Am Seil

Fanal selbstbestimmten Sterbens

Den Text, der als erfolgreiche Kurzgeschichte 2005 den Ingeborg Bachmann Preis gewann, hat Thomas Lang mit fünf vorgeschalteten Kapiteln zu dem Roman «Am Seil» ergänzt. Darin wird nun in einem kammerspiel-artigen Setting geschildert, wie es zu dem in Klagenfurt prämierten, ebenso komplexen wie dramatischen Ende einer schwierigen Vater/Sohn-Beziehung kam.

Auf einem gestohlenen Motorrad kommt der bekannte TV-Moderator Gert nach jahrelanger ‹Funkstille› zum ersten Mal zu Besuch ins Altenpflegeheim seines Vaters Bert. Beide sind an einem Punkt ihres Lebens angelangt, aus dem nur noch der Tod als Ausweg zu bleiben scheint, was denn auch den Buchtitel erklärt. Vater Bert war Lehrer für Englisch und Sport, ist schon seit Jahren von seiner Frau geschieden und inzwischen körperlich sehr hinfällig. Sein 45jähriger Sohn Gert hatte durch eine für ihn glückliche Verwechslung überraschend Karriere beim Fernsehen gemacht. Er wurde aber nach vielen erfolgreichen Jahren fristlos gefeuert, weil er sexuell übergriffig wurde und kurz darauf dann auch noch einen Autounfall verschuldet hat, bei dem seine minderjährige Geliebte umkam. Er ist nicht nur seelisch, sondern auch finanziell in ein tiefes Loch gefallen.

Mit scharfem Blick für Details wird die Figuren-Konstellation von einem sportlichen, herrischen Vater, der seinen körperlichen Verfall nicht akzeptieren kann, und seinem kunstbeflissenen, aber völlig untalentierten Sohn entwickelt. Letzterer ein Verlierer-Typ, dem das Glück nur einmal im Leben hold war und der nun in Selbstmitleid zerfließt. Beide Männer stehen vor einem Scherbenhaufen und haben sich absolut nichts mehr zu sagen. Thomas Lang erzählt multi-perspektivisch abwechselnd aus Sicht des penetrant besserwisserischen Vaters und des verweichlichten Sohnes vom Hass der Beiden aufeinander, der sich in einem Plot artikuliert, der chronologisch nicht länger als ein kurzes Zweipersonen-Stück beim Theater andauert. Die phonetische Ähnlichkeit der beiden Vornamen deutet trotz allem auf eine gewisse Charakter-Verwandtschaft der ungleichen Protagonisten hin. Denn Bert und Gert haben beide, so kristallisiert es sich für den Leser allmählich heraus, und der Buchtitel deutet es ja auch an, nur noch ein Ziel, welches sie ganz unerwartet doch noch eint. Bert ist nämlich bis ins Mark erschüttert, weil ‹seine› ihn besonders liebevoll umsorgende Pflegerin niedergeschlagen verkündet hat, dass sie entlassen wurde. Die Beschreibungen der Alters-Gebrechen und die Ohnmacht des in dem Pflegeheim nur noch dahinvegetierenden Vaters werden durch die wortkargen, geradezu zynisch knappen Dialoge mit dem Sohn eindrucksvoll verdeutlicht.

In der minutiösen Schilderung des auf pure Zweckmäßigkeit hin ausgerichteten Pflegeheims fällt besonders ein Gemälde des Russen Kasimir Malewitsch auf, das den Titel «Das schwarze Quadrat» trägt und im Buch, nicht ohne tieferen Grund, erwähnt wird. Es unterstreicht nämlich auf optische Weise die ganz ähnlich auf eine narrative «Empfindung der Gegenstandslosigkeit» ausgerichtete Diktion des Autors. Die psychisch desolate Verfassung der Figuren korrespondiert mit einer stilistischen Kargheit, deren wie in Zeitlupe ablaufende Beschreibungen einer Seniorenheim-Tristesse sich weitgehend an scheinbar Insignifikantem abarbeiten. Ohne Zweifel handelt es sich hier vom Genre her übrigens um eine geradezu archetypische Novelle, nicht um einen Roman, auch wenn das sich weit besser verkauft. Mit der Thematik des selbstbestimmten Todes nach einem langen, ereignislosen Leben, dem konträr beim Sohn ein intensives, in vollen Zügen genossenes gegenübersteht, wird hier ein uraltes moralisches Problem behandelt. Die wahrhaft groteske Schlussszene ist wie das Fanal eines völlig unhaltbaren, gesetzlichen Zustandes, der schmerzlich an das einst erbittert umkämpfte Abtreibungs-Verbot erinnert. Literarisch allerdings wirkt dieses Buch leider ziemlich willkürlich zusammen montiert, sprachlich oft misslungen und als Ganzes völlig inhomogen.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Bedrückendes Psychogramm

Es ist ein DDR-Roman der besonderen Art, in dem Julia Schoch unter dem kryptischen Titel «Mit der Geschwindigkeit des Sommers» über die Folgen der politischen Wende auf die Psyche einer Frau berichtet. Die Geschichte schildert aus einer ungewöhnlichen Perspektive die Auswirkungen dieser Zäsur, mit der sich für Viele ein neues, aber nicht immer auch besseres Leben abzeichnete. «Bevor sich meine Schwester in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf». So lautet, das Ende vorwegnehmend, der erste Satz, der Roman beschreibt nur den einsamen Weg ins Verhängnis.

Im Rückblick berichtet hier eine namenlose Ich-Erzählerin, die jüngere der beiden Schwestern, von der gemeinsamen Jugend in einer eiligst aus dem Boden gestampften Garnisonsstadt am Stettiner Haff. Der strategisch günstige, aber in einer öden Gegend gelegene Stützpunkt bestimmt das Alltagsleben in dem Städtchen. Einmal, erinnert sich die Erzählerin, sei sie mit ihrer älteren Schwester im Kino gewesen, umringt ausschließlich von Soldaten in ihren grauen Uniformen. Den vielen jungen Männern konnte der trostlose Ort kaum mehr Unterhaltung bieten als den Kinobesuch oder den Versuch, mit hübschen Mädchen anzubandeln. Und so habe ihr die ältere Schwester eines Tages denn auch von einem Schäferstündchen mit einem der Soldaten berichtet. Als nach der Wende die Garnison aber verkleinert und schließlich aufgegeben wurde, hatte ihr Soldat schon bald den Dienst quittiert und sich in den Westen abgesetzt. Die Ich-Erzählerin, deren Profession mit dem Stichwort ‹Drehbuch› nur an einer Stelle indirekt angedeutet wird, hat ihrer Heimat nach der Wende ebenfalls den Rücken gekehrt. Ihre ältere Schwester hingegen ist geblieben, hat geheiratet, zwei Kinder bekommen und führt nun ein langweiliges Leben als Hausfrau und Mutter. Die jüngere Schwester besucht sie ab und zu, und so erzählt die ältere ihr dann auch, dass ihr «Soldat», der inzwischen ebenfalls verheiratet ist, nach vielen Jahren den Kontakt mit ihr wieder aufgenommen habe. Seither besuche er sie häufig, ihre rauschhafte Beziehung sei sexuell für beide unvergleichlich intensiv.

Erzählt wird diese beklemmende Geschichte überwiegend in Form der inneren Rede, die der Ich-Erzählerin allerdings fiktiv ein Wissen unterstellt, dass niemand von den Gedanken eines anderen haben kann. «Hatte nicht der inzwischen verschwundene Staat verhindert, dass man zu irgendwas Großem in der Lage war», sinniert zum Beispiel die depressive ältere Schwester. Geradezu schwärmerisch gibt sie sich der verlockenden Vorstellung hin, «dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hätte». Und bei ihrem letzten Telefonat hatte die Ich-Erzählerin sie gefragt, wie sie denn «plötzlich auf die Idee gekommen sei, einfach ihren Liebhaber abzustoßen». Und bekommt zur Antwort: «Das habe sich ‹mit der Geschwindigkeit des Sommers› in ihr festgesetzt». Selbstkritisch merkt die Jüngere an: «Wäre ich aufmerksamer gewesen, hätte ich ihre verhängnisvolle Entscheidung vielleicht rückgängig machen können».

