Tomás Nevinson

Der letzte Roman des Romanciers Javier Marías

Tomás Nevinson. Das auf Deutsch 2019 erschienene „Berta Isla“ bildet mit “Tomás Nevinson”, das im Todesjahr des spanischen Autors, 2022, erschien, quasi ein Roman-Diptychon über die beiden gleichnamigen Eheleute. Javier Marías nennt seine beiden Romane im Nachwort zu vorliegender Ausgabe ein “Paar”, kein Fortsetzung. In seiner schon zuvor unter Beweis gestellten “Poetik der Abschweifung” gibt sich Javier Marias wieder ganz seinem eigentlichen Leitmotiv hin: die Unmöglichkeit, den anderen wirklich zu kennen.

Tomás Nevinson: Don’t linger and delay!

Bertram “Bertie” Tupra, der Chef des Geheimdienstes wendet sich erneut an Tomás Nevinson, der eigentlich mit seinem alten Arbeitgeber schon abgeschlossen hat. Seine Ehe mit Berta Isla war aufgrund seiner Arbeit tief zerrüttet worden, wovon der quasi erste nach ihr benannte Teil des Roman-Diptychons ausführlich Beweis ablegt. Zwischen der spanischen ETA und der irischen IRA, beides zwei Terrororganisationen, die die Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts beherrschten, so wie es heute die Dschihadisten tun, musste Tomás mit seinem natürlichen Talent für beide Sprachen dem Geheimdienst stets zur Stelle sein. Auch dieses Mal, im quasi zweiten Teil, sind wieder seine Sprachkenntnisse gefragt, denn er soll für Tupra eine nordirische Terroristin namens Magdalena Orue O’Dea enttarnen.

Drei Frauen im Terrorverdacht

Als Deckidentitäten wurden vom Geheimdienst drei Frauen eingekreist, die als Magdalena in Frage kämen: Maria Viana, Celia Bayo und Inés Marzán. Alle drei leben im Nordosten von Madrid in dem Städtchen Ruan. Nevinsons Aufgabe ist es nun, die “richtige” der drei Frauen als Magdalena Orue O’Dea zu identifizieren und dann zu liquidieren. Er hatte in seiner Laufbahn beim Geheimdienst schon zwei Männer umgebracht. Nun tut er sich allerdings als Vertreter der alten Schule noch etwas schwer bei dem Gedanken, eine Frau umzubringen. Erst als ihm sein Arbeitgeber, Tupra, unter Druck setzt und meint, ansonsten alle drei zu füsilieren, wenn er sich nicht für eine entscheiden könne, beginnt Nevinson zu spuren und will die Mordtat umsetzen. So kann er wenigstens zwei der drei Frauen “retten”. Aber genauso gut kann es sein, dass er selbst zum Opfer der Terroristin wird, da diese längst Lunte von seinem Vorhaben gerochen hat. Wird als der Verfolger bald zum Verfolgten? Auch dadurch erreicht Javier Marías ein “Moment der letzten Spannung”, das die Handlung in der Peripetie des Romans jederzeit wieder herumreißen könnte.

Der rote Faden: (Un-)Schuld

Als roter Faden des Romans kann zweifellos die Frage gelten, ob es legitim sei, einen Menschen zu töten, um ein Blutbad an der Menschheit zu verhindern. Marias bringt dabei immer wieder das Beispiel eines vermeintlichen Hitler-Attentäters, der diesen vom Wald in Berchtesgaden zwar im Korn hatte, beim Laden einer echten Patrone aber erwischt und verhaftet wird. Dieses vereitelte Attentat ist quasi die Mise en abyme des Romans Tomás Nevinson und der Person Tomás Nevinson. Lassen sich Schuld und Unschuld eines Menschen zweifelsfrei erkennen und vor allem beweisen? Und darf man einen Menschen töten, um ein größeres Verbrechen zu verhindern? Im Falle Hitlers wäre diese Antwort zweifellos einfacher mit “Ja” zu beantworten, als im Falle von Magdalena Orue O’Dea. Denn die Terroristin ist ja seit einiger Zeit untergetaucht und bereut vielleicht ihre Taten bereits.

Reue nur durch Misserfolg

Aber ist diese Reue ausreichend für eine Entschuldung? Die Massaker der Vergangenheit wiegen schwer und auch die Zugehörigkeit zu einer Terrororganisation, die vor allem zivile Opfer im Visier hat, wäre eigentlich schon Grund genug, sich mit Schuld zu beladen. Und überhaupt Reue! Der einzige Grund zur Reue sei nicht nur bei einem Mörder der Misserfolg. “Dass ein Spiel schiefgeht. Die gelungenen beklagt man nicht, auch nicht die ungestraften.” Wenn es die mangelnde Reue ist, die einen Menschen vom Unschuldigen zum Schuldigen stempelt, sind wir dann nicht alle verurteilenswert? Und noch eine Frage steht ganz deutlich im Raum dieses Jahrhundertromans: Machen wir uns alle nicht gegenseitig etwas vor?

