen Roman «Leere Herzen» finden sich erzählerische Elemente, welche typisch sind für die politisch engagierte Juli Zeh, die seit 2017, – aus Trotz, wie sie erklärt hat -, Mitglied der SPD ist, eine vehemente Kritikerin des demokratiemüden Zeitgeistes. Und so sei denn auch ihr dystopischer Roman, ursprünglich ein reines Gedankenspiel, wie sie im Interview erklärte, in den zwei Jahren seines Entstehens, zum Teil zumindest, bereits von der Wirklichkeit eingeholt worden, – als Prognose allerdings sei er trotzdem nicht anzusehen. Insoweit kann man das Buch aber, neben seinem zweifellos im Vordergrund stehenden Unterhaltungswert, auch als einen Weckruf zu politischer Teilhabe verstehen, zur Abkehr von einer um sich greifenden Politikverdrossenheit in Deutschland, mit all den fatalen Folgen für das jahrzehntelang stabile Parteiengefüge. Das Timing für diesen Roman hätte jedenfalls besser kaum sein können!

Im Jahre 2025, nach Angela Merkels Rücktritt (sic!), regiert in Deutschland die BBB, die populistische «Besorgte-Bürger-Bewegung», und breite Schichten Politikverdrossener sind mangels eigener Überzeugungen einfach in die innere Emigration abgetaucht. Als die toughe, aber ebenfalls völlig desillusionierte Britta auf den scheinbar lebensmüden Babak trifft, ein Nerd durch und durch, entsteht spontan die Idee für ein gemeinsames Unternehmen, das aktiv und wirksam in das desaströse politische Geschehen eingreifen kann. Jemand, der Suizid begehen will, so die Überlegung, könne seinen geplanten Tod doch zusätzlich auch noch zu einer wirkungsvollen politischen Aktion nutzen im Kampf gegen die verhasste BBB. Klar, die mit ihren Sprengstoffgürteln Tod und Verderben verbreitenden, islamistischen Selbstmordattentäter standen Pate bei dieser radikalen Geschäftsidee.

Und tatsächlich, der von Babak entwickelte, geniale Algorithmus fischt potentielle Kandidaten aus dem Internet, mit denen die Firma dann diskret Kontakt aufnimmt, um sie später, – nach allerstrengsten Auslesekriterien, versteht sich -, mit ausgeklügelten Trainingsmethoden auf ihren Einsatz vorzubereiten. Diese suizidalen lebenden Bomben werden als Attentäter anschließend ebenso diskret verschiedenen «Organisationen», die sehr hohe Summen dafür zu zahlen bereit sind, für robuste Einsätze angeboten. «Die Brücke» hat sich in Folge zu einer hochprofitablen Firma entwickelt und Britta und Babak sehr schnell sehr reich gemacht. Ihr todbringendes Geschäft bekommt aber plötzlich Konkurrenz, der als Politthriller apostrophierte Roman handelt im Wesentlichen von dem erbitterten Kampf gegen unbekannte Trittbrettfahrer, die unter dem Namen «Leere Herzen» einen dilettantischen Anschlag verübt haben. Anscheinend ist ihnen jedes Mittel recht, «Die Brücke» auszubooten.

Dieser lebensgefährliche Machtkampf mit seinen Thrillerelementen wird von einem auktorialen Erzähler in einer anspruchslosen, uninspirierten Sprache erzählt, zumeist in langen Dialogen. Die Charaktere sind wenig überzeugend angelegt, sie wirken blutleer und sind merkwürdig emotionslos. Bis auf die junge Julietta mit ihrer unbeirrbaren Todessehnsucht, die als einzige Empathie zu erzeugen vermag und den Erlös aus ihrem Selbstmordattentat dem Tierschutz vermachen will. Was da aber, einer wohl zeitbedingt vorherrschenden, narrativen Mode folgend, – also im Präsens -, geschildert wird, ist allerdings so abstrus, dass man als vernunftbegabter Leser sehr schnell die Lust verliert an dieser sich schlau dünkenden Dystopie. Der Plot ist grotesk überfrachtet, lässt kaum eines der gängigen Klischees aus und verbreitet, anbiedernd geradezu, seine vor Moral triefende Botschaft, – aufdringlich und plump nach der Holzhammer-Methode. Eskapistisch orientierte Leser sehen sich womöglich bestätigt in diesem desaströsen politischen Lehrstück, andere aber staunen, wie eine so gescheite Schriftstellerin so grandios scheitern kann mit dem Versuch, politische Horrorvisionen in Romanform zu verarbeiten.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Die Obstdiebin

Poetologischer Obstklau

Als «Letztes Epos» hat Peter Handke sein neuestes Werk «Die Obstdiebin» bezeichnet, darauf anspielend, dass seine Geschichte mit dem Untertitel «Einfache Fahrt ins Landesinnere» kein Roman sei, auch der Verlag meidet konsequent diesen Gattungsbegriff. Als Merkmale des Epos gelten in der Wissenschaft der für alle Leser gleichermaßen verbindliche Sinnhorizont, ein allgemeingültiges Weltverständnis also, sowie als literarische Themen Verlust des Naturzustands und Selbstfindung. Es geht mithin um das innerste Menschsein in dieser Geschichte, wobei Handke sich auch hier, wie üblich bei ihm, radikal von allen narrativen Konventionen gelöst hat.

«Diese Geschichte hat begonnen an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird», heißt es im ersten Satz. Ein Zeichen, wie es der Autor als Ich-Erzähler deutet, für Aufbruch, in seinem Fall dafür, sich auf den Weg zu machen aus seiner Niemandsbucht, mit unklarem Ziel. Ins Landesinnere vielleicht, der «Obstdiebin» folgend, die er von Ferne gesehen hat. Eine dreißigjährige Frau, die dort herumstreift auf ihrer dreitägigen Reise, unstet, zu Fuß zumeist, von Paris aus in die Picardie, der Region nördlich von Paris. Sie will, erfahren wir dann ziemlich spät, zu einem kleinen Familientreffen, und in gottverlassener Gegend, auf der Hochebene des Vexin, trifft sie schließlich die Eltern und den Bruder in einem bescheidenen Cateringzelt.

Es ist, wie man sehen kann, nicht leicht, so etwas wie eine Handlung aus den 559 Buchseiten heraus zu destillieren, die im Zeichen des Eskapismus stehen. Die Anklänge an Parzival sind unübersehbar, Wolfram von Eschenbach wird öfter zitiert, und so kann man die seltsame Geschichte der Obstdiebin am treffendsten denn auch als eine abenteuerliche Reiseerzählung bezeichnen, wundersam und mythisch, ein stiller Lobgesang auf das einfache, naturverbundene, arglose Leben. Und im letzten Absatz der immer wieder unbestimmt schwebend erscheinenden Geschichte steht geschrieben: «Was sie doch auf ihrer Fahrt ins Landesinnere alles erlebt hat, und wie jede Stunde dramatisch gewesen war, auch wenn sich nichts ereignete, und wie in jedem Augenblick etwas auf dem Spiel gestanden hatte … Nein seltsam. Bleibend seltsam. Ewig seltsam.»

