Schnell leben

Live fast, die young

Das Buch mit dem Titel «Schnell leben» der französischen Schriftstellerin Brigitte Giraud wurde 2022 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. Im französischen Sprachraum ein literarischer Ritterschlag mit entsprechend hohen Auflagen, blieb das Buch in Deutschland relativ unbekannt. Obwohl es in vielen Besprechungen meist als Roman apostrophiert wird, handelt es sich tatsächlich um ein Memoir, also ein erzählendes Sachbuch. Der deutsche Verlag meidet denn auch konsequent die sicherlich verkaufsträchtigere Bezeichnung Roman. Das neue, fast ausschließlich von weiblichen Autoren verwendete, literarische Genre Memoir erfreut sich wachsender Beliebtheit! Soviel vorab, wer eine fiktionale Prosa-Erzählung erwartet, liegt somit falsch!

In «Schnell leben» thematisiert die Ich-Erzählerin minutiös die Umstände, die zum Tod ihres Mannes geführt haben. Er starb bei einem Motorradunfall in Lyon. Seine Frau, eine erfolgreiche Schriftstellerin, beginnt nach dem ersten Schrecken, darüber nachzudenken, welche Umstände zu diesem schrecklichen Unglück geführt haben, drei Tage vor dem Einzug in ihr gerade erst gekauftes Haus. «Was wäre wenn» ist die Kardinalfrage, und so hangelt sich ihre gedankliche Aufarbeitung des tragischen Geschehens von Detail zu Detail, von Zufall zu Zufall. Die «Litanei des Wenn» hat sie jahrelang gequält, hat aus ihrem «Leben eine Existenz im Konjunktiv gemacht», das sie nun, zwanzig Jahre später, schreibend zu überwinden hofft.

«Wenn die Tage vor dem Unfall sich nicht zu einer Abfolge von Ereignissen zusammen geballt hätten, eines unerwarteter als das andere, und alle unerklärlich.» Es sind die vielen Zufälle, die in einer langen, kettenartigen Reihe zu dem Unglück geführt haben. Gleich zu Beginn des Buches findet sich eine Liste von 26 mit «Wenn» beginnenden Geschehnissen, die alle in das gleiche «Dann» münden, nämlich dann hätte Claude nicht sterben müssen. Hätte die Ich-Erzählerin ihre Reise zum Verlag nach Paris nicht verschoben, hätte sie ihrer Mutter nicht erzählt, dass sie schon die Schlüssel zum neuen Haus haben, hätte ihr Bruder seine Honda 900 CRB Fireblade nicht in ihrer neuen Garage abgestellt, wäre diese Rennmaschine als ‹zu gefährlich› von der EU nicht zugelassen worden wie in Japan, hätte Claude gewusst, dass er seinen Sohn nicht von der Schule abholen muss an jenem schicksalsträchtigen 22. Juni 1999, und und und! In einer labyrinthisch anmutenden Ereigniskette voller Geschehnisse, die jedes für sich dem Schicksal einen andern Lauf hätten geben können, müht sich die Autorin, einen Sinn zu erkennen. Es ist wohl unmöglich, alle Zusammenhänge zu verstehen, jedem noch so kleinen Puzzlestück des persönlichen Dramas den richtigen Platz zuzuweisen.