Diese Geschichte eines aus dem Lot geratenen Lebens wird in einem lakonisch knappen Stil erzählt, der intensiv das Psychogramm einer rätselhaft bleibenden Frau und ihrer fatal gescheiterten Befreiung aus bedrückenden staatlichen Zwängen zeichnet. Der Roman ist eine einzige Suche nach dem Motiv für die Verzweiflungstat. Dabei entspricht die nüchterne, unterkühlte Erzählsprache zwar dem trostlos kargen Ambiente des Handlungsortes, nicht aber das zutiefst menschliche Thema, um das es hier geht. Es ist dieser Kontrast zwischen einer knappen, zögerlichen Sprache und der unter die Haut gehenden Tragik eines unwiderruflich gescheiterten Lebensentwurfs, der dieses bedrückende Psychogramm zu einer intensiven, lang nachwirkenden Lektüre macht. Damit wird, das sei noch angemerkt, der gängigen DDR-Thematik eine neue Facette hinzugefügt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Das Jahr, in dem ich aufhörte …

Unvereinbar konträre Welten

Schon der epische Titel «Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen» des post-kapitalistischen Romans von Thomas von Steinaecker weist auf eine positive Entwicklung hin. Was als realistische Beschreibung des Turbo-Kapitalismus beginnt, endet in einem futuristischen Vergnügungspark in Samara, der seine Besucher zum Träumen einlädt und seine Ich-Erzählerin schließlich dazu bringt, das Buch zu schreiben, das wir in Händen halten.

Die 42jährige Renate, alleinstehend und kinderlos, erfolgreiche Versicherungs-Agentin, wird zur Key-Account-Managerin befördert und von Frankfurt nach München versetzt. Sie befindet sich gerade in einer emotional schwierigen Phase, ihre Mutter ist erst vor kurzem verstorben und ihr verheirateter Chef und Lover hat sie kürzlich eiskalt abserviert. Der Roman beginnt mit ihrem ersten Arbeitstag am 1. Oktober 2008, kurz nach der Pleite von Lehman Brothers. Die emotional vereinsamte Frau stürzt sich mit vollem Elan in die Arbeit, sie gewinnt auch sehr schnell einen neuen Premium-Kunden. Und dann ist auch noch eine interne Revision angesetzt, wobei der Controller Renate als Beisitzende zu den Einzelgesprächen mit der Belegschaft hinzuzieht. Schließlich vermittelt ihr der zufriedene Premium-Neukunde einen Riesenauftrag, ein russischer Großkonzern will in München einen ultramodernen Vergnügungspark errichten und bei ihr versichern. Sie fliegt zu einem ersten Gespräch nach Samara in die Firmenzentrale und besichtigt den dortigen Park. Von ihrem Chef aus München erhält sie am nächsten Tag telefonisch die Nachricht, dass die ganze Abteilung aufgelöst wird und alle Mitarbeiter ab sofort den Arbeitsplatz verlieren.

Mit genauem Blick für Details schildert der Autor die moderne Arbeitswelt in der Assekuranz mit ihrem ständigen Zwang zu Wachstum, mit neidischen Kollegen und oft schwierigen Kunden. Die müssen mit ausgeklügelten psychologischen Tricks nicht nur zum Abschluss überredet, sondern möglichst auch noch dazu gebracht werden, durch unrealistische Risiko-Analysen überhöhte Prämien für die jeweilige Police zu akzeptieren. All das vollzieht sich in einem abstoßend desillusionierenden Fachjargon. In diesem technokratischen Milieu entwickelt die emotional unterentwickelte, aber gut bezahlte Heldin permanent neue Absturzängste, gegen die auch ihre vielen Psychopharmaka kaum noch helfen. Das artikuliert sich in ihrem mehr als peinlichen Zwang zum Pfandflaschen-Sammeln in öffentlichen Abfallkörben. Mit dem Vergnügungspark setzt der Autor dem bedingungslos auf Rationalität getrimmten Versicherungs-Milieu eine märchenhafte Traumwelt entgegen, die in ihrer Nutzlosigkeit den Alternativ-Entwurf darstellt für eine menschlichen Urbedürfnissen gerecht werdende Lebensweise. Dazu gehört dann auch, dass die Heldin in Samara bleibt, sich eine bescheidene Unterkunft sucht und anfängt, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie tut das mit Bleistift, eine nicht nur symbolische Rebellion gegen den nervenden Technologie-Druck.

Thomas von Steinaecker lässt seine extrem rationale Romanheldin resigniert aus ihrer zermürbenden, ausschließlich dem schnöden Mammon gewidmeten Erwerbswelt aussteigen. Animiert durch die Traumwelten des Vergnügungsparks widmet sie sich nunmehr einer kontemplativen, dem eigenen Seelenheil dienenden Beschäftigung, dem Schreiben über das eigene Leben. Ein Akt der Selbstvergewisserung und der psychischen Gesundung, welcher, Authentizität vortäuschend, durch in den Text eingestreute Bilder aus dem Nachlass der Mutter illustriert wird. Zu dieser toughen Heldin gewinnt man allerdings keine emotionale Nähe als Leser, und auch die anderen Figuren wirken seltsam blutleer. Vieles an der anfangs mitreißenden Geschichte ist zudem zweifelhaft oder bleibt offen. Die konträren Welten des Romans stehen ohne jede Verbindung für sich allein, als Abbild der Widersprüche unserer modernen Gesellschaft ist dieser Roman jedenfalls ziemlich misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Das verlorene Paradies

Verklärte historische Sicht

Der im Original 1994 erschienene, in der deutschen Übersetzung «Das verlorene Paradies» betitelte Roman hat dem in Sansibar geborenen und in England lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Durchbruch gebracht. «Für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Schicksals des Flüchtlings in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten» wurde 2021 sein Œuvre mit dem Nobelpreis geehrt. In Deutschland löste die Preisvergabe ziemliche Beschämung aus, war doch hierzulande selbst den Insidern weder der Preisträger noch sein Werk bekannt, vieles davon war auch nie ins Deutsche übersetzt worden. Mit einer eiligst nachgedruckten Neuauflage ist der erfolgreiche Entwicklungs-Roman nun wieder auf Deutsch erhältlich. In seiner Reise-Episode habe dieser Roman deutliche Bezüge zum «Herz der Finsternis» von Joseph Conrad, hat das Nobel-Komitee konstatiert. Er habe zudem, vor dem Hintergrund der Kolonisation in Ostafrika Ende des 19ten Jahrhunderts, Anklänge an die Geschichte von Yusuv aus dem Koran.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg muss der zwölfjährige Yusuf, dessen Vater sich bei einem reichen Araber Geld geliehen hat, welches er nicht zurückzahlen kann, sein armseliges Elternhaus verlassen. In der fernen Stadt soll er bei ‹Onkel Aziz› so lange in dessen Krämerladen arbeiten, bis diese Schulden abgetragen sind. Angeleitet von seinem Kollegen Khalil, der für den Laden verantwortlich ist, wird der aufgeweckte Junge wegen seiner Menschen-Freundlichkeit bei allen Kunden schnell sehr beliebt. Insbesondere bei den Frauen, von denen einige schon bald ein Auge auf den schönen Jüngling geworfen haben. Der hinter dem Haus des Händlers gelegene Garten erscheint Yusuf mit seinen exotischen Pflanzen und dem Teich in der Mitte wie ein Paradies. In seinem epikureischen Denken sieht er sich, innerlich frei, als glücklicher Mensch. Wie sich schließlich herausstellt, sind sowohl Khalil als auch der alte Gärtner wie er ebenfalls quasi Eigentum von Aziz. Sie arbeiten als Sklaven für ihn, ohne sich ein anderes Leben auch nur vorstellen zu können.