Und in der Tat, Handkes poetische Erzählung einer surrealen Tour lebt von der Magie des Augenblicks, vom Zauber zufälliger Geschehnisse, von der Unbestimmtheit ihrer Figuren, von den Wundern der Natur. Zu denen leitmotivisch natürlich das Obst gehört, welches die mystische Heldin aber nur dann begehrt, wenn es fast unerreichbar ist, am besten als Zufallsfund auf einem bereits abgeernteten Baum oder als erste reife Frucht, immer aber als Mundraub in freier Natur. Handke benutzt diese Wanderung durch die Picardie, diese Landschaft seiner Sehnsucht, um sinnierend und reflektierend seinen ureigenen Gedankenkosmos vor dem Leser auszubreiten, um aphoristisch gekonnt und sprachmächtig ein Weltbild der Erleuchtung zu entwickeln. Ein Dichter, der behutsam gegen ein ungutes Weltgeschehen anschreibt, so als wollte er die Zeit anhalten. Was sind denn nun die Lesefrüchte in einem Epos ohne Plot, in dem nichts erklärt wird, dessen Figuren keine Psyche zu haben scheinen, die der Rede wert wäre? Sprachlich hat Handke seinen ureigenen Stil gefunden, benutzt altmodische Wendungen in langen Satzgebilden, lässt, wenn überhaupt mal, seine wundersamen Figuren eher kryptische Sätze sprechen oder, wie am Ende der Vater bei seiner Festrede, überlange pathetische Monologe. Zur Höchstform läuft der Autor auf, wenn er detailliert und wunderbar anschaulich die Natur beschreibt oder seine lebensechten, sympathischen Figuren. Es sind die kleinen Dinge mithin, und die kleinen Leute auch, die im Fokus stehen, die hier zu Literatur werden, wenn man die unbedingt erforderliche Geduld mitbringt beim Lesen und den Sinn für die erzählerischen Flickflacks eines originären Schriftstellers.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Faber

Vom Wunsch nach intensivem Leben

Schriftsteller und Philosoph in einem ist der junge Franzose Tristan Garcia, dessen neuer Roman «Faber» nicht nur formal ein Meisterwerk ist als furioses Spiel mit Erzählperspektiven und Zeitebenen. Die in sechzig Kapiteln erzählte Story ist in ihren zwei retrospektiven Teilen die Coming-of-Age-Geschichte eines charismatischen Schülers und seiner beiden Freunde, die in ihrer Rebellion gegen die dröge Mittelmäßigkeit der Gesellschaft ein unzertrennliches Trio bilden. In die narrativ als Klammer fungierende, dreiteilige Gegenwartshandlung, deren fesselndes Thema eine späte Rache ist, schieben sich zunehmend phantastische Elemente hinein, der Unruhestifter mit immanentem Todestrieb mutiert zum Dämonen, er wird «Der Zerstörer», wie es im Untertitel heißt.

Mehdi Faber, ein Waise maghrebinischer Herkunft, kommt als Neuer in eine Klasse der Schule einer fiktiven französischen Kleinstadt. Der ebenso intelligente wie unnahbare Junge, der darauf besteht, nur Faber genannt zu werden, brilliert als Schüler und mischt völlig unerschrocken auch die Strukturen der herrschenden Hackordnung im Schulhof auf. Als Rebell, den eine geheimnisvolle Aura umgibt, wird er schnell zur unumschränkten, von allen bewunderten Führungsfigur unter den Pennälern, eine Lichtgestalt geradezu. Zwei Außenseiter, die toughe Madeleine und der schüchterne Basile, helfen ihm anfangs dabei, in ihrer Adoleszenzphase bilden sie mit ihm eine sich ergänzende und wie Pech und Schwefel zusammenhaltende Clique, ein Trio mit dem intellektuell deutlich überlegenen Faber als Mentor. Im zweiten der beiden retrospektiven Teile des Romans eskaliert das Geschehen in einer offenen Rebellion, bei der 1995 unter Fabers Führung die während längerer Streiks und öffentlichem Tumult von Schülern besetzte Schule zur «Autonomen Zone» erklärt wird. Als diese Unruhen ihr Ende finden und die Besetzung schließlich aufgegeben werden muss, flieht Faber für immer aus der Stadt.

Der in fünf Teilen zeitlich verschachtelt und abwechselnd aus der Ich-Perspektive seiner drei Protagonisten erzählte Plot beginnt mit «Er kommt zurück», in dem die inzwischen verheiratete Madeleine den seit fünfzehn Jahren verschwundenen, total verwahrlosten Faber aus seinem Versteck in den Pyrenäen zurückholt in ihre Kleinstadt. Basile und sie hatten Briefe mit einem geheimnisvollen Code von Faber erhalten, der einst zwischen ihnen verabredet wurde als Signal, wenn einer je Hilfe bräuchte. Im mittleren Teil «Er ist da» kommt es zu Problemen mit dem unzugänglichen, total verrückt wirkenden Faber, der sich nach dieser langen Zeit nicht mehr zurechtfindet in seiner Stadt, dem auch die inzwischen angepasst lebenden Gefährten von einst fremd geworden sind. Im letzten Teil «Er geht fort» kommt es zu einem rätselhaften, mystischen Showdown. Mehr soll hier aber nicht verraten werden von dieser äußerst spannenden Geschichte, – in der auch gemordet wird übrigens!

Am Ende tritt überraschend Tristan Garcia in persona auf und berichtet davon, dass er das Manuskript eines Romans von Basile gefunden habe, welches von ihm leicht überarbeitet genau den Text darstelle, den der Leser da gerade in Händen halte. Und er sinniert: «Wie der Gott der Christen eines Tages Mensch geworden ist, so hat vielleicht der Teufel eines Tages einen Körper und einen Geist gefunden. Er war nicht das Böse an sich, aber der Verfall und die Zerstörung, für die anderen und für sich selbst. Von diesem Standpunkt aus kann man annehmen, Faber sei ein Teufel wider Willen, eine vollkommen negative Macht, aber in menschlicher Gestalt». Das verfehlte Leben der Protagonisten ist Auslöser für ein bedrückendes Geschehen, das, im Stil der «Fantastischen Literatur» erzählt, von seinem Autor in einem Schwebezustand belassen wird. Der wiederum dem Leser viel Freiraum gibt beim Nachsinnen über das Gelesene, über Utopien, – und über den hoffentlich nicht ganz utopischen Wunsch nach intensivem Leben.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Babbitt

Circulus vitiosus

Der berühmteste Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Sinclair Lewis, 1922 unter dem Titel «Babbitt» erschienen, hat entscheidend dazu beigetragen, dass ihm 1930 der Nobelpreis verliehen wurde «für seine starke und lebendige Schilderungskunst, nebst dem Talent, mit Witz und Humor Typen zu schaffen». Sein Protagonist ist geradezu der Prototyp des angepassten, selbstzufriedenen Spießers aus dem gehobenen Mittelstand, der in seiner unstillbaren Sucht nach gesellschaftlicher Anerkennung und geschäftlichem Erfolg unter einer gutbürgerlichen Fassade skrupellos seinen persönlichen Vorteil sucht. Damit verkörpert der opportunistische Unsympath geradezu archetypisch den American Way of Life und nimmt zudem, fast hundert Jahre früher, in vielen negativen Aspekten den ersten reinen Geschäftsmann, der zum Präsidenten der USA gewählt wurde, weitsichtig voraus. Dieser jetzt in neuer Übersetzung vorliegende Jahrhundertroman spiegelt die Ambivalenz eines Autors wieder, der über seine Heimat gesagt hat: «Ich liebe dieses Land, aber ich kann es nicht leiden».

Mit scharfem Blick für Details schildert Lewis sehr anschaulich über nicht weniger als ein Viertel des gesamten Textes den akribisch geordneten Tagesablauf von Georges F. Babbitt. Er ist ein cleverer, mit allen Wassern gewaschener, dicker 46jähriger Immobilienmakler mit abgebrochenem Jurastudium, verheiratet, mit drei Kindern, der seine Agentur recht erfolgreich zusammen mit seinem Schwiegervater betreibt. Handlungsort ist die fiktive Stadt Zenith im Landesinneren mit mehr als dreihunderttausend Einwohnern, deren schon im Namen enthaltene Ambition nach immerwährender Prosperität ihrer Stadt die sozialen Missstände der industriellen Revolution ebenso wenig verdecken kann wie die unübersehbare moralische Verwahrlosung im gehobenen Mittelstand seiner Einwohnerschaft, zu dem auch Babbitt geradezu archetypisch gehört. Bei aller Behaglichkeit, mit der sich der unbeirrbare Macho sein Leben eingerichtet hat, ist es gleichzeitig entsetzlich langweilig für ihn, es verläuft nahezu ereignislos und zwingt ihn darüber hinaus familiär, geschäftlich und gesellschaftlich zu ständiger Anpassung. Er startet einige Ausbruchsversuche, – einer aus den Alltagsgeschäften, allein mit seinem besten Freund auf einer Tour in die Wildnis, ein anderer aus der drögen Ehe bei einer kurzzeitigen Geliebten, ein dritter aus dem Ansinnen der Kumpane in seinem Club, sich politisch opportun zu verhalten. Eine Zäsur bahnt sich aber schon vorher an, als sein alter Freund Paul auf seine zänkische Ehefrau schießt und im Gefängnis landet. Ein zweiter Schock aber ist eine plötzlich dringend werdende Blinddarm-Operation seiner Frau, der ihn letztendlich zur Umkehr aus der Rebellion zwingt, – und damit zurück in den Alltagstrott, in dem er sich schließlich aber doch am wohlsten fühlt.