Maxime des 21. Jahrhunderts

Ist die Lüge nicht längst zum geheimen Credo dieses so scheußlich gewordenen 21. Jahrhunderts geworden? Die Lüge und die Täuschung, ja. Javier Marías’ letzter Roman ist voller Anspielungen und Zitate, darunter auch eine Huldigung an die drei Musketiere von Alexandre Dumas u.v.a.m. Aber auch Beispiele aus der Geschichte holt der Autor aus dem Vergessen und flechtet sie ein in diesen Roman der Abschweifung. Der Sohn eines vom Franco-Regime verfolgten Philosophen zeigt auch in seinem letzten Roman, dass es der Zweifel und der Selbstzweifel sind, die uns eigentlich zu den Menschen machen, die wir sind. Seine Bücher wurden in über vierzig Sprachen übersetzt. Am 11. September 2022 ist Javier Marías in Madrid verstorben.

Javier Marías
Tomás Nevinson. Roman.
Übersetzt von: Susanne Lange
2022, Hardcover, 736 Seiten
ISBN: 978-3-10-397132-3
S. FISCHER Verlag


Genre: Krimi, Roman, Spanien
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Die Kakerlake

Zuallererst: Nicht überall, wo Ian McEwan drauf steht, ist auch Ian McEwan drin. Wer als Leser also das übliche, flüssig-harmonische Gleiten einer bisweilen pointierten, aber immer eingängigen Handlung wie in „Honig“ oder „Solar“ erwartet, sei vorgewarnt. Surrealistische Trends wie in „Der Tagträumer“ haben bereits aufblitzen lassen, dass der Autor auch anders kann, wenn er will. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Humor und Satire, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Diogenes

Das Archiv der Gefühle

Nach der vorausgehenden Lektüre von Orhan Pamuk, Richard Powers und Jonathan Franzen kann man den Schweizer Autor Peter Stamm mit Fug und Recht als echtes Kontrastprogramm bezeichnen. Nach Büchern mit einer blumigen bis schwülstigen Sprache, bunten und detaillierten Bildern, feinsinnig gerankten bis langatmigen Familiengeschichten und teilweise aufwühlenden Emotionen ist die Umstellung zu „Das Archiv der Gefühle“, als hänge man Pieter Bruegel den Älteren neben Mondrian.

Aber – im einen wie im anderen Fall – absolut wohltuend und bereichernd. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Erzählung, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Hinterher

Hinterher – vielversprechendes Debüt

Hinterher. Liebeskummer. Wie kann man sowas überhaupt überleben? Wer dachte dieses Lebensgefühl, Liebeskummer, sei nur ein Problem von Pubertierenden wird in “Hinterher” eines besseren belehrt. Im Debüt des in Hannover geborenen Finn Job wird dem guten alten Liebeskummer ein trashiges und gleichzeitig intellektuelles Denkmal gesetzt, das so richtig reinhaut. Ein Roman wie ein Film, kurz und schmerzlos und direkt in die Arterien. So mag man Literatur.

Wir Kinder von Neukölln

Chaim, die große Liebe von “Boy”, wie ihn sein Freund Francesco liebevoll nennt, hat sich nach Israel abgesetzt. Boy bleibt allein in Berlin-Neukölln zurück und wird von einem Fahrrad angefahren, das ihm seine missliche Lage erst so richtig zu Bewusstsein bringt. Als im selben Moment Francesco mit dem Porsche Cayenne seiner Mutter um die Ecke schießt, steigt Boy ein und es beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip in die Normandie. Dort soll er für Gédéon, einem Freund Francescos, ein altes Hotel wieder herrichten. Stattdessen hilft er dann aber Francesco, der eine verfallene Kirche mit Alufolie verkleiden will, um damit eine ganz bestimmte Botschaft zu transportieren. Da die beiden aber schon während ihrer Autofahrt in die Normandie nicht zu koksen aufhören konnten, gelingt schließlich weder das eine noch das andere Projekt.

Dem Leben & der Liebe “Hinterher”

Dazwischen erfährt der Leser viel über die Diskurse in der sich die Neuköllner junge Erwachsenenwelt befindet. Dass Schwulsein in Neukölln immer noch ein Problem zu sein scheint und es besser ist, sich dort nicht auf der Straße zu küssen, müssen Chaim und Boy am eigenen Leib verspüren. Aber dass dann selbst die eigene WG zum “Pack” gehört, das andere aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgrenzt, wiegt noch schwerer. “Pack” ist nämlich genau das Wort, das Boy für ihre Verfolger verwendet und auch ihn aus dem Kreis seiner politisch (über)korrekten Freunde ausschließt. Auch deswegen versprach die Flucht mit Francesco in die Normandie ein neues L’Chaim, ein neues “Leben”.