Es sind letztendlich existentielle Fragen, die in der detailverliebten Seelenschau der Autorin radikal subjektiv behandelt werden, eine mit der Zeit ermüdende Litanei des «Was wäre wenn», die zu keinem Ergebnis führt, weil es eben in dieser Verkettung der Umstände keine rationalen Antworten gibt. Es sind auch keine Erkenntnisse zu gewinnen, weder aus dem dominierenden Thema «Motorrad» noch aus den Details um die Immobilien-Odyssee der jungen Paares in Lyon, in die dann auch jede Menge wohlfeile Gesellschaftskritik eingebaut ist. Auch die Musik-Besessenheit von Claude, der als Leiter der Mediathek von Lyon ein Pop-Musik-Fan war, wird thematisiert. Der Song «Live fast, die young» spiegelt exemplarisch ein damaliges Lebensgefühl junger Leute wieder. Was die Lektüre lesenswert macht ist die Rasanz, mit der da in kurzen Sätzen ganz unsentimental ein Szenarium aufgebaut wird, dass spannend ist wie ein Krimi. Brigitte Giraud versteht es mit ihren Gedankenspielen, trotz der absolut nüchternen Thematik einen Spannungsbogen aufzubauen, der den Leser nicht ruhen lässt, ehe er über die verästelte Ereigniskette bis zum späten Ende Klarheit gewonnen hat. Hinzugelernt haben aber dürfte er nichts dabei, außer dass er seine Hände besser weg lässt von dem Superbike Honda 900 CRB Fireblade, die mit den vielen PS!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Frankfurter Verlagsanstalt

Welt aus Glas

Literarische Bußübung

Ernst-Wilhelm Händler spürt in seinem Roman «Welt aus Glas» den großen Themen der Menschheit nach, wobei ihm die Glaskunst als Vehikel dient für seine Geschichte. Was in Hesses «Glasperlenspiel» als Überwindung einer lebensfeindlichen Bildungselite angelegt ist, das wird hier als Kapitalismuskritik mittels einer dekorativen Kunstgattung thematisiert. Mit seiner Detailfülle dürfte der dickleibige Roman besonders für Liebhaber dieser elitären Kunstgattung interessant sein, aber auch bereichend für kunstsinnige Leser, die sich noch nie mit exquisiten Glasobjekten beschäftig haben.

Die Protagonisten, das Ehepaar Jillian und Jacob Arbogast, betreiben in New York erfolgreich eine Galerie für Glaskunst. Der dreißig Jahre ältere Jakob hat sich beim Ankauf der Villa eines verstorbenen Kunstsammlers total verspekuliert. Statt der von ihm bezahlten vier ist das Anwesen allenfalls eine Million Dollar wert, sie sind wahrscheinlich ruiniert. Aber Jillian rechnet damit, durch den Ankauf einer überaus wertvollen Glaskunst-Sammlung, von deren wahrem Wert die Mailänder Eigentümer keinerlei Vorstellung haben, diese finanzielle Schlappe ausgleichen zu können, sie hat Käufer dafür bereits an der Hand. Wenn das Geschäft erfolgreich abgewickelt ist, will sie sich dann auch endlich von ihrem Mann trennen. Der hofft, eine reiche Kundin als Investorin für einen Großauftrag gewinnen zu können, bei dem es um die Gestaltung der Grenzbefestigung der USA in Richtung Mexico geht, ihm schwebt eine landschafts-verträgliche Glaskonstruktion vor. Bei seiner Erkundungstour entlang der Grenze zusammen mit der steinreichen Investorin, die inzwischen auch seine Geliebte ist, werden sie von einem kriminellen mexikanischen Polizisten entführt, der Lösegeld erpressen will.

Ideenreich entwickelt der Autor seine Geschichte in zwei abwechselnd erzählten Handlungs-Strängen, die mit vielen Rückblenden das Leben des Ehepaares schildern. Über den Erotomanen Jacob heißt es lapidar: «Existierte noch etwas außer Geld, Sex und Kunst? Ihm fiel nichts ein». Jillian hingegen ist an Sex wenig interessiert, und wenn, dann bevorzugt sie Frauen, mit Jacob hat sie quasi mal eine Ausnahme gemacht. Sie findet stattdessen ihr Glück in Tiffany-Lampen mit floralen Motiven, hat allerbeste Beziehungen zu finanzstarken Sammlern und ist im Übrigen genauso geldgierig wie ihr Mann. Wobei sie auch genauso skrupellos ist wie er, ihrer beider Transaktionen bewegen sich hart am Rande der Legalität, sie nutzen die Sammel-Gier und Unkenntnis ihrer Kunden schamlos aus. ‹Sex sells› ist ja eine Marketing-Weisheit auch in der Literatur, und diesem Mantra folgend gibt es im Roman reichlich Szenen, die ins Pornografische abdriften, ohne jede Beziehung zum eigentlichen Thema, der Selbstfindung zwischen Kommerz und Kunst.

