Die Anomalie

Narrative Spielwiese

Hervé le Tellier, ein in Deutschland weitgehend unbekannter französischer Schriftsteller, hat mit seinem Roman «Die Anomalie» den Prix Goncour 2020 gewonnen, sein bisher größter Erfolg. Der studierte Mathematiker ist Präsident des Autorenkreises ‹Oulipo›, der ‹Werkstatt für Potentielle Literatur›, deren Mitglieder sich zu geistreichen literarischen Spielen bekennen. Dieses zum Genre des psychologischen Romans zählende, raffinierte Werk ist ein virtuoses Gedanken-Experiment, das ein Jahr voraus in eine nahe Zukunft weist, in der die Gewissheiten dieser Welt in einer listigen Versuchs-Anordnung total auf den Kopf gestellt werden.

Im März landet eine Boeing 787 der Air France, Flug 006 Paris/New York, die in ein schlimmes Unwetter geraten ist und leicht beschädigt wurde, mit 243 verschreckten Passagieren an Bord wohlbehalten auf dem JFK-Airport. Im Juni gleichen Jahres wird Flug 006 von Abfangjägern eskortiert auf einen US-Militärflugplatz umgeleitet. Wie sich herausstellt ist es die gleiche Maschine mit den exakt gleichen Beschädigungen und genau den gleichen Personen an Bord wie vor drei Monaten. In der Quarantäne auf dem Luftwaffen-Stützpunkt beginnt eine hektische Untersuchung all dieser seltsamen Details, in die alle relevanten Institutionen des Staates und Koryphäen aus den entsprechenden wissenschaftlichen Disziplinen weltweit einbezogen sind. Eiligst werden auch alle Passagiere des März-Fluges auf den von Geheimdienstlern wimmelnden Stützpunkt gebracht und dort unter psychologischer Betreuung mit ihrem duplizierten Ich konfrontiert. Als alle wissenschaftlichen Erklärungsversuche dieser «Anomalie» kläglich scheitern, ruft der Präsident die Führer sämtlicher Weltreligionen zu einer Konferenz im Weißen Haus zusammen, auch das ohne irgendein Ergebnis.

Hervé le Tellier entwickelt seine Geschichte von der simulierten Wirklichkeit mit Hilfe eines illustren Figuren-Ensembles. Zu dem gehören ein Auftragskiller, ein schwuler afrikanischer Pop-Sänger, ein Architekt samt seiner Geliebten, eine farbige Anwältin, ferner ein Schriftsteller, der an einem Roman mit dem Titel «L’Anomalie» schreibt, und andere mehr. Jeder von ihnen hat so seine Probleme, nun aber ergeben sich aus der Tatsache, dass sie urplötzlich gleich zweimal existieren, ein Fülle von aberwitzigen Komplikationen. Der Auftragskiller löst sein Problem, indem er sein Zweit-Ich kidnappt, kaltblütig umbringt und trickreich entsorgt. Schwieriger wird es mit einem Kind, das nach der ersten Landung zu Welt gekommen ist und im Juni auf einmal zwei identische Mütter hat. Auch den depressiven Schriftsteller plagt das Problem, dass sein März-Ich den Roman L’Anomalie geschrieben und sich danach umgebracht hat, sein Juni-Ich den eigenen Roman also gar nicht kennt.

Es liegt auf der Hand, dass derart abstruse Ideen von einer verrückt gewordenen Welt reichlich Stoff bieten für vielerlei kontemplative Exkursionen, die in einem intellektuellen Feldversuch in rascher Folge auf den Leser einstürmen. Man sollte bei dieser den Lachmuskel strapazierenden Satire deshalb stets auch den experimentellen Ansatz und die kontemplativen Leerstellen dahinter im Auge behalten. Mit viel schwarzem Humor werden hier die kopflosen, unsinnigen Reaktionen der wissenschaftlichen und politischen Akteure angesichts der duplizierten Realität durch den Kakao gezogen. Zur Verdeutlichung der Schwindel erregenden Komplexität dieser narrativen Spielwiese werden ergänzend diverse literarische Bezüge mit herangezogen. Als Moralphilosoph eines neu angebrochenen, digitalen Zeitalters lässt Hervé le Tellier seine Romanfigur bei der Vorstellung des neuen Buches auf die Frage, was sich für uns durch eine simulierte Realität denn ändern würde, erklären: «Nichts». Der Mensch wäre blind allem gegenüber, was beweisen würde, dass er sich täuscht, aber genau das sei nun mal zutiefst menschlich. Ein grandioser Roman, von dessen literarischem Kaliber aktuelle deutsche Preisträger weit entfernt sind!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Blaue Frau

MeToo

Acht Jahre lang hat Antje Ravik Strubel an ihrem neuen Roman mit der Titel «Blaue Frau» gearbeitet, wie sie im Nachwort schreibt, und das hat sich offensichtlich gelohnt, denn er wurde jüngst in die Shortlist für den Deutschen Buchpreis aufgenommen. Man darf spekulieren, was dafür ausschlaggebend war, die hochaktuelle Thematik oder das variationsreiche Roman-Konstrukt, welches «aufwühlend in einem großen Spannungsbogen» von einer Gewalterfahrung und ihren fatalen Folgen berichtet, wie die Jury zu ihrer Entscheidung verlauten ließ.

Adina, letzter Teenager in einem zunehmend entvölkerten Dorf im tschechischen Riesengebirge, verlässt 2006 nach dem Schulabschluss ihre Heimat, um in Berlin einen Intensiv-Sprachkurs zu absolvieren und anschließend dort ein Studium der Geowissenschaften aufzunehmen. Sie trifft auf eine Fotografin aus der Boheme, der sie Modell sitzt und der es gelingt, in den Fotos ihr zweites, männliches Ich, «den letzten Mohikaner», ans Licht zu holen. Sie hatte dieses Pseudonym für ‹Rio›, ihren bevorzugten Chatroom im Internet, ausgewählt, ein Symbol für ihr aussterbendes Dorf und ihre bedrückende Verlorenheit in der Fremde. Die lesbische Fotografin ist es dann auch, die ihr eine Praktikanten-Stelle in einem neuen Kulturzentrum auf einem Landgut in der Uckermark vermittelt. Dort wird sie von einem europäischen Kulturpolitiker, der zu Gesprächen über Fördergelder eingeladen ist, brutal vergewaltigt. In Panik flieht sie und landet nach einer abenteuerlichen Odyssee schließlich in Helsinki. Als Illegale arbeitet sie dort in einem Hotel, wo sie Leonides, einen estnischen EU-Abgeordneten und hochangesehenen Professor, kennen lernt, der sich vornehmlich der Menschenrechts-Thematik widmet. Als Adina anderthalb Jahre später auf einem Empfang, zu dem sie Leonides begleitet, ihren Peiniger wiedersieht, flüchtet sie Hals über Kopf und versteckt sich in einer eiligst angemieteten, möblierten Wohnung. Niemand weiß, wo sie abgeblieben ist, bis sie sich einer Aktivistin für Frauenrechte anvertraut, die ihr helfen soll, ihren Peiniger vor Gericht zu bringen.

«Blaue Frau» ist ein ambitionierter Roman nicht nur über Gewalt an Frauen und den dornenreichen Weg aus dem inneren Exil, in das sich seine Heldin geflüchtet hat, er widmet sich auch engagiert den politischen Abgründen Europas, dem unwürdigen Gezerre der Mitgliedsstaaten um Subventionen und kulturelle Fördertöpfe. Wobei die Ost/West-Differenzen ebenso eine Rolle spielen wie die unterschiedliche Stadt/Land-Lebensweise oder die DDR-Vergangenheit, die in der Person des skrupellosen Kulturzentrum-Gründers, einem ehemaligen NVA-Offizier mit nützlichen Seilschaften, exemplarisch zum Ausdruck kommt. Stilistisch ist der Roman durch seine kunstvoll ineinander verflochtenen Handlungs-Stränge geprägt, ferner durch eine immer wieder eingestreute, atmosphärisch stimmige und zum Geschehen passende Beschreibung der Natur, sei es im Riesengebirge, in der Uckermark oder in Finnland. Auch das quirlige Berlin ist mit seinem Flair und dessen Wirkung auf das tschechische ‹Landei› wunderbar treffend beschrieben.