Wilde Flucht im Cayenne

Il n’y a pas de hors-texte“. Als dann die Drogen ausgehen – oder zumindest deren Qualität nachlässt – wird alles noch viel schwieriger und es gibt bald kein Entrinnen mehr. Dass man mit Anfang zwanzig schon so kaputt sein kann, ist kaum zu glauben, aber wohl in den Großstädten dieser Welt längst bittere Realität, wie wir ja schon seit Christiane F. wissen, die sogar noch viel jünger war, als sie auf den berühmten Hund kam. Finn Job hat seine surreale Reise in einer packenden Sprache geschrieben, die richtig über die Seiten fliegen lässt und bis zur letzten Sekunde spannend und hochtrabend bleibt. “Es war, als hätte ich mein Leben angehalten und wäre dennoch sehr alt geworden.” Finn Job bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Populärkultur wie Songs u.ä., sondern auch viele literarische Vorbilder und kennt auch einige gute Maler.

Hinterher: vielversprechendes Debüt

Seine Referenzen sind gut nachvollziehbar und lohnen dem Nachverfolgen. Einer, der seine Hausgaben gründlich gemacht hat. Denn seine sprachlichen Bilder sitzen auch farblich. Er begibt seine Protagonisten in absurde und aberwitzige Situationen und es ist ein wahres Vergnügen, dabei förmlich zuzusehen, wie den beiden alles entgleitet. Vieles mag als purer Zynismus abgetan werden, aber hat ein Mensch, der vor enttäuschter Liebe buchstäblich zerbricht, nicht jedes Recht der Welt?

Ein Roman-Ende das förmlich nach einer Fortsetzung schreit. Bitte mehr!

Finn Job
Hinterher. Roman
2022, 192 Seiten. Klappenbroschur
ISBN 978-3-8031-3348-9
Wagenbach Verlag
Buch 22,– € / E-Book 18,99 €


Genre: Große Liebe, Kultur, Popkultur, Roman
Illustrated by Wagenbach

Solar

Nicht, dass ich ein Anhänger irgendwelcher Kategorisierungen wäre. Nein, im Gegenteil. Schon immer empfinde ich diese zwanghafte Penetranz der Verlage, jedem Buch einen Genre-Stempel aufzudrücken, eher als Ausdruck ihrer eigenen anachronistischen Rigidität. Aber bei Ian McEwans „Solar“ fragt man sich dann doch schon mal, was ist das eigentlich?

Obwohl der Autor sich profunde Kenntnisse in Wind- und Solarenergie erworben hat und diese auch zielsicher und kompetent einfliessen lässt, ist es sicher kein Sachbuch. Es geht um ein (Liebes)Paar, eine Schwangerschaft und um fünf gescheiterte Ehen, aber es ist sicher kein Liebesroman. Es geht um einen Frauenheld mit einigen amourösen Eskapaden, aber ein erotischer Roman ist es auch nicht. Obwohl das Ableben eines Protagonisten durch stumpfe Gewalteinwirkung mit Todesfolge eine zentrale Rolle spielt, ist es sicher kein Kriminalroman. Ich verzichte auf weitere Analogien.

Eigentlich geht es in erster Linie um Michael Beard. Er ist die zentrale Romanfigur, um die sich die gesamte Handlung rankt und die McEwan mit erzählerischer Leichtigkeit und viel Humor aufbaut. Aber dennoch reisst der Autor diesem hochgelobten Physiker Beard als stereotypem Inbegriff eines karrieresüchtigen Akademikers – stellvertretend für alle (vor allem männliche) Vertreter seiner Gattung – die schnöde Maske der Ehrenhaftigkeit vom Gesicht. Einmal in seinem Leben hat er eine wissenschaftlich herausragende Leistung vollbracht und zehrt den Rest seines Lebens vom Beard-Einstein-Theorem. Weil das Nobelpreis-Komitee in Schweden sich nicht zwischen zwei anderen Kandidaten entscheiden konnte, wurde Beard der Preis sozusagen als Notlösung verliehen, was als unaufhaltsamer Karriere-Impuls für den Rest des Lebens genügte. Einladungen zu Kongressen aller Art waren garantiert, hoch dotierte Vorträge waren willkommen, die Zugehörigkeiten zu Expertengremien schier unüberschaubar. Wie so viele reale promovierte und habilitierte Akademiker nutzt die Romanfigur Beard das Prestige, um als evolutionäres Alpha-Tier in rascher Folge wahllose und flüchtige Bekanntschaften in seinem weiblichen Umfeld zu erobern, scheinbar als Zeichen seiner maskulinen Größe, aber de facto eigentlich zur immer wiederkehrenden Therapie seines schwachen Selbstwertgefühls. Und als sich die Chance ergibt, schmückt man sich skrupellos mit fremden Lorbeeren. Willkommen im Sumpf der Krokodile.

Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass der Literaturwissenschaftler Ian McEwan dank seines universitären Lebenslaufs und ganz viel literarischem Talent nicht nur einen absolut lesenswerten Schreibstil hat, sondern – wie auch der Rezensent – mit den soziologischen Verhaltensweisen in akademischen Kreisen bestens vertraut ist.

Somit ist „Solar“ am ehesten zeitgenössische Literatur mit einem ganz hervorragendem Stil und mit vielen gesellschaftlichen Einblicken, präsentiert am Prototyp Michel Beard, einem Wissenschaftler, Menschen und Mann.


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Diogenes

Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner

Der Gentleman-Gauner

Insgesamt vier Bücher von Arsène Lupin, dem Gentleman-Gauner, sind beim Matthes & Seitz Verlag erschienen. Insgesamt gibt es 20 Romane, zwei Theaterstücken und etlichen Kurzgeschichten. Die vorliegenden ersten acht Geschichten sind als Fortsetzungsgeschichten zwischen 1905 und 1935 in dem Magazin „Je Sais Tout“ erschienen. Jede einzelne Episode ist aber in sich abgeschlossen.

Neuübersetzung der ersten Abenteuer

In Frankreich ist der gentleman-cambrioleur ein Star. Als Gegenentwurf zum bekannten Meisterdetektiv Sherlock Holmes wurde er von Maurice Leblanc Anfang des 20. Jahrhunderts erfunden. Einige Geschichten beziehen sich auch direkt auf Herlock Sholmes wie der englische Detektiv aus rechtlichen Gründen bei Leblanc genannt wird. Aber wer ist dieser Arsène Lupin und was macht ihn zum Gentleman-Gauner? Arsène Raoul Lupin wurde 1874 als Sohn von Henriette d’Andrésy und Théophraste Lupin geboren und genoss eine hervorragende Ausbildung in Jura und Medizin. Latein, Englisch und Griechisch sowie weitere moderne Sprachen beherrscht er fließend, sowie diverse Kampfsportarten.

Arsène Lupin, Meister der Illusionen

Als Meister der Verkleidungskunst und der Verstellung verwendet er gerne Pseudonyme: Raoul de Limézy, Vicomte d’Andrésy, Horace Velmont, Guillaume Berlat. Als vollendeter Gentleman zeigt er sich den Damen gegenüber galant und verabscheut Gewalt. So gibt er etwa erbeutete Juwelen einer Dame zurück, wenn er feststellt, dass sie sich (unbewusst) als loyal erwiesen hat. Am liebsten stiehlt er von den Reichen oder deckt politische Intrigen auf wozu er manchmal auch mit den Behörden zusammenarbeitet. Gerüchten zufolge soll der real existierende, humorvolle Anarchist Marius Jacob als Vorbild für Arsène Lupin gedient haben, was Maurice Leblanc stets negierte.

Netflix-Serie mit Omar Sy

Der Ziemlich-beste-Freunde-(Intouchables)-Star Omar Sy wählt in einer Adaptation der Romanvorlage, die bei Netflix unlängst erschienen ist, dezidiert Arsène Lupin als Vorbild. Dabei spielt das vorliegende Buch im französischen Original – also die ersten acht Abenteuer eine gewichtige Rolle. Der Vater von Assane Diop (Omar Sy) verwendet das Buch als Geheimcode für eine post mortem Mitteilung an seinen Sohn und dieser kann nach und nach eine politische Verschwörung aufdecken, die ganz Frankreich erschüttern wird. Dabei verwendet Assane Diop durchaus ähnliche Methoden wie sein literarisches Vorbild Arsène Lupin und bleibt doch stets Gentleman dabei. Oder er zitiert aus dem dritten Kapitel eine folgenreiche Stelle: “Bei den Künsten ist die Illusion zweifellos die subtilste. Sie fordert stets eine gewissen Fingerfertigkeit und manchmal eine gehörige Portion Mut. Die Art und Weise spielt letztendlich keine Rolle, nur das Ergebnis zählt. Und das Vergnügen die Welt getäuscht zu haben.