Der Autor versteht es zweifellos, stilistisch gekonnt philosophische Reflexionen und penibel bis ins letzte Detail beschriebene Szenen in seinem Plot miteinander zu verbinden. Es ist aber genau diese filigrane Beschreibungs-Kunst, die auf Dauer lästig wird und zum reinen Selbstzweck ausartet. Allein das mit «Flunky» betitelte Kapitel, in dem Jillian die Glas-Sammlung für den Transport zum Käufer in eigens angefertigte Transportkisten verpackt, erstreckt sich über neunzehn Seiten. Man meint, die Staubkörner zählen zu können, die sie akribisch beseitigt, bevor sie die teuren Objekte vorsichtig, als wäre eine Bombe zu entschärfen, in ihrer jeweiligen Kiste verstaut. Man fragt sich als Leser genervt, warum macht der Autor das? Weil er es eben kann, – so einfach ist die Antwort! Wo blieb da der Rotstift des Lektors? Sowohl die pathetisch vorgetragenen philosophischen Betrachtungen und endlosen Selbst-Reflexionen wie auch die sich immer mehr ausbreitende Langeweile bei den endlosen kunsttheoretischen Exkursen machen die Lektüre zu einer regelrechten Bußübung. Da können dann auch die Thriller-Elemente nichts mehr retten, und die deplazierten Sexszenen erst recht nicht!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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Die Katze und der General

Eine tschetschenische Tragödie

Die in Tiflis geborene und heute in Hamburg lebende Dramatikerin, Regisseurin und Schriftstellerin Nino Haratischwili ist mit ihrem neuen Roman auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises gewählt worden, ein schöner Erfolg für die 35jährige Autorin. Geprägt ist ihr Roman von einer schier unbändigen Erzähllust, deren Niederschlag sich in einem 763 Seiten starken Prosaband findet, der gekonnt die Elemente eines Thrillers mit den Ingredienzien eines üppigen Balkan-Epos verbindet. Dessen Handlungskern beinhaltet eine auf einer wahren Begebenheit beruhende Gräueltat während des Ersten Tschetschenischen Krieges. Im Feuilleton wurde der Roman, – in einem merkwürdigen Gegensatz zur Buchpreisjury -, unisono verrissen, da fragt sich der verwirrte Leser nun allerdings, wer denn da irrt.

Im Prolog wird uns die 17jährige Nura aus einem gottverlassenen Dorf in einer Schlucht des Balkangebirges vorgestellt, wo 1994 ein Trupp russischer Soldaten Stellung bezogen hat, eine Art Erholungspause nach den verlustreichen und kräftezehrenden Kämpfen um die Hauptstadt Grosny. Das Mädchen wird als Terroristin verdächtigt und beim Verhör in einem völlig aus dem Ruder gelaufenen Gewaltexzess vergewaltigt und ermordet. Orlow, von seinen Kameraden spöttisch «General» genannt, einer der vier beteiligten Soldaten, meldet die Gewalttat dem Oberkommando und zeigt sich reumütig selbst als einer der Täter an. Das wegen der negativen Schlagzeilen an einer Strafverfolgung nicht interessierte russische Militär kann nach Ermordung eines Verteidigers den Strafprozess dadurch abwenden, dass sie dem nun vollends desillusionierten Orlow einen lukrativen Posten in der militärischen Baubehörde verschafft und so seine Aussage vor Gericht verhindert. In wenigen Jahren wird aus ihm ein mächtiger Oligarch, der skrupellos dem Geld hinterher jagt und sich schließlich mit Frau und Tochter in Berlin niederlässt. Aber die Schatten der Vergangenheit holen ihn ein, seine innig geliebte Tochter Ada kommt ihm mit Hilfe des zwielichtigen Journalisten Onno auf die Spur und begeht verzweifelt Selbstmord. Auf einem Filmplakat sieht der General irgendwann zufällig eine Schauspielerin mit dem Spitznamen «Katze», eine Doppelgängerin von Nura, ihr wie ein eineiiger Zwilling geradezu aus dem Gesicht geschnitten. In ihm reift ein perfider Plan.