Mit erstaunlichem Einfühlungs-Vermögen wird das Innere der Protagonistin tief ausgelotet, werden minutiös ihre Wahrnehmungen in der fremden Umgebung beschrieben. Andererseits belässt die Autorin das seelisch Verletzte ihrer Heldin in einer diffusen Ungewissheit, indem sie ihr beispielsweise, neben dem Kraft symbolisierenden ‹Mohikaner›, mit Adina, Nina und Sala drei mental nicht immer deckungsgleiche Namen gibt. Dazu trägt aber auch die titelgebende «Blaue Frau» selbst mit bei, eine der Protagonistin in kurzen Auftritten erscheinende, mystische Figur, die mit der Autorin identisch zu sein scheint und im Prozess des Schreibens die poetologische Linie vorgibt. Mit dieser Methode hält sie den Leser salopp gesagt bis zuletzt ‹bei der Stange› und bietet ihm reichlich Raum für eigene Interpretationen. Eine literarisch hochstehende Lektüre wartet hier auf anspruchsvolle Leser!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Identitti

Zeitbezug als USP

Mithu Sanyal hat sich von realen Vorbildern zu ihrem Roman «Identitti» inspirieren lassen, er befasst sich mit dem Thema menschliches Selbstverständnis aus Sicht von Farbigen in einer von Weißen dominierten Gesellschaft. Das im Hier und Jetzt angesiedelte Debüt der einer polnisch/indischen Ehe in Düsseldorf entstammenden Autorin verarbeitet den nicht gerade alltäglichen Stoff einer gefälschten rassistischen Zugehörigkeit. Dominante Figur ihres Plots ist eine eloquente Professorin für postkoloniale Theorie, die sich nach einem Studium in Indien unter dem Namen Saraswati durch Anpassung ihres Aussehens als Inderin ausgegeben hat, um ihre Berufung auf diesen besonderen Lehrstuhl zu erwirken.

Erzählt wird dieser Roman mit dem albernen Titel aus der Sicht der Studentin Nivedita, die als Alter Ego der Autorin ebenfalls polnisch/indische Eltern hat. Sie beschäftigt sich unter dem Pseudonym «Identitti» in ihrem Blog und auf anderen Plattformen kritisch mit Rassismus und Sexismus, was nun auch den komischen Titel erklärt. Der Roman ist nicht nur örtlich, sondern auch sprachlich und intellektuell im universitären Milieu angesiedelt und erzählt dezidiert aus der Nerd-Perspektive. Deren Neusprech erfordert, ebenso wie die Einbeziehung von Social-Media, bei «älteren Semestern» unter den Lesern erhöhte Konzentration, will man all die Anspielungen aus der ‹Internet-Community› denn auch wirklich verstehen. Die Aufdeckung der falschen Identität jener gefeierten, omipräsenten Professorin löst einen Riesenskandal aus. Sie hatte sich als PoC ausgegeben, als Person of Colour, heißt in Wahrheit aber Sarah Vera Thielmann, stammt aus Karlsruhe und hat eindeutig urdeutsche Eltern. Im Netz geht ein Shitstorm über Saraswati los, die sich listig nach der hinduistischen Göttin der Weisheit benannt hatte. Die Alma Mater entlässt sie mit Schimpf und Schande, nur ihre Studentin Nivedita hält tapfer zu ihr.

Mit diesem Roman zum Thema ethnische Zugehörigkeit werden in erfrischender Selbstironie allerlei hochtrabende Erkenntnisse über die vermeintliche Identität des Menschen widerlegt. Gleich bei Niveditas erstem Besuch eines Seminars von Saraswati beginnt die Star-Professorin mit dem Satz: «Okay, erst mal alle Weißen raus.» Und fährt, nachdem die ‹Weißen› den Saal verlassen haben, mit der als Einstieg in die Diskussionen genialen Frage fort: «Warum seid ihr geblieben?» Äußerst engagiert handelt Mithu Sanyal ihr Thema scharfsinnig in allen möglichen Facetten ab, die überwiegend in oft scharfzüngiger Dialogform vorgetragen werden. Ihre Formulierungen sind geschliffen, geistreich und mit einer nicht zu übersehenden, angesichts der Thematik wohltuenden Prise Ironie gewürzt. Sehr klar offengelegt wird dabei die Kluft zwischen gemutmaßter und tatsächlicher Identität, die exemplarisch in der ambivalenten Figur der Professorin verdeutlicht wird. Neben den ‹Trancerace›-Identitäten erhalten in diesem Campus-Roman aber auch die nicht weniger komplizierten ‹Transgender›-Identitäten einen breiten Raum.

Ein Stilmittel der Autorin sind die imaginären Gespräche ihrer Heldin mit Kali, einer furchteinflößenden indischen Göttin, die sie auch in ihrem Blog veröffentlicht. Mit ihren auf die Spitze getriebenen Reflexionen hat sie einen originellen Roman vorgelegt, der durch die permanenten Wiederholungen der immergleichen theorielastigen Gedanken auf Dauer allerdings immer langweiliger wird, weil nichts wirklich Interessantes mehr geschieht. Abgesehen von den Passagen zum eigentlichen Thema ist die begleitende, den eigentlichen Plot bildende Prosa wenig überzeugend, oft sogar holprig oder ganz misslungen. Man darf vermuten, dass die Wahl dieses Romans in die Shortlist des diesjährigen Frankfurter Buchpreises allein die aktuelle Zeitbezogenheit honoriert hat, ökonomisch bewertet also, als schnöde USP! Nicht berücksichtigt ist die literarische Qualität, um die es letztendlich immer gehen muss, soll ein erzählerisches Werk als preiswürdige Kunst gelten!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Shuggie Bain

Deprimierende Milieustudie

Der in Glasgow geborene, seit zwanzig Jahren in New York lebende Modedesigner Douglas Stuart hat mit seinem ersten Roman «Shuggie Bain» im vergangenen Jahr der britischen Booker Prize gewonnen. Das seiner alleinerziehenden Mutter gewidmete, stark autobiografisch geprägte Buch des homosexuellen Autors spielt in seiner Geburtsstadt zur Zeit des Thatcherismus. Auch seine Mutter war verarmt und starb an den Folgen des Alkoholismus, und last not least ist die Titelfigur ebenfalls queer.

Mit viel Einfühlungsvermögen wird in diesem Roman eine tragische Geschichte aus einer Zeit der Massen-Arbeitslosigkeit erzählt. Deren Ursache waren in den achtziger Jahren die radikalen Reformen der Eisernen Lady, die zu sozial nur unzureichend abgesicherten Schließungen von Kohlezechen und Stahlwerken führten und viele Familien in ein bodenloses Elend stürzten. Die geschiedene Agnes, Mutter zweier Kinder, heiratet den Taxifahrer ‹Big Shug› Bain und bekommt mit ihm ein drittes Kind, das alle nur Shuggie nennen. Die schöne Frau, von den Männern bewundert und begehrt, von den Frauen, wen wundert’s, beneidet und angefeindet, bewahrt in all dem Elend ihren Stolz, sie ist immer topp gepflegt, gut gekleidet und sorgt für ihre Kinder. Man wohnt zusammen mit ihren Eltern zu siebt in einer kleinen Arbeiterwohnung. Bis der virile Shug, der gleich mehrere Geliebte hat, für seine Familie eine eigene Wohnung in einer armseligen Vorstadt-Siedlung findet. Er lässt sie dort dann aber allein und kommt nur gelegentlich mal vorbei. Dieser narrativen Exposition folgt die meist aus der Perspektive des anfangs etwa sechsjährigen Shuggie erzählte Geschichte von Agnes. Deren Selbstbewusstsein kippt allmählich in eine quälende Agonie um. Sie wird ein Opfer der bedrückenden äußeren Umstände, verfällt nach und nach immer mehr dem Alkohol, kommt in eine Entziehungs-Anstalt und schafft es dann tatsächlich, auch mit Hilfe der Anonymen Alkoholiker, ein ganzes Jahr lang ‹trocken› zu bleiben. Ein neuer Verehrer erscheint zunächst als der rettende Engel, der sich rührend um sie bemüht, dann aber den verhängnisvollen Fehler begeht, Agnes bei einem ersten, feierlichen Restaurant-Besuch zu einen ‹ganz kleinen Schlückchen› Wein zu überreden, – aus dem Schluck wird ein ganzes Glas. Der verhängnisvolle Teufelskreis beginnt, wie zu erwarten, aufs Neue. Als emphatischer Leser ist man schockiert, aber «Shuggie Bain» ist halt kein Kuschelroman!