Lupin, dans l’ombre d’Arsène

“Lupin, dans l’ombre d’Arsène” (franz.:Lupin, im Schatten von Arsène) auf Netlix ist eine wirklich gelungene Adaption eines traditionellen Stoffes mit durchwegs modernen Mitteln. Die dritte Staffel soll in diesem Sommer erscheinen. Besonders toll dabei ist natürlich, dass die Macht des Buches, das übrigens auch auf Assanes Sohn großen Einfluss hat, hier richtiggehend zelebriert wird. Große Werke inspirieren eben auch große Künstler. Denn die Geschichte des Gentleman-Gauners wurde etwa auch vom Autoren-Kollektiv Boileau-Narcejac in fünf Romanen fortgeschrieben. Bei Matthes & Seitz Berlin sind außerdem erschienen: Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes, Arsène Lupin und der Schatz der Könige von Frankreich,
Die Gräfin Cagliostro oder die Jugend des Arsène Lupin.

Maurice Leblanc
Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner
Originaltitel: Arsène Lupin, gentleman-cambrioleur (Französisch)
Übersetzung: Erika Gebühr
2021, 238 Seiten, gebunden, auch erhältlich als Ebook
ISBN: 978-3-7518-0041-9
Matthes & Seitz Berlin
18,00 €


Genre: Krimi, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by Matthes & Seitz

Ein Tag wird kommen

Giulia Caminito – Ein Tag wird kommen

 

Ein Tag wird kommen. Vergriffen, aber als WAT wieder erhältlich ist diese Geschichte der Römerin, die auch mit “Das Wasser des Sees ist niemals süß” (in 20 Sprachen übersetzt) bei Wagenbach vertreten ist. Caminito ist in Anguillara Sabazia am Lago di Bracciano aufgewachsen. Sie arbeitet auch als Herausgeberin und Lektorin und lebt in Rom.

Italien zwischen Katholiken und Anarchisten

Ein Tag wird kommen” (Original: Un giorno verrà) ist eine italienische Familiengeschichte in Zeiten des aufkeimenden Faschismus. Einer Zeit in der mehr als die Hälfte der Ernte an den Padrone ging. Er entschied auch was Gesetz war, wer am Feld arbeitete, wer heiratete und welche der überzähligen Kinder bleiben durften. Bis eines Tages ein gewisser Lupo beschließt nicht mehr zu arbeiten, auch Petri und Paoletto sowie Gaspare schließen sich an. Bruno der Sozialist lächelt. “Sie lassen uns fürs Paradies bezahlen, sie verlangen Geld von denen die keins haben, für etwas, das nie jemand gesehen hat.” Anhand der beiden Bäckerssöhne Nicola und Lupo, die verschiedener nicht sein könnten, erzählt die Autorin die Lebenswelten zweier verschiedener Brüder, zwischen denen eine Lüge, verborgen hinter Klostermauern, steht. Lupo (ital.:Wolf) adoptiert übrigens einen Wolf, den er Cane (ital.: Hund) nennt. Aber was ihn wirklich an sein Dorf bindet, das er so gerne verlassen würde, ist sein Bruder, der “Krumenbub“, für den er sich verantwortlich fühlt.

Ein Tag wird kommen – als WAT noch erhältlich

Ein Tag wird kommen: un giorno verrà

In den Anmerkungen am Ende ihres Textes erzählt die Autorin auch von ihrem Urgroßvater, der Anarchist war. Er war irgendwo verschollen, aber sie hatte längst beschlossen ein Buch über die Anarchisten in den Marken zu schreiben, ein Buch über Nicola Ugolini und jene wie er, die an die Anarchie geglaubt und das Vorurteil von den Anarchisten als Bombenlegern, sinnlos Gewalttätigen und unheilbringenden Brisanten widerlegten. Aber gleichzeitig hat sie auch ein Buch über die Nonnen des Klosters von Serra und La Moretta (Maria Giuseppina Benvenuti, geboren als Zeinab Alif) geschrieben, den Protestakt des Augusto Masetti, die Settimana Rossi, den Ersten Weltkrieg und das Überlaufen der Sozialisten zur Fraktion der Kriegsbefürworter. Die Spanische Grippe, die revolutionären Bewegungen, die Zensur und auch die Auswanderung nach Amerika spielen ebenso eine Rolle, wie ihre Fantasie, die jene Lügen straft, die nur an die eine Wahrheit glauben. Wer lieber im Original liest, sei auf den Reclam Verlag verwiesen, wo “Caminito, Giulia: Un giorno verrà. Un romanzo di fede, speranza e anarchia” auf Italienisch erschienen ist. Der Untertitel lautet im Original: Ein Roman der Treue, Hoffnung und Anarchie.