Man merkt dem Roman an, dass er von einer ausgewiesenen Dramatikerin geschrieben wurde. Sie schafft es nämlich, ihr von einer überbordenden Stofffülle beinahe überdecktes Handlungskonstrukt mit stetig wachsender Spannung schließlich doch noch zu einem geradezu klassischen, überraschenden Showdown zu führen. Der Weg dorthin aber führt über unendlich viele zeitlich vor- und zurückspringende, aus verschiedenen Perspektiven erzählte Geschichten, in denen eine riesige Schar von Figuren agiert, die allesamt in das vielschichtige Geschehen mit seiner Schuld-und-Sühne Thematik verwoben sind. Als Leser bekommt man durch diese vielen Lebensgeschichten tiefe Einblicke in einen inzwischen weitgehend vergessenen politischen Konflikt und dessen unmittelbare Folgen auf die verschiedenen Romanfiguren. Dabei wird insbesondere der Zusammenbruch der Sowjetunion beleuchtet sowie das nachfolgende ökonomische Chaos mit dem blitzschnellen Entstehen verbrecherisch zusammengerafften Reichtums in Händen weniger Oligarchen.

Der Roman erinnert in seiner düsteren Dramatik an klassische Tragödien, die Figuren sind eher markig als psychologisch tiefsinnig gezeichnet, und auch die bildreiche Sprache ist eher zielgerichtet und zweckmäßig als kreativ und inspiriert. Dieser mit viel Pathos und in epischer Breite erzählte Roman weist leider etliche Ungereimtheiten auf, ist andererseits aber in seiner sezierenden Sichtweise auf enthemmte Menschen in rechtsfreien Räumen und dem zentralen Motiv der Läuterung geradezu beklemmend zu lesen als Spiegel der Seele. Ob Verriss oder Jubel, da irrt sich hier wirklich niemand – völlig!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Nackt

toussaint-1Mut zum Honigkleid

In der Tetralogie über seine mythische Frauenfigur Marie hat der belgische Autor Jean-Philippe Toussaint kürzlich den vierten Band unter dem Titel «Nackt» vorgelegt. Er ist im Sinne seines Förderers Alain Robbe-Grillet im Stil des Nouveau Roman verfasst, vertraut also darauf, Spannung zu erzeugen durch Auslassungen. Insoweit erfordert der Roman mitwirkende Phantasie. Der Leser muss, um Verständnislücken zu vermeiden, die Leerstellen in der Geschichte ergänzen, er darf im Kontext mit dem Erzählten seine eigene, individuelle Geschichte konstruieren, die Bilder für sein Kopfkino also nach Gusto komplettieren. Ich habe das Buch geschenkt bekommen und es ohne Kenntnis der vorangehenden Romane als alleinstehende Geschichte gelesen, erst hinterher habe ich ein wenig recherchiert und kann nur bestätigen, dass es sehr wohl auch für sich gelesen werden kann.