Die stilistisch im sozialen Realismus erzählte Geschichte verzichtet auf Ausschmückungen, in geradezu asketischer Weise werden nüchtern und detailgenau die damaligen Lebensumstände beschrieben. Gleichwohl gelingt es dem Autor, den Leser empathisch für seine in diesem tristen Umfeld agierenden Figuren einzunehmen. Er schildert sie als unrettbar in Ihrem Milieu gefangene, depressive Menschen und eröffnet den Desillusionierten kaum eine Perspektive zu sozialem Aufstieg. Andererseits zeigt er aber auch brutal realistisch die aus der Chancenlosigkeit erwachsende, abschreckende Bösartigkeit, die sich da zuweilen Bahn bricht. Gehässige Intrigen, Vergewaltigungen am laufenden Band, Gewaltexzesse, die Quälereien, denen der weibische Titelheld permanent ausgesetzt ist, geben dem Geschehen im Roman seine bedrückende erzählerische Grundierung.

Das Problem dieses Romans ist der Widerspruch zwischen dem deprimierenden, manchmal ins Groteske abdriftenden Milieu des Plots und den brillanten sprachlichen Bildern, in denen so locker davon berichtet wird. Nicht wenig überzogen ist leider auch die Rolle des kindlichen Helden als selbstloser Retter der immer tiefer im Suff versinkenden Mutter. Zu loben ist die Übersetzung des gelegentlichen Proletarier-Jargons in ein adäquates, leicht lesbares Deutsch. «Ich wollte mit dem Buch erreichen, dass die Leser nicht nur sehen, wie furchtbar Armut ist, sondern auch, mit welcher Würde sich arme Menschen durchs Leben bewegen» hat der Autor erklärt. Und das ist ihm fürwahr gelungen.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Was fehlt dir

Vom Ende aller Dinge

Nach ihrem Überraschungs-Erfolg mit «Der Freund» hat Sigrid Nunez nun einen Roman unter dem banal klingenden Titel «Was fehlt dir» vorgelegt, der im Original mit «What Are You Going Through» seine Thematik weitaus besser beschreibt. Es geht um das emphatische Einfühlen in das Schicksal anderer Menschen und die Frage, inwieweit das eigene Leben davon betroffen ist. Die New Yorker Schriftstellerin geht dieser Frage eher in essayistischer Form nach denn in erzählerischer, erst nach der Hälfte des Buches beginnt der eigentliche Plot um das schwierige Thema selbstbestimmtes Sterben.

Eine der Autorin ähnelnde Schriftstellerin (sic) soll ihre unheilbar an Krebs erkrankte beste Freundin beim geplanten Suizid begleiten, und auch in dieser Figur ist unschwer Susan Sontag zu erkennen, die Mutter von David Rieff, dem Exfreund der Autorin. Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich über Airbnb bei einer Witwe eingemietet, um ihre in der Nähe im Krankenhaus liegende Freundin jederzeit besuchen und ihr beistehen zu können. Das Buch beginnt mit dem Satz «Ich machte mich auf den Weg, um mir den Vortrag eines Mannes anzuhören». In apokalyptischen Bildern sagt ein bekannter Professor da den längst unabwendbar gewordenen Untergang der Menschheit voraus als Folge der sich häufenden globalen Krisen. Mit diesem Einstieg spiegelt Sigrid Nunez den menschlichen Tod am bevorstehenden, selbst verschuldeten Ende der Zivilisation und weist darauf hin, was es bedeutet, gerade jetzt zu leben. Der Vortragende ist, erfährt man erst im Nachhinein, der Ex-Mann der Erzählerin. In ihm, den sie lange nicht gesehen hat, findet sie nun plötzlich einen kompetenten Gesprächspartner für die schwierigen Fragen, mit denen sie sich in ihrer bedrückenden Rolle als Sterbebegleiterin auseinander setzen muss. Ein weiterer Themenbereich dieses Buches ist die Frage, wie sich denn überhaupt darüber schreiben lässt, woran Menschen leiden, was der Tod für sie bedeutet, wie sie mit seiner Unabwendbarkeit umgehen.

Um dieses Themenspektrum herum entwickelt die Autorin in vielen anekdotischen Abschweifungen und Anspielungen aus Film und Literatur ihre literarische Tour d’Horizon ums Sterben und um die Frage, wie Mitgefühl die Sicht auf unser Leben verändern kann. Wobei das Altwerden hier im Roman vor allem ein Problem der Frauen ist. Sei es, dass sie vom Schlankheits-Wahn betroffen sind, ein passender Mann nicht zu finden ist, eine Paranoia zur absoluten Vereinsamung führt. In einer Anekdote erkennt eine krebskranke Frau, dass ihr ungeliebter Mann angesichts ihres nahen Todes immer führsorglicher wird und geradezu auflebt, nun regelrecht glücklich erscheint. Und sarkastisch wird die Geschichte eines Mannes und einer Frau kommentiert, die im Fahrstuhl stecken bleiben und nach der glücklichen Befreiung spontan beschließen, zu heiraten. Aber einem «Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage» setzt Nunez trocken ein «Well, no» entgegen, so simpel ist das Leben halt doch nicht.

Eine «allertraurigste Geschichte» folgt der anderen, und mit Ford Madox Ford ist hier auch schon einer der vielen intertextuellen Verweis genannt, Faulkner, Sontag, Kafka, Bachmann und andere ergänzen diese literarischen Bezüge und werden teilweise ausführlich zitiert. Und es wimmelt von Aphorismen: «Eine Jugend, die belastet ist von dem Wissen, wie traurig und schmerzhaft Altern ist, würde ich überhaupt nicht Jugend nennen», lässt Nunez ihre Erzählerin sagen. In einer einfachen Sprache werden da, zuweilen recht amüsant, viele kluge Gedanken ausgebreitet, so wenn sie an einer Stelle fragt: «Und ist das nicht das Schöne am Lesen, dass es dich von dir selbst ablenkt». Auch Walter Benjamin kommt am Ende zu Wort: «Der Leser fühlt sich vom Roman angezogen in der Hoffnung, dass er sein zitterndes Leben mit einem Tod wärmen kann, über den er liest». Da scheint was dran zu sein, wird man sich nach der Lektüre dieses klugen Buches sagen, ob man es nun als Roman gelesen hat oder als Essay.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Die Finkler-Frage

Unterhaltsame Groteske

Er hat lange drauf warten müssen, als einer der ältesten wurde der damals 68jährige britische Schriftsteller Howard Jacobson 2010 mit dem Booker Prize geehrt für seinen Roman «Die Finkler-Frage». Die Jury charakterisierte ihn als «Klug, witzig, und auf eine ganz besondere Art auch sehr traurig und melancholisch. Wie ein Lachen im Dunkeln!» Der vor allem von US-amerikanischen Autoren wie Saul Bellow und Philip Roth repräsentierte jüdische Roman fand so erstmals ein ebenbürtiges britisches Pendant, wobei Jacobson dazu angemerkt hat, er sei «lieber die jüdische Jane Austen als der britische Philip Roth».

Trauriger Held des Romans ist Julian Treslove, ein Losertyp, der in London bei der BBC gefeuert wurde und sein Geld nun als Filmstar-Double auf privaten Feiern verdient, engagiert als  besonderer Gag. Der Fünfzigjährige ist Vater zweier Söhne, zu denen er kaum Kontakt hat, beide Mütter haben ihn noch während der Schwangerschaft verlassen. Es beginnt mit einer Essenseinladung bei seinem alten Freund Libor Sevcik, der die Schoa überlebt hat, dritter im Bunde ist Samuel Finkler, ein Gefährte aus Kindertagen, Autor von populär-philosophischen Sachbüchern, für Julian der Inbegriff des erfolgreichen Juden. Weshalb er für Jude nur noch den Begriff ‹Finkler› benutzt, was auch den Buchtitel erklärt, er bedeutet ‹Judenfrage›. Auf dem nächtlichen Heimweg wird Julian überfallen und ausgeraubt, und zwar von einer Frau, die ihn nur verächtlich mit «Du Jude» angezischt hat. Offen beneidet er die beiden kritisch-jüdischen Intellektuellen um ihre Identität, auch er möchte dem auserwählten Volk angehören, obwohl sie selbst ihr Jüdischsein sogar verachten, sich in typisch jüdischem Selbsthass üben. Nach dem Überfall treibt Julian, der ja nun auch zum Opfer gewordene Möchtegern-Jude, seine Obsession auf die Spitze. Er beschäftigt sich mit dem Hebräischen und verliebt sich in Hepzibah Weizenbaum, eine Jüdin, die gerade dabei ist, in London ein anglo-jüdisches Museum ins Leben zu rufen.

Es wird viel diskutiert in diesem Roman, in dessen Plot hingegen sich herzlich wenig ereignet. Mit nicht enden wollenden Dialogen der als Charaktere liebevoll und überzeugend geschilderten Freunde und der teilweise skurrilen Nebenfiguren wird die Thematik des Judentums unserer Zeit in all ihren Aspekten gründlich und kritisch hinterfragt. Dabei gewinnt man nebenbei tiefe Einblicke in das Seelenleben der Figuren, während sie unentwegt ihre Dispute über den permanenten Alltags-Antisemitismus und die Missetaten des Staates Israel an den Palästinensern wortreich ausfechten. Dass dies bei einem britischen Autor mit einer gehörigen Portion schwarzen Humors angereichert ist, tut der Ernsthaftigkeit der Thematik keinen Abbruch. Auf Julians Begeisterung für das Judentum hält ihm der skeptische Freund vor: «Demnächst trägst du noch Schläfenlocken und sagst mir, dass du dich freiwillig zur israelischen Armee gemeldet hast, um Kampfjets gegen die Hamas zu fliegen».

Sprachlich auf hohem Niveau, werden hier Klischees und Vorurteile über das Jüdischsein lakonisch hinterfragt, ohne dass darunter der Unterhaltungswert des Romans leidet. Als Nebeneffekt lernt man zudem eine Fülle von Begriffen aus dem Jiddischen kennen und amüsiert sich über Wortbildungen wie ASCHandjiddn als Name für eine judenkritische Initiative. Damit ist verächtlich eine auf der Opferrolle gründende jüdische Identität gemeint, A Schand Jiddn! Und dass Jiddn auch Machos sind, wird deutlich, als eine Frau mit beachtlicher Oberweite bei einer Party aufkreuzt: «Hätten Jane Austens Heldinnen solche Brüste gehabt, hätten sie sich nie besorgt zu fragen brauchen, ob sie einen Ehemann abbekämen». Der Sex nimmt breiten Raum ein, ausgiebig wird hier beispielsweise ernsthaft erörtert, in wieweit denn die Beschneidung jüdischer Männer ihre sexuelle Empfindungsfähigkeit beeinträchtigt. Eine breit ausgewalzte, unterhaltsame und melancholische Groteske über jüdische Männer und das heutige Judentum.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by DVA München

Die Eroberung Amerikas

Mit Klamauk zur Aufklärung

In seinem neuen Roman «Die Eroberung Amerikas» erzählt der Schriftsteller Franzobel um einen historischen Kern herum eine Geschichte, deren ungeheuerliche Grausamkeiten er mit reichlich Humor serviert, um sie ertragbar zu machen. Es geht um die erfolglose Expedition des spanischen Eroberers Hernando de Soto durch das heutige Florida, in deren Verlauf er den Mississippi entdeckt hat, wo er 1542 starb. An seiner Figur, hat der österreichische Autor erklärt, «kulminiert die ganze Geschichte der spanischen Konquista», de Soto verkörpere triumphalen Erfolg und klägliches Scheitern in einer Figur.

Er habe versucht, möglichst wahrhaftig zu erzählen, hat Franzobel geäußert. «Es ging dann aber für mich nur über den Humor. Sowohl ich als auch der Leser – wir brauchen den Humor, damit wir nicht nach zwanzig Seiten sagen: Diese Geschichte ist so fürchterlich – man mag das zwar verstehen, aber man mag sich das nicht antun». Und so beginnt der Roman auch gleich im ersten der vielen Kapitel mit einer kuriosen Rahmengeschichte. Die New Yorker Rechtsanwalts-Kanzlei Trutz Finkelstein & Partner reicht am Bezirksgericht eine Klage ein auf Rückgabe der Vereinigten Staaten von Amerika an die indigene Bevölkerung, – einschließlich Hawaii und Alaska. «Doch bevor wir auf diesen Brief zurückkommen, machen wir einen Sprung durch Raum und Zeit und begeben uns zur Ursache dieses abstrusen Ansinnens» heißt es weiter im Buch. Mehr als 500 Romanseiten später verkündet im letzten Kapitel der Supreme Court nach viereinhalbjähriger Prozessdauer, dass Amerika wieder an die Indianer zurückfalle und die Rückgabe bis Ende des Jahres zu erfolgen habe, eine Berufung sei nicht möglich. Ersatzweise müssten sich die USA verpflichten, vier Dekaden lang die aktuell bei 650 Billionen Dollar liegenden Militärausgaben «ausschließlich für Umwelt- und Sozialprogramme zu verwenden, um das seit fünfhundert Jahren kaputtgemachte Land wieder in Ordnung zu bringen».

Auf den fünfhundert Seiten dazwischen berichtet Franzobel über die von Kaiser Karl V. ausgeschickte, 700 Mann starke Expedition, die das mythische Eldorado finden soll. Dabei hat er sorgsam recherchierte Details in seine ebenso farbenfrohe wie grauenhafte Geschichte eingebettet. Sie ist nur durch Humor erträglich, und deshalb hat er eine illustre Schar von fiktiven Figuren, eine schräger als die andere, darin versammelt. In einer an Dantes «Inferno» erinnernden Hölle aus Blut, Schmerzen, Siechtum, Tod, Willkür und Verrat erleben die Eroberer groteske Situationen. Was wir da lesen ist in epischer Breite geschilderter Horror, in dem auch die Inquisition ihre unheilvolle Rolle spielt, die katholische Kirche läuft zur Hochform auf dabei. Zu den Lesefrüchten gehören eine Menge von en passant gesammelten Erkenntnissen über die damalige Seefahrt und die enormen logistischen Anforderungen eines solchen überseeischen Raubzugs, über die indigene Bevölkerung und ihre Sitten natürlich, über das damalige medizinische Wissen und anderes mehr.

Für seine tragikomische Groteske verwendet der Autor eine für ihn spezifische, zeitlich auf das Heute ausgeweitete, burleske Erzählweise, die er mit Anekdoten, schrägen Vergleichen und Witzen anreichert. Dabei greift er beispielsweise auf heutige Film-Schauspieler zurück bei seinen Figuren-Beschreibungen, es wird sogar karikaturhaft geschwäbelt im Expeditionstross. Sein auktorialer Erzähler sitze im 21ten Jahrhundert, er bevorzuge diese Innenperspektive und könne sich dann immer drauf beziehen. Als Metapher auf die Menschheits-Geschichte verfolge sein Roman einen aufklärerischen Zweck. Hier wird also im Sinne Walter Benjamins «die Geschichte gegen den Strich» gebürstet. So wohltuend der allenthalben waltende Sarkasmus das Ungeheuerliche zu relativieren vermag, so störend werden dann aber auf Dauer auch die vielen Kalauer, sie wirken sprachlich oft wie an den Haaren herbeigezogen. Bei aller lobenswerten Fabulierlust letztendlich also entschieden zu viel Klamauk!

Fazit: 2* mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Zsolnay München

Vati

Im Osten nicht Neues

Der für den diesjährigen Frankfurter Buchpreis nominierte Roman der österreichischen Schriftstellerin Monika Helfer mit dem Titel «Vati» ist eine Fortschreibung ihres erfolgreichen Erinnerungs-Bandes vom Vorjahr. Hatte sie in «Bagage» von ihrer Mutter und den Großeltern erzählt, so widmet sie sich in dem aktuellen Roman nun aus der Perspektive als Kind und Jugendliche ihrem Vater. «Wir sagten Vati. Er wollte das so. Er meinte, es klinge modern» heißt es gleich zu Beginn, wodurch der altbacken klingende Romantitel entschuldigt ist. Denn er trägt mit dazu bei, diesem literarischen Denkmal für den Vater einiges an Authentizität zu verleihen.

Der aus einfachsten Verhältnissen stammende Josef Helfer kam als Invalide aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, im russischen Winter war ihm ein Bein erfroren. Der Unterschenkel musste amputiert werden, seither trägt er eine Prothese. Man gibt dem traumatisierten jungen Mann eine Stelle als Verwalter eines auf der Tschengla in Vorarlberg gelegenen Erholungs-Heims für Kriegsversehrte, das von einem Stuttgarter Verein betrieben wird. Josef heiratet und bekommt vier Kinder. Schon als Kind war Josef sehr lernbegierig, er brachte sich noch vor der Schule selbst das Lesen und Schreiben bei und wurde deshalb vom Vater eines Klassen-Kameraden gefördert. Der gewährt ihm exklusiv Zugang zu seiner wertvollen Privat-Bibliothek, die 1324 von ihrem stolzen Besitzer nie gelesene Bücher enthielt. Immer mehr entwickelt er sich dort zu einem Bibliophilen. In dem Heim, das er dann nach dem Krieg verwaltet, findet er voller Freude ebenfalls eine Bibliothek vor, die dem Betreiber-Verein von einem Tübinger Professor vermacht worden war, die von den Gästen aber nie genutzt wurde. Er entwickelt sich allmählich zum Bibliomanen und beginnt, als eine Umwandlung des Heims zu einem Hotel bevorsteht, geradezu zwanghaft die Bestände der Bibliothek beiseite zu schaffen. Als eine Kommission zu einer Übergabe-Inventur anreist und er befürchtet, dass die entstandenen Lücken im Bücherbestand anhand der notariellen Schenkungs-Urkunde zwangsläufig aufgedeckt werden, nimmt er Gift. Er wird zwar gerettet, hat sich nun aber unwiderruflich von seiner Familie entfernt, die paradiesische Zeit der Familie auf dem idyllischen Bergplateau endet abrupt.

In ständigen Zeitsprüngen erzählt Monika Helfer im Wechsel vorausschauend oder rückblickend real Erinnertes aus ihrem Leben, durchmischt mit fiktional Ergänztem. Dabei bleibt «Vati» als zentrale Figur weiterhin dominant, auch wenn er nach langer Genesungszeit jetzt im Kloster lebt und sie ihn fast nie sehen. Die Geschwister sind nach dem frühen Krebstod der Mutter ganz auf sich allein gestellt und werden auf die ‹Bagage› verteilt, sie leben fortan getrennt voneinander bei den Verwandten. Die Autorin hadert nicht mit ihrem Schicksal, sie versucht mit ihrer Erinnerungs-Arbeit zu sich selbst zu finden. Ihre Seelenverwandtschaft zum Vater kommt zum Ausdruck, wenn sie sich zum Beispiel daran erinnert, wie er die ersten zwei Bücher in die Hand genommen hat, auf denen ihr Name steht, Das hatte ihn sichtlich sehr stolz gemacht, denn er war es ja, der die Liebe zur Literatur in ihr geweckt hat.

Mit ihrer assoziativen, charmant österreichisch gefärbten Erzählweise erzeugt die Autorin ein stimmiges Ambiente für die Erinnerungs-Splitter, mit deren Hilfe sie nicht nur ihren Vater, sondern auch die damaligen Zeiten zu verstehen sucht. Ihre Bagage, der große Familienclan, besteht aus oft allzu überschwänglich gezeichneten Figuren, die als amüsante Charaktere jedoch immer wieder mal Anlass zum Schmunzeln geben. Es wird psychologisch nichts analysiert in diesen fiktional üppig angereicherten Erinnerungen voller Leerstellen, deren Stoff als solcher nichts wirklich Neues bietet. Es bleibt als Benefit für den Leser der diskrete Umgang mit den Fakten und deren sensible Einbettung in einen angenehm lesbaren Plot, der diesem beliebten literarischen Genre ein weiteres Buch hinzufügt.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Wölfe

Stilistisch hochmodern

Soviel vorweg: Auch wer dicken Historien-Romanen eher ablehnend gegenübersteht, wird in «Wölfe» von Hilary Mantel eine spannende Geschichte finden, die schnell vergessen lässt, dass es so wohl nicht war. Aber durchaus hätte sein können, mit jenem Heinrich VIII, der Kulminations-Figur, um die sich hier letztendlich alles dreht, der mit den sechs Frauen! Pünktlich zu dessen 500ten Thronjubiläum veröffentlicht, bedient dieses Buch ein nationales englisches Mythos. In ihrem Opus magnum vom Ende des Mittelalters widmet sich die streitbare britische Autorin dem politischen Strippenzieher jener Epoche, Thomas Cromwell, mit einer Trilogie. Deren erster Band weist bereits in seinem beziehungsreichen Titel auf die berühmte Sentenz «homo homini lupus» von Thomas Hobbes hin, ‹der Mensch ist dem Menschen ein Wolf›. Der 2009 mit dem Booker-Prize prämierte Erfolgsroman gilt in Großbritannien als ein Jahrhundertwerk.

Es beginnt gleich mit einer wüsten Szene, in der Cromwell von seinem Vater so brutal niedergeschlagen wird, dass er ernstlich um sein Leben bangt. Jahre später bereist er Italien, ist dort als Tuchhändler erfolgreich und absolviert nach seiner Rückkehr ein Studium der Rechtswissenschaft. Schon bald tritt er in die Dienste des Kardinals und Lordkanzlers Thomas Wolsey ein und erweist sich als sehr geschickt und umsichtig in den politischen Ränkespielen am Hofe. Es geht dabei politisch vornehmlich um die Annullierung der Ehe von Heinrich VIII. mit Katharina von Aragon, seiner ersten Frau, die ihm keinen überlebenden männlichen Thronfolger geboren hat. Der König hat ein Auge auf Anne Boleyn geworfen, die aber nicht seine Mätresse sein will, sie will geheiratet werden! Er setzt deshalb alle Hebel in Bewegung, um beim Papst die Ungültigkeit seiner Ehe durchzusetzen. Als Wolsey 1529 sein Amt als Lordkanzler verliert, weil er nicht in der Lage war, in Rom die ersehnte Annullierung durchzusetzen, steigt Thomas Morus zu dessen Nachfolger auf. Cromwell wird vier Jahre später Schatzkanzler, dann königlicher Sekretär und zweithöchster Richter. Skrupellos setzt er durch, dass der König anstelle des Papstes das Oberhaupt der anglikanischen Kirche wird, und genau damit ermöglicht er endlich die Scheidung. Thomas Morus hingegen weigert sich aus moralischen Gründen, einen entsprechenden Eid zu leisten, und wird deshalb 1539 hingerichtet.

So weit der reale Handlungskern, dem der Roman eine fiktional üppig angereicherte Rahmen-Geschichte hinzufügt, deren verwickelte Intrigen und politischen Winkelzüge in epischer Breite vor dem Leser ausgewalzt werden. Emsig tätig in all dem turbulenten Geschehen ist ein schier unüberschaubares Figuren-Ensemble, bei dem selbst die Autorin Schwierigkeiten hatte, den Überblick nicht zu verlieren. Wie sie im Interview erklärte, hat sie sich dabei eines Zettelkastens mit Dateikarten über jede der handelnden Personen bedient, – im Buch kann sich der Leser immerhin auf eine fünfseitige Liste aller Akteure stützen. Hilary Mantel erzählt im Präsens, was ihren Stoff sehr gegenwärtig wirken lässt, weit entfernt vom schwülstigen Mief konventioneller Historien-Romane. Sie enthält sich dabei jeder Interpretation des turbulenten Geschehens, das in seiner dramatischen Wucht zuweilen durchaus an Shakespeare erinnert.

Bleibt die Frage, welche Lesefrüchte einen nicht-britischen Leser ohne emotionale Bindung an vaterländische Mythen erwarten. Da ist zunächst mal die Auffrischung und Ergänzung historischen Wissens über den schlagwortartig ja allgemein bekannten königlichen Blaubart sowie über seinen skrupellosen Drahtzieher Cromwell und dessen Intimfeind Thomas Morus. Dann aber auch die stilistisch hochmoderne Form, in der hier zuweilen sogar recht amüsant erzählt wird, ohne dabei vor lauter unterhaltsamer Fiktion je die gesicherten Fakten zu vergessen. Die vielen kammerspiel-artigen Szenen in diesem Machtpoker überspielen in ihrer Privatheit gekonnt die Düsternis der blutrünstigen historischen Realität.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Häsin in der Grube

Der Nanabozo erscheint seither all jenen, „die sich verirrt haben“. In Gestalt eines Hasen. Mireille Gagné, die auf der Isle-aux- Grues geboren wurde und in Québec zur Schriftstellerin avancierte, beschreibt in ihrem Debütroman die Geschichte eines Abschieds, die sie mit einer alten indigenen Fabel über einen Schneeschuhhasen verbindet. Mireille Gagné, Jahrngang 1982, studierte Kommunikationswissenschaften und hat zuvor allem Lyrik und Kurzgeschichten veröffentlicht und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.

Ein Abschied für immer

Die Geschichte von der Schneehäsin, die die Protagonistin Diane erzählt, ist mit ihrer Freundin Eugène verbunden, die sich ein Notizbuch und eine Polaroid-Kamera mitnahm, bevor sie spurlos verschwand. Eines Tages wacht Diane nach einer Operation auf und ihr wird vom Arzt empfohlen, sich die nächsten Tage zu schonen und keinesfalls zu schonen. Doch ihre Erinnerungen an Eugène verfolgen sie und machen sie immer wacher und aktiver. So lernt sie etwa über das System der Caecotrophie, das Schneeschuhhasen das Überleben in der Wildnis garantiert. Sie spricht von einer Transformation, denn ihr Körper verändert sich nach der Operation und erst sehr langsam erfährt der Leser, warum das so ist. Der Schneeschuhhase kann jedenfalls bis zu drei Meter hüpfen und erreicht beim Laufen eine Geschwindigkeit von bis zu achtzig Kilometern pro Stunde. Ob sie jemals auch so leistungsfähig sein wird? „Sie fühlt sich wie ein Baum im Herbst, der noch alle Blätter hat, vor den großen Stürmen. Bald entblättert.“

Abschied und Aufbruch

In einer poetischen und dennoch kurzen und prägnanten Sprache erzählt Mireille Gagné die Geschichte des Lepus americanus, die bald zu ihrer eigenen wird. In kurzen Kapiteln, manchmal ganz ohne Satzzeichen über Seiten hinweg, um die Atemlosigkeit der Erzählerin zu veranschaulichen, lernen wir, wie Diane wieder in ihr Leben zurückfindet. Wie sich ihre Gedanken sortieren und die Transformation schließlich stattfindet. Eine Erzählung als Metapher? „Das war ihr Wunschziel gewesen. Nie mehr müde zu sein.“ Diane will arbeiten. Arbeiten, um zu vergessen. Denn das Unbehagen liegt in den Erinnerungen. Und nur wer rastet, hat Erinnerungen. Erinnerungen an Eugène. „Diane erlebt einen Augenblick der Fülle bei dem Gedanken endlich dem Horizont gewachsen zu sein.“ Wird der neue Aufbruch, der Abschied von ihrer Insel ihr auch die Zeit verschaffen, um sich wieder zusammenzuflicken? Der Epilog am Ende der Geschichte erklärt einiges. Aber das meiste findet sich zwischen den Zeilen. Ein jeder kann es finden. Vor allem die, „die sich verirrt haben“.

Mireille Gagné
Häsin in der Grube
Aus dem kanadischen Französisch von Birgit Leib
SALTO [262].
2021, 120 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1361-0
Wagenbach Verlag
17.-€


Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Der Mann schläft

Bitterböse Lektüre für Masochisten

Auch wenn der Titel «Der Mann schläft» suggerieren mag, man habe einen Liebesroman von Sibylle Berg vor sich, ist doch genau das Gegenteil der Fall. Die im Feuilleton als «leidenschaftliche Hasspredigerin» apostrophierte Schriftstellerin erzählt vielmehr eine für sie typische, pessimistische Geschichte eines Paares, das sie ganz ohne Liebe zueinander finden lässt. Kann das denn gut gehen?

Die namenlos bleibende Ich-Erzählerin ist eine sich selbst unattraktiv findende Frau Mitte vierzig, die das Leben als völlig sinnlos empfindet. Zutiefst misanthropisch, hat sie eine desillusionierte Sicht auf die Welt, besonders was die Zweisamkeit anbelangt. Sie erträgt einfach nicht die Nähe anderer Menschen, weicht ihnen aus, ist lieber für sich allein. Nach vielen kläglich gescheiterten Versuchen, einen Mann fürs Leben zu finden, trifft sie plötzlich auf ihren ‹Mister Right›, ein Wunder, auf das sie nicht mehr zu hoffen gewagt hat. «Der Mann», wie er im Roman immer nur genannt wird, ist ein dicker, schweigsamer Typ, mit dem sie eine innere Verbindung zu haben scheint. Er ist der erste Mann, an den sie sich anlehnen und ihren Weltekel vergessen kann. Sie mag ihn, ganz einfach weil er sie liebt und mit seinem eher phlegmatischen Charakter ihre Launen geduldig erträgt. Und so folgt sie ihm denn auch ins Tessin, wo er wohnt und arbeitet, ihrer freiberuflichen Tätigkeit als Übersetzerin von Bedienungs-Anleitungen kann sie auch von dort aus nachgehen.

In zwei chronologisch aufeinander zulaufenden Handlungs-Strängen wird abwechselnd in vielen kurzen Kapiteln von ihrer vier Jahre andauernden Zweisamkeit erzählt, in der «der Mann» letztendlich allenfalls eine Nebenrolle spielt. Er ist gutmütig, genügsam, alles andere als charismatisch, aber er verkörpert den sicheren Hafen im tosenden Meer menschlichen Lebens, in dem die Protagonistin ständig unterzugehen droht. In soweit alles «Friede, Freude, Eierkuchen»! Bis Sibylle Berg die Beiden nach vier Jahren plötzlich aus ihrer stillen Idylle zu einer Reise nach Hongkong aufbrechen lässt. Sie haben sich auf einer kleinen Insel eingemietet und entdecken dort das ihnen fremde China. Eines Tages fährt «Der Mann» mal wieder mit der Fähre nach Hongkong hinüber, um einige Besorgungen zu machen, er sei in zwei oder drei Stunden zurück. Aber er kommt nicht zurück, sie erstattet eine Vermisstenanzeige, es findet sich jedoch keine Spur von ihm. Die Erzählerin trifft zufällig auf Kim, ein zehnjähriges Mädchen aus der Nachbarschaft, das beim verwitweten Großvater aufwächst, der als Masseur arbeitet. Sie empfindet eine gewisse Seelen-Verwandtschaft mit dem altklugen Mädchen, lernt ihren Opa kennen und geht schließlich auf sein Angebot ein, zu ihnen in das schon lange leerstehende Gästezimmer zu ziehen, das sei gut für Kim. Auf ihren Streifzügen über die Insel beobachtet sie die Inselhure, eine querschnitts-gelähmte Frau, die gleichwohl ihrem Gewerbe nachgeht. Wie sich herausstellt, ist sie die Mutter von Kim, die ihr Kind beim Großvater leben lässt, weil es bei ihr geschäfts-schädigend wäre. Zeitweise verfällt die Protagonistin schließlich dem Alkohol und willigt zuletzt ein, notgedrungen mit dem Masseur und Kim zusammen zu bleiben.

Dieser Sibylle-Berg-typisch schlecht gelaunt erzählte, fatalistische Roman ist eine zynische Absage an das Leben, das hier als vollkommen sinnlos dargestellt wird. «Allen wohnte die gleiche Gier und Beschränktheit inne, sie quälten andere, weil sie es konnten. Sie zeigten den Nachbarn an wegen des Hundes, der an ihr Auto uriniert hatte, sie bespitzelten sich, stritten sich, misshandelten sich, als ob es kein Morgen gäbe …». Die bitterböse, zudem noch ziemlich unlogische Geschichte ist durchgängig mit derart gehässigen ‹Lebensweisheiten›gespickt, was dann auf Dauer nur noch nervt. Denn in all der vermeintlichen Ausweglosigkeit scheint Suizid die einzige Chance zu sein. Eine Lektüre also, die allenfalls für weltfremde Masochisten geeignet ist!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Das dunkle Schiff

Rastlos, leer und unersättlich

Der 2008 erschienene Roman «Das dunkle Schiff» des in Ost-Berlin geborenen Sherko Fatah behandelt eine derzeit hochaktuelle Thematik. Was bei dem Schriftsteller mit irakisch-kurdischen Wurzeln die Peschmerga sind, ‹Die dem Tod ins Auge sehenden Gotteskrieger› der Kurden im Irak, das sind dieser Tage die Taliban in Afghanistan, die dem Westen eine desaströse Niederlage und einen alle Medien beherrschenden, unrühmlichen Abgang nach einem zwanzigjährigen Krieg beschert haben. Es ist die Konfrontation verschiedener Welten, die das gesamte Werk dieses von zwei völlig unterschiedlichen Kulturen gleichermaßen geprägten Autors bestimmt. Es ist aber auch die gekonnte Einbindung all jener Fährnisse, denen ein aus dieser chaotischen Weltregion in rechtsstaatliche Gefilde fliehender Mensch begegnet, welche diese bedrückende Geschichte so einmalig macht.

Wie kein zweiter versteht es nämlich der Autor, die durch den Krieg verursachten Gewaltexzesse und die daraus resultierenden Folgen für die Zivilbevölkerung, ihre Entwurzelung und erzwungene Flucht ins Exil, in eine spannende Geschichte zu integrieren. Der fettleibige junge Iraker Kerim erlebt den Mord an seinem Vater durch Schergen des Diktators Saddam Hussein. Er schließt sich, als er während einer Autofahrt den Peschmarga in die Hände fällt, dieser terroristischen Befreiungs-Bewegung an. Nach einer Ausbildung an Waffen beteiligt er sich an verschiedenen Kommando-Unternehmen gegen die vorrückenden Amerikaner. Einmal dokumentiert er mit der Video-Kamera ein Selbstmord-Attentat auf einem belebten Marktplatz. Als sich ihm die Gelegenheit bietet, entwendet er einem der Rebellen-Anführer einen hohen Dollarbetrag und flüchtet damit zurück nach Hause. Das viele Geld ermöglicht ihm nun die schon lang ersehnte Flucht in die Freiheit, er will nach Europa. Schlepper bringen ihn außer Landes, als blinder Passagier gelangt er im Laderaum eines Frachters nach Europa und landet schließlich bei seinem Onkel, der seit Jahrzehnten in Berlin lebt. Mit Sonja lernt er eine junge Frau kennen, die ihm das Leben rettet, als er ins Eis einbricht, und erlebt seine Initiation mit ihr. Schließlich wird sogar sein Exilantrag genehmigt, aber die Geister der Vergangenheit holen ihn dann doch wieder ein.

In einer sachlich nüchternen Sprache wird hier behutsam voranschreitend eine Geschichte von den verschlungenen Wegen erzählt, auf denen die Odyssee des Helden ihrem Höhepunkt zustrebt. Ohne stilistische Arabesken zwar, aber in der Fülle von Zufällen und Begebenheiten orientalisch breit ausgeschmückt, ist der Plot gleichwohl durchgängig plausibel. Und er ist von der ersten bis zur letzten Seite spannend wie ein guter Abenteuer-Roman, man ist ans «Wilde Kurdistan» von Karl May erinnert und an Robinson Crusoe. Als Figur bleibt der Protagonist Kerim leider ziemlich farblos, narrativ befindet er sich durchgängig in einer weitgehend passiven Opferrolle, aus der er sich nicht herauslöst. Er ist, und bleibt es auch, ein Getriebener, dem nur durch glücklichste Umstände vieles gelingt.

Wirklich grandios wird dieser bedrückende Roman immer dann, wenn es um die Darstellung der gravierenden kulturellen Unterschiede zwischen Orient und Okzident geht, um die vermeintliche Überlegenheit der westlichen Lebensweise also. In vielen Rückblenden erinnert sich Kerim an die Kampfreden seines Lehrers bei den Peschmerga: «Es geht immer um das Geld, glaube mir, sie sind davon besessen. Es macht sie kalt und hart, und doch ist es das einzige, woran sie wirklich glauben. […] Sie sagen, sie lieben die Freiheit, doch ihre Freiheit ist die Einsamkeit. Sie sagen, sie lieben das Leben, aber dieses Leben ist Gier. Sie sagen Fortschritt, doch dieser Fortschritt bereitet nur das Terrain, das sie morgen ausbeuten und zerstören werden, rastlos, leer und unersättlich». Angenehm für den Leser ist, dass Sherko Fatah sich bei solcherlei kontemplativen Exkursionen wohlweislich aller moralischen Wertungen enthält.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München

Das Jahresbankett der Totengräber

Geradezu revolutionär

Der neue Roman des französischen Schriftstellers Mathias Énard mit dem burlesken Titel «Das Jahresbankett der Totengräber» ist ein bildungssattes Epos über das Leben auf dem Lande, in dem ein Anthropologe dessen spezifische Merkmale in einer Felduntersuchung für seine Doktorarbeit ergründen will, und gleichzeitig ist dies auch ein Werk über Leben und Tod. Hier ist es nun ausnahmsweise mal der letzte Satz, der, wie von Poe für den ersten apostrophiert, ‹oft die ganze Geschichte enthält›: «Ich startete den Motor, legte den ersten Gang ein, und wir fuhren los, den Planeten zu retten».

Der Roman beginnt mit dem ersten Eintrag ins neue ethnografische Feldtagebuch, wo der Pariser Anthropologe David Mazon den Ort seines bescheidenen Quartiers in der französischen Provinz für seine Studien beziehungsreich «Das wilde Denken» tauft. Er will durch genaues Beobachten seiner Umgebung und mit Hilfe vieler Interviews Material sammeln, um damit eine bahnbrechende Monografie über das Landleben im 21ten Jahrhundert zu schreiben. Unerwartet und ungewollt gerät er jedoch immer weiter von der Position des distanzierten Beobachters in die Rolle des unmittelbar Beteiligten hinein. Er gewinnt neben den Erkenntnissen neue Freunde unter den Dörflern und fühlt sich in dem 500-Seelen-Kaff immer mehr zuhause. In sieben Kapiteln, von denen die äußeren in Tagebuchform verfasst sind, entwickelt Mathias Énard ein lebenspralles Panorama menschlicher Existenz, zu der als untrennbares Faktum der Tod gehört. Ihm wird im titelgebenden Mittelteil gehuldigt, das vom jährlichen Treffen der 99 Totengräber aus der Region zu ihrem zweitägigen, orgiastischen Fress- und Saufgelage berichtet. Die fortwährend neu aufgetischte, endlos scheinende Speisefolge wird öfter mal unterbrochen durch Redebeiträge einzelner Mitglieder der Zunft. In seiner Begrüßungsrede fordert der Großmeister die Gesellschaft auf: «Lasst uns, Freunde, über unser trauriges Schicksal nachsinnen und die Ärzte preisen, die für unser täglich Brot sorgen». Andere Redebeiträge berichten, mit Zitaten gespickt, aus der Mythologie, von Melusine oder Gargantua, aber es gibt auch Fachvorträge wie «Einführung in die Ökologie des Sarges». Und am Schluss dann steht, als letztes zelebriertes Ritual, «Fröhliches Trinken und warten auf den Tod».

In barocker Fülle brennt Mathias Énard ein wahres Feuerwerk an skurrilen Ideen ab. Er fügt zwischen seine Kapitel jeweils eine als Chanson bezeichnete Vignette ein, mit Titeln wie «In den Kerkern von Nantes», «Klagelied des heiligen Nikolaus» oder, zuletzt, «Jean Petite muss tanzen», wo genüsslich eine satanische Hinrichtung beschrieben wird. Kommunikative Zentrale des Dorfes ist das ‹Anglercafé›, in dem man sich fast täglich trifft, für den Anthropologen eine hochwillkommene Quelle für seine Recherchen. Neben dem Wirt hält der Bürgermeister und örtliche Bestatter in Personalunion alle Fäden in der Hand. Davids bäuerliche Vermieter gehören ebenso zu den Gästen wie Max, ein durchgeknallter Künstler, der versoffene Pfarrer, die aufmüpfige Gemüsebäuerin Lucie oder der Metzger. Zeitlich reicht dieser mit Geschichten prall gefüllte Landroman von der Antike bis in die Zukunft. Da kommt zum Beispiel ein Wildschwein, das vorher der Pfarrer war, ins Bardo und wird Mitte des 21ten Jahrhunderts in einem apokalyptischen Szenarium als Dachs wiedergeboren. Denn alles, was da lebt, kehrt in neuer Gestalt irgendwann zurück ins Leben, – die buddhistische Idee der Reinkarnation feiert hier fröhliche Urständ.

Damit erweitert der Autor äußerst kreativ und zum Thema passend seinen Erzählradius durch eine schöpferische Einbeziehung der Fauna in das sich jeder kurzen Zusammenfassung widersetzende, turbulente Geschehen. Er stellt den eher moralisierenden, aktuellen Landromanen mit ihrer drögen Zurück-ins Dorf-Botschaft eine vor Sprachlust vibrierende, vergnügliche und auch noch intellektuell hochstehende Alternative entgegen. Das ist geradezu revolutionär!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Willkommen neue Träume

Vom Unbehagen in der Kultur

Der dritte von vier bisher erschienenen Zeitromanen des Schriftstellers Norbert Niemann erschien 2008 unter dem – bezogen auf den Inhalt – sarkastischen Titel «Willkommen neue Träume». Dieses eher selten anzutreffende literarische Genre ist durch seine Zeitkritik geprägt, die Zeit selbst also steht im Mittelpunkt dieser Sonderform des Gesellschafts-Romans. Hier ist es die Gegenwart zu Beginn des 21ten Jahrhunderts, und zwar in all ihren politischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und medialen Aspekten.