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen. Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner. Quartbuch. 2020 272 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag, ISBN 978-3-8031-3325-0
Vergriffen. Als WAT-Ausgabe erhältlich.
oder im Original: Un giorno verrà. Un romanzo di fede, speranza e anarchia.
Ital. Hrsg. von Sabrina Maag
Niveau B2 (GER) 347 S.
ISBN: 978-3-15-014122-9


Genre: Geschichte, Roman
Illustrated by Wagenbach

Das Bildnis des Dorian Gray

Oscar Wilde – Das Bildnis des Dorian Gray

Die höchste wie die niedrigste Form von Kritik ist eine Art Autobiographie“, schreibt Oscar Wilde in seinem ersten und einzigen Roman “Das Bildnis des Dorian Gray” (1890). Das Buch, das auch vor Gericht gegen ihn verwendet wurde, hat schon viele Generationen von Dandys und Schöngeistern, besonders aber Liebhaber von Bonmots und Aphorismen, begeistert.

Ausschweifungen und Dekadenz

Dorian Gray ist ein junger Lebemann, der von einem gewissen Basil Hallward porträtiert wird. Das Bild soll eines seiner besten sein, aber dennoch schenkt er es dem Porträtierten. Dieser verbindet mit der Übergabe des Porträts ein Gebet zum Himmel, das sogleich Wirklichkeit wird: Statt Dorian altert von nun an sein Porträt, er selbst bleibt unverändert jung und schön. So kann sich der Bonvivant hemmungslos seinen Vergnügungen und Ausschweifungen hingeben, ohne Rücksicht auf Verluste. Hallward ist es auch, der Dorian Lord Henry Wotton vorstellt. Dieser rät ihm: “Ach! Nutzen Sie Ihre Jugend, solange Sie sie haben. Vergeuden Sie nicht das Gold Ihrer Tage, indem Sie langweiligem Geschwätz lauschen, den hoffnungsvollen Versager zu bessern trachten oder Ihr Leben an das Beschränkte, das Gewöhnliche und das Gemein wegwerfen.(…)Leben Sie! Leben Sie das wunderbare Leben, das in Ihnen ist. Lassen Sie sich nichts entgehen.” Diesen uneingeschränkten Hedonismus nimmt sich Dorian gerade dann zu Herzen, als er seinen beiden Freunden seine Angebetete, eine Schauspielerin, vorstellt. Diese gibt gerade Romeo & Julia am Theater und spielt nur leider grottenschlecht. Seine Freunde trösten ihn mit ihrer Schönheit, jedoch das Band zwischen ihr und ihm ist zerbrochen. Durch einige unglückliche Wendungen kommt es dann zu gleich drei (!) Todesfällen in dieser Geschichte, an denen Dorian nicht ganz unschuldig ist.

Spiegel seiner Zeit

Oscar Wilde hält mit Dorian Gray seiner Zeit einen Spiegel vor. Der “Prince Charming” (Märchenprinz) als der der Dorian gegenüber dem jungen Fräulein Sibyl Vane auftritt, entpuppt sich als grausame Maske, denn seine wahres Gesicht kennt nur das Gemälde, das sich bei jeder Verwerfung Dorians verzehrt und verzerrt. Ihr Tod wird zu einer ästhetischen Übung, in der sie gleich der Julia in das Reich der Kunst zurückkehrt, etwas von einer Märtyrerin umgebe sie. Der gefühllose Ästhet sieht in ihrem Tod nur eine “schönste Tragödie”, er entbindet sich jedweder Gefühlsregung indem er seine eigene Schuld an ihrem Tod ausklammert und ignoriert. “Devant une facade rose,/sur le marbre d’un escalier” zitiert er Theophile Gautier, als er seinen besten Freund, Basil Hallward, beseitigt hat und denkt dabei an Venedig. Eine dritte Person muss noch sterben, bis Dorian sich endgültig in eine der Opiumhöhlen Londons zurückzieht, um endlich das Vergessen zu finden, das er sein Leben lang suchte. “Du bist die Verkörperung dessen, was unsere Zeit sucht und was sie gefunden zu haben fürchtet“, ruft ihm Harry, sein letzter Freund zu und es stimmt. Denn seine Zeit hatte ein Monster erschaffen, das keiner besser inkarnierte als Mr. Dorian Gray. Ein rücksichtsloser Hedonist, der in der Anbetung der Jugend und Schönheit jede moralische Integrität verloren hat. “Die Jugend hatte ihn verdorben.”

Man könnte in dem Bildnis des Dorian Gray auch die Vorwegnahme des Idol-Kultes der heutigen Jugend sehen. Die Bilder und Fotos der Rockstars und die idealistische Anbetung dieser Ikonen der Moderne ähnelt sehr dem Personenkult um Dorian Gray, der als Symbol seiner Zeit sowohl den aufstrebenden Kapitalisten als auch den Rockstar vorwegnahm. Keiner verkörpert den Selfmademan der Moderne wohl besser als ein Rockstar, der nicht nur das Idealbild der Jugend verkörpert, sondern auch liebend gerne einen gleichsam religiösen Kult um seine eigene Person entfesselt. Im Anhang befindet sich ein Nachwort und eine kompakte Biographie des Autors.