Lewis erzählt seine Geschichte einer missglückten Selbstfindung – voller Sympathie für seinen charakterschwachen, wankelmütigen Helden – mit feiner Ironie und unterlegt dessen laut polternde, prahlerisch selbstgefällige Äußerungen oder Reden zuweilen mit durchaus vernünftigen Gedanken. Überhaupt wird Babbitt, dieser amerikanische Jedermann, dem Leser gegen Ende der Geschichte in dem Maße sympathischer, in dem er selbstkritischer wird, wobei die kumpelhafte Schlussszene mit seinem Sohn nach dessen heimlicher Heirat schon beinahe anrührend wirkt.

Dieser unterhaltsame Roman ist eine ebenso klug konstruierte wie blendend geschriebene Charakterstudie, in der das Diktat der unabänderlichen Realität mit ihren Konventionen auf die desillusionierenden Erkenntnisse eines sinnfrei scheinenden Lebens trifft. Eine Läuterung des Helden aber, eine Katharsis gar, wäre Illusion, denn jede Auflehnung wirft ihn umgehend wieder zurück in den Zwang zur Konformität, ohne die materielles Wohlergehen in der real gegebenen Gesellschaft nicht möglich ist. Als Genussmensch also ist er Gefangener seines eigenen Milieus, ein Circulus vitiosus!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Manesse Zürich

Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Perfektes Handwerk, keine Kunst

Die Fangemeinde von Haruki Murakami, zu der auch Teile des Feuilletons gehören, wird nicht müde, den japanischen Bestsellerautor seit Jahren als den heißesten Favoriten für den Nobelpreis zu rühmen. Sein Roman «Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki» wurde gleich am Erscheinungstage in Japan 100.000mal verkauft, und auch die exzellent übersetzte deutsche Ausgabe war 2014 auf Anhieb erfolgreich. Ist man in Stockholm derart inkompetent, eine solche literarische Lichtgestalt nicht zu erkennen, sie also Jahr für Jahr immer wieder schnöde zu ignorieren? Handelt es sich um «Literatur des kleinsten gemeinsamen Nenners», wie geschrieben wurde, oder ist Murakami «ein gegenwärtiger Meister der Weltliteratur», wie man an anderer Stelle lesen konnte?

Tsukuru Tazaki, ein 36jähriger Ingenieur mit dem einst ungewöhnlichen Studienschwerpunkt Bahnhöfe, arbeitet in Tokio bei einer Eisenbahngesellschaft. Er lebt sehr zurückgezogen und leidet psychisch unter einem schlimmen Schock, den er vor sechzehn Jahren erlitten hat, als ihn seine fünfköpfige Jugendclique ohne Erklärung brüsk aus ihrer engen Gemeinschaft ausgestoßen und fortan absolut ignoriert hat. Die quälende Ungewissheit über die Gründe für seine Abweisung nahm ihm allen Lebensmut, monatelang trug er sich damals mit Suizidgedanken. Als er nun Sara kennen lernt und ihr von seinem Trauma erzählt, überzeugt ihn die zwei Jahre ältere Frau schließlich, sich endlich den Dämonen der Vergangenheit zu stellen, die Hintergründe für das Verhalten seiner damaligen Freunde zu klären. Und so macht sich Tsukuru zu seiner Pilgerreise auf. Er besucht zunächst in seiner Heimatstadt Nagoya die beiden Männer ihrer damaligen Clique, von denen er erfährt, was der Grund war für ihre brüske Abkehr. Über die beiden Mädchen hört er außerdem, dass eine in Finnland lebt und dass die andere vor sechs Jahren ermordet wurde, der Täter konnte aber nicht ermittelt werden. Spontan macht er sich auch auf die Reise nach Finnland.

Hier noch mehr zu erzählen wäre unfair, denn der Roman lebt zu einem nicht geringen Teil von der Spannung, die der Autor in seinem klug konstruierten Plot aufbaut. Aber was ist denn nun der so genannte Murakami-Effekt? Zunächst fällt auf, dass auch in diesem Roman wieder einige autobiografische Bezüge vorliegen, die Musik ist leitmotivisch eingebaut in die Handlung, als Jazz einerseits, was bei dem ehemaligen Plattenverkäufer und Jazzbarbesitzer nicht weiter verwundert. Aber auch, bis in den Titel hineinwirkend, als Klaviermusik von Liszt, aus dessen Années de pèlerinage, den Pilgerjahren, das Stück «Le Mal du Pays», das Heimweh also, ein wiederkehrendes Motiv bildet. Auch der Verlust eines Menschen und die vergebliche Suche ist ein häufiges Thema bei Murakami, seine Protagonisten sind wie hier im Roman meist gebildete Männer Mitte Dreißig, denen dann die typischen «Murakami-Mädchen» gegenübergestellt sind, keine makellosen Schönheiten, die gleichwohl aber äußerst anziehend wirken. Was den Leser vor Allem aber faszinieren dürfte ist der seelische Abgrund, an dem sich der Plot entlang hangelt, die unbarmherzige Abkehr der Clique, die suizidale Phase des farblosen Helden, der unaufgeklärte Mord, natürlich auch die Fallstricke der Liebe. Und – last but not least – ist es die jugendliche Zuversicht, dass eben nicht alles «im Fluss der Zeit» verschwindet.

All diese literarischen Zutaten sind hier gekonnt in eine angenehm lesbare Prosa umgesetzt, mit glaubwürdigen Figuren als Akteuren und einem stimmigen Ambiente als Bühne. Weniger überzeugend sind die philosophischen Ergüsse, mit denen der Autor die Welt zu erklären sucht. Und auch die reichlich eingebaute Symbolik, die bei den Farben ihren Höhepunkt erreicht, worauf ja schon der Buchtitel hinweist, wirkt übertrieben, geradezu gekünstelt – und irgendwie auch anbiedernd. Mir aber schwant, dass für einen Nobelpreis denn doch der dichterische Genius fehlt. Perfektes Handwerk, keine Kunst!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Das Glück in glücksfernen Zeiten

Zaudern und Übermut

Das umfangreiche Œuvre von William Genazino ist durch eine resignative Grundstimmung gekennzeichnet, die auch seinem 2009 erschienenen Roman «Das Glück in glücksfernen Zeiten» unterlegt ist. Auch dieser von Feuilleton durchweg positiv aufgenommene Roman beschreibt die Absurditäten eines Alltags, der so unspektakulär durchschnittlich ist wie sein Ich-Erzähler, ein promovierter Philosoph, den seine brotlose Wissenschaft nach dem Studium zwang, als Wäscherei-Ausfahrer zu arbeiten.