Ort der Handlung ist eine fiktive Kreisstadt in Bayern, in Alpennähe malerisch an einem See gelegen. Mit dem Zug kehrt der erfolgreiche junge Fernsehjournalist Asger Weidenfeldt aus Berlin zu seiner Mutter Clara zurück, die dort eine pompöse Villa mit eigenem Seezugang besitzt. Als einst gefeierte Filmdiva hat sie sich in ihr Refugium zurückgezogen, und auch für ihren versnobten Sohn ist dies ein Rückzug aus dem Beruf, den er trotz aller Erfolge für sich als zunehmend sinnlos empfindet. Sie haben beide auf Abstand gelebt in den letzten Jahren und fremdeln regelrecht, jeder lebt für sich in der alten Villa. Der Bürgermeister des Ortes steht mit der exzentrischen Diva auf gutem Fuß, beide profitieren voneinander, mehr ist da nicht, obwohl die Leute es glauben. Und so hilft er ihr auch bereitwillig, das zu Ehren ihres Sohnes geplante, große Fest mit den Freunden und Begleitern von einst zu organisieren. Asger ist entsetzt über die illustren Gäste, die als Prominente aus allen Bereichen von Kunst und Kultur stammen und ihn genau so anwidern wie der abgeschmackte Medienbetrieb in der Hauptstadt, vor dem er geflohen ist. Durch ein plötzlich hereinbrechendes Unwetter werden die Disharmonien unter den fragwürdigen Gästen symbolisch überformt, das rauschende Fest endet im Chaos.

Asger nimmt zuallererst Kontakt zu seinem ehemals besten Freund auf, der Leiter des Stadtarchivs geworden ist und nun ein bürgerliches Leben mit Frau und Kindern führt. Beide waren in der Schule besonders bei ihrem inzwischen pensionierten Deutschlehrer für ihre intellektuell beachtlichen, kritischen Beiträge im Unterricht beliebt. Mit der unehelichen Tochter der Sekretärin im Bürgermeisteramt führt der Autor eine weitere Figur ein, die in die Fußstapfen der Diva tritt und eine raketenartige Karriere als TV-Serienstar hinlegt. Der junge neue Pfarrer erweist sich als eifriger Disputant für seine Sache und bleibt in lebhaften Diskussionen mit dem Deutschlehrer, dem Archivar und Asger auf keinen ketzerischen Anwurf eine Antwort schuldig. Der Roman lebt von den philosophischen Disputen ebenso wie von den kontemplativen inneren Monologen seiner diversen Figuren. Jede von ihnen ist auf ihre Weise auf der Sinnsuche, versucht auszubrechen aus den eingefahrenen Wegen, hadert mit den anbrechenden neuen Zeiten und den veränderten Realitäten, die nichts Gutes zu bringen scheinen.

Dieses breit angelegte Panorama der deutschen Gesellschaft wird von den vielen Figuren getragen, deren Rede oft durch den auktorialen Erzähler ergänzt wird. Allzu offensichtlich dienen ihm seine Figuren zur Verkündung eigener Thesen, den handelnden Personen unterlegt er seinen eigenen Duktus in den heftig geführten Debatten. Neben den im Mittelpunkt stehenden künstlerischen und kulturellen Fehlentwicklungen werden auch der ausufernde Konsumterror und die Umwelt-Zerstörung mit allen ihren Folgen thematisiert. Und dazu gehört natürlich auch die Klimakatastrophe, die in den Roman als so noch nie dagewesenes Hochwasser eingebaut ist. Diese radikale Zeitdiagnose ist in einem wortgewaltigen, messerscharf formulierten Stil geschrieben, dessen Prägnanz Satz für Satz wie in Stein gemeißelt erscheint. Auch die Figurenzeichnung ist stimmig, nur der Held, Asger, bleibt relativ farblos in seinem kultur-pessimistischen Selbstmitleid. Und in der Sache kann man den vielen Thesen im Buch ebenso viele Einwände entgegenhalten, – man würde jedenfalls gern mitdiskutieren!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Flughafenfische

Von Fischen und Menschen

Der zweite Roman von Angelika Overath trägt den rätselhaften Titel «Flughafenfische». Das Rätsel klärt sich bereits auf der ersten Seite, denn die titelgebenden Fische leben in einem riesigen Aquarium in der Transithalle eines nicht benannten internationalen Flughafens. In einem kammerspielartigen Setting lässt die Autorin im Gewimmel der Reisenden dort drei Menschen auftreten, deren Leben nicht unterschiedlicher sein könnte. Das verbindende Element dieser solitären Romanfiguren ist ihre inmitten der Menschenmassen irreal wirkende, ganz individuelle Einsamkeit.

Da ist zunächst Tobias, der nie verreist, Hüter eines künstlich angelegten Korallenriffs, das mit seinen zwanzig Kubikmetern Wasser wie ein dekorativer Raumteiler eine in den südlichen Ozeanen beheimatete Tier- und Pflanzenwelt beherbergt. Übermüdet von einem strapaziösen Langstreckenflug wartet Elis in diesem Transitbereich auf ihren verspäteten Anschlussflug. Sie ist eine erfolgreiche Fotografin, die rund um den Erdball jettet, mit den unterschiedlichsten Aufträgen für Artikel in angesagten Hochglanz-Magazinen. In ihrem Kopf wirbeln verschiedene Reisebilder aus Afrika und Asien schlaglichtartig durcheinander. Sie ist verblüfft, als sie plötzlich im lauten Trubel des Airports das Ruhe ausstrahlende Aquarium mit seinen stummen Bewohnern sieht. Fasziniert bleibt sie stehen, um durch die Scheiben dem munteren Treiben der bunten, exotischen Lebewesen eines Riffs zuzusehen. Ebenfalls durch Fenster abgetrennt sitzt in der Nähe im Raucherfoyer ein hoch angesehener, namenlos bleibender  Professor der Biochemie, der als Vielflieger von Kongress zu Kongress eilt. Gerade eben hat er eine SMS von seiner Frau erhalten, die ihm nach dreißig Ehejahren überraschend mitteilt, dass sie sich ab sofort von ihm getrennt hat. Zigaretten rauchend grübelt er nun über seine Versäumnisse nach, lässt sein vollständig der Karriere gewidmetes Leben selbstkritisch Revue passieren.

Neben diesen beiden rastlosen Globetrottern stellt Tobias den Gegenentwurf des bodenständigen Mannes dar, der die Erfüllung seines Lebens ausschließlich in der liebevollen Betreuung der ihm anvertrauten Aquariums-Bewohner findet. Als Elis ihn anspricht, erzählt er ihr bereitwillig vom schwierigen Aufbau des künstlichen Riffs, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen existieren kann. Es habe mehr als ein Jahr gedauert, bis all die diffizilen Parameter der chemischen Zusammensetzung des Wassers, seiner Temperatur und der erforderlichen Strömungs-Verhältnisse penibel justiert waren. Und auch die fragile Lebensgemeinschaft von Fischen, Krebsen, Muscheln, Anemonen, Schwämmen, Algen sowie der zugehörigen Unterwasser-Flora stellt ein hochkompliziertes System dar, in dem es für einzelne Spezies immer wieder mal zu Rückschlägen kommt.

Der ansonsten dialogfreie Roman aus dem Airport-Kosmos bleibt auch hier völlig unpersönlich, die Zwei am Aquarium kommen sich nicht wirklich näher, sie bleiben sich als Zufalls-Bekanntschaft letztendlich Fremde. Angelika Overaths in 18 Kapiteln erzählte, klug durchdachte Geschichte lebt von der bewundernswerten Beschreibungskunst seiner Autorin, die zuweilen sogar poetische Züge annimmt. In parataktischer Form beschreibt sie kenntnisreich und anschaulich eine nur Wenigen zugängliche, aquatische Welt, die inmitten des umweltfeindlichen Flugwahns wie ein, allerdings unbeachtet bleibendes, Mahnmal wirkt. Ihre immer wieder auf die Unterwasserwelt bezogene Metaphorik erscheint mit der Zeit allerdings etwas aufdringlich. Die nur als «Raucher» bezeichnete, als einzige in Ich-Form sinnierende Figur des Professors wirkt zudem deplaziert, seine Ehe-Thematik stellt keine gelungene, plausible Ergänzung dar. Und Tobias und Elis reden nicht wirklich miteinander, sie tauschen lediglich wechselseitig Monologe aus. Thematik und Impetus dieses Romans verblassen in Anbetracht der stilistischen Erzählkunst seiner Autorin, die hier als ‹L’art pour l’art› nutzlos verschwendet wird. Schade!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by btb München