 

Oscar Wilde
Das Bildnis des Dorian Gray
Übers. von Ingrid Rein
Nachw. von Ulrich Horstmann
2022, Paperback, 316 S.
ISBN: 978-3-15-020669-0
Reclam Verlag
10,00 €


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Reclam Verlag

Die Imker

Gerhard Roth – Die Imker

Der preisgekrönte Grazer Autor ist Anfang dieses Jahres im Alter von 80 Jahren verstorben. Unter seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken ist vor allem der 1991 abgeschlossene siebenbändige Zyklus “Die Archive des Schweigens” und der Orkus-Zyklus zu erwähnen. Zuletzt veröffentlichte er drei Venedig-Romane (Die Irrfahrt des Michael Aldrian, Die Hölle ist leer – die Teufel sind alle hier und Es gibt keinen böseren Engel als die Liebe).

Imker als Astronauten

Sein nun letzter Roman “Die Imker” ist unter dem Eindruck der weltweiten Corona-Pandemie entstanden und handelt von nichts Geringerem als der Apokalypse, oder dem Weltuntergang. Aber anders als in den geläufigen Erzählungen des Endes der Welt geschieht dieses bei Roth nicht mit einem großen Tata, sondern leise und still. Am Morgen des 1. April zieht ein gelber Nebel auf, der Menschen in Luft auflöst. Franz Lindner, Patient einer Einrichtung für psychisch beeinträchtigte Künstlerinnen und Künstler, und einige andere haben die Katastrophe überlebt. Sie bauen eine Dorfgemeinschaft aus Bienenzüchtern auf und versuchen ihr Über-Leben zu organisieren. Aber es ist schwer, denn “alles ist verschwunden“. “Dann wusste ich mit einem Mal, wo ich Orientierung fand: im meiner Kindheit”, meint Lindner zu sich selbst und entdeckt, dass er sich plötzlich mit den Tieren unterhalten kann. In Gedanken, stumm. Delirierend schreibt oder sagt er auch einige Gedichtzyklen auf, die sich über mehrere Seiten des Romans hinwegziehen. “Die Weintraube ist der Globus der Trinker” heißt es da vielsagend in “Gedichte I”, andere Sätze bedürfen der Reflexion, denn viele stehen für sich alleine und nicht als Teil des sie einrahmenden Gedichtes. So wie das Sanatorium Hoffmann, in dem Franz Kafka gestorben ist. Es befindet sich in der Nähe der (tatsächlich) existierenden Künstler-Kolonie in Gugging, unweit von Wien. Aber auch die Malerei stellt Roth ins Zentrum seiner Betrachtungen. Denn “Die Jäger im Schnee” von Pieter Bruegel dem Älteren wird von ihm aus dem Kunsthistorischen Museum kurzerhand entwendet oder sollte man sagen ausgeborgt? Für Lindner sind Imker “Astronauten, die in ihrer Schutzkleidung in die Welt der Bienen eindringen, um sie zu entdecken, zu erforschen, auszurauben”. Inspiriert wird er auch von den Filmen des Russen Andrej Tarkowski, auch sie handeln zumeist von einer Art Weltuntergang.

Schreiben als Therapie

Auch wenn der Weltuntergang zunächst befremdlich auf die Überlebenden wirkt, beginnen doch einige, ihn auch als große Chance zu sehen. “Waren wir nicht alle Opfer von Normalität gewesen, die über uns bestimmt hatten?, fragte ich mich zum x-ten Mal. Wir durften jetzt sein, wie wir waren, wie wir sein mussten, und das befreite uns.” Und was macht Lindner? Er schreibt. Und dieses Schreiben wird ihm alsbald zum heiligen Ritual, zum Ort, den man wohl Heimat nennt und von wo es nur Gutes zu erwarten gab: “In der Stille, der Einsamkeit wiederum erfahre ich die beseelte Welt. Das Schreiben macht es mir möglich.” Das Schreiben wird zum “Durch-Wände-Gehen” und sogar “Fliegen”, das schreibende Ich zum eigentlich Ich, das immer wieder und wieder in “pausenloser Verwandlung” ein anderes Ich annehmen kann, sich in andere Wirklichkeiten versetzt, Bücher liest. “Ich verspüre beim Schreiben eine Verwandtschaft mit den Bienen. Wörter sind für mich wie Blütenpollen. Ich liebe sie und wünsche, ihren Nektar zu saugen und ihn zu Honig zu verarbeiten.” Ein Imker, der über das Leben eines Schriftstellers nachdenkt wird denn wohl über das Schreiben auch nicht anders formulieren können als so: “Schreiben ist die Metamorphose der Gedanken, von der Erlebnisraupe zur Erinnerungspuppe zum Buchstabenschmetterling.