Im Mittelpunkt dieses Liebesromans steht Marie Madeleine Marguerite de Montalte, eine zum Jetset gehörende junge Modeschöpferin. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler ist unsterblich in sie verliebt, ja geradezu vernarrt, ihre Beziehung jedoch gestaltet sich als ein dauerndes Auf und Ab, Versöhnung und Trennung also in ständigem Wechsel. Auffallend ist, dass der Mann völlig passiv erscheint, nur beobachtend, nicht eingreifend in die Geschehnisse, Marie allein ist die Handelnde. Beide Figuren sind schemenhaft, erscheinen als Charaktere konturlos, umso mehr aber stehen die Dinge und Ereignisse im Vordergrund, werden minutiös beschrieben. Wie die Modenschau in dem mit «Herbst-Winter» überschriebenen, vorspielartigen Abschnitt, bei der Marie in einer auf die Spitze getriebenen, experimentellen Kreation ihr «Honigkleid» präsentiert, «eine Haut Couture ohne Couture, eine Nähkunst ohne Naht», wie Toussaint es ausdrückt. Als das nackte, von Kopf bis Fuß mit Honig bestrichene und von lebenden Bienen umschwärmte Mannequin stolpert, gerät die grandiose Inszenierung zum Desaster.

In Fragmenten wird erzählt, wie nach einer Trennung des Paares der eifersüchtige Mann sie heimlich während einer Ausstellung in Tokio beobachtet, wie dort ein Charmeur zunächst eine falsche Marie, dann aber die Modeschöpferin umgarnt, erfolgreich, wie man erfährt. Nach einem gemeinsamen Urlaub auf Elba trennen Marie und der Ich-Erzähler sich wieder, um zwei Monate später für eine Beerdigung schließlich gemeinsam dorthin zurückzukehren. Der Brand der Schokoladenfabrik, dessen Gerüche die ganze Insel einhüllen, der Schock über einen unautorisierten Benutzer ihres Ferienhauses, das ungeheizte Hotelzimmer, die mangels Ortskenntnissen verpasste Beerdigung, all dies wird minutiös geschildert und noch durch allerlei Andeutungen angereichert. Als Marie ihm erklärt, dass sie schwanger ist, zweifelt er, ob er der Vater ist, «weil wir tatsächlich seit mehreren Monaten nicht mehr miteinander geschlafen hatten, mit der Ausnahme dieser einzigen Umarmung …, als wir in aller Herrgottsfrühe, völlig übermüdet und übel zugerichtet, im dämmrigen Licht des Schlafzimmers flüchtig zusammen waren, mehr in einer harmlosen, Trost spendenden Umarmung, als dass wir so richtig, wie es sich gehört, miteinander Sex gehabt hätten (aber ganz offensichtlich zählt so etwas auch, wir waren hier wohl schlecht beraten)». Ob Marie vielleicht auch nur ein bisschen schwanger ist, fragt sich der verdutzte Leser.

In klarer Sprache erzählt der Autor geradezu minimalistisch karg von Marie und dem namenlosen Ich-Erzähler. Wobei er virtuos ebenso mit Zeitebenen spielt wie mit Orten und Figuren und sich, ganz dem Nouveau Roman verpflichtet, aller psychologischen Deutungen enthält. All dies dient ihm hier übrigens nur dazu, sich in immer neuen Reflexionen über seine exaltierte Heldin zu ergehen. Weder Handlung noch Sprache stünden für ihn im Mittelpunkt, sondern eine bestimmte Sicht auf die Welt, hat Toussaint angemerkt. Ob der Leser das am Ende genauso sieht und ob sich gar seine Weltsicht verändert hat, ist ausschließlich in ihm selbst begründet.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
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Widerfahrnis

kirchhoff-2Überambitioniert erzählter Kitsch

Den Deutschen Buchpreis 2016 hat Bodo Kirchhoff mit «Widerfahrnis» gewonnen, einer Novelle um das Thema Liebe, für das der Autor als Experte gilt. Man sah ihn als solcher schon in einer Talkshow sitzen, wofür damals vermutlich der Roman «Die Liebe in groben Zügen» Anlass war. Es handelt sich um eine Roadnovel, ein dem Roadmovie entsprechendes literarisches Genre. Der insoweit typische Plot handelt von einer spontanen Autoreise an ein zunächst nicht näher bestimmtes Ziel, wobei auf dem Weg allerlei Unvorhergesehenes passiert.