Der Roman lebt von den minutiösen Beobachtungen des inzwischen 41jährigen Gerhard, der zum Geschäftsführer in seinem Wäschereibetrieb aufgestiegen ist, ein melancholischer Flaneur, den sein Umfeld und die gesellschaftlichen Verhältnisse mehr beschäftigen als seine Arbeit, die der absurd Überqualifizierte bestenfalls gleichgültig, oft auch widerwillig ausführt. «Das einzige Straßencafé, das es in der Nähe unserer Wohnung gibt, ist wie üblich überfüllt» heißt es im ersten Satz. Er empfinde das Café an seinem Feierabend «als die erste Wohltat des Tages». Mit seiner hübschen, toughen Freundin Traudel, Filialleiterin einer Bank, bewohnt er in der Nähe eine Dreizimmerwohnung. Ihr Leben ist sexuell erfüllend für beide, verläuft aber ansonsten ziemlich ereignislos. Zur Kompensation plant er, mit staatlicher Förderung eine «Schule der Besänftigung» zu gründen und dort Vorlesungen zu Themen wie «Die Flucht vor der Selbsteintrübung der Welt» zu halten. Die Beziehung zu Traudel wird getrübt, als die 38Jährige ihm eröffnet, sie wünsche sich ein Kind. Gerhard, den schon sein Alltagsleben derart nervt, dass er sich ein «Halbtagsleben» wünscht, eine völlig ereignislose Zeit also, ist nun zutiefst irritiert und fühlt sich eingeengt, er kann sich an den Gedanken einer Vaterschaft absolut nicht gewöhnen. Zu der aufkeimenden Missstimmung kommt dann auch noch seine fristlose Entlassung hinzu, er wurde während der Arbeitszeit als Zaungast bei einer Demonstration beobachtet. Nach dieser Zäsur zeigen sich bei ihm nun zunehmend Verhaltensauffälligkeiten, ein um sich greifender Realitätsverlust, an dessen Kulminationspunkt ihn Traudel in eine psychiatrische Klinik einliefern muss. «Ich leide an einer verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik», erklärt er seinem Therapeuten. Und schon bald fühlt er sich so geborgen dort, dass er gern für immer bleiben möchte.

Um diesen Handlungsrahmen herum rankt sich eine Erzählung, in der scheinbar völlig Banales im Fokus steht und zu oft ebenso überraschenden wie absurden Erkenntnissen führt. Die in weiten Teilen in Form des Bewusstseinsstroms erzählte Geschichte mit den alltäglichen Beobachtungen des Protagonisten mündet immer wieder kontemplativ in skurrilen Einsichten. «Lange bevor man tot ist, durchlebt man Phasen der Tödlichkeit. Was man dabei erlebt, erzählt man nicht gerne» sinniert der verunsicherte Protagonist an einer Stelle. Diese meist doppelbödigen Gedankengänge werden wohltuend tendenzfrei ohne erkennbar dogmatische, politische oder sonstige Hintergründe vor dem zum Mitdenken bereiten Leser ausgebreitet. Selbstreflexiv wird hier überwiegend aus dem Innenleben des depressiven Antihelden berichtet, der an seinem ihn verwirrenden Umfeld scheitert.

Diese vielschichtige Tragikkomödie reflektiert klug die zuweilen absurden Wirkungen des modernen Alltags auf den Menschen. Sie ist atmosphärisch dicht erzählt in einer klaren, schnörkellosen Sprache, die fast schon lässig wirkt und sehr amüsant zu lesen ist. Der Busenfetischist Gerhard sieht sich zum Beispiel als «Untermieter bei Traudels Busen» oder beobachtet angewidert eine wegen Flugausfalls im Hotel einquartierte Rentnertruppe, die sich «mit abstoßender Freude auf ein Büffet» stürzt. Das Anspruchsdenken auf Glück geht ins Leere, denn Glück, so die verblüffende Katharsis, macht nicht zwingend auch glücklich. «Zaudern und Übermut» lautet beziehungsreich der Titel eines Buches, das der unfrohe Held eigentlich schon immer mal schreiben wollte!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

An einem Tag wie diesem

Der Mann ohne Leidenschaften

Mit seinem 2006 erschienenen dritten Roman «An einem Tag wie diesem» hat der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm ein Werk geschaffen, das Kritiker und Leser mit seiner stilistisch zurück genommenen, verhaltenen Erzählweise ziemlich irritiert hat. Diese sprachliche Reduktion diene dazu, hat der Autor erklärt, die narrativ heraufbeschworenen Bilder realer erscheinen zu lassen, aber auch der Inhalt einer Geschichte dürfe keinesfalls von deren erzählerischer Qualität ablenken. Wirklich?

Andreas, aus einem Schweizer Dorf stammend, ein Junggeselle Anfang vierzig, der seit achtzehn Jahren in Paris als Deutschlehrer arbeitet, ist der Protagonist dieser Geschichte. Die Freude an seinem Beruf hat er allmählich verloren, Paris ist ihm fremd geblieben, er ist bindungsunfähig, äußerst genügsam und lebt so vor sich hin, ein monotones, ereignisarmes, zielloses Leben. Seine zwei Geliebten trifft er regelmäßig jeweils an einem Jour fixe, wobei diese Beziehungen rein sexueller Natur sind, er behandelt die Frauen recht lieblos. Als sein Arzt mit ihm über das Untersuchungsergebnis einer Gewebeprobe sprechen will, verlässt er kurz entschlossen das Wartezimmer. Der starke Raucher fürchtet sich vor der Diagnose, er beschließt resigniert eine Zäsur, will aus seinem bisherigen Leben ausbrechen. Spontan kündigt er in seiner Schule, löst seinen Haushalt auf, verkauft seine kleine Eigentumswohnung, – vom Erlös wird er einige Jahre lang leben können. Und er legt sich einen alten Citroen 2CV zu, das Auto seiner Jugendtage. Als er im Lehrerzimmer seine Sachen zusammenpackt, lernt er die junge Praktikantin Delphine kennen, die sich spontan in ihn verliebt und ihn auf seiner geplanten Autotour begleiten will. Was folgt ist eine Reise in die Vergangenheit, magisch nämlich zieht es Andreas zu jenem Dorf hin, in dem er geboren wurde und wo seine Jugendliebe Fabienne immer noch lebt. Er hat ihr seine Liebe nie gestanden, und sie hat später dann seinen Freund geheiratet.

Trotz der minimalistischen Erzählweise mit kurzen Hauptsätzen, adjektivarm, metaphernlos, uninspiriert, zieht die Geschichte ihre Leser mit, kommt trotz aller Vorhersehbarkeit so etwas wie Spannung auf, man will wissen, wo dieser Selbstfindungstrip letztendlich hinführen soll. Über dem Geschehen liegt eine apathische Stimmung, alles was geschieht ist belanglos und undramatisch. Der Held bleibt dem Leser im besten Falle gleichgültig in seiner emotionslosen Lethargie, die er selbst als Bescheidenheit bezeichnet, er ist und bleibt Unsympath bis zum eher kitschigen Ende. Völlig unplausibel aber ist, wie denn ein derart blutleerer Typ, teilnahmslos, ohne erkennbare Leidenschaft oder gar sexuelle Gier, die Frauen so scheinbar mühelos erobern kann. Selbst seine Traumfrau Fabienne lässt sich mal eben zwischendurch auf einer hölzernen Aussichtsplattform von ihm vernaschen, – das erste und das letzte Mal zugleich, ihre Ehe steht nicht zur Disposition, sie ist glücklich verheiratet. Und Delphine, die er ungerührt fortgeschickt hat, lächelt ihn beim kinoartigen Showdown mit Sonnenuntergang am Meer glücklich an, als er, ihr nachreisend, sie auf einem Campingplatz wieder findet, – und auch seinen Arzt will er nun endlich mal anrufen!