Gerhard Roth hat mit “Die Imker” einen philosophischen Roman im Setting einer Dystopie verfasst, eine Art Abschiedsgeschenk an sich selbst. “Die Imker” behandelt nicht nur die Entstehung von Gesellschaft und das Wesen des Menschen, sondern vor allem auch die Bedeutung des Unbewussten und das Rätsel des Todes. Ein Spätwerk, das in einem parabelartigen Gedankenspiel noch einmal alle Motive von Rohts Denken und Schreiben versammelt und so auch die Apokalypse erträglicher und jedenfalls nachvollziehbarer macht.

 

Gerhard Roth
Die Imker. Roman
2022, Hardcover, 560 Seiten
ISBN: 978-3-10-397467-6
Verlag: S. FISCHER


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by S. Fischer

Die Tschechow-Leserin

Traumverlorene Selbstreflexion

Der Titel des Debütromans der italienischen Literatur-Wissenschaftlerin Giulia Corsalini lässt aufhorchen, «Die Tschechow-Leserin» dürfte zumindest die an gehobener Literatur interessierten Leser neugierig machen. Die vierzigjährige Ich-Erzählerin und Protagonistin Nina stammt aus Kiew. Sie hat einen Ruf als Spezialistin für Tschechow, lebt aber mangels beruflicher Chancen mit ihrem pflegebedürftigen Mann und der achtzehnjährigen Tochter Katja in prekären Verhältnissen. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern und vor allem der Tochter ein Medizinstudium zu ermöglichen, verlässt sie die Ukraine und nimmt in Italien eine Stelle als Pflegerin bei einer alten Dame an.

Die gleichförmige, wenig erfreuliche Arbeit und ihre Einsamkeit in der Universitätsstadt Macerata weckt in ihr wieder die Leidenschaft für Literatur, die lange Zeit unter dem Druck der widrigen Lebensumstände verdrängt war. Sie sucht in ihrer freien Zeit die Universitäts-Bibliothek auf, beginnt sich wieder intensiv mit Tschechow zu befassen und lernt im Institut für Slawistik den Professor De Felice kennen. Der bietet ihr schon bald einen befristeten Lehrauftrag an, den sie neben ihrem Putzfrauenjob in einem Supermarkt ausüben kann. Mit den Studenten untersucht sie in ihren Vorlesungen den Einfluss Tschechows auf die italienische Erzähl-Literatur und erfüllt zur Zufriedenheit aller die Erwartungen an ihre Dozentur. Ihre Beziehung zu dem zwanzig Jahre älteren Russisch-Professor bleibt, obwohl sie sich auch privat etwas näher kommen, rein intellektueller Natur, man zollt sich gegenseitig höchsten Respekt, auch wenn es manchmal scheint, als wäre da mehr. Als sie die Nachricht erhält, dass es ihrem Mann deutlich schlechter geht, beschließt sie, endgültig nach Kiew zurückzukehren. Dabei vertraut sie dem Freund ihrer Tochter, der Arzt ist, dass mit einem schnellen Ableben aber nicht zu rechnen sei, und schiebt ihre Abreise um zwei Wochen hinaus. Ihr Mann stirbt jedoch überraschend schon drei Tage später, sie ist also nicht mehr rechtzeitig an sein Sterbebett gekommen, was ihr die Tochter sehr übel nimmt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt die Autorin, dass Nina in Kiew geblieben ist, dort eine Stelle am Institut für russische Sprache und Kultur angenommen und sich allmählich auch mit ihrer Tochter ausgesöhnt hat, die inzwischen selbst Mutter geworden ist. Acht Jahre nach ihrer überstürzten Abreise erhält sie aus Macerata die Einladung, auf einer dreitägigen Tschechow-Konferenz den Einführungs-Vortrag zu halten. Innerlich zerrissen widmet Nina sich dort aber einer ukrainischen Pflegekraft, die junge Frau ist im Umgang mit den Behörden völlig hilflos. Die Veranstaltung endet im Fiasko, sie lässt sich bei der Konferenz nicht blicken. Im Epilog wird geschildert, wie sie ein halbes Jahr später die Tochter besucht und die Nachricht erhält, dass De Felice gestorben ist. «Ich war eine leidenschaftliche Tschechow-Leserin: Es ist, als hätte ich dies alles schon immer vorausgeahnt», heißt es am Schluss.

Neben dem Thema Migration, welches im zweiten Teