Mein Jahr der Ruhe und Entspannung

Ein Desaster als Katharsis

Der dritte Roman von Ottessa Moshfegh, die von der US-amerikanischen Literaturszene als Shootingstar gefeiert wird, verrät schon im Titel sein Thema: «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung». Es geht darin um eine schlafsüchtige, emotional gestörte Frau, ihre Protagonistin solle dem geläufigen Bild der Frau als Opfer die Figur einer Angst einflößenden «Monsterfrau» gegenüberstellen, hat die Autorin dazu erklärt. Verblüfft wird mancher potentielle Leser nun auf das Buchcover schauen, wo ein klassisches Gemälde des französischen Malers Jaques-Louis David das Portrait einer Frau zeigt, die geradezu als Verkörperung sanfter Friedfertigkeit dargestellt ist, als ein typisches Opfer also. Alles Fake?

Die namenlose Romanheldin ist eine 26jährige Frau mit Modelfigur, die in einem vornehmen Viertel New Yorks lebt, – nach ihrem Studium arbeitet sie nun in einer hippen Kunstgalerie. Ihre Eltern sind früh gestorben und haben ihr ein kleines Vermögen hinterlassen, das ihr ein sorgloses Leben ermöglichen könnte. Trotzdem ist sie unglücklich, sie kommt nach vielen flüchtigen Männergeschichten nicht von ihrem Ex-Freund Trevor los, obwohl er sie wie Dreck behandelt. Ihre versoffene, einzige Freundin Reva lädt bei ihr immer wieder den Ballast ihres chaotischen Lebens ab, ihre Monologe nerven nur noch. In ihrer Leere und Ziellosigkeit lässt die Ich-Erzählerin zusehends ihre Wohnung vermüllen, sie kann sich zu nichts mehr aufraffen, verliert ihren Job und zieht sich völlig zurück vom Leben. Als sie Hilfe bei einer Therapeutin sucht, weil sie nicht mehr schlafen kann, verschreibt ihr die durchgeknallte Psychiaterin Dr. Tuttle Unmengen von Medikamenten, mit denen sie sich bedenkenlos vollstopft. Als all das nicht mehr hilft, beschließt sie, eine Art Winterschlaf zu halten und hofft, danach quasi als neuer Mensch ins Leben zurückkehren zu können. Der exaltierte Künstler Ping Xi soll sie während dieser Zeit betreuen, nur er darf noch ihre vollkommen leer geräumte Wohnung betreten, als Gegenleistung darf er ihre spektakuläre Schlafaktion als sein neuestes Kunstprojekt ausschlachten.

Die psychedelischen Phasen der suizidgefährdeten Heldin sind von endlosen Aufzählungen der diversen Medikamente geprägt, wahllos wirft sie unglaubliche Tablettenmengen in sich hinein, spült sie mit Alkohol hinunter und isst kaum noch etwas in ihrem Dauerdelirium. Damit überzeichnet die als US-Starautorin gehandelte Ottessa Moshfegh ironisch ihre depressive Heldin, regelrecht zynisch erzählt sie zudem von deren sich häufig wiederholenden Phasen mit einem ungebremsten, wahllosen Kaufrausch, in denen die Autorin den Konsumwahn ihrer Landsleute gnadenlos entlarvt. Endlose Zeit verbringt die Protagonistin vor dem Bildschirm, sie konsumiert wahllos immer wieder die gleichen geistlosen Videos, wobei es ihr besonders Filme mit Whoopi Goldberg angetan haben, die kann sie sich problemlos mehrmals hintereinander ansehen. Ganz offensichtlich sieht die Autorin den vielbeschworenen American Way of Live als die Wurzel der psychotischen Verirrungen ihrer Nation an. Ob dem mit purem Eskapismus beizukommen ist, bleibt letztendlich fraglich, auch wenn das wenig kitschige Ende des Romans in diese Richtung deutet.

Weder die tablettensüchtige, depressive Heldin, die die Hälfte der erzählten Zeit schläft, noch der absurde Versuch ihrer Selbstoptimierung versprechen eine angenehme Lektüre, die übrigens mit dem Debakel von 9/11 als Katharsis endende Geschichte im Messie-Milieu ist in ihrer erbarmungslosen Direktheit wirklich nicht erbaulich. Alle Figuren sind gleichermaßen unsympathisch, und nur ganz selten mal blitzt stilistisch Gelungenes auf, so in der tiefsinnigen Sterbeszene des krebskranken Vaters, der aus der Klink heimgekehrt ist, damit er daheim «zu Ende sterben» kann. Die sich dauernd wiederholenden pharmazeutischen Exzesse jedoch werden sehr schnell langweilig, und nur die Idee vom Winterschlaf ist wirklich keine tragfähige Basis für einen lesenswerten Roman.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Liebeskind

Unterwegs

Ein Kultroman

Als bedeutendster Vertreter der «Beat-Generation» hat Jack Kerouac mit seinem 1957 veröffentlichten Roman «Unterwegs» das wichtigste Werk jener neuen, Ende des Zweiten Weltkriegs der «Lost Generation» nachfolgenden, literarischen Strömung geschaffen. «On the Road», wie der schon 1951 entstandene Text im Original heißt, mit dem ihm dann auch sein literarischer Durchbruch gelang, gilt seither geradezu als Proklamation der Beatniks, zu denen neben Literaten wie Allen Ginsberg oder William S. Burroughs auch Jazzmusiker wie Chet Baker gehörten. In der Literaturgeschichte ist der US-amerikanische Autor damit unbestritten stilprägender Wegbereiter dieses rein emotional gesteuerten, durch flirrende Unstetigkeit und radikale Subjektivität gekennzeichneten, originären Sprachstils, der übrigens weitreichende Wirkungen hatte auf eine Vielzahl von anderen Schriftstellern und sogar Musikern. Als Anekdote sei angemerkt, dass Jack Kerouac das Manuskript seines Romans dem Verlag nicht als Papierstapel, sondern als eine der jüdischen Thora nachgebildete, vierzig Meter lange Rolle aneinander geklebter, eng beschriebener Papierbögen übergeben hat. Eben jene legendäre Rolle wurde dann 2001 bei Christie’s für 2.426.000 Dollar versteigert, weit mehr als der finanziell notorisch klamme Autor für sein gesamtes Werk je erhalten hat.

Der stimmige Titel dieses für den Spielfilm «Easy Rider» als Vorlage dienenden, stark autobiografisch geprägten Romans weist bereits sehr treffend auf dessen Inhalt hin, ähnlich einem Roadmovie nämlich dient hier die Strasse als Bühne für die Handlung. Der als paranoid-schizophren geltende Jack Kerouac hat darin eigene Erlebnisse seiner turbulenten, unangepassten Jugendjahre verarbeitet, die durch rastlose Reisen geprägt waren, in denen Alkohol, Sex und Drogen, aber auch harter Jazz in Form des Bebops das Geschehen bestimmten. Zentrale Figur des aus der Ich-Perspektive eines angehenden Schriftstellers namens Sal Paradise erzählten Romans ist Dean Moriarty, eine weitgehend seinem oft als irre angesehenen bestem Freund und Studienkollegen nachempfundene Figur, die im Buch ebenso dominant ist, wie es ihr Vorbild im realen Leben für den Autor selbst war. Der reisewütige Romanheld fährt allein oder mit seinem verrückten Freund zusammen kreuz und quer durch die USA, von der Ostküste an die Westküste, von Nord nach Süd, sie landen am Ende schließlich, auf ihrem letzten Trip, in Mexico. Meist sind sie im Auto unterwegs, sie trampen und lernen dabei skurrile Menschen kennen, benutzen gestohlene Autos oder finden für wenig Geld einen Platz bei einer Mitfahrerzentrale, sie springen auf Güterzüge auf und verstecken sich in den Bremserhäuschen, und wenn sie mal Geld haben benutzen sie die berühmten Greyhound-Busse.

Auf diesen abenteuerlichen Reisen erleben wir als Leser eine endlose Reihe von Saufgelagen, wilden Partys und Weibergeschichten der beiden Außenseiter, die unangepasst aus ihrer wirren, verqueren Perspektive heraus die gesellschaftlichen Regeln verächtlich als für sie nicht existent ansehen, sie bedenkenlos ignorieren. Unübersehbar aber steckt hinter dieser Absage an jedwede soziale Norm die verzweifelte Suche der jungen Männer nach Lebenssinn. Ihre provokante Aufmüpfigkeit und hedonistische Rücksichtslosigkeit soll ihre tief sitzenden Ängste vor der philosophisch nicht widerlegbaren Sinnlosigkeit unserer Existenz überdecken.