Sinnverlust, Burnout, Midlifecrisis, die Panik vor einem unerfüllten oder gar ungelebten Leben ist zweifellos ein ergiebiges und hoch interessantes literarisches Thema. So ist dem Roman denn auch ein Zitat von Georges Perec vorangestellt: «Es ist ein Tag wie dieser hier, ein wenig später, ein wenig früher, an dem alles neu beginnt, an dem alles beginnt, an dem alles weitergeht». Ein berühmter Lebensverweigerer in der Literatur ist auch der Ulrich in Musils Roman «Der Mann ohne Eigenschaften», wo der Held an der schieren Überfülle von Möglichkeiten scheitert. Leidenschaft allerdings, die in Peter Stamms Roman nicht mal ansatzweise vorkommt, kann man dem Ulrich nicht absprechen, seine Liebe zur Schwester gipfelt schließlich im Inzest.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Das siebte Kreuz

Triumph über das Böse

«Dieses Buch ist den toten und lebenden Antifaschisten Deutschlands gewidmet» heißt es vorab in «Das siebte Kreuz», dem zweifellos bedeutendsten Werk der deutschsprachigen Exilliteratur, geschrieben von Mai 1938 bis Spätsommer 1939 von der jüdische Schriftstellerin Netty Reiling unter dem Pseudonym Anna Seghers. Der Roman ist 1942 in Mexiko auf Deutsch erschienen, war dann sehr schnell in den USA ein Riesenerfolg und wurde schon zwei Jahre später in Hollywood verfilmt, ehe er nach dem Krieg auch in Deutschland einen wahren Hype auslöste, er ist bis heute Schullektüre. Die spannende Geschichte war als Beitrag im Kampf gegen den Nationalsozialismus gedacht, Anna Seghers äußerte sich dazu: «Eine Fabel also, die Gelegenheit gibt, durch die Schicksale eines einzelnen Mannes sehr viele Schichten des faschistischen Deutschlands kennen zu lernen». Wobei die von der Nazidiktatur verursachten Risse und Brüche nicht nur quer durch die Gesellschaft, sondern auch quer durch die Familien gehen. 2018 wurde für das jährlich stattfindende Lesefest «Frankfurt liest ein Buch» dieser Roman ausgewählt, was eindrucksvoll belegt, wie aktuell diese Lektüre noch, – oder vielleicht auch gerade wieder, ist!

Aus dem Konzentrationslager Westhofen nahe Worms brechen sieben Häftlinge aus, von denen drei sehr schnell, zwei andere nach wenigen Tagen gefasst werden, einer stellt sich schließlich freiwillig. Der wütende, weil ziemlich blamiert dastehende Lagerkommandant lässt zur Abschreckung auf dem Hof an sieben entkronten Platanen ein Brett so annageln, dass ein Kreuz entsteht, an das die inzwischen gefassten Ausbrecher beim täglichen Appell vor den versammelten Lagerinsassen angebunden werden. Eines dieser Kreuze aber bleibt leer. Denn Georg Heisler, ein ehemaliger Kommunist, den seine Flucht über Worms bis nach Mainz und Frankfurt führt, kann sich der Verhaftung mit Hilfe von Freunden oder gut meinenden Fremden immer wieder entziehen. Von einem älteren Ausbrecher hat er während der Vorbereitung viele wertvolle Tipps und Verhaltensmaßregeln bekommen für das unauffällige Untertauchen in der Menge. Mehr soll hier aber nicht ausgeplaudert werden, denn diese Fluchtgeschichte ist wirklich spannend, ich konnte das Buch kaum aus der Hand legen bis zum Schluss.

Wichtiger als der fesselnde Plot aber ist der Blick auf das Alltagsleben während der Nazidiktatur vor dem Zweite Weltkrieg. In dem aus mehr als dreißig Figuren bestehenden Ensemble stehen zunächst die Ausbrecher im Vordergrund, neben Heisler als mutiger Protagonist ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter der KPD, ein Trapezkünstler, ein ehemaliger kommunistischer Bürgermeister, ein wohlhabender Kaufmann, dessen Spenden an die falsche Seite geflossen sind, ferner Menschen aus allen soziologischen Schichten und mit den unterschiedlichsten politischen Gesinnungen, also auch die KZ-Wachmannschaften und Kriminalbeamten. Der Geflüchtete versucht äußerst vorsichtig, Kontakt zu ehemaligen Freunden, Arbeitskollegen, politischen Wegbegleitern, zur verlassenen Frau und zu seiner Geliebten aufzunehmen, wobei er – durchaus berechtigt – immer wieder fürchtet, seine Häscher würden alle möglichen Kontaktpersonen lückenlos überwachen. Neben viel Ablehnung stößt er auch unerwartet auf gutwillige Fremde während seiner siebentägigen Flucht, wie den jüdischen Arzt zum Beispiel, der ohne Fragen zu stellen seine verletzte Hand verbindet, – und auch der Zufall spielt natürlich eine Rolle.

Anna Seghers wollte ganz offensichtlich mit ihrem Roman zeigen, dass die Nazis nicht allmächtig sind, das siebte Kreuz also leer bleibt. Der Plot ist stimmig konstruiert, ihre in sieben Kapitel gegliederte Geschichte wird in mehreren Handlungssträngen chronologisch und in einer leicht verständlichen Sprache erzählt. Permanent lauert das Böse in dieser Geschichte, wobei etliche mythische, religiöse und historische Bezüge deutlich werden und die Moral letztendlich den Triumph über das Böse feiert.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Der Sommer ohne Männer

Mit intellektuellem Anspruch

Als Komödie hat Siri Hustvedt ihren Roman «Der Sommer ohne Männer» bezeichnet, er markiert zugleich einen Perspektivwechsel der amerikanischen Autorin, zu dem sie erklärt hat: «Ich habe zehn Jahre lang als Mann geschrieben, ich dachte, es sei jetzt Zeit, wieder als Frau zu schreiben». Zudem scheint der Stoff ja auch geradezu klischeehaft vorgeprägt zu sein, «Mann verlässt Frau», das wird in der Literatur regelmäßig aus weiblicher Sicht erzählt, meistens von Autorinnen. Gibt es denn da noch etwas Neues zu erzählen, ist denn diese archetypische, geradezu banale Konstellation in Frauenromanen nicht schon bis zum Überdruss thematisiert worden?

Boris, hoch angesehener Neurowissenschaftler in New York, hat seiner Frau Mia, einer erfolgreichen Dichterin, mit der er seit dreißig Jahre verheiratet ist, in ihrer kriselnden Ehe eine Pause vorgeschlagen. Die «Pause» stellt sich als seine vollbusige, zwanzig Jahre jüngere, französische Laborassistentin heraus. Mia dreht völlig durch und landet für anderthalb Wochen in der Psychiatrie, ehe sie anschließend, – als Reha quasi -, für einen Sommer in ein Provinznest nach Minnesota geht, wo ihre neunzigjährige, noch ziemlich aktive Mutter in einem Heim wohnt. Außerdem ist sie auch engagiert worden, im Kulturzentrum des Ortes einen Poesiekurs für Jugendliche zu veranstalten. Innerhalb dieses Handlungsgerüsts berichtet die Ich-Erzählerin Mia über ihre Verzweiflung, verarbeitet ihre Kränkung, versucht zu begreifen, warum es gekommen ist, wie es kam, rekapituliert ihr Leben bis zurück in die Kindheit.

Hustvedt installiert in ihrem männerlosen Roman zwei Frauengruppen, die beide künstlerisch geprägt sind und Mia in ihrem mentalen Chaos Halt geben. Da sind zunächst die von ihr nur als die «Fünf Schwäne» bezeichneten, hoch betagten Freundinnen der Mutter im Altersheim, aber auch die Jugend ist vertreten durch die sieben Mädchen ihrer Poesiegruppe. Und die Nachbarfamilie mit zwei kleinen Kindern sorgt ebenfalls für Trubel, der Mia ablenkt von ihren sinnlosen Grübeleien. Sie schreibt Gedichte, notiert außerdem mancherlei in einem erotischen Tagebuch und führt, zunächst unfreiwillig, eine Email-Korrespondenz mit einem hartnäckigen Stalker, die sich mit der Zeit zu einem geistreichen Gedankenaustausch entwickelt. Der vordergründig banale Plot erhält durch die ausschließlich auf Frauen fokussierte Thematik eine über den Frauenroman hinausreichende Bedeutung, stimmig werden hier die Beziehungen des weiblichen Geschlechts untereinander dargestellt, jung und alt, Mutter und Tochter, Geliebte und Ehefrau, Freundin und Rivalin, – ein Macho würde von latentem Zickenkrieg sprechen. Mit bewundernswertem Scharfsinn zeigt die Autorin geradezu analytisch das komplizierte psychologische Geflecht innerhalb der beiden Gruppen auf, demaskiert kritisch Falschheit, Mobbing, Eifersucht in den femininen Grabenkämpfen, die den Terminus «schwaches Geschlecht» ad absurdum führen.

Dieser Roman beinhaltet eine ernstzunehmende Recherche über die Möglichkeit lebenslanger Paarbeziehungen, – und über die Chancen einer Restitution. Mit ihrer Klassifizierung als Komödie hat Siri Hustvedt ihre Absicht verdeutlicht, zur Entkrampfung einer soziologischen Problematik beizutragen, die gleichermaßen brisant und omnipräsent ist. Weniger überzeugend als diese thematische Komponente ihres Romans ist die stilistische Umsetzung des Stoffs. Da wäre die besonders in der ersten Hälfte nervige Zergliederung der Geschichte in Erzählschnipsel zu nennen, die Langatmigkeit des Erzählens auch, wobei die Erzählerin, die sich öfter mal neckisch direkt an den Leser wendet, hier um Geduld bittet. Prosaleser wie mich nerven auch die eingestreuten lyrischen Ergüsse, lächerliche Wortakrobatik in meinen Augen, und mit den Strichzeichnungen konnte ich ebenfalls nichts anfangen. Gleichwohl, dieser Roman ist eine Rarität, ein Frauenroman nämlich mit intellektuellem Anspruch, nicht mehr und nicht weniger.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Der Stechlin

Ein literarisches Labsal

Nur wenige Wochen vor seinem Tode hat Theodor Fontane die Arbeit an dem Roman «Der Stechlin» beendet, ein Zeitroman nach eigenem Bekunden. Als typischer Vertreter des bürgerlichen Realismus hat er mit diesem 1898 erschienenen Buch ein literarisches Meisterwerk geschaffen, es wird als sein bedeutendster Roman angesehen. Und das, obwohl fast nichts geschieht darin! In einem Brief an seinen Verleger hatte er dazu geschrieben: «Zum Schluss stirbt ein Alter und zwei Junge heiraten sich; das ist so ziemlich alles, was auf 500 Seiten geschieht. Alles Plauderei, Dialog, in dem sich die Charaktere geben, mit und in ihnen die Geschichte». Diese Art eines Plots in Form der Causerie ist hier auf die Spitze getrieben, Konversation vom Feinsten also, geistreich, wortgewaltig, amüsant, ein literarisches Labsal.

Protagonist des Romans ist der 66jährige Dubslav von Stechlin, Schlossherr in der Grafschaft Ruppin, ein Major a. D. und märkischer Junker, dessen Besitzung den gleichnamigen, von Legenden umwobenen See mit einschließt. Fontane charakterisiert seine Figur im Roman als «eines jener erquicklichen Originale, bei denen sich selbst die Schwächen in Vorzüge verwandeln». Dessen Lebensumstände beschreibt nun Fontane, indem er uns einen Besuch des Sohnes Woldemar, Rittmeister in Berlin, auf Schloss Stechlin schildert. Dabei wird auch das nahe gelegene Kloster Wutz besucht, dessen Domina des alten Stechlins ältere Schwester ist, eine sauertöpfische Pietistin. Über sie heißt es: «Wickelkinder, wenn sie sie sehen, werden unruhig, und wenn sie zärtlich wird, fangen sie an zu schreien». In Berlin schließlich wirbt Woldemar um die Tochter eines reichen Adeligen, in Stechlin scheitert derweil der Alte – ziemlich erleichtert übrigens – bei der Reichstagswahl als Kandidat der Konservativen. Woldemar wird als Repräsentant seines Regiments auf eine Mission nach England geschickt, verlobt sich nach der Rückkehr und reist schließlich mit seiner Verlobten zu Weihnachten nach Stechlin. Im Frühjahr dann findet die Hochzeit statt, und ausgerechnet während der mehrwöchigen Hochzeitsreise nach Italien erkrankt zuhause der Alte und stirbt wenig später.

Die Geschichte wird von einem auktorialen Erzähler – aus kritischer Distanz – chronologisch erzählt, sie umfasst einen Zeitraum von etwa einem Jahr, über die Jahre 1896/97 hinweg. Die Figuren sind wunderbar treffend, geradezu brillant charakterisiert, was sich in weiten Teilen insbesondere in herrlichen, vor Geist und Witz geradezu funkelnden Dialogen artikuliert, in einer fiktionalen, natürlich ironisch überhöhten Konversation. Und dabei ist speziell die Figur des alten Stechlin von einer tiefen Menschlichkeit geprägt, die Standesunterschiede zwar nicht negiert, im Umgang mit den einfachen Leuten aber von wohltuender Konzilianz ist. Was insbesondere auch für seinen treuen Diener Engelke gilt, der immerhin fünfzig Jahre mit ihm durchlebt hat. Gerade die altväterliche Sprache, in der diese Geschichte erzählt ist, macht den Reiz dieses vor mehr als 120 Jahren geschriebenen, großen Romans aus. Sie lässt die vielen markanten, oft skurrilen, aber fast immer auch sehr sympathischen Figuren vor des Lesers Augen lebendig werden, wobei das weibliche Gegenstück zu Dubslav die ältere Schwester der Braut ist, die ebenso geistreiche wie schöne Melusine, – was für ein Name!

Ich habe diesen Roman vor Jahren als Hörbuch kennen gelernt, unübertrefflich gelesen von Gert Westphal, und schon damals ging es mir so wie jetzt wieder bei der Lektüre: Ich fühlte mich so wohl wie die Katze auf der warmen Ofenbank, ich hätte schnurren können vor Behagen! Außer dem unterhaltsamen Wohlbehagen, das kaum ein anderer Roman derart verschwenderisch erzeugen kann, ist der Leser auch tief hineingezogen in die politischen Verhältnisse der damaligen Epoche, die Fontane bei all seiner offensichtlichen Sympathie für das ostelbische Junkertum hier auch gesellschaftskritisch beleuchtet. Ein Jahrhundertroman!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens

Wenn Mauern sprechen könnten

Wer wie die junge deutsche Schriftstellerin Juliana Kálnay einen surrealistischen Debütroman vorlegt, geschrieben unter Hintanstellung so ziemlich aller narrativen Usancen, dem ist die Aufmerksamkeit einer kleinen, vom Mainstream übersättigten Leserschaft gewiss. Denn schon der Titel «Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens» macht ja neugierig, das Feuilleton zudem war ziemlich beeindruckt, alles Indizien dafür, die Lektüre könnte sich lohnen.

Ein vierstöckiges Mietshaus, von dem wir nur wissen, dass es die 29 als Hausnummer trägt, verkörpert das stilistische Ordnungsprinzip einer Sammlung von Prosaminiaturen, für die es außerdem auch als Stein gewordener, erzählerischer Kulminationspunkt dient. Im ersten Kapitel erfahren wir unter der Überschrift «Prolog einer Bewohnerin», das Rita an dem Tage geboren wurde, an dem ihre Eltern in dieses Haus gezogen sind. «Manch einer hat Dinge erlebt in diesem Haus, die andere vielleicht als ungewöhnlich betrachten würden», erzählt sie uns als eine der Erzählstimmen, als jemand, der «schon immer hier war», und in der Tat fungiert sie als eine Art ideelle Hauswartsfrau, die (fast) alles weiß, was Haus 29 betrifft.