In größeren Abständen unternimmt Aziz ausgedehnte Handelsreisen ins Landesinnere, er treibt mit den dort lebenden Völkern einen lukrativen Tauschhandel. An einer solchen Handels-Karawane in besonders entfernte, unbekannte Länder muss schließlich auch Yusuf teilnehmen. Er wird dabei mit unsäglichen Strapazen, Krankheit und Tod konfrontiert, aber auch mit unsäglichen Grausamkeiten. Seine naiv unbeschwerte Jugend endet abrupt, seine innere Freiheit geht verloren. Diese letzte Reise wird auch finanziell ein Fiasko, Aziz hat größte Mühe, seine Leute zu bezahlen und die an der erfolglosen Expedition beteiligten Geldgeber zu vertrösten. Der von prophetischen Träumen geplagte Yusuf verliebt sich schließlich in Anima, die einst als Mädchen mit Khalil zusammen ins Haus von Aziz gekommen war und von ihm als blutjunge zweite Frau geheiratet wurde. Wie oft bei Abdulrazak Gurnah gibt es aber auch hier kein versöhnliches Ende. Die Kolonial-Mächte verändern brutal das Leben der unterdrückten Völker, der traditionelle Tauschhandel kommt zum Erliegen. Damit verschwindet auch das bisher friedliche, ausbalancierte Nebeneinander der verschiedenen Ethnien, Religionen und des in munterem Durcheinander gesprochenen Kisuaheli und Arabisch.

Das Besondere des Romans ist die Perspektive der Unterdrückten, aus der heraus, mit elegischer Grundstimmung, illusionslos erzählt wird. Ziemlich ungewohnt für westliche Leser ist ferner auch die religiöse Bezugnahme auf den Koran statt auf die Bibel. In bunten Bildern wird hier einerseits ein Paradies genügsamer Menschen geschildert, die sich allen Zumutungen resigniert unterwerfen, andererseits gibt es aber auch keine Grausamkeit, keinen Gewaltexzess, keinen Ekel, den der Autor seinen Lesern erspart. Seine einseitig verklärte Sicht auf die historische Realität trübt den positiven Eindruck von diesem Roman zudem beträchtlich.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Der Turm

Zweitlektüre zu empfehlen

Im Jahre 2008 erschien unter dem Titel «Der Turm» von Uwe Tellkamp der ‹ultimative Wenderoman›, er wurde mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Vier Jahre später erreichte die ARD mit ihrer Verfilmung des Stoffs mehr als sieben Millionen Zuschauer. In seinem Opus magnum hat der Autor die letzten sieben Jahre der DDR bis zum unblutigen Volksaufstand im ersten Arbeiter- und Bauerparadies auf deutschem Boden thematisiert. Und er hat es aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert, dem auch im Sozialismus durchaus vorhandenen Bildungs-Bürgertum eines noblen Dresdner Villenviertels.

Als Erzähler aus der Mitte einer oppositionell eingestellten, systemfernen Bourgeoisie fungieren dabei der zu Beginn 17jährige Schüler Christian, der Arzt werden will, ferner sein Vater Richard, Oberarzt in einer chirurgischen Klinik, sowie sein Onkel, der studierte Biologe Meno, der fachfremd als Lektor in einem renommierten Verlag tätig ist. In unzähligen Episoden mit einer Hundertschaft von Figuren werden hier Geschichten aus den verschiedensten Milieus erzählt, die in einem dichten Geflecht von Verbindungen allen möglichen Kreisen der Gesellschaft angehören. Neben dem familiären und nachbarschaftlichen Verbund sind dies das Gesundheits-Wesen, für das der Vater steht, ferner das Bildungs-Wesen und die Nationale Volks-Armee, die der Sohn durchläuft und durchleidet, und schließlich auch das Verlagswesen, in dem sich der Onkel zu behaupten hat. Alle Drei sind dabei den bekannt fiesen Pressionen des diktatorischen Regimes ausgesetzt und kämpfen mit dessen sich überall zeigenden, grotesken Unzulänglichkeiten. Über allem wacht als permanente Bedrohung ein Spitzelsystem, das jederzeit mit einem Schlage eine erfolgreiche Karriere endgültig zerstören oder eine sich abzeichnende von vornherein verhindern kann. Im privaten Leben kommt es neben dem täglichen Kampf mit der Mangelwirtschaft und jederzeit drohenden Denunziationen natürlich auch zu amourösen Verwicklungen, die so weit gehen, dass der Vater dem Sohn die Freundin ausspannt. Onkel Meno liegt in ständigem Kampf mit den literarischen Betonköpfen der Kulturbehörden, den er in einem geradezu poetischen Tagebuch festhält, aus dem im Roman immer wieder mal zitiert wird.

Uwe Tellkamp schildert das bourgeoise Milieu, dem er ja ebenfalls entstammt, mit scharfem Blick für kleinste Details durchaus selbstkritisch. Bei allem Realismus wird dem Geschehen aber auch die eine oder andere eher märchenhafte Szene auflockernd beigemischt. In diesem Kaleidoskop sind die einzelnen Textteile, oft in unterschiedlicher Diktion, locker aneinander gereiht. Neben fachsprachlichen Begriffen finden sich da auch Militär- oder Stasi-Jargon, ein lautgetreu geschriebenes, breites Sächsisch, zuweilen aber auch eine poetische, nur in der gehobenen Literatur anzutreffende Ausdrucksweise. «Der Turm» enthält Elemente des Schlüsselromans, mehr als ein Dutzend Figuren sind da mehr oder weniger deutlich erkennbar, ein Who-is-Who der DDR-Literatur-Schaffenden  bis hin zu einigen aus dem dekadenten Westen.

Als Tausendseiter hat dieser Roman mit seinen familiären Erzählern nicht nur vom Umfang her gewisse Ähnlichkeiten mit den Buddenbrooks. Besonders deutlich wird das im ersten Teil durch dem vergleichbar bildungssatten wie auch beschaulichen Erzählgestus. Diesem bürgerlichen Realismus mit seinen vielen literarischen Anspielungen und Symbolen steht im zweiten Teil unter dem Titel «Die Schwerkraft» ein eher sozialistisch geprägter Realismus gegenüber. Der zielt, deutlich politischer, auf die sich abzeichnende Wende hin, jene am 9. November 1989 bevorstehende Zäsur, in die der Leser an diesem historischen Tag abrupt entlassen wird. Die gigantische Materialfülle ist letztendlich auch erdrückend, sie übersteigt in ihrer Vielfalt deutlich das Aufnahmevermögen. Was man dann erst beim zweiten Lesen merkt, denn nach mehr als zehn Jahren ist davon kaum noch etwas erinnerlich. Es lohnt sich also jede erneute Lektüre, eine erste aber ist geradezu Pflicht!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Warum du mich verlassen hast

Weniger wäre mehr gewesen

Der Debütroman von Paul Ingendaay greift mit seinem Titel «Warum du mich verlassen hast» auf die Worte von Jesus am Kreuz zurück. Ein deutlicher Hinweis auf das Milieu, in dem dieser Internats-Roman angesiedelt ist, ein katholisches Internat nämlich. Der Autor beschreibt darin eigene Erfahrungen, wie er im Nachwort erklärt. Er habe ganze siebzehn Jahre gebraucht, bis er nach der Erstfassung und nach langen Schreibpausen dann seine auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte ‹in einem Rutsch› neu geschrieben habe.

In einem niederrheinischen Knaben-Internat fühlt sich der fünfzehnjährige Bücherwurm Marko sehr alleingelassen. Zwangsläufig beschäftigte er sich viel mit Gott, in der Adoleszenz gewinnt natürlich auch die «Mädchenfrage» eine immer größere Bedeutung, seine wahre Leidenschaft aber sind die Bücher, die ihm dann auch über seine gelegentlichen Nihilismus-Anfälle hinweghelfen. Leitmotivisch zieht sich Robinson Crusoe durch die Erzählung, der ja, ebenfalls alleingelassen, ähnlich gefordert war wie Marko auf seiner einsamen Internats-Insel. Dort herrscht eine strenge Ordnung, die Zöglinge werden geschlagen und gedemütigt, die rigorose religiöse Erziehung ähnelt in ihren drastischen Methoden eher einer Gehirnwäsche als der einfühlsamen Vermittlung moralischer Werte. Neben den Büchern helfen ihm nicht nur seine Kumpels über all den Frust hinweg, vor allem auch sein Religionslehrer, Bruder Gregor, ist ihm ein Mentor und unermüdlicher, literarisch kompetenter Gesprächspartner, der so gar nicht in diese Knaben-Zuchtanstalt hineinpasst. Auch bei dem unkonventionellen Hausmeister ist Marko oft zu einem Plausch, und der lässt ihn das geheimnisvolle «Buch der Ordnungen» lesen, eine Art Internats-Almanach. Als Marko erfährt, dass seine in Köln lebenden Eltern sich getrennt haben, bricht eine Welt für ihn zusammen, auch den sicheren Hafen der Familie gibt es nun nicht mehr für ihn. Bis schließlich etwas Schreckliches passiert und Marko sich moralisch verpflichtet fühlt, die arglistig vertuschte, bittere Wahrheit ans Licht zu bringen.

Paul Ingendaay hat für seinen in den 1970er Jahren angesiedelten Roman, der ja an die Internats-Geschichten von Hesse oder Musil erinnert, eine eigene Sprache gefunden, in der er seinen rebellischen Ich-Erzähler und Protagonisten reden lässt, ein konsequent durchgehaltener Jugend-Slang, wie er ähnlich auch bei Salinger zu finden ist. Vor allem aber die oft absurd komischen Gedankengänge des Helden unterscheiden den Roman von seinen großen Vorbildern und machen ihn zu einer unterhaltsamen Lektüre. Dem stehen gleichwertig allerdings ebenso viele kontemplative Abschnitte zu philosophischen Fragen gegenüber. Die werden neben vielen Bibelzitaten auch mit Zitaten von Kierkegaard bis Seneca untermauert und in funkelnden Dialogen erörtert. Der aufgeweckte und belesene Marko erweist sich dabei nicht nur als rhetorisch gewandt, er spricht gelegentlich auch den Leser direkt an und benutzt dabei oft spöttisch einen predigtartigen Ton. Er und viele der originellen Romanfiguren wirken sympathisch, und sogar der eine oder andere bigotte Erzieher zeigt manchmal, dass er eine versteckte menschliche Seite hat. Aber das bleibt die Ausnahme! «Gewalt gehört zur katholischen Kirche wie Hostie und Weihrauch» heißt es im Roman, und das ist letztendlich auch hier die bittere Erkenntnis.

Neben einem wenig dramatischen, aber stimmig bis zum Ende anhaltenden Spannungs-Bogen überzeugt dieser Roman vor allem mit seiner anschaulich beschriebenen Internats-Atmosphäre. Zu der gehören auch die Zumutungen der «Schädelstätte», wie die Zöglinge die grottenschlechte Internatsküche in ihrem Jargon verächtlich bezeichnen. Es ist letztendlich dieser juvenile Jargon, der diesen astreinen Internats-Roman zu einer ebenso amüsanten wie bereichernden Lektüre mit einigem gedanklichen Tiefgang macht. Ein deutlicher Wehrmutstropfen ist dabei allerdings seine schiere Länge, zweihundert Seiten weniger wäre mehr gewesen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Der andere Ort

So what?

In Form eines Briefromans hat die kanadisch-britische Schriftstellerin Rachel Cusk mit «Der andere Ort» die Seelenpein einer alternden Frau beschrieben, die in einer Art Torschluss-Panik versucht, ihrem Leben einen neuen Sinn zu geben. Als Vorlage für ihre Geschichte, erfährt man in der Nachschrift, diente der unerquickliche Besuch von H. D. Laurence in der von Mabel Dodge Luhan gegründeten Künstlerkolonie in Taos, New Mexico, sie habe nur den Poeten durch einen Maler ersetzt.

Prompt heißt dieser Maler im Roman L, die Erzählerin heißt M, und der Bericht, den sie als eine Art Lebensbeichte schreibt, ist an einen gewissen Jeffers gerichtet, für den der Dichter Robinson Jeffers, ein Freund der M. D. Luhan, Pate stand. «Ich habe dir einmal erzählt, Jeffers, wie ich in einem Zug ab Paris den Teufel getroffen habe», lautet der erste Satz. Die fünfzigjährige M lebt mit ihrem zweiten Mann Tony auf einem Ufergrundstück in einer abgelegenen Küstenregion Englands. Bei einer Ausstellung in Paris hatte sie ein Gemälde von L gesehen und war fasziniert von dessen Wirkung, sie fühlte sich sehr direkt angesprochen. Erst nach mehreren Absagen folgt der berühmte Maler schließlich ihrer Einladung zu einem längeren Arbeits-Aufenthalt, die landschaftlich reizvolle Küste bietet ja reichlich Motive. Überraschend bringt L seine attraktive, junge Geliebte mit. Die Beiden werden im separaten Gästehaus untergebracht, wo L, der sich in einer Schaffenskrise befindet, ideale Bedingungen zum Malen vorfindet. Auffallend distanziert vermeidet er jedoch den Kontakt mit M, bleibt ihr gegenüber äußerst wortkarg. Auch Tony, der ausgeglichene, in sich ruhende Mann von M, ein pragmatischer Vernunftmensch, wird nicht richtig warm mit ihm. Geradezu provokant wirkt die lebenslustige Geliebte auf M, deren blühende Jugend ihr, verglichen mit ihrem eigenen, von unübersehbarem Verfall gezeichneten Alter, erschreckend bewusst wird. Das psychologisch komplexe Figuren-Ensemble wird schließlich noch mit der Ankunft der Tochter von M und deren schnöseligem Freund erweitert und stürzt die Ich-Erzählerin in zusätzliche Zweifel.

Rachel Cusk deutet die demütigende Abneigung des Malers seiner Gastgeberin gegenüber als völligen Mangel an «Moral und Pflichtgefühl», ihm fehle schlicht der Sinn dafür. «Mit dem Konzept der Verpflichtung konnte er einfach nichts anfangen. Vor allem das war es, was mich zu ihm hinzog, auch wenn mir klar war, dass er keinerlei Anziehung verspürte und das Ganze nur in einer Katastrophe enden konnte». Die Zweifel an ihrer Ehe und letztendlich auch an ihrem Leben kommen zum Ausdruck, wenn M sinniert: «Ach Tony, sagte ich in meinem Herzen, verrate mir, was wahr ist. Ist es falsch, zu wollen, was du mir nicht geben kannst? Mache ich mir etwas vor, wenn ich glaube, dass es richtig ist, mit dir zusammen zu sein, nur weil es so einfach und so schön ist?»

Das Leben sei «mehr Ringen als Tanzen» wird am Ende – fälschlich – Nietzsche mit einem Ausspruch von Marc Aurel zitiert. Und genau das wird hier auf eindrucksvolle Weise literarisch verdeutlicht durch den Kampf gegen die in M geweckten, inneren Dämonen. Mit denen ist die Protagonistin plötzlich konfrontiert, sie haben den Glauben an ihre erotische Anziehungskraft  nachhaltig zerstört und sogar existentielle Zweifel bei ihr ausgelöst. Der psychologisch dichte Roman hat im Wesentlichen diesen verzweifelten inneren Kampf seiner Heldin zum Gegenstand, und so dreht sich denn der weitgehend ereignislose Plot nur um ihre aus den Fugen geratene, feminine Selbstgewissheit. Ist der egozentrische Malerfürst, der sie grausamer Weise auch nicht malen will, also der Satan in Person? Als das «erbarmungslos intelligente Porträt des Älterwerdens» hat die Autorin selbst ihren Briefroman bezeichnet. All die toxischen Fragen, die er in vielen Varianten unentwegt aufwirft, werden mit oft ins Profane abgleitendem Gefasel wenig überzeugend beantwortet. So what? fragt man sich ziemlich frustriert als Leser!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Der Zauberer

Porträt eines Großschriftstellers

Mit dem neuen, lang geplanten Roman «Der Zauberer» hat der irische Schriftsteller Colm Tóibín der Lichtgestalt Thomas Mann literarisch ein weiteres Denkmal gesetzt, indem er dessen Vita als Roman erzählt, also fiktional ausgeschmückt und in unterhaltsamer Form. Vieles davon dürfte dem Lesepublikum bekannt sein, die entsprechenden Veröffentlichungen jedenfalls sind Legion. Das reicht von dem prächtigen Bildband «Heller Zauber» über seine Münchner Jahre bis hin zur amüsanten Erzählung «Königsallee», in der eine Lesung des «Felix Krull» in Düsseldorf satirisch geschildert wird. Als vollständige Biografie in Romanform dürfte dieses Buch allenfalls für all jene interessant sein, die nur wenig über den Nobelpreisträger von 1929 wissen.

Früher Erfolg 1901 mit den «Buddenbrooks», Umzug aus der Heimatstadt Lübeck nach München, Hochzeit ebendort mit Katja Pringsheim, Riesenerfolg mit «Der Zauberberg», Nobelpreis, Flucht ins Exil, Übersiedlung in die USA, missglückte Rückkehr nach dem Krieg, Alterssitz am Zürichsee. Das sind die wichtigsten Eckdaten aus der Vita dieses «Großschriftstellers», wie Brecht ihn tituliert hat, denen dieser Künstler-Roman, mit nur wenigen Rückblenden, chronologisch folgt. In der ersten Hälfte schildert der Autor die Lebens-Stationen des Romanciers ziemlich nüchtern und nahe an den Fakten. Fiktional deutlich mehr ausgeschmückt und für den Leser damit auch unterhaltsamer wird es dann in der zweiten Hälfte des Romans, wo die Familie mehr in den Vordergrund gerückt ist. Und allein diese Familie mit der brasilianischen Großmutter und dem früh verstorbenen Lübecker Senator, dem sechsfachen Kindersegen der Manns und den diversen Enkeln gäbe genug Stoff her für einen Roman. Der Dauerzwist zwischen TM und seinem Bruder Heinrich, die ‹schwierigen›, unkonventionellen ältesten Kinder Klaus und Erika, allesamt ebenfalls schriftstellerisch tätig, bieten jedenfalls genügend erzählerisches Material. Das nutzt Colm Tóibín fiktional denn auch reichlich für funkelnde und oft amüsante Dialoge seiner intellektuellen Protagonisten, allen voran die aus dem Munde der lebensklugen und schlagfertigen Katja, die letztendlich alles zusammenhält.

Man könnte denken, so wie es der Roman schildert, muss es gewesen sein, derart nahtlos und scheinbar stimmig wird hier eine interessante Lebensgeschichte erzählt. Dominantes Charakteristikum des Helden ist seine schon in der Jugend erkennbare Selbstbefasstheit, die auch der Roman deutlich aufzeigt. Aber der Autor setzt darüber hinaus erzählerisch Akzente, die denn doch fragwürdig erscheinen. Dazu zählt insbesondere die latente Homosexualität von TM, die einen viel zu breiten Raum einnimmt. Demgegenüber wird die literarische Seite dieses Schriftstellers geradezu stiefmütterlich behandelt, vor allem was sein Werk anbelangt, aber auch den Austausch mit schreibenden Kollegen. Hier werden stattdessen nur ständig Äußerlichkeiten wie das geradezu sakrosankte Arbeitszimmer beschrieben. Auch die politische Seite von TM, der lange zögernd sich erst spät gegen die Nazis gestellt hat, kommt hier entschieden zu kurz.

Es ist sicher ein kühnes Unterfangen, einen so herausgehobenen deutschen Schriftsteller für eine englischsprachige Leserschaft porträtieren zu wollen, die allenfalls rudimentär vertraut ist mit den Hintergründen. Mit der hanseatischen Herkunft also, dem Bruderzwist oder den politischen Bedrängnissen, während der Nazidiktatur wie auch im geteilten Deutschland. Aber wen wundert’s, es geht deutschen Lesern ja oft nicht anders mit dem lückenhaften Verständnis-Hintergrund für typische Werke der englischen Literatur! Der Buchtitel bezieht sich auf den Spitznamen, den die Kinder ihm gegeben haben, weil er sie bei Tisch oft mit Zaubereien verblüfft hat. Dass TM auch literarisch gezaubert hat, kommt hier allerdings deutlich zu kurz. Er solle Emotionen transportieren, hat Colm Tóibín über seinen Roman gesagt, und das zumindest ist ihm denn auch gelungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Halbschatten

 Der Flug ist das Leben wert

Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly Beinhorn, die sich in der Weimarer Republik als Kunstfliegerinnen und mit diversen Flug-Rekorden einen Namen gemacht hatten. Das kurze Leben der ehrgeizigen Marga von Etzdorf endete, als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren nach einer Bruchlandung in Aleppo im Mai 1933 das Leben genommen hat.

Wie der Autor in einer Nachschrift erklärt, hat er sich bei der Geschichte seiner Protagonistin auf deren Buch «Kiek in die Welt» gestützt, in dem sie von ihrem Leben erzählt. Den gleichen Namen trug auch ihr knallgelb lackiertes Flugzeug, eine Junkers A50, mit dem sie 1931 zu ihrem erfolgreichen Rekordflug Berlin-Tokio gestartet ist. Auf dem Rückflug setzte nach dem Start in Bangkok der Motor aus, sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab und wurde schwer verletzt, ihre Junkers hatte Totalschaden. Nach ihrer Genesung plante sie mit einer Klemm Kl32 einen erneuten Rekordflug Berlin Kapstadt, wobei sie finanzielle Unterstützung von den Nazis erhielt. Als Gegenleistung musste sie nicht nur eine Maschinenpistole mitnehmen, um ein Exportgeschäft vorzubereiten, sie sollte auch mit einer speziellen Kamera für die deutsche Auslands-Spionage Fotos von strategischen Zielen anfertigen. Dazu kam es aber nicht, denn ihr Flugzeug wurde bei der Landung in Aleppo beschädigt, weil sie versehentlich mit dem Wind gelandet war und über die Piste hinausgeschossen ist. Zwanzig Minuten später erschoss sie sich im Flughafen-Gebäude.

Diese Kernhandlung ist in eine zweite Erzählebene eingebettet, in der berichtet wird, wie ein Schriftsteller auf den Spuren seiner Romanheldin in Berlin den Invaliden-Friedhof besucht. Dort trifft sich der Ich-Erzähler mit einem Stadtführer, der ihm in einer Führung ‹nur für ihn allein› ans Grabmal von Marga von Elzdorf führt. «An diesem Ort» sagt der ‹Graue‹›, wie er fortan im Roman nur noch heißt, «liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben. Jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau». Aber dort liegt eben auch Reinhard Heydrich, den Göring mit der Endlösung der Judenfrage betraut hatte, Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz. Und diese Toten mischen sich munter in das Gespräch ein, beginnen aus den Gräbern heraus zu reden. Unter ihnen auch der Diplomat Christian von Dahlem, ein ehemaliger Kampfflieger, der Marga in Tokyo begrüßte und mit dem dort gerade gastierenden Schauspieler Anton Miller bekannt machte. Der hat dann Marga heftig, aber erfolglos umworben. Bei einem ihrer Flüge in Japan musste sie sich notgedrungen ein Privat-Zimmer mit von Dahlem teilen. Eine ganze Nacht lang haben sie sich dann, getrennt durch einen aufgespannten Vorhang, in ungewöhnlicher Freimütigkeit wechselseitig ihre jeweils spektakuläre Lebens-Geschichte erzählt.

Die etwa zwei Stunden dauernde Friedhofs-Geschichte beschwört die Schatten der Vergangenheit in einem vielstimmigen Chor herauf, angereichert mit meist kurzen, durch Anekdoten, Redensarten und Gedankensplitter ergänzte, historische Rückblicke. Abwechselnd berichtet in der Kerngeschichte um die kühne Pilotin diese selbst als Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Mit seiner fragmentarischen Form löst der nicht einfach zu lesende Text viele Assoziationen aus, wobei das die Toten einbeziehende Stimmengewirr nicht nur eine mystische Stimmung erzeugt, sondern auch permanent zum Weiterdenken anregt. Und so bleibt denn auch das Motiv für den Suizid ungeklärt: Scham über das fliegerische Versagen, politische Skrupel, unerwiderte Liebe? «Der Flug ist das Leben wert», steht vieldeutig auf Margas heute noch erhaltenem Grabstein!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die geheimen Stunden der Nacht

Misslungener narrativer Clou

Man kann den Verleger-Roman «Die geheimen Stunden der Nacht» von Hanns-Josef Ortheil als Abgesang auf editorische Traditionen sehen, deren hehre Ziele zunehmend dem nüchternen Kalkül der Marketing-Leute zum Opfer fallen. Der Autor kennt sich jedenfalls aus in der Buchbranche und gewährt dem Leser, der über seinen Buchdeckel-Horizont hinaus an diesem kulturellen Medium interessiert ist, einen Einblick, wie es hinter den Kulissen der Branche zugeht.

Protagonist ist der älteste Sohn des 80jährigen Großverlegers Reinhard von Heuken aus Köln, dessen Vater nach zehn Jahren einen zweiten Herzinfarkt erleidet. Es steht schlecht um den Patriarchen, der seine Nachfolge nicht geregelt hat. Der 52jährige Georg von Heuken rechnet damit, dass auch sein jüngerer Bruder und die Schwester, die jeweils einen zum Konzern gehörenden Verlag in Frankfurt und in Köln leiten, eigene Ansprüche auf die Konzernleitung geltend machen werden. Beide eilen herbei, und nach einigemHin und Her erklärt die Tochter, dass sie in einem Gespräch mit dem Vater die Übernahme der Leitung für sich abgelehnt habe- Der Vater habe ihr daraufhin die Entscheidung überlassen, wer von den Brüdern die Position an der Spitze übernehmen soll. Um diesen Handlungskern herum erzählt Ortheil die Geschichte der Verleger-Familie, die in einer pompösen Villa in bester Lage Kölns residiert, vor allem aber berichtet er von den Aktivitäten, die durch das wahrscheinlich bevorstehende Ableben des Alten bei Georg ausgelöst werden. Und er muss auch gleich noch den wichtigsten Autor des Verlages empfangen, der bisher immer nur mit dem Senior persönlich verhandelt hat. Ein mimosenhafter Romancier mit Starallüren, dessen Bestseller satte Gewinne versprechen, der diesmal aber um seinen neuen Roman viel Aufhebens macht. Georg löst diese diffizile Aufgabe jedoch mit Bravour.

Insider der Branche interpretieren das Buch auch als Schlüsselroman und sehen zum Beispiel Martin Walser in der Figur des Starautors, erkennen vermutlich aber auch noch viele weitere Anspielungen aus dem Branchen-Geschehen. Neben den Verlegern trifft man als Leser vor allem auf Lektoren, aber auch auf eine toughe Literaturagentin, den smarten Journalisten, der mit der Biografie des Seniors betraut ist, oder die allmächtige Chefsekretärin, über deren Schreibtisch alles läuft im Konzern, und alle diese Figuren sind auf ihre Art komische, manchmal skurrile Typen. Für Georg völlig überraschend ist die Tatsache, dass sein Vater eine Suite im Dom-Hotel gemietet und dort offensichtlich ein nächtliches Zweitleben geführt hat. Bei dem war auch eine Dame im Spiel, die aber niemand kennt und die den mutmaßlichen Lover erstaunlicher Weise auch nicht in der Klinik besucht. Die plötzliche Zäsur bedeutet für Georg auch die Chance, endlich aus dem Schatten seines übermächtigen Vater herauszutreten. Er wächst über sich selbst hinaus, entdeckt plötzlich völlig neue Seiten an sich. Und er erkennt auch, dass er bisher wohl ziemlich am Leben vorbei gelebt hat als braver Familienvater, treuer Ehemann und karriere-orientierter Manager.

Der klug konstruierte, spannende Plot wird, kenntnisreich und mit scharfem Blick für Details, in angenehm lesbarer, konventioneller Sprache schwungvoll erzählt. Dabei ist stets Ironie im Spiel, aber auch handfeste Gesellschaftskritik ist geboten, vor allem die gehobene Gastronomie und Hotellerie wird als total überkandidelt mit Häme überzogen. Störend bei alledem ist die fehlende, psychologische Tiefe, die Figuren bleiben oberflächlich in dem, was sie tun und sagen, alles erscheint irgendwie flapsig. Auch dass es hier um eine Branche geht, die Literatur als ein wichtiges Kulturgut erzeugt, wird im Roman an keiner Stelle gewürdigt. Stattdessen gibt es reichlich Tratsch, hart an der Grenze zur Kolportage. Völlig misslungen aber ist die schon im Titel anklingende Liebesgeschichte, deren narrativen Clou sich der überkreative Autor bis zum kitschigen Happy End effektheischend aufhebt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb München

Herscht 07769

Inverse Heiligen-Legende

Der ungarische Schriftsteller László Krasnahorkai hat mit «Herscht 07769» einen hochaktuellen deutschen Gegenwartsroman geschrieben, und das in einem einzigen Satz, der Punkt kommt erst nach mehr als 400 Seiten. «Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland, Willy-Brand-Straße 1, 10557 Berlin» schreibt Florian, der titelgebende Held, ins Adressfeld, und als Absender «Herscht 07769». Das reicht völlig, in der thüringischen Kleinstadt Kana nahe Jena, kennt ihn ja jeder. Und was er der Physikerin Merkel brieflich mitzuteilen hat, ist der wissenschaftliche Beweis der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse, das endgültige Verschwinden aller Materie.

Ein nur ‹Boss› genannter Gebäudereiniger und Neonazi hat den gutmütigen und von allen geliebten, bärenstarken, aber einfältigen Florian als billige Hilfskraft aus einem Heim geholt. Es gibt viel zu tun für sie beide, denn immer öfter werden in ihrer Gegend Graffitis mit einem Wolfskopf und verschiedenen Parolen auf Wände gesprüht, die sie dann als Spezialisten mühsam entfernen müssen. Alle haben die Neonazis in Verdacht, die sich in letzter Zeit zahlreich in Kana angesiedelt haben. Deren wütender Boss setzt schließlich seine ihm treu ergebene ‹Einheit› aus gescheiterten Existenzen und schrägen Vögeln darauf an, den wahren Täter nachts auf frischer Tat zu ertappen. weil die Polizei offensichtlich unfähig ist. Die Unruhe in der Bevölkerung steigt ins Maßlose, als ein Ehepaar beim Picknick von einem Wolf angegriffen und schwer verletzt wird.

Florians Geschichte, eine Art inverse Heiligen-Legende, wird bildstark und spannend erzählt, wobei ein stimmig beschriebenes Figuren-Ensemble dem Geschehen einen authentischen Anstrich verleiht. Ausgerechnet der zwielichtige, brutale ‹Boss› ist ein begeisterter Bach-Anhänger, der die ‹Kanaer Symphoniker› gegründet hat, die er zur Konzert-Reife führen will. Seine Bach-Euphorie steckt auch Florian an, der in dem Komponisten das Gute in Reinform verkörpert sieht. In der Volkshochschule führt ein ehemaliger Physiklehrer den inselbegabten Florian in die Quanten-Physik ein, und der setzt sich immer wieder hin und schreibt an Angela Merkel, um ihr die Dramatik der Situation nahe zu bringen, – eine Anspielung auf das dramatische Geschehen im Ort, bei dem der Wolfsangriff als Allegorie auf das Böse im Menschen fungiert. Die örtliche Tankstelle samt Imbiss, beliebter Treffpunkt im Ort, wird in die Luft gesprengt, das ausländische Pächterpaar kommt dabei um. Bald darauf werden der ‹Boss› und anschließend alle Mitglieder der Neonazi-Gruppe brutal ermordet, und wieder tappt die Polizei im Dunkeln. Im Ort herrscht heillose Panik, man traut sich kaum noch auf die Strasse, es gibt Selbstmorde, einige werden verrückt, andere wie Florian sind plötzlich verschwunden, keiner weiß, wohin.

Dieser Roman in einem Satz entwickelt nicht zuletzt aus seinem unkonventionellen Schreibstil heraus einen starken Lesesog, wobei sich erstaunlicher Weise zeigt, dass man schon nach wenigen Seiten die Trennung durch Punkte nicht mehr vermisst. Das oft aus Sicht seines einfältigen Helden beschriebene, absurde Geschehen wird so geschildert, wie es sich als Gedankenstrom in seinem Kopf abspielen könnte, und auch die Bewohner des Ortes werden auf diese Art stimmig charakterisiert in ihrer provinziellen Lebens- und Denkweise. «Dieses Buch enthält hunderte Monologe», hat der Autor zu seinem eigenwilligen Stil angemerkt. Geradezu parodistisch wird es, wenn die ständigen Flüche des leicht erregbaren Bosses fast ohne Vokale auskommen müssen, was der Verständlichkeit aber keinerlei Abbruch tut, Schße oder gttvrdmmmich versteht man auch so. Am Ende kommt eine «Krawattenversion der Nazis» sogar in den Stadtrat von Kana, ein mystischer Steinadler wird Florians wehrhafter Verteidiger, und aus Berlin trifft ein Brief mit dem Absender Angela Merkel ein, wird aber als unzustellbar behandelt, denn wo Florian abgeblieben ist, weiß ja keiner, auch die Post nicht.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Weiberroman

Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau

Der «Weiberroman» von Matthias Politycki weist bereits mit seinem ironischen Untertitel «Historisch-kritische Gesamtausgabe» auf ein wissenschaftliche Texte persiflierendes Prosa-Konstrukt hin. Im Jahre 1997 als Kultroman über die 78er-Generation gefeiert, gilt der damalige Bestseller als wichtiges Werk der literarischen Postmoderne. Sein Figuren-Ensemble verkörpert die erste, ohne Krieg aufgewachsene Generation des Jahrhunderts. Als Yuppies oder Dinks sind sie einerseits karrieregeil, fühlen sich andererseits aber auch der Political Correctness verpflichtet. Und wie der freche Romantitel verkündet, geht es thematisch hier um Frauen, die ja, einer uralten Erkenntnis zufolge, einfach nicht mit Männern zusammen passen.

Genau diese These wird im «Weiberroman» am Beispiel des 1956 geborenen Gregor verifiziert, dessen Probleme mit dem anderen Geschlecht hier aus seiner Sicht geschildert werden. Das in den Jahren 1974 bis 1990 geschriebene Material zu dessen Autobiografie, bestehend aus einem Konvolut von 3481 ungeordnet zurückgelassenen Textschnipseln bis hin zu mehrseitigen Abschnitten, habe Matthias Politycki als Herausgeber «entschlüsselt, katalogisiert und entsprechenden Handlungssträngen zugeordnet», wird im Anhang in einer editorischen Notiz erklärt. Diese mühevolle Arbeit habe Schwärzungen freizügiger «Stellen» unabdingbar gemacht, und aus Verständnis-Gründen sei auch ein dreißigseitiger Anmerkungs-Apparat dringend erforderlich gewesen. Hinter dieser Herausgeber-Fiktion versteckt berichtet Matthias Politycki in den drei mit «Kristina», «Tania» und «Katarina» betitelten Abschnitten des Romans von der schwierigen Mannwerdung seines Helden.

Als Schüler in der westfälischen Stadt Lengerich hat sich Gregor in die überirdisch schöne Kristina verguckt, hinter der alle her sind. Aber ungeschickt, wie er nun mal ist, kommt er bei ihr nicht weiter, die Konkurrenz ist einfach zu groß. Nach dem Abitur beginnt er in Wien ein Germanistik-Studium und lernt die Zahnarzthelferin Tania kennen, eine kesses Vollweib aus einfachen Verhältnissen, die breiten Dialekt spricht und intellektuell so gar nicht zu ihm passt. Er findet schließlich heraus, dass sie bereits seit zwei Jahren als Model arbeitet und freizügige Bilder von ihr kursieren. Als 23Jähriger geht er dann nach Stuttgart, wo er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter antritt. Dort trifft er auf Katarina, eine elegante Traumfrau, die bei der Lufthansa als Chefstewardess für interkontinentale Flüge arbeitet. Aber auch diese Beziehung geht in die Brüche. Gregor kann sich einfach nicht in die Psyche der Frauen hineinversetzen, die geliebt werden wollen und ständig auf noch so kleine Zeichen warten, die das immer wieder auch beweisen. Als Hintergrund zu den schwierigen Paarbeziehungen blendet Politycki ständig aktuelle politische und kulturelle Geschehnisse in die Handlung ein. Die Entwicklung in der DDR wird da ebenso angesprochen und im Anmerkungsteil näher erläutert wie die jeweils gerade angesagte Musik, sei es die berühmter Pop-Gruppen oder aber die jener Schlagersänger, deren Schnulzen, aus der Wohnung des Hausmeisters schallend, an Gregors Nerven zerren.

In Wahrheit erzählt der Studienabbrecher nur permanent von sich, die Frauen bleiben in diesem Roman letztendlich Beiwerk, immer nach dem Motto: «Gegen eine Frau hilft nur eine andere Frau». Meistens wird da von seinen ständigen Sauftouren, Feten und allerlei Schabernack berichtet, mit auffallend oft auch olfaktorischen Details. Die durchaus harsche Gesellschafts-Kritik dieses virtuos erzählten Romans wird gemildert durch den köstlichen Humor, in den das alles unterschwellig verpackt ist. Dazu tragen zuweilen eingestreute Passagen mit Wiener oder schwäbischem Dialekt einiges bei. Es empfiehlt sich übrigens, den Anhang dieses geistreich unterhaltenden Buches zuerst zu lesen, dann aber auch jeweils die Fußnoten, weil sie oft weit mehr beinhalten als reine Anmerkungen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

Die Liebesblödigkeit

Liebe in einer verhunzten Welt

Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino hat mit seinem Roman «Die Liebesblödigkeit» einen Buchtitel kreiert, der geradezu typisch ist für seine überwiegend resignativ geprägten Romane, in denen es immer auch um die Liebe geht als schier unerschöpflicher Erzähl-Fundus. Das vorliegende Buch handelt von der Beziehung seines Ich-Erzählers zu zwei Frauen, deren Ansprüchen er sich als alternder Liebhaber auf Dauer nicht gewachsen fühlt. Von einer sollte er sich trennen, aber von welcher?