Geradezu ekstatisch, aber journalistisch knapp erzählt Jack Kerouac in diesem berühmten Kultroman, er bedient sich dabei einer klaren, in den Dialogen wunderbar stimmig dem Jugendslang angepassten Sprache. Und vermag damit seine durchgeknallten Figuren überzeugend plastisch zu zeichnen und sehr anschaulich Bilder der grandiosen Landschaften herauf zu beschwören. Nach einem Drittel des Romans aber stellt sich dann eine gewisse Langeweile ein, es passiert nichts wirklich Neues mehr, und das trübt denn doch ein bisschen den Lesegenuss. Trotzdem lohnt sich diese Lektüre allemal!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Geisterbahn

Die Kirmeswelt als Antithese

Nach sechs Jahren ist von Ursula Krechel, deren vielseitiges Œuvre neben Lyrik und Dramatik eben auch Epik beinhaltet, wieder ein Roman erschienen, dessen metaphorischer Titel «Geisterbahn» den Inhalt sehr treffend umreißt. Es geht darin, genau wie in ihren letzten beiden Romanen, um Täter und Opfer, um Verfolgung, Vertreibung und Exil. Aber gleichberechtigt stehen bei ihr immer auch deren verheerende Folgen im Fokus, das Wiedererlangen der Würde für die Verfolgten, die Wiedergutmachung für die wenigen Überlebenden. Denn ihr Leben war ein einziger Schrecken, wie in der Geisterbahn eben. Den roten Faden der Handlung bildet dabei das Schicksal der Sinti-Familie Dorn, die durch die Hölle der Nazi-Repressionen geht und nach dem Krieg erleben muss, wie ihnen nicht nur die Neonazis erneut mit Verachtung, zuweilen mit offenem Hass begegnen. Aber auch wie unsensibel, geradezu verächtlich die Behörden der Nachkriegszeit mit ihnen umgehen, wie geringschätzig selbst die Polizei sie immer noch behandelt, all das wird umfassend thematisiert.

Anders als in «Landgericht», dem vor sechs Jahren mit dem Deutschen Buchpreis prämierten Roman, gibt es hier aber mehrere parallele Handlungsstränge, deren Figuren wir in fünf lose miteinander verflochtenen Abschnitten über drei Generationen hinweg durch Naziherrschaft und Zweiten Weltkrieg bis in die Jetztzeit hinein begleiten. Es beginnt in einer Schule in Trier, wo die kleine Anna aus einer Schaustellerfamilie Schwierigkeiten mit der Sprache hat, zuhause wird nun mal Romanes gesprochen. Ihre Familie betreibt ein Karussell und zieht damit über die Jahrmärkte im weiten Umkreis der Stadt. Nach der Machtergreifung sind sie zunehmenden Repressionen der Nazis ausgesetzt, die mit willkürlichen Anschuldigungen beginnen, in Zwangsarbeit, gewaltsamen Umsiedlungsaktionen und Zwangssterilisation eskalieren und für viele Mitglieder der Großfamilie im Vernichtungslager Auschwitz enden. Trier sei «zigeunerfrei», meldet schließlich der Nazi-Gauleiter stolz nach Berlin. Mit großem Fleiß hat Ursula Krechel wieder viele historische Details recherchiert und auch hier öfter mal aus Schriftstücken oder Formularen von Behörden zitiert, den seelenlosen Amtsjargon also authentisch eingebunden in ihre anrührende Geschichte.

Ziemlich irritierend war für mich die ambivalente Erzählsituation, denn obwohl es mit MEINVATER einen übereifrigen Polizisten als Figur gibt, der sich an den Schikanen und Quälereien der Sinti und Roma beteiligt, tritt erst ab der Hälfte des bis dahin auktorial erzählten Romans plötzlich ein Ich-Erzähler in Erscheinung. Dessen Namen wiederum erfährt man dann ebenfalls erst einiges später, ein ebenso neckisches wie überflüssiges Versteckspiel! Jener Bernhard also, weiß man dann, saß mit Anna auf der Schulbank, und die meisten der vielen Romanfiguren sind seine damaligen Klassenkameraden oder stammen aus deren Familien. Ganz nebenbei ist dieser Roman eine Hommage an die Geburtsstadt der Autorin, vor allem aber eine großartige Chronik einer historischen Katastrophe und ihrer Auswirkungen auf die Bürger Triers, in der Fiktion und Realität mit kaum wahrnehmbaren Übergängen kunstvoll verbunden sind. Neben den Dorns als Schausteller wird auch von den Geschwistern Orli und Willi Torgau erzählt, überzeugte Kommunisten, die ebenfalls Verfolgungen ausgesetzt sind, oder von dem Arzt Franz Neumeister, der als Opportunist den politischen Wandel nach dem Krieg unbeschadet übersteht und als Kinderpsychiater Karriere macht.

Die Lyrikerin ist sprachlich unverkennbar herauszuhören aus dieser anklagenden Prosa über eine beschämende Unmenschlichkeit, und auch die katholische Kirche als angeblicher Hort der Moral kommt dabei nicht ohne Blessuren davon. Ursula Krechels Sympathie gehört jedenfalls eindeutig der bunten, lebensfrohen, unschuldigen Kirmeswelt, die traumartige Antithese also zum «lupus est homo homini» bei Plautus, wie dieser großartige Roman sehr eindrucksvoll belegt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Archipel

Keine archäologische Grabung

Nach ihrer Shortlist-Nominierung 2015 hat Inger-Maria Mahlke dieses Jahr mit «Archipel» den Deutschen Buchpreis gewonnen, das vor knapp drei Monaten veröffentlichte Buch wurde jedoch vom Feuilleton überwiegend kritisch und von der Leserschaft sehr eindeutig ablehnend beurteilt. «Vor allem aber sind es die schillernden Details, die diesen Roman zu einem eindrücklichen Ereignis machen. Das Alltagsleben, eine beschädigte Landschaft, aber auch das Licht werden in der Sprache sinnlich erfahrbar» heißt es in der Begründung der Jury. Reicht das, um einen umfangreichen Roman wie diesen zu einer lohnenden Lektüre zu machen, ihn gar als Preisträger zu krönen?

Der Romantitel bezieht sich auf die Kanarischen Inseln, als Schauplatz dieser sich zeitlich über fünf Generationen und fast hundert Jahre hinweg erstreckenden, weitläufigen Erzählung dient Teneriffa. Wobei einige Familien aus ganz verschiedenen sozialen Schichten mit ihrem Alltagsleben im Fokus stehen, ergänzt durch eine schier unüberschaubare, periphere Figurenschar. Als narrativer Clou sozusagen wird hier zeitlich rückwärts erzählt, beginnend 2015 und endend im Jahre 1919. Stehen an Ende also die gerade überstandenen Schrecken des Ersten Weltkriegs, so sind wir am Anfang mit den Problemen einer ökologisch vor dem Kollaps stehenden, vermüllten Urlaubsinsel konfrontiert, die am Massentourismus zu ersticken droht. Die umgekehrt chronologische Erzählweise wird fragmentarisch in aneinander gereihten Szenen realisiert, die Ereignisse aus dem Leben der Protagonisten lose miteinander verknüpfen, wobei das Private jeweils mit der historischen Situation und den politischen Umbrüchen unterlegt ist.

Inger-Maria Mahlke ist eine genaue Beobachterin, der mit viel Liebe zum Detail anschauliche Schilderungen des Alltagslebens verschiedener sozialer Schichten ebenso gelingen wie Beschreibungen des inseltypischen Klimas mit seinem ewigen Sommer und der exotischen Natur oder der Städte mit ihren in die Kolonialzeit zurückdeutenden Bauwerken. Neben den großen Namen der aus ganz Europa zugewanderten Inselbewohner, deren bekanntester Bernadotte sein dürfte, widmet sie sich akribisch auch den namenlosen kleinen Leuten, baut Händler, Handwerker, Dienstboten und Arbeiter in ihre Geschichte mit ein. Ein vorangestelltes Verzeichnis der handelnden Personen hilft ein wenig, die überbordende Figurenfülle als Leser wenigstens einigermaßen richtig einordnen zu können, bei den Nebenfiguren ist man dann allerdings auf sich selbst gestellt. Ein weiteres unverzichtbares Hilfsmittel zum Verständnis für die vielen in den Text eingestreuten spanischen und kanarischen Begriffe ist das fünfseitige Glossar, genau dadurch jedoch wird für die überwiegende Mehrheit der Leser immer wieder der Lesefluss störend gehemmt.

Am meisten jedoch stört ohne Frage die gewagte Erzählkonstruktion, die sich aber als L’art pour l’art erweist, Zeit ist nämlich literarisch ebenso unumkehrbar wie physikalisch, – welchem Autor wäre das denn je überzeugend gelungen? Das Ganze ist also eine artifiziell anmutende Marotte der Autorin, nichts weiter! Die aus verschiedenen Perspektiven stilistisch sehr reduziert, fast spröde in ihrem ureigenen Duktus erzählten Handlungsfragmente fügen sich genau deswegen auch nicht zu einem inhärenten Plot, der diesen Namen wirklich verdiente, es fehlt eben eine nachvollziehbare Abfolge der Handlung. Die Figuren vermögen allesamt kaum Empathie zu erzeugen und werden auch nicht plastischer durch ihre teils wirren, oft unverständlichen Dialoge. Ein gewisser Erkenntnisgewinn ergibt sich allenfalls aus den zuweilen unterlegten historischen Fakten, ansonsten sind die Lesefrüchte spärlich, denn Detailfülle allein, zumal wenn sie sich auf fast ausschließlich Insignifikantes richtet, wird schon bald sehr langweilig und ermüdet zusehends auch den geduldigsten Leser. «So what?» wird sich mancher da fragen. Ein Roman funktioniert eben anders als eine archäologische Grabung!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Hysteria

Nicht mal «Die Grünen»

Für Auszüge aus seinem Romanprojekt «Hysteria» wurde Eckhart Nickel schon beim Bachmannpreis 2017 in Klagenfurt ausgezeichnet, inzwischen ist das Werk auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt worden. Damit hat die Jury erneut viel Mut bewiesen – und deutlich am Publikumsgeschmack vorbei entschieden, vermute ich mal. Es sei denn, die «neu an die Macht gekommene Naturpartei» im Roman wird als fiktive Fortschreibung der jüngsten, triumphalen Wahlergebnisse der «Grünen» gedeutet und passt somit prophetisch bestens in die politische Realität, – das wäre dann aber hier auch das einzig Reale! Denn schon der Romantitel deutet ja an, dass es sich um eine Dystopie handelt, ein pessimistischer Blick in eine ungute Zukunft also á la Orwells «1984» oder «Fahrenheit 451»von Ray Bradbury.

«Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht» lautet denn auch archetypisch vorausdeutend gleich der erste Satz, der hypersensible Wissenschaftler Bergheim wundert sich über die unnatürliche Beschaffenheit seiner auf dem Biomarkt erworbenen Früchte. Auf dem Obstkörbchen ist «Sommerfrische» aufgedruckt, der Name des Lieferanten, den er daraufhin aufsucht. Dort wird er freundlich zu einer Werksführung eingeladen, wandert im Kapitel «Baumschule» durch einen unheimlichen Wald und landet schließlich im «Kulinarischen Institut», dem alles beherrschenden Zentrum einer mehr als merkwürdigen Welt alternativer Lebensmittel. Dort trifft er Charlotte wieder, seine ehemalige Studienkollegin und Geliebte, die dort Leiterin der Bewegung «Spurenloses Leben» ist, einem aus ihrer Hochschule hervorgegangen Geheimbund mit einem monströsen Manifest von zehn unumstößlichen Regeln. Und auch Ansgar, Dritter im Bunde des einstigen Uni-Kleeblatts, taucht dort wieder auf und hilft letztendlich, das Schlimmste zu verhindern. In bester popliterarischer Tradition führt der Autor seine Leser in eine unheimliche Zukunft hinein, in der die Natur von den auch als «Rousseau-Husaren» bezeichneten Mitgliedern der radikalen Sekte komplett durch Kunstprodukte ersetzt ist, ohne dass die Öffentlichkeit auch nur das Geringste davon gemerkt hat. Köstlich ist in diesem Zusammenhang die sarkastische Schilderung eines Besuchs des studentischen Trios in der «Aroma-Bar», in der diese neuzeitliche, illusionäre Kulinarik geradezu seanceartig ad absurdum geführt wird.

«Tristesse Royal» hieß der Titel eines Buches, in dem die Quintessenz der Gespräche des «Popkulturellen Quintetts» im Berliner Hotel Adlon, an denen Eckhart Nickel als Mitglied teilgenommen hatte, 1999 veröffentlicht wurde. Entsprechend subversiv dem Zeitgeist entgegentretend, dem Gutmenschentum mit seinem naiv verklärten Naturbegriff also, beschreibt der Autor nun in diesem Ökothriller ein monströses, geradezu perverses Szenario des Künftigen. Die unverkennbar ironisch geschilderten, oftmals aber eher unerquicklichen Science-Fiction-Szenen des Romans werden durch weiträumige, ebenso ironische Rückblenden wohltuend konterkariert, in denen das Studententrio tiefsinnige Diskussionen führt. Dabei spielt ein idealtypisches Antiquariat mit einem kauzigen Buchhändler eine wichtige Rolle, in dem Bergheim als Stammkunde verkehrt und wo auch Charlotte als Aushilfe tätig ist. Nur diese literarische Oase macht, im Verbund mit einer reichhaltigen Intertextualität in einem ansonsten von Paranoia dominierten Horrortrip, das Buch für alle diesem speziellen Genre eher distanziert gegenüber stehenden Leser überhaupt erst goutierbar.

Die in zwei Zeitebenen beschriebene, satirische Dystopie changiert geradezu parodistisch zwischen den manchmal schwer auseinander zu haltenden Sphären von Traum, Wahn und Wirklichkeit, die angestrebte Renaturalisierung erweist sich hier nicht nur als grausames, sondern auch als ebenso irres Vorhaben. Wer nicht gerade Genreleser ist, der wird an dieser Spielart des «Zurück zur Natur» jedoch kaum Gefallen finden, – nicht mal «Die Grünen» der Jetztzeit, zu abstrus ist das alles!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Die Katze und der General

Eine tschetschenische Tragödie

Die in Tiflis geborene und heute in Hamburg lebende Dramatikerin, Regisseurin und Schriftstellerin Nino Haratischwili ist mit ihrem neuen Roman auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt worden, ein schöner Erfolg für die 35jährige Autorin. Geprägt ist ihr Roman von einer schier unbändigen Erzähllust, deren Niederschlag sich in einem 763 Seiten starken Prosaband findet, der gekonnt die Elemente eines Thrillers mit den Ingredienzien eines üppigen Balkan-Epos verbindet. Dessen Handlungskern beinhaltet eine auf einer wahren Begebenheit beruhende Gräueltat während des Ersten Tschetschenischen Krieges. Im Feuilleton wurde der Roman, – in einem merkwürdigen Gegensatz zur Buchpreisjury -, unisono verrissen, da fragt sich der verwirrte Leser nun allerdings, wer denn da irrt.

Im Prolog wird uns die 17jährige Nura aus einem gottverlassenen Dorf in einer Schlucht des Balkangebirges vorgestellt, wo 1994 ein Trupp russischer Soldaten Stellung bezogen hat, eine Art Erholungspause nach den verlustreichen und kräftezehrenden Kämpfen um die Hauptstadt Grosny. Das Mädchen wird als Terroristin verdächtigt und beim Verhör in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Gewaltexzess vergewaltigt und ermordet. Orlow, von seinen Kameraden spöttisch «General» genannt, einer der vier beteiligten Soldaten, meldet die Gewalttat dem Oberkommando und zeigt sich reumütig selbst als einer der Täter an. Das wegen der negativen Schlagzeilen an einer Strafverfolgung nicht interessierte russische Militär kann nach Ermordung eines Verteidigers den Strafprozess dadurch abwenden, dass sie dem nun vollends desillusionierten Orlow einen lukrativen Posten in der militärischen Baubehörde verschafft und so seine Aussage vor Gericht verhindert. In wenigen Jahren wird aus ihm ein mächtiger Oligarch, der skrupellos dem Geld hinterher jagt und sich schließlich mit Frau und Tochter in Berlin niederlässt. Aber die Schatten der Vergangenheit holen ihn ein, seine innig geliebte Tochter Ada kommt ihm mit Hilfe des zwielichtigen Journalisten Onno auf die Spur und begeht verzweifelt Selbstmord. Auf einem Filmplakat sieht der General irgendwann zufällig eine Schauspielerin mit dem Spitznamen «Katze», eine Doppelgängerin von Nura, ihr wie ein eineiiger Zwilling geradezu aus dem Gesicht geschnitten. In ihm reift ein perfider Plan.

Man merkt dem Roman an, dass er von einer ausgewiesenen Dramatikerin geschrieben wurde. Sie schafft es nämlich, ihr von einer überbordenden Stofffülle beinahe überdecktes Handlungskonstrukt mit stetig wachsender Spannung schließlich doch noch zu einem geradezu klassischen, überraschenden Showdown zu führen. Der Weg dorthin aber führt über unendlich viele zeitlich vor- und zurückspringende, aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschichten, in denen eine riesige Schar von Figuren agiert, die allesamt in das vielschichtige Geschehen mit seiner Schuld-und-Sühne Thematik verwoben sind. Als Leser bekommt man durch diese vielen Lebensgeschichten tiefe Einblicke in einen inzwischen weitgehend vergessenen politischen Konflikt und dessen unmittelbare Folgen auf die verschiedenen Romanfiguren. Dabei wird insbesondere der Zusammenbruch der Sowjetunion beleuchtet sowie das nachfolgende ökonomische Chaos mit dem blitzschnellen Entstehen verbrecherisch zusammengerafften Reichtums in Händen weniger Oligarchen.

Der Roman erinnert in seiner düsteren Dramatik an klassische Tragödien, die Figuren sind eher markig als psychologisch tiefsinnig gezeichnet, und auch die bildreiche Sprache ist eher zielgerichtet und zweckmäßig als kreativ und inspiriert. Dieser mit viel Pathos und in epischer Breite erzählte Roman weist leider etliche Ungereimtheiten auf, ist andererseits aber in seiner sezierenden Sichtweise auf enthemmte Menschen in rechtsfreien Räumen und dem zentralen Motiv der Läuterung geradezu beklemmend zu lesen als Spiegel der Seele. Ob Verriss oder Jubel, da irrt sich hier wirklich niemand – völlig!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Frankfurter Verlagsanstalt

Peter Holtz

Mit ungutem Beigeschmack

Glück und Wende sind die Themen in Ingo Schulzes Schelmenroman «Peter Holtz», der seine Leserschaft mindestens ebenso polarisiert hat wie die zwei deutschen Staaten, die sich einst ideologisch unversöhnlich gegenüberstanden. Darf man das viele Leid, welches der Unrechtsstaat DDR über sein Volk gebracht hat, – nicht nur die Mauertoten, sondern auch die unsäglichen Repressionen Millionen Andersdenkenden gegenüber, denen oft ja unwiderruflich der Lebensweg zerstört wurde -, darf man all das unterbügeln, darf man darüber nassforsch aus der Perspektive eines Schelms erzählen?

Mit dem Untertitel «Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst» ist schon einiges gesagt, der Aufstieg des Waisenkindes beginnt mit seiner Adoption, und weil sein Berufsziel, der freiwillige Eintritt in die NVA, kläglich scheitert, wird Peter Holtz Maurer. Bald schon bekommt er ein Haus geschenkt, die viel zu niedrigen, staatlich festgelegten Mieten, der marode Zustand und der Mangel an Baumaterial lassen das eigene Haus für viele zur lästigen Bürde werden, zu unerwünschtem Eigentum, das man aber zu unterhalten verpflichtet ist. Peter saniert voller Tatendrang in Eigenregie, kauft weitere Häuser hinzu, finanziert das alles durch sein illegales, privates Trabbi-Taxi, mit dem er am Staat vorbei das benötigte Geld verdient. Eigentlich ja ein Sündenfall des ansonsten linientreuen DDR-Bürgers, der naiv und kritiklos die idealistischen Parolen der Parteibonzen wörtlich nimmt und sie in endlosen Disputen gegen Kritik geschickt verteidigt. Mit seiner Hinwendung zum Christentum, – ideologisch für ihn «ein zweites Standbein» -, und dem Eintritt in die Ost-CDU beginnt seine politische Karriere, fortan sind Kommunismus und Christentum für ihn zwei Seiten einer Medaille. Nach einem Autounfall fällt er ins Koma und wacht erst nach dem Mauerfall wieder auf. Durch seine diversen Häuser ist er nun quasi über Nacht zum Millionär geworden, sie sind plötzlich sehr viel wert. Von einem Immobilienhai zur Ideologie des Eigentums bekehrt, interpretiert er Kapitalismus allerdings auf eigene Weise. Geschickt vermehrt er zwar sein Geld, ohne dabei aber seine Idee einer wahrhaftig kommunistischen Gesellschaft aus den Augen zu verlieren, in die der Kapitalismus zwangsläufig irgendwann einmünden würde. Da ist Geld dann überflüssig, weil durch gerechte Verteilung der gemeinsam erwirtschafteten Güter die legitimen Bedürfnisse des Volkes für alle zufriedenstellend erfüllt werden können. Folgerichtig geht er mit gutem Beispiel voran und beginnt, sein für das Wohlergehen der Menschen unnötiges Geld öffentlich unter der Weltuhr am Alexanderplatz in Berlin zu verbrennen, Tausenderschein für Tausenderschein.

Die Sterntaler haben dem armen Mädchen bei den Brüdern Grimm letztendlich kein Glück gebracht, der naive Peter Holtz erlebt das Gleiche. Der den Zeitraum von 1974 bis 1998 abdeckende Schelmenroman klammert durch die Perspektive eines DDR-indoktrinierten Holzkopfes, eines Narren mit einem dicken Brett vor dem Kopf, parabelartig die bittere Realität völlig aus, wobei die Geschichte auch noch, – um beim Kalauern zu bleiben -, holzschnittartig erzählt wird in einer geradezu simplen Diktion. Die ausufernden und irgendwann ziemlich langweilig werdenden ideologischen Reflexionen werden zumeist in Dialogform vorgebracht, ohne aber eine tiefer reichende, überzeugende politische Wahrheit abbilden zu können, wobei dann auch noch der penetrante Oberlehrerduktus des kapitalismuskritischen Autors gewaltig stört.

Gleichwohl ist «Peter Holtz» ein amüsanter, lesenswerter Roman, der eigene Gedanken des Lesers anstößt und auf jüngere sogar Horizont erweiternd wirken dürfte. Dieser moderne Narr ist in seinem Feldzug gegen das Geld ebenso unbeirrbar wie sein literarisches Vorbild Don Quijote. Solcherart Harmlosigkeit aber täuscht leider völlig über die Tücke des DDR-Regimes hinweg, was dem in pikaresker Tradition Erzählten leider einen unguten Beigeschmack verleiht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Sültzrather

Glücksfall

Nachträglich «Chapeau» für die Jury des diesjährigen Deutschen Buchpreises, die sich getraut hat, das neue Buch «Sültzrather» von Josef Oberhollenzer wenigstens auf ihre Longlist zu wählen. Nun ist ein Platz unter den letzen Zwanzig zwar nicht gerade ein literarischer Ritterschlag, aber sieht man sich die weichgespülten, leicht konsumierbaren und damit unverhohlen auf ein Massenpublikum zielenden aktuellen deutschsprachigen Werke der Belletristik, und also auch die in der erwähnten Auswahlliste, mal näher an, dann ist dieser Roman des weitgehend unbekannten Schriftstellers geradezu revolutionär dagegen. Im mit fünf Büchern in 24 Jahren äußerst bescheidenen Œuvre des Südtirolers, der über «Lebensläufe in der Literatur der siebziger Jahre» promovierte, ist von heiler Bergwelt nichts zu lesen, stattdessen geht es auch im vorliegenden Roman um einen literarischen Lebenslauf und die Frage nach den Erinnerungen, die diesem zugrunde liegen.

Der Zimmermann Vitus Sültzrather, Sohn des Kalberhof-Bauern aus dem Südtiroler Ort Aibeln, stürzt am 18. Mai 1959 vom Baugerüst und ist fortan querschnittsgelähmt. Er beginnt zu schreiben und steigert sich in eine regelrechte Schreibwut hinein, in seinem Zimmer türmen sich die beschriebenen Papierstapel meterhoch, seine Zugehfrau Nothburga T. muss ihm jede Woche ein neues Paket mit 500 Blatt Schreibmaschinenpapier besorgen. Er schreibt detailliert gegen das Vergessen an, wobei der Roman, den wir lesen, nicht etwa seine Autobiografie darstellt, sondern den Schreibprozess schildert einschließlich der umfangreichen Recherchen, dabei akribisch die Gedankengänge von Sültzrather offenlegend. «Alles, was mich umgibt, inspiriert mein Schreiben. Ein Satz, eine Begegnung, alles» hat Josef Oberhollenzer in einem Interview erklärt, und genau so geht es auch seinem Protagonisten, der kommt vom Hundertsten ins Tausendste. In einer längeren Passage sinniert er zum Beispiel in allen Einzelheiten darüber nach, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er den Beruf des Lehrers ergriffen. Irgendwann treibt ihn dann schließlich die Frage um, was von der Erinnerung bliebe ohne seine Aufzeichnungen, und er beginnt unbeirrt mit deren Vernichtung, indem er Stück für Stück den Text vom Papier «abschabt», wie es im Roman heißt.

Es ist ein sperriges Stück Prosa, das da auf geduldige Leser wartet, sprachlich eigenwillig wie kein anderes Buch, das ich je gelesen habe, seine knapp 180 Seiten in gemäßigter Kleinschreibung sind fürwahr anstrengend. Ein Anmerkungsapparat von nicht weniger als 205 in Kleinstschrift gedruckten Fußnoten ist dabei noch nicht einmal das größte Problem, denn etliche davon sind reiner Nonsens, «Isidor Sültzrather, Mein wunderbarer Großonkel, Erinnerungen an den Dichter Vitus Sültzrather, Klausen 2012, S. 224» ist ein amüsantes Beispiel dafür, und häufig wird genau so ironisch auch auf angebliche Tagebücher Sültzrathers als Fundquellen verwiesen, ein herrlicher Seitenhieb auf eine allzu gespreizte wissenschaftliche Literatur. Neben orthografischen und typografischen Eigenwilligkeiten gibt es auch diverse «erfundene» Fakten, abseitige Zitate und skurrile Szenen in diesem narrativen Geflecht. Erfreulich ist die üppige Intertextualität, gleich zu Beginn wird der Schuhfimmel von Thomas Bernhard mit dem von Vitus Sültzrather verglichen, dem heiligen 16. Juni der Joycejünger entspricht der «18. Mai als Tag der entpuppung des dichters Sültzrather», der wie ein Meteor vom Baugerüst gefallen sei. Und überhaupt spielt Abseitiges eine wichtige Rolle, was mich unwillkürlich an Arno Schmidt erinnert hat mit seinen als «ewiges Lämpchen» bezeichneten Fouqué-Studien.

Sültzrather begreift schlussendlich, «nichts als teil jenes namenlosen menschenheeres zu sein, das sich in den untiefen der geschichte verloren habe». Aus der Ödnis der zeitgenössischen deutschsprachigen Belletristik taucht dieser vielschichtige Roman jedenfalls wie eine literarische Oase hervor, ein Glücksfall für anspruchsvolle Leser.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Folio Verlag

Nachtleuchten

Bombastisch

Die in Buenos Aires geborene deutschsprachige Schriftstellerin María Cecilia Barbetta hat mit «Nachtleuchten» ihren zweiten Roman veröffentlicht, er wurde vom Feuilleton wohlwollend aufgenommen und auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018 gewählt. Seit ihrem 24ten Lebensjahr in Berlin lebend hat die Autorin quasi einen argentinischen Roman geschrieben, Ort der Handlung ist das Stadtviertel Ballester in Buenos Aires, wo sie aufgewachsen ist. Ihre Heimat in der Zeit vor dem Putsch von 1976 bildet nämlich nicht nur das Thema für dieses breit angelegte Epos der kleinen Leute, sie hinterlässt mit vielen – leider meist unübersetzten – spanischen Zitaten auch sprachlich deutliche Spuren im Text.

Der kryptische Titel des Buches bezieht sich auf eine mit Leuchtfarbe angemalte Marienfigur aus Plastik, eine verkleinerte, fluoreszierende Replik der argentinischen Nationalheiligen, die eine sendungsbewusste Schülerin verschiedenen Haushalten als Leihgabe für jeweils eine Woche aufschwatzt, damit sie dort ihre wundersamen Kräfte entfalte. Diese potentielle Integrationsfigur der auseinander strebenden politischen Kräfte des Landes wirkt erzählerisch überzeugend als Leitmotiv. In drei Teile mit jeweils 33 Kapiteln gegliedert, – Jesus wurde 33 Jahre alt, Evita Perón ebenfalls (sic!) -, endet der Roman mit einem die Zeit negierenden Epilog unter dem Titel «Die vierte Dimension». Darin zerschellt diese Figur, wobei im Sturz die gesamte Erzählung in einem einzigen fünfseitigen Satz chorartig noch mal komplett rekapituliert wird.

In dem dreiteiligen Panorama der Gesellschaft Argentiniens mit ihren unterschiedlichen Milieus wird zunächst von den Kameradinnen einer streng katholischen Mädchenschule erzählt, die eine ebenso fromme wie strenge Erziehung genießen und eine religiös geprägte Revolution unter dem Motto «Transformation zum Guten» anstoßen wollen. In der Kfz-Werkstatt «Autopia», beim schwulen Friseur «Ewige Schönheit» oder in der Chemischen Reinigung «Clean Eastwood» erleben wir eine Schar von Laienphilosophen, die allesamt – vor dem politischen Hintergrund des aus dem Exil zurückgekehrten Präsidenten Perón und dem späteren Putsch gegen seine Witwe Isabel – über Gott und die Welt schwadronieren, was amüsant zu lesen ist als unterhaltende, aber kaum ernst zu nehmende Alltagsphilosophie. Es schließt sich zeitlich die Militärdiktatur an mit ihren Todesschwadronen, wobei der unheilschwangere politische Hintergrund hier allenfalls als Kulisse für das Leben der kleinen Leute dient, die Schrecken dieser Zeit werden, meist in Form eingeblendeter Zeitungsmeldungen, nur sehr dezent angedeutet, der Horror bleibt weitgehend ausgespart.

Mit ausufernder Fabulierlust erzählt die Autorin überaus blumig, auf verschlungenen Pfaden und in zahllosen Einzelszenen, aus dem Leben ihrer ebenfalls zahllosen, zumeist über Dialoge erschlossenen, durchweg sympathischen Figuren. Deren schiere Vielzahl aber bleibt nur mit Hilfe eines akribisch geführten Spickzettels wenigstens einigermaßen überschaubar. Geradezu artistisch jongliert Señora Barbetta besonders im spiritistisch geprägten dritten Teil ihrer Geschichte mit handlungsfernen Exkursen sowie diversen sprachlichen, typografischen und kabbalistischen Formen. Und so manche Verzweigung im Plot endet auch ganz unvermutet in einer Sackgasse. Die Vespa fahrende, schöne Nonne zum Beispiel, die anfangs wohl des Lesers Neugier erregen soll, endet sang- und klanglos in einer Blutlache, warum bleibt offen. Spielerisch benutzte Anagramme, lautmalerische Begriffe, aber auch eine Überfülle an nicht immer ernst zu nehmenden Reflektionen garnieren die Geschichte, anbiedernd ergänzt um eine Unzahl typisch deutscher Redensarten. Eher ärgerlich sind Pleonasmen und andere sprachliche Mätzchen in diesem bombastisch aufgemotzten, letztendlich aber langweiligen Roman, in dem die reichlich vorhandenen, intellektuellen Fähigkeiten seiner Autorin ziemlich eitel im Vordergrund stehen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Eine dieser Nächte

Diarrhöartige Suada

Von der Schriftstellerin und Übersetzerin Christina Viragh ist nach zwölf Jahren Pause wieder ein Roman erschienen, dessen Titel «Eine dieser Nächte» bereits andeutet, dass sein Plot eine eng begrenzte Zeitspanne umfasst, die hier zwölf Stunden dauert. Dieser neue Roman der in Rom lebenden Schweizerin mit ungarischen Wurzeln ist innerhalb ihres – mit sechs Romanen in fünfundzwanzig Jahren – überschaubaren Œuvres nicht nur seines üppigen Umfangs wegen ihr Opus Magnum, sie hat scheinbar auch alles hineingepackt, was ihr erzählerisch zur Verfügung stand, hat also ihren jahrelang angesammelten Zettelkasten, so stelle ich mir das bildlich vor, komplett abgearbeitet. Mit der Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2018, – der übrigens vorgestern mit «Archipel» an ein ebenso ambitioniertes, nämlich chronologisch rückwärts erzähltes Werk ging -, hat die Jury jedenfalls viel Mut bewiesen, denn beide Romane sind wenig massentauglich und spalten die Leserschaft, wie die wenigen Rezensionen bisher zeigen, recht deutlich.

«Es war die Dämmerstunde, in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen» hat Marguerite Yourcenar in «Der Fangschuss» als ersten Satz geschrieben. Bei Christina Viragh liest man zu Beginn: «Das Flugzeug steht am Anfang der Landebahn und scheint sich schon aus dem Stand heben zu wollen, es zittert vor verhaltener Energie, die Flügel wippen». Die beiden Romane trennen zeitlich siebzig Jahre, gemeinsam ist ihnen die zum Erzählen geradezu prädestinierte Nachtzeit und das zum Nichtstun verdammt sein. Im ersten Fall also die Wartezeit im Bahnhof von Pisa, bei Viragh der zwölfstündige Nachtflug mit Thai Airlines Flug TG970 nonstop Bangkok/Zürich in einer Boeing 777. Die von einem Kongress auf Bali zurückkehrende Schriftstellerin Emma, biografisch eindeutig das Alter Ego der Autorin, hat das Pech, neben einem schwatzsüchtigen Amerikaner zu sitzen, dessen voluminöse Stimme auch die umliegenden Sitzreihen erreicht und allen Passagieren gewaltig auf die Nerven geht.

Der diarrhöartigen Suada von Bill, – ein unsympathischer Schwätzer und typisch amerikanische Klischeefigur zugleich -, kann sich niemand in Hörweite entziehen. Aber allmählich beginnen die pausenlos heraussprudelnden, belanglos erscheinenden Szenen und Episoden des aufdringlichen Schwadroneurs, den Emma als Sextourist einschätzt, die kleine Gruppe der Passagiere in Bann zu ziehen. Das Erzählte entwickelt langsam seinen Reiz, es ruft immer wieder neue Storys auch der anderen hervor, beflügelt geradezu die Fantasie und mündet in einen ausufernden und episch breit angelegten Erzählreigen mit überraschenden Querbezügen und Verweisen. Neben Bill und Emma gehören das schwule Pärchen Michael und Stefan zu dem Figurenensemble, ferner der seltsam gehemmte Ethnologe Walter, der über Bestattungsriten forscht, sodann Hagen, ein zwölfjähriger, iPad-süchtiger Blogger, schließlich noch die japanische Familie in der Sitzreihe dahinter. Sie alle eint die Orientierungslosigkeit beim Flug in finsterster Nacht, auf engstem Raum stundenlang schicksalhaft vereint und doch bindungslos mit sich allein, – all das löst auch ihnen allmählich die Zunge.

Sprachlich zieht die Autorin alle Register, variiert gekonnt die interschiedlichen Stimmen ihres Figurenensembles und negiert thematisch jedwede Plausibilität in postmoderner Tradition. Natürlich fordert ein solch komplexer Stoff zu eigenen Interpretationen heraus, er macht damit das Lesen in Anbetracht der Fülle von unmotivierten Verästelungen und Erzählfragmenten, so ging es mir jedenfalls, zu einer Sisyphosarbeit auf der Suche nach Zusammenhängen. Die Suada des Protagonisten findet ihre Entsprechung im Plot dieses ebenso langweiligen wie nichtssagenden Romans, bei dem auch das Lesen selbst zu einem unerquicklichen Langstreckenflug wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Dörlemann

Heimkehr nach Fukushima

Glücksinsel

Unwillkürlich ist man irritiert, wenn der Name Fukushima statt in einem Sachbuch im Titel eines Romans erscheint. «Heimkehr nach Fukushima» des Schriftstellers Adolf Muschg ist definitiv Belletristik, jüngst erst erschienen, an seinen Erstling «Im Sommer des Hasen» erinnernd, dem Reich-Ranicki unter dem Titel «Gruppe 47 im Kimono» einst eine kritische Rezension gewidmet hat. Schon vor 52 Jahren also ist Japan der Schauplatz eines Romans von ihm gewesen, wen wundert’s, ist der Schweizer doch mit einer Japanerin verheiratet. Nun also widmet er sich thematisch dem starken Erdbeben vom 11. März 2011, dem dadurch ausgelösten Tsunami und dem anschließenden Super-GAU in diesem japanischen Atomkraftwerk.

Der 62jährige Architekt und Schriftsteller Paul Neuhaus erhält von dem ehemaligen Stipendiaten Ken Temna und dessen Frau Mitsuko die Einladung zu einem Besuch in Fukushima, er soll nahe dem Unglücksmeiler eine Künstlerkolonie ins Leben rufen. Der dortige Bürgermeister erhofft sich davon eine mentale Unterstützung für die von der Regierung gewünschte Rückbesiedlung der kontaminierten Gebiete. Ken kann ihn wegen eines wichtigen Termins nicht auf seiner Reise in die verstrahlten Gebiete begleiten, und so reist er mit dessen Frau als Übersetzerin dorthin. Während ihrer mehrtägigen Besichtigungstour mit permanent bedrohlich tickendem Geigerzähler kommt es plötzlich und unvermittelt zu wildem Sex der Beiden, – die sich gleichwohl weiter siezen, eine Referenz an die japanische Schamhaftigkeit. Am Tage vor ihrer Rückreise taucht unerwartet plötzlich Ken auf, der gesundheitlich schwer angeschlagen ist. Ohne Abschied trennen sich am nächsten Tag die Wege von Paul und Mitsu, wie er sie nach dem phonetisch gleichlautenden Roman von Colette nennt. Er aber verbringt vor seinem Rückflug noch einen Erholungsurlaub in einem ruhigen Hotel in Hankone mit Blick auf den Fuji, er will an seinem Buch weiterschreiben. Der sehnlichst erwartete Anruf von Mitsu bleibt aus, doch kurz vor seinem Abflug erscheint sie doch noch im Frühstücksraum des Flughafenhotels. Als Abschiedsgeschenk hat sie die beiden frisch gereinigten Strahlenschutzanzüge bei sich, die sie sich gegenseitig vom Leibe gerissen hatten beim ersten Sex. Sie begleitet ihn noch zum Check-in, dort trennen sie sich dann mit einem rätselhaft wortkargen Abschied, der fast alles offen lässt.

Für das Gegenüber der westlichen und östlichen Kultur, für die tödliche Reaktorkatastrophe und ihre verheerenden Folgen sowie für die wenig emotionale Liebesgeschichte hat Muschg als literarischen Begleiter Adalbert Stifter auserkoren, dessen « Nachkommenschaften» Paul im Handgepäck hat. Daraus streut der Autor dann sehr häufig mehr oder weniger passende Zitate in seinen Text ein. «Adalbert der Langeweiler» hatte Susanne, Pauls auf Trennungskurs befindliche Lebensgefährtin, den ständigen Begleiter genannt, eine wie ich finde zutreffende Beschreibung dessen, was auch so manchen Leser befremden dürfte, zu abseitig sind doch diese altbackenen, biedermeierlichen Ergüsse. Informativ aber sind die Passagen, in denen detailliert die mit scharfem Blick aufgedeckte, hoffnungslose Situation der dauerhaften Unbewohnbarkeit beschrieben wird, ohne ins Fatalistische abzugleiten, während der unsichtbar lauernde Tod von den Japanern mit ihrer rigiden Schamkultur geradezu stoisch ignoriert wird.

Mit klugen Reflexionen über den Menschen und seinen unvernünftigen Umgang mit der Technik wird hier eine Katastrophe thematisiert, wie sie die Menschheit in ihrer unerbittlichen Zeitdimension noch nicht erlebt hat, die sie letztendlich auch weit überdauern wird mit in Jahrtausende berechneten, radioaktiven Zerfallszeiten. Auch wenn nicht alles schlüssig ist in diesem hoch ambitionierten Roman, so ist er doch bereichernd und vor allem so gut erzählt, dass sich die Lektüre lohnt, auch wenn man sich dabei literarisch nicht unbedingt auf einer Glücksinsel befindet, – das nämlich bedeutet «Fukushima» auf Japanisch.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Sechs Koffer

Gekonnt oder nicht?

Der neue Roman «Sechs Koffer» von Maxim Biller hat es auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, und wie so oft in seinem Œuvre ist die Kritik auch hier recht geteilt. Kontroverse Reaktionen begleiten den literarischen Weg des streitbaren Schriftstellers, der auch als Kolumnist und Kritiker tätig ist, ja vom Beginn an, eines seiner Werke, der Roman «Esra», ist in Deutschland sogar mit einem Veröffentlichungsverbot belegt. Seinen schreibenden Kollegen hat er in einem Vortrag in der Evangelischen Akademie Tutzing frech vorgeworfen, «Schlappschwanz-Literatur» zu produzieren und «das handwerkliche Prinzip ‹Moral›» zu ignorieren. Ich erinnere mich auch an einen Auftritt von ihm im Literarischen Quartett 2.0 Weidermannscher Prägung, wo er über den Autor des besprochenen Buches selbstherrlich «er kann es nicht» geäußert hat, eine abstoßende, arrogante Provokation unter Kollegen. Kann er es denn selbst, habe ich mich gefragt.

Als dezidiert jüdischer Autor thematisiert Maxim Biller hier einen tödlich endenden Verrat, dem der Tate zum Opfer fiel, wobei es jemand aus der Familie gewesen sein muss, der den Vater denunziert hat. In dem autobiografischen Roman tritt als Ich-Erzähler der sechsjährige Enkel des 1960 wegen Schwarzmarktgeschäften und Devisenvergehen hingerichteten Taten auf, den die Frage umtreibt, wer denn nun den Großvater verraten hat, einer der vier Söhne oder eine der beiden Schwiegertöchter. In sechs Kapiteln und in häufig wechselnden Episoden wird die Geschichte einer weitzerstreut lebenden Familie erzählt, beginnend an dem Tag, als sein Onkel Dima aus dem Gefängnis in Prag entlassen wird, wo er vier Jahre lang wegen Devisenschmuggel und versuchter Republikflucht eingesessen hat. War er der Verräter? Oder Natalia, seine Frau, die schöne Filmregisseurin, die in London lebt? Aber auch Sjoma, der eigene Vater, oder Rada, seine Mutter könnten es gewesen sein, oder der reiche Onkel Lev, der in Zürich lebt, und auch Wladimir, der Onkel in Südamerika, ist verdächtig. In Episoden ohne chronologischen Zusammenhang wird mit großen Zeitsprüngen in einer unkonventionellen Mischung aus personaler und auktorialer Erzählweise aus dem Leben dieser jüdischen Familie erzählt, die aus Moskau stammend nach Prag gegangen war und schließlich in Deutschland sesshaft wurde. Es ist die existentielle Geschichte einer zerrissenen Familie voller Misstrauen und Zweifel, die – durch totalitäre Systeme heimatlos geworden – überall und nirgends zu Hause ist.

Es geht nicht um den Verrat als solchen, es geht um die Bedingungen des Verrats in diesem wehmütigen, autofiktionalen Kurzroman, bei dem erzählerische Verlässlichkeit absolut Fehlanzeige ist in Anbetracht diverser Ungereimtheiten. Stilistisch wirkt dieses Verwirrspiel um familiären Neid eher wie ein Essay mit seinen unscharf gezeichneten, schablonenhaften Figuren, die seelisch karg erscheinend emotionalen Tiefgang vermissen lassen und obendrein auch noch als Typen völlig uninteressant bleiben. Geradezu verstörend wirkt außerdem die nassforsche, krawallartige Diktion von Maxim Biller, in der sich simple, negativ wertende Adjektive häufen wie hässlich, unfreundlich, verklemmt, böse, unsympathisch, frech, um dann auf ebenso gehässige Substantive zu stoßen wie Antisemitenblick und Osteuropäergesicht, um nur einige zu nennen.

Mit dem Geld zählenden Taten wird hier zu allem Überfluss auch noch das älteste jüdische Klischee überhaupt bedient. Und die dutzendfach wiederholte Bezeichnung eines Freundes des namenlos bleibenden Erzählers als «Miloslav – oder Jaroslav – » im dritten Kapitel wird bald richtig stressig für den Leser, er wird geradezu mit der Nase auf den unzuverlässigen Erzählstil gestoßen, der in seiner Unbestimmtheit letztendlich den gesamten Roman zu einer langweiligen Lektüre macht. Ob dieser Roman also gekonnt ist, sein Autor «es kann», wie er sich auszudrücken beliebte, muss wie immer jeder für sich entscheiden, – ich habe da berechtigte Zweifel.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Ein schönes Paar

Exakta Varex

Nach zwölf Jahren ist nun wieder ein Roman von Gert Loschütz erschienen, dessen schon fast kitschig scheinender Titel «Ein schönes Paar» an Harmonie denken lässt, was durch das sepiafarbene Papier, auf dem er gedruckt ist, noch unterstrichen wird, – ein klassischer Liebesroman also? Mitnichten, denn er erzählt genau vom Gegenteil, von tragischer Trennung und jahrzehntelanger Wortlosigkeit bis in den Tod. Wobei es die Teilung Deutschlands ist, die die Liebenden stolpern lässt und das Paar auseinanderreißt in einer an Effi Briest erinnernden, ursachegleichen Tragik.

Ich-Erzähler dieses Eheromans ist Philipp, von seiner schönen Mutter nur Fips genannt, ein Fotograf, der sich an das Liebesglück seiner Eltern erinnert. Der Vater war leitender Angestellter in einem großen Industriebetrieb der DDR und hatte sich bei einem damals, vor dem Mauerbau, noch möglichen Westbesuch bei der Bundeswehr beworben. Ein von dort unbedacht an seine Heimatadresse geschickter Brief wurde ihm zum Verhängnis, er musste Hals über Kopf fliehen, seine Frau und Fips folgten wenig später. Um das Ersparte zu retten wurde noch schnell eine sündhaft teure Spiegelreflexkamera gekauft, die als Startkapital im Westen wieder zu Geld gemacht werden sollte. Ein tragischer Irrtum, denn einen annehmbaren Preis konnte der Vater im westlichen Konsumparadies für die Exakta Varex nicht erzielen. Um seine vergeblichen Verkaufsbemühungen vor seiner Frau zu verschleiern beging er einen folgenschweren Fehler und landete im Gefängnis. Die selbstlose Liebe seiner Frau brachte ihm zwar die Freiheit wieder, bewirkte aber auf fatale Weise die unversöhnliche, lebenslange Trennung des Paares. In Rückblenden erzählt Fips das Geschehen aus seiner Sicht, wobei ihm eine tragische Rolle zufällt. Denn er hat ungestüm handelnd verursacht, dass ein aus Liebe begangenes Fehlverhalten seiner Mutter bekannt wurde und zum Zerwürfnis der Eheleute führen musste, was ihn dann auch selbst lebenslang belastet hat.

Gert Loschütz schreibt hier im Stil des Nouveau Roman, es gibt keine psychologisch sezierten Protagonisten, auch keine stringente Handlung, sondern immer wieder erzählerisch irritierende Sackgassen und Leerstellen in einer Geschichte voller Geheimnisse. Damit lässt er seinen Lesern denn auch reichlich Raum für eigene Interpretationen und zuweilen erforderliche, gedankliche Ergänzungen. Den ominösen Fotoapparat benutzt er sehr raffiniert nicht nur als narrative Klammer, sondern auch als äußere Ursache einer tragischen Verkettung von allenfalls leichtsinnig begangenen Fehlern. Geradezu detektivisch bröselt Fips mit seiner Spurensuche nach dem Tod beider Eltern ihre Geschichte auf, spürt den Umständen ihrer unwiderruflichen Trennung bis zum Tode nach. Und erkennt am Ende, das seine Eltern auf eine von ihnen selbst niemals eingestandene Weise doch untrennbar miteinander verbunden waren. Die Mutter ist heimlich auf dem Friedhof dabei, als der Vater begraben wird, das Pflegeheim der Mutter wurde vom Vater ebenso heimlich mitbezahlt. Und aus der Ferne, über den Fluss hinweg, der sie trennte, hatten die Beiden bis zu ihrem Ende zumindest Sichtkontakt, er konnte aus einer Dachluke ihr Fenster im Pflegeheim sehen, Zigarettenspuren deuten darauf hin, und sie hatte immer den Blick auf das Dach seines Hauses.

Dieser spannende Roman erzählt in poetischen Bildern die Geschichte einer Liebe in ihrer politisch und gesellschaftlich bedingten Dimension. Das selbstverschuldete Scheitern, das spurlose Verschwinden der Mutter, die Sprachlosigkeit über Jahrzehnte hinweg, all das wird geradezu unerbittlich thematisiert, wobei der Autor gekonnt auch dem Insignifikanten breiten Raum gibt in seiner betroffen machenden Geschichte. Erzählt ist all das fragmentarisch in einer wohlgesetzten, klaren Sprache mit nicht immer leicht nachvollziehbaren Zeitsprüngen. Die überraschende Detailfülle bildet in Summe neben der im Zentrum stehenden, menschlichen Tragik auch ein stimmiges Zeitzeugnis.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Schöffling & Co Frankfurt am Main

Das Feld

Seelisch bereichernd

Nach zwei ebenfalls erfolgreichen Vorgängern ist dem österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler mit dem aktuellen Roman «Das Feld» erneut ein Bestseller gelungen. In Abkehr von seinen bisherigen Themen hat er sich narrativ dabei dem Tod gewidmet, und zwar aus einer ungewöhnlichen Perspektive, es sind die Toten selbst, die da post mortem erzählen. Als Kosmos dient ihm eine fiktive Kleinstadt, und sein Romantitel weist als erzählerischen Quell den Ort aus, auf dem ein alter Mann Stimmen hört, den Friedhof von Paulstadt, dort nur «Das Feld» genannt. Kein gefälliger Erzählstoff also, ein Tabuthema auch noch, und trotzdem ein Bestseller?

Im ersten Kapitel «Die Stimmen» sinniert der alte Mann, auf seiner vermoderten Holzbank inmitten des Gräberfeldes sitzend, über die Toten, die rings um ihn herum ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. «Er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden.» Es sind 29 Gestorbene, die da als Ich-Erzähler in ebenso vielen, unterschiedlich großen Kapiteln zu Wort kommen und von ihrem Leben und Sterben erzählen, wobei sich ihre Wege immer wieder kreuzen in einem lockeren Erzählgeflecht. Die Liebe ist natürlich ein Thema, von gescheiterten Beziehungen bis zum Händchenhalten noch im Tod, vom Sex mit einem dicken Geliebten bis zur Frau mit 67 Männern, von denen sie nur einen geliebt hat. Ein verwirrter Pfarrer zündet seine Kirche an, ein arabischer Gemüsehändler bringt die Asche seiner Eltern in die Heimat, ein korrupter Bürgermeister berichtet in Briefform von seinen Schandtaten, ein Spielsüchtiger zerstört sein Leben, ein Junge begeht Suizid im Froschteich, ein anderer erzählt von dem Autounfall, bei dem er stirbt. Wir begleiten den Briefträger auf seiner Runde, der Autohändler erlebt den glücklichsten Tag seines Lebens, der beste Freund verschwindet spurlos für immer, ein Bauer verkauft listig sein wertloses Land. Vom beruflichen Aufstieg eines Zeitungsverlegers wird erzählt und vom Niedergang eines Schuhgeschäfts, vom Sterben einer Hundertfünfjährigen und am Ende auch von einer harmlos scheinenden Verletzung im Urlaub. «Was ist das für ein Strich, Mama? Was meinst du? Der rote Strich an deinem Arm, schau mal, er sieht aus wie eine Straße!» Die Familie ist auf der Heimfahrt, schon kurz vor dem Ziel. «Fred sieht mich an. Dann schaltet er einen Gang zurück und gibt Gas. Von jetzt an geht es schnell» endet das Kapitel lapidar.

Erstaunt hat mich, dass ein Roman über das Sterben und den Tod so entspannend sein kann. Robert Seethaler erzählt sehr gelassenen vom Leben bis zu seinem Ende, wobei es hier kein Totenreich gibt wie bei Dante, weder Himmel noch Hölle, er weist den Toten lediglich eine Stimme zu und lässt sie ganz selbstverständlich mit den Lebenden kommunizieren. Seine Herangehensweise dabei geht konsequent von der menschlichen Würde aus, er diffamiert seine Figuren nicht, sondern beschreibt sie wertfrei mit wenigen treffenden Worten, geradezu plastisch, und zeichnet damit stimmig ein auf seinen Wesenskern reduziertes Panoptikum gelebten Lebens.

Der Autor hat es vorgezogen, seinen Figuren, die ja allesamt das Sterben bereits hinter sich haben, eine einheitliche, klare und treffsichere Sprache zu unterlegen. Bekanntlich macht der Tod alle gleich, und so ist es thematisch angemessen und auch logisch, auf eine unterschiedliche Diktion zu verzichten bei diesen jenseitigen Stimmen. Außerdem reduziert der Autor mit seinem narrativen Kunstgriff das Jenseits gekonnt auf das rein Sprachliche. Und was da episodenweise ziemlich gelassen erzählt wird, das kann man nur als unpathetische Antwort auf die Sinnfrage deuten, es sind jedenfalls überraschende Reflexionen und selten vernommene Lebensweisheiten. Der seines fraktionellen Aufbaus wegen zwar nicht gerade leicht zu lesende, aber versöhnlich stimmende Roman ist insoweit auch existenziell sehr berührend, – seelisch bereichernd ist er als zeitloses Werk allemal.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Acht Berge

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Mit seinem stark autobiografisch geprägten Roman «Acht Berge» hat der italienische Schriftsteller und Dokumentarfilmer Paolo Cognetti nicht nur in seiner Heimat, sondern auch in Deutschland einen Bestseller gelandet. Dafür gibt es vor allem thematische Gründe, einen davon nennt schon der Buchtitel, die Berge nämlich als ewiges Faszinosum mit allen seinen Facetten, – womit hier übrigens auf eine uralte nepalesische Legende angespielt wird. Dieser typische Entwicklungsroman behandelt aber auch sehr intensiv die beiden Themen Männerfreundschaft und Vater-Sohn-Verhältnis und berichtet von den Wendepunkten im Leben, dies alles vor dem Hintergrund einer deutlichen Zivilisationsskepsis, bei der die Berge als zeitloser Fluchtpunkt dienen. «Die Berge sind ein Ort der Wahrheit, der Aufrichtigkeit, fernab vom Maskenspiel der Stadt» hat der Autor im Interview dazu erklärt.

Der Ich-Erzähler Pietro aus Mailand verlebt als Elfjähriger im Juli 1984 zum ersten Mal seine Sommerferien in einem gottverlassenen Bergdorf mit zwölf Einwohnern am Fuße des Monte-Rosa-Massivs in den italienischen Westalpen, seine aus den Dolomiten stammenden Eltern haben dort ein verlassenes Bauernhaus als Feriendomizil gekauft. Der Vater, ein typischer Einzelgänger, der berufsbedingt in die Großstadt gezogen war, lebt in diesem Refugium förmlich auf. Er ist ein geradezu fanatischer, überaus ehrgeiziger Bergwanderer und steckt den Sohn sehr schnell an mit seiner Obsession. Pietro freundet sich auch schon bald mit dem ein Jahr älteren Bauernsohn Bruno an, obwohl sie mental Welten trennen. Ihre wortkarge Freundschaft aber entwickelt sich allmählich zu einer tieferen, geradezu innigen Beziehung, der Roman begleitet die beiden so unterschiedlichen Jugendlichen in ihrer antagonistischen Suche nach dem richtigen Leben über drei Jahrzehnte hinweg bis in ihre Lebensmitte, bis ins Jahr 2014. Der Gegensatz zwischen unverrückbarer Heimatverbundenheit und ewig lockendem Fernweh bestimmt somit den Spannungsbogen in dieser alpinen Männergeschichte, in der den eh schon wenigen Frauen übrigens allenfalls eine unbedeutende Nebenrolle zugewiesen wird.

Wohltuend ist die perfekt der urwüchsigen, kargen Gebirgswelt und dem geradezu archaischen Leben seiner Bewohner gerecht werdende, nüchterne Sprache des Romans. Jedweden Alpenkitsch á la Ganghofer vermeidend beschreibt der Autor stimmig Einsamkeit und ereignislose Stille, aber auch das ewig Bedrohliche der Naturgewalten mit ehrfürchtigem Abstand. Paolo Cognetti hat von einer unerträglichen Rhetorik der Berge gesprochen, er habe sich deshalb «bewusst dafür entschieden, die entsprechenden Adjektive wie ‹zauberhaft›, ‹wunderbar›, ‹herrlich›, ‹fantastisch› nicht zu verwenden». Die Landschaftsbeschreibung dient hier also nicht wie üblich als Hintergrund der Geschichte, mit ihrer Hilfe dringt der Autor vielmehr indirekt zum Wesenskern seiner introvertierten Figuren vor, spiegelt darin ihre ureigensten Gefühle.

Das psychologische Geflecht einer spannungsgeladenen Vater-Sohn-Beziehung gerät hier durch den Freund zu einer Dreieckskonstellation, Bruno nimmt nach dem abrupten Bruch mit dem herrschsüchtigen Vater die Rolle Pietros ein, er wird quasi zum Ziehsohn und geht mit ihm auf gewagte Bergtouren. Die heraufziehende Klimakatastrophe bestimmt das Finale und leitet auch eine Zäsur in Pietros Leben ein. Er kehrt der heimischen Gebirgswelt endgültig den Rücken und geht als Dokumentarfilmer in den Himalaja zurück. Wobei für ihn das Hochgebirge als Hort der Utopie ausgedient hat, er widmet sich den nepalesischen Bergvölkern und erkundet ihre Lebensverhältnisse. Dieser Roman erweist sich beim Lesen als ruhige Lektüre, die als ein Fanal der Entschleunigung aufscheint und uns die stressige Alltagswelt für einige beschauliche Lesestunden vergessen lässt. Wobei sich als Katharsis der geflügelte Satz von Adorno aus den «Minima Moralia» auch hier bewahrheitet: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen».

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by DVA München