Das hier zum Roman mutierte Skizzenbuch der Autorin ist ein Füllhorn surrealer Prosaschnipsel, die lose miteinander verbunden Phantastisches erzählen über das Geschehen in einem magischen Gebäude. In diesem Roman des Verschwindens ist Maia als erste verschwunden, wie ein Maulwurf hatte sie sich immer Löcher gegraben und darin versteckt, man musste oft nach ihr suchen, – diesmal allerdings taucht sie nicht wieder auf. Und Don verschwindet ebenfalls, er verwandelt sich nämlich ganz langsam in einen Baum, den seine Frau Lina irgendwann heimlich in einen Topf einpflanzt und auf den Balkon stellt, wo er prächtig gedeiht. Wo er Früchte hervorbringt, die sie einkocht, wo er Blätter abwirft, die sie als Füllung für ihre Bettbezüge benutzt, an den sie sich immer wieder liebevoll anschmiegt, mit dem sie sogar beglückenden Sex hat. Ein anderes Kind frisst immer wieder Löcher in die steinernen Wände und verschwindet schließlich für immer durch ein großes Loch in der Außenwand. Ein Mitbewohner richtet es sich im Fahrstuhl häuslich ein, er wohnt dort zufrieden auf engstem Raum, – zum Waschen darf er das Bad eines anderen Bewohners mitbenutzen. Zu diesem Panoptikum skurriler Figuren gehört auch der Fotograf im Souterrain, der mit seiner Familie in völliger Dunkelheit wohnt und von niemandem je gesehen wurde, die Besitzerin eines Aquariums außerdem, deren Goldfische immer wieder selbstmörderisch zu ihr ins Bett springen, oder auch die Zwillinge, von denen niemand weiß, ob es wirklich zwei sind oder doch nur einer. Die Gruppe der Kinder macht ständig hinter dem Haus ein großes Grillfeuer, sie bringen sich immer wieder trophäengleich Brandwunden bei. Und dann gibt es noch eine Gruppe besonderer Mitbewohner: «Die chronisch Schlaflosen haben einen Pakt. Sie zählen hundert Augen, sind leise und werden ungemütlich, wenn es sein muss. Selten schlafen sie ein, und sobald es dunkel wird, steht mindestens einer von ihnen am Türspion, ein anderer auf dem Balkon».

Das Vorstellungsvermögen der Leser wird ziemlich auf die Probe gestellt in diesem surrealen Roman, in dem sehr oft das Licht ausgeht als unheilvolle Metapher. Seine mit blühender Fantasie beschriebenen Schattenwesen lassen die Grenzen zwischen Mensch, Tier, Pflanze und unbelebter Natur, – hier also dem Haus 29 -, weitgehend verschwinden. Mit fein durchschimmernder Ironie eröffnet die Autorin weite Assoziationsräume für ihre rätselhaften Phänomene. Konventionell orientierte Leser werden sich mit Grausen abwenden, das Buch als Vexierbild verdammen, experimentierfreudige werden es als allfällige literarische Horizonterweiterung freudig goutieren. «Wenn Mauern sprechen könnten», diese Vorstellung hatte ja doch schon immer einen unwiderstehlichen Reiz, – hier scheinen sie es tatsächlich zu können!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Die Schopenhauer-Kur

Liaison von Philosophie und Belletristik

«Einen Roman zu schreiben ist das Beste, was man tun kann» hat Irvin D. Yalom festgestellt, emeritierter Professor der Psychiatrie, und sein Buch «Die Schopenhauer-Kur» von 2005 bestätigt diese These. Im Genre der Teaching Novel hatte Jostein Gaarder schon 1991 mit «Sophies Welt» einen internationalen Bestseller philosophischen Inhalts geschrieben, Yalom gelang dann 1994 mit «Und Nietzsche weinte» sein belletristischer Durchbruch, ein geistreicher Roman, den ich vor Jahren gerne gelesen habe. Und so hat der Name Schopenhauer im Titel des vorliegenden Romans denn auch prompt wieder meine Neugierde geweckt.

Dem Forschungsschwerpunkt Yaloms entsprechend betreut Julius Hertzfeld, Protagonist des Romans, als Psychotherapeut eine kleine, bunt zusammen gewürfelte Patienten-Gruppe. Nach einer niederschmetternden Krebsdiagnose mit prognostizierter einjähriger Überlebenszeit nimmt der 65jährige Julius spontan Kontakt zu Philip auf, einem schizoiden ehemaligen Patienten. Er hatte ihm auch nach dreijähriger Einzeltherapie nicht helfen können, sich aus seiner zwanghaften Sexsucht zu befreien, sein größter beruflicher Misserfolg, zweiundzwanzig Jahre ist das schon her. Nun geht es ihm darum, die ihm verbleibende Zeit zu nutzen, seine therapeutische Arbeit am Beispiel von Philip rückblickend zu bewerten und so – in Anbetracht seines baldigen Todes – noch einen Sinn in seinem Leben zu entdecken. Und es gelingt ihm, Philip, der sich von seiner Sexsucht zwar mit Hilfe der Philosophie hat befreien können, der aber immer noch hochgradig verhaltensgestört ist, zur Teilnahme in seiner Gruppe zu bewegen. Dort kommt es dann zu einem heftigen Zusammenprall mit einem seiner Opfer, eine von hunderten Frauen, die er damals schnell erobert und skrupellos ebenso schnell wieder abserviert hat.

Im ersten der beiden – kapitelweise wechselnden – Handlungsstränge wird erzählt, wie der Protagonist Julius den Schrecken des baldigen Todes mit Hilfe seiner Therapiegruppe zu bewältigen sucht. Die zweite Erzählebene beinhaltet eine anekdotenreiche Biografie Arthur Schopenhauers, gespickt mit vielen Zitaten aus seinen Werken. Philip, Antagonist von Julius in der Gruppe, hatte seinen Beruf als Chemiker aufgegeben und Philosophie studiert, nun will er selbst Therapeut werden und sieht seine Teilnahme als praktische Übung dazu an. Seine Befreiung von der Sexsucht führt er auf seine intensive Beschäftigung mit Schopenhauer zurück. Der nämlich ist ihm ein Bruder im Geiste geworden, genau so introvertiert und pessimistisch, aber auch hochintelligent wie Philip selbst. Die gruppendynamischen Prozesse entwickeln sich aus lebhafter Interaktion, einem Feuerwerk brillanter Dispute zwischen den psychisch stimmig beschriebenen Patienten, ergänzt durch viele anregende philosophische Exkurse, bei denen natürlich Schopenhauer im Vordergrund steht, wer sonst?

Irvin D. Yalom ist das Kunststück gelungen, mit seinem Plot eine intellektuell anspruchsvolle Thematik in eine unterhaltsame und spannende Geschichte umzusetzen, der man die Lust am Erzählen deutlich anmerkt, auch wenn letztendlich nicht alles dabei wirklich plausibel ist. Seine Sprache allerdings ist fein geschliffen, mit brillanten Formulierungen, seine Syntax geradezu mustergültig, was sich beispielsweise in der nahtlosen Einbindung der Dialoge in den laufenden Text ausdrückt. Besonders gelungen fand ich außerdem seine Methode, schwierige Fremdwörter und intertextuelle Bezüge gleich an Ort und Stelle, also nicht erst in einem Anmerkungsapparat, zu erläutern, indem er den ziemlich ungebildeten Tony immer sofort danach fragen lässt, – und meist liefert dann Philip stanta pede die Erläuterung dazu. Hier wird der Leser also mit Narzissmus, Beziehungsproblemen, Alkohol, Sexsucht, Krankheit und Tod konfrontiert, und er kann en passant in vielerlei Hinsicht Nutzen aus dem Gelesenen ziehen, einer ebenso unterhaltsamen wie bereichernden Liaison von Philosophie und Belletristik.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Eine englische Art von Glück

Clash of Civilizations

Als in London geborene Tochter jamaikanischer Immigranten bereichert Andrea Levy mit ihrem 2005 erschienenen Roman «Eine englische Art von Glück» die multi-ethnische Literatur des englischen Sprachraums mit einem bemerkenswerten Epos. Wobei sie, anders als zum Beispiel Zadie Smith mit ganz ähnlicher Thematik in «London NW», sehr konventionell erzählt. Ihre Geschichte ist geprägt vom latenten Rassismus in der britischen Metropole, einem Schauplatz, den sie aus eigenem Erleben kennt. Der Roman brachte ihr literarisch den Durchbruch, wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und landete auf der BBC-Liste der hundert bedeutendsten britischen Romane. Zu Recht?