Als freiberuflicher Apokalypse-Spezialist unterhält der 52jährige Protagonist schon jahrelang intime Beziehungen zu Judith, einer gleichaltrigen Pianistin, die recht und schlecht von Klavierunterricht und Nachhilfestunden lebt, aber gleichzeitig auch zu der neun Jahre jüngeren Chef-Sekretärin Sandra. Bisher lief alles bestens in dieser Ménage-à-trois, in der die Frauen natürlich nichts voneinander wissen und ihr Geliebter es sich gut gehen lässt. Warum, lautet sein Credo, soll man als Kind Vater und Mutter gleichermaßen lieben können, zwei Frauen gleichzeitig aber nicht! Als Hypochonder entdeckt er ständig neue, altersbedingte Veränderungen an seinem Körper, zu denen zum Beispiel auch Krampfadern gehören. Als der Arzt ihm neben einem Medikament auch Stützstrümpfe verschreibt, passt das so gar nicht zu seinem Selbstverständnis. Die sexuell sehr aktive Sandra, die ihn zu diesem Arzt geschickt hat, überrascht ihn mit einer kühnen Konstruktion an ihrer Schafzimmertür. Rechts und links hat sie je einen Getränkekasten hingestellt, auf die sie sich optimal zum Beischlaf draufstellen kann, während er sie in einer Krampfader schonenden Stellung beglückt. Aber seine erkennbar nachlassende Libido führt auch zu sexuellen Versagensängsten, die ihn permanent umtreiben. Andererseits kann er sich beim besten Willen jedoch nicht vorstellen, auf eine der liebevollen Damen zu verzichten, er hat sich sein Leben mit den beiden sehr kommod eingerichtet. Als ihm Sandra einen Heiratsantrag macht und auf die finanziellen Vorteile hinweist, die er als Freiberufler ohne eigene Rentenansprüche durch die Witwenrente später hätte, stellt er resigniert fest, dass eine Ehe für ihn absolut undenkbar wäre.

Die Figuren des Romans sind unauffällige Alltagstypen aus der Mittelklasse. Der namenlose Romanheld ist als Seminarleiter mit seinen Apokalypse-Vorträgen sehr beliebt und hat einen guten Kontakt zu den meist älteren Teilnehmern. Wie auch in anderen Romanen von Wilhelm Genazino sind hier immer wieder Passagen eingebaut, in denen der Held durch die Stadt streift und alltägliche, banale Szenen beobachtet, die er in schnellem Wechsel detailgenau beschreibt. Es ist das «signifikant Insignifikante», wie James Wood es genannt hat, das hier zu stets neuen, überraschenden Einsichten führt, als Flaneur erkennt der intellektuelle Erzähler scharfsichtig das Besondere im Allgemeinen. Gesellschaftskritisch konstatiert er einen zunehmenden «Freizeit-Faschismus», der die Köpfe bewusst vernebelt und zu einem ungebremsten Konsum-Fetischismus hinführt. Äußerst skeptisch sieht er auch die «frei schwebenden Intellektuellen», die im Roman auftreten, von ihm spöttisch Panikberater, Ekelreferenten oder Schockforscher genannt. Ihm erscheint die moderne Welt mit ihren absurden Automatisierungs-Zwängen schlicht als «verhunzt», seine in dieser irrealen Welt herumirrenden Figuren seien einer «zynische Inszenierung» ausgesetzt. Der Held selbst aber registriert all dies mit stoischer Gelassenheit.

Es wird chronologisch aus der Ich-Perspektive und im Präsens erzählt, wobei die Sprache mit allerlei Redewendungen und Bonmots angenehm aufgelockert ist. Sehr viele der kontemplativen Erkenntnisse des ständig sinnierenden, selbstkritischen Protagonisten sind erkennbar ironisch gemeint, andere wiederum regen zum eigenen Nachdenken an. Als Satire über die Liebe in einer verhunzten Welt ist dieser Roman eine amüsante Lektüre, die auch einiges an Tiefgang bietet.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Haushälterin

Oberflächliche Vater/Sohn-Geschichte

Das Romandebüt von Jens Petersen mit dem Titel «Die Haushälterin» wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet und für den Deutschen Buchpreis 2005 nominiert. Es blieb bis dato der einzige Roman dieses Schriftstellers und Arztes, dessen Erzählungen hingegen in verschiedenen Anthologien veröffentlicht wurden. In seinem preisgekrönten Roman beschreibe er, wie die Aspekte-Jury des ZDF befand, «unsentimental, geradlinig und doch vielschichtig die Geschichte einer Vater-Sohn-Beziehung auf Messers Schneide».

Dieser Generationen-Roman ist auch die Geschichte einer ersten Liebe. Der sechszehnjährige Ich-Erzähler Philipp, der früh seine Mutter verloren hat, muss nun auch noch erleben, dass sein Vater, der Kernkraftwerke gewartet hat, arbeitslos wird und zu trinken anfängt. Der Haushalt der Beiden in einer ehemals prächtigen Jugendstilvilla verwahrlost zusehends. Immer öfter kommen nun auch fremde Frauen ins Haus und stehen plötzlich morgens in der Küche, was den Jungen ziemlich verstört. Sein Vater benutze seine diversen Liebschaften offensichtlich nur «wie eine Arznei gegen das Sterben», stellt er ernüchtert fest. Als der alkoholisierte Vater bei einem Sturz die Kellertreppe herunterfällt und einen komplizierten Beinbruch erleidet, engagiert Philipp kurz entschlossen eine Haushälterin. Die 23jährige Ada ist eine Studentin aus Polen, die auch als Übersetzerin arbeitet. Sie kümmert sich nun zweimal die Woche um den Haushalt und bringt ihn sehr schnell wieder ‹auf Vordermann›. Außerdem erweist sie sich auch als hervorragende Köchin, ein Glücksfall für die beiden eher stümperhaften Selbstversorger, und mit ihr kommt nun wieder Leben ins Haus. Die burschikose Ada kümmert sich auch um den Garten und springt für den durch seine Verletzung gehandicapten Vater als Chauffeur ein. Für den mitten in der Adoleszenz steckenden, eher verschlossenen Philipp ist sie der allererste Kontakt zum weiblichen Geschlecht. Sie geht ganz ungezwungen mit ihm um, lässt sich von ihm duzen, geht mit ihm schwimmen, sie besuchen zusammen eine Party, und einmal küsst sie ihn sogar. Aber wie er schon bald merkt, hat sie ganz offensichtlich einen Freund in Polen. Und was ihn noch viel mehr trifft, auch sein Vater macht ihr völlig ungeniert den Hof und überschüttet sie mit Geschenken, bietet ihr schließlich sogar ein Zimmer im Haus an. Als Nebenbuhler seines Vaters um die Gunst der lebenslustigen Ada hat Philipp keinerlei Chance, das wird ihm bald klar.

Die führwahr nicht seltene Thematik dieses Romans von der Rivalität zwischen Vater und Sohn um die gleiche Frau wird hier kühl und nüchtern in einer dem jugendlichen Erzähler angepassten Sprache geschildert. Die Figuren sind glaubwürdig charakterisiert, wobei besonders Ada sehr sympathisch wirkt, was daran liegen mag, dass man nicht alles über sie weiß. Es wird nämlich nicht alles auserzählt in diesem melancholischen Roman, manches ist nur vage angedeutet oder bleibt völlig offen. Thematisiert wird hier auch die generationsbedingt schwierige Kommunikation zwischen dem dominant auftretendem Vater und seinem eher unbedarften Sohn, die den Heranwachsenden immer wieder vor neue Probleme stellt und ihn sogar zu einigen Kurzschluss-Handlungen verleitet.

Es liegt ein Anflug von Tristesse über diesem Adoleszenz-Roman, der geradezu beiläufig von den Schwierigkeiten und Fallstricken beim Erwachsenwerden erzählt. Dabei ist jedoch immer auch ein hintergründiger Humor zu erkennen, der diesen Debütroman zu einer eher amüsanten Lektüre macht. Leider jedoch bleiben die psychologischen Hintergründe der Figuren-Konstellation völlig im Dunkeln, obwohl ja gerade darin die eigentliche Problematik der wechselseitigen Beziehungen zwischen den drei Protagonisten liegt. Durch diesen Mangel an gedanklicher Tiefe bekommt die flockig leicht erzählte Geschichte den eher trivialen Charakter eines oberflächlichen Unterhaltungs-Romans, der von der grenzenlosen Naivität seines jugendlichen Helden lebt.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by DVA München