Diese dreitägige Fahrt ins Blaue widerfährt dem ehemaligen Kleinverleger Reither und Leoni Palm, vordem Besitzerin eines Hutladens, beide im Pensionsalter, Bewohner eines Seniorenheims in Oberbayern, die Beiden kennen sich nicht. Der Zufall, ein von ihr anonym geschriebenes Buch, bringt sie unvermutet zusammen, sie möchte seine Meinung wissen. Man trinkt Rotwein miteinander, und Leoni schlägt ihm übermütig eine mitternächtliche Spritztour mit ihrem BMW Cabrio vor, das eingeschneit auf dem Parkplatz steht. Der spontane nächtliche Ausflug endet drei Tage später auf Sizilien, wo sie auf ein verwahrlostes kleines Mädchen treffen, das sich vermutlich illegal dort aufhält. Sie kümmern sich um die Kleine, lassen sie in ihrem Appartement übernachten. Auf der Fähre bei der Rückfahrt aber flüchtet sie in panischer Angst aus dem Auto, Leoni läuft ihr nach. Reither, der bei dieser Flucht verletzt wurde, bleibt allein zurück und verlässt auch allein die Fähre. Er wird von einem Nigerianer verarztet, der mit Frau und Säugling auf der Flucht nach Deutschland ist. Reither will die Familie dorthin mitnehmen, durch Zufall trifft er Leoni wieder, und sie gibt ihm die Schlüssel für ihre Wohnung, die Nigerianer könnten bei ihr wohnen, sie will allein weiterreisen durch Italien.

Die beiden Protagonisten eint ihr Scheitern, sie sind aus der Zeit gefallen wirtschaftlich, ihr Ruhestand ist unfreiwillig. Natürlich kommen sich die munteren Frührentner allmählich näher, ohne allerdings allzu viel von sich preiszugeben. Sie sind sich sympathisch, eine späte Liebe keimt auf zwischen ihnen, in Sizilien, wo sie nach zwei Übernachtungen im Auto erstmals ein festes Quartier nehmen, landen sie dann auch prompt im Bett miteinander. Kirchhoffs Geschichte wirkt wie am Reißbrett konstruiert, allzu forsch und selbstverliebt werden da offensichtliche Altmännerphantasien, traumatische Verlusterfahrungen, bedrückende Flüchtlingsschicksale und arrogante Überlegenheitsgefühle des wie ein Alter Ego erscheinenden Helden unmotiviert miteinander verwoben. Vieles ist an den Haaren herbeigezogen, nicht nur die Geschichte als solche. Der Nigerianer aus Lagos zum Beispiel, ein Fischer, näht Reithers tiefe Wunde an der Hand mit nicht weniger als zehn Stichen, auf offener Straße, die Utensilien dafür hat er im Fluchtgepäck, in einer Blechbüchse. Gefühlte hundert Mal zünden Reither und die bis dato nicht rauchende Leonie sich eine Zigarette an, ein kultische Handlung geradezu, die ich seit Hemingway so extensiv nicht mehr beschrieben fand, und auch der Rotwein gehört immer dazu.

Kirchhoff erzählt seine pathetische Geschichte vom verpassten Lebensglück überambitioniert, wie ein – zur Verdeutlichung übertreibendes – Lehrstück für kreatives Schreiben, in das allzu viel hineingepackt ist. Darauf deuten auch seine häufigen Anmerkungen zum Schreibprozess selbst hin, als auktorialer Erzähler lässt er den Leser an der Suche nach der richtigen Formulierung teilnehmen, was ebenfalls peinlich aufgesetzt wirkt, man fühlt sich in einen seiner Schreibkurse am Gardasee versetzt. Der Plot selbst aber ist hanebüchen, gut erzählter Kitsch, der sich schamlos der Flüchtlingsproblematik bedient. Wenn man nicht wüsste, dass Kirchhoff es besser kann, würde man diese überladene, geradezu gespreizt erzählte Geschichte kopfschüttelnd zur Seite legen und den Autor vergessen. So aber fragt man sich, wie er zu dem Preis gekommen ist.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
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