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt, «1948» und «Vorher», wie die entsprechenden Abschnitte überschrieben sind. Da ist zunächst die stolze Hortense, die das Lehrerexamen in Jamaika abgelegt hat und davon träumt, nach England auszuwandern und im Mutterland des British Empire als Lehrerin zu arbeiten. Sie heiratet den eher einfach strukturierten Gilbert, ein ehemaliger Held der Royal Air Force, im Zivilleben Jamaikas allerdings ein Habenichts und Träumer. Hortense schickt ihren Mann nach London, er soll dort beruflich Fuß fassen und sie später nachkommen lassen, – was dann allerdings in einem ziemlichen Fiasko endet. Gilbert ist in einem armseligen Zimmer bei Queenie einquartiert, einer jungen Engländerin, die aus der Metzgerei des Vaters nach London geflüchtet ist und dort Bernard geheiratet hat, einen ebenso farblosen wie bornierten Buchhaltertypen, der mit seinem Vater in einem großen, eigenen Haus wohnt. Enttäuscht von der Ehe meldete Bernard sich zum Kriegsdienst, war später in Indien eingesetzt und ist nach Ende des Konfliktes nicht nach Hause zurückgekehrt, Queenie bleibt ohne Nachricht und will ihn irgendwann für tot erklären lassen. Die lebenslustige Frau hat schließlich eine ebenso kurze wie leidenschaftliche Affäre mit einem farbigen Soldaten, der wenige Tage später nach Amerika versetzt wird, sie wird ihn nie wieder sehen. Als ihr Mann nach Jahren doch wieder auftaucht, ist sie schwanger und bringt schließlich ein schwarzes Baby zu Welt.

In sieben zeitlich wechselnden Abschnitten erzählt die Autorin kapitelweise aus ebenfalls ständig wechselnder Ich-Perspektive von den Illusionen ihrer vier Protagonisten. Es ist ein tragik-komisches Geschehen, das sich ganz allmählich zu einem immer dichter werdenden Beziehungsgeflecht zwischen ihren Figuren entwickelt. Dominante Thematik ist der Rassismus im weißen London, in dem die «Nigger» ständigen Demütigungen und Pressionen ausgesetzt sind. Das städtische Leben im Kriege, wo die Bevölkerung unter den Bombenangriffen leidet, und in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit bildet einen zweiten narrativen Schwerpunkt. Die Romanfiguren trotzen all den Rückschlägen und geplatzten Träumen unbeirrbar mit fast schon stoischer Gelassenheit, wobei dieser Clash of Civilizations zu absurden Situationen und Missverständnissen führt. All dies wird mit einem unterschwelligen Humor erzählt, der allerdings stets jamaikanisch bleibt, also kein typisch englischer, schwarzer Humor ist.

Die grundverschiedenen Protagonisten des Romans werden sprachlich durch individuelle Idiome charakterisiert, die beiden Jamaikaner sprechen ein mit Patois durchmischtes Englisch, Queenies Sprache ist durch Cockney gefärbt, während Bernards korrekte Sprache militärisch geprägt ist. Die virtuos getakteten Perspektivwechsel fördern zunehmend das Verständnis des Lesers für die verschiedenen Charaktere und enthüllen überraschende mentale Gemeinsamkeiten. Atmosphärisch dicht führt uns die Autorin in diverse Milieus ein, was auch die Kolonien mit einschließt, – und den Krieg natürlich, vor dessen Hintergrund sich das Ganze abspielt. Der im ersten Teil etwas zähflüssige, in epischer Breite erzählte Roman nimmt im letzten Drittel Fahrt auf und führt zu einem überraschenden, aber durchaus schlüssigen, melancholischen Ende.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Die Aspern-Schriften

Vom steinernen Zölibatär

Der im angelsächsischen Sprachraum als Kultautor verehrte Schriftsteller Henry James hat auch in dem Roman «Die Aspern-Schriften» von 1888 ein grandioses Beispiel geliefert für seine Kunst, psychologisch ausgefeilte Frauenfiguren zu erschaffen, das andere Geschlecht also vielschichtig und tiefgründig darzustellen. Dabei bleibt allerdings eine – nicht ganz unwichtige – Komponente des Weiblichseins völlig ausgeschlossen. Der Autor hat sich selbst mal als einen «sexuellen Selbstversorger» bezeichnet, seine Geschichte – wen wundert’s – ist ein geradezu puritanisch anmutender Text ohne jeden erotischen Esprit. Aber auch Wittgenstein hat ja in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus gefordert: «Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen». Es bleibt aber, das sei vorweg gesagt, genügend übrig aus dem fragwürdigen Innenleben seiner Figuren, was diesen subtilen Roman trotzdem zu einem Lesevergnügen werden lässt.

In einem kammerspielartigen Plot mit nur drei Hauptfiguren und einem verfallenen Palazzo in Venedig als Bühne wird die Geschichte einer literarischen Obsession erzählt. Ein amerikanischer Ich-Erzähler, der namenlos bleibt und auch altersmäßig unbestimmt, ist als Herausgeber von Werken des – etwa um 1820 herum – jung verstorbenen, romantischen Dichters Jeffrey Aspern auf der Suche nach hinterlassenen Schriften von ihm. Dabei ist er auf Juliana Bordereau gestoßen, die einst zu seinen Musen gehörte und in seinem Werk etliche Spuren hinterlassen hat. Sie lebt hochbetagt mit Tina, ihrer Nichte ebenfalls unbestimmten Alters, die genau so gut auch ihre Großnichte sein könnte, völlig zurückgezogen in Venedig. Auf schriftliche Anfrage wird der Romanheld denn auch brüsk abgewiesen, also versucht er mit einer List, in die Nähe der uralten Dame, – eine Hundertjährige mutmaßlich -, und damit auch an die bei ihr vermuteten, begehrten Papiere zu kommen, Liebesbriefe höchstwahrscheinlich. Und tatsächlich zieht er unter falschem Namen und unter einem trickreichen Vorwand für eine horrende Summe als Untermieter in den Palazzo ein und kann auch tatsächlich, nach anfänglich eiskalter Abweisung seitens der Damen, allmählich einen Kontakt zu ihnen aufbauen. Seine wahnhafte Gier nach schriftlichen Zeugnissen seines Dichter-Idols, den er auf einer Stufe sieht mit Shakespeare, lässt ihn alle Demütigungen ertragen und bringt ihn finanziell an den Rand des Ruins. Moralische Skrupel kennt er nicht, «es gibt keine Niederträchtigkeit, die ich nicht um Jeffrey Asperns willen begehen würde» sagt er im Roman. Der Nichte verrät er schließlich den wahren Grund seines Aufenthalts im Palazzo, und nach dem ersten Schrecken deutet sie vage an, ihm vielleicht ja helfen zu können.

Die in neun Kapiteln konventionell erzählte, spannende Geschichte, die zeitlich nur einige wenige Monate umfasst, steigert sich in einer geschickten Dramaturgie auf ein so nicht unbedingt vorhersehbares Ende zu. Mit ihrem kenntnisreichen Nachwort gibt die Übersetzerin dem Leser eine hochwillkommene Ergänzung des Textes zur Hand, die auf dessen viele Bezüge zum Ambiente Venedigs eingeht, auf die im Roman beschriebenen Kunstwerke zudem, vor allem aber auf das verwirrend komplexe psychische Geflecht der drei Protagonisten. An dieser Stelle erfahren wir auch, dass all dem eine Anekdote zugrunde liegt von einem Geschehen, das sich im Jahre 1879 in Florenz zugetragen habe, – mit identischem Ausgang der Geschichte übrigens.

Der sprachlich recht altbackene Roman mit seiner enigmatischen Erzählweise lässt den Lesern reichlich Raum für eigene Interpretationen. Mit kriminalistischen Anklängen wird da von beiden Seiten ein ebenso schlitzohriger wie erbitterter, skrupelloser Kampf zwischen den Damen und dem im Nachwort als «steinerner Zölibatär» bezeichneten Ich-Erzähler geführt. Keiner von ihnen kann wirklich gewinnen, was einen nicht unwesentlichen Teil des – zugegeben – schadenfrohen Lesevergnügens ausmacht, bei mir war es jedenfalls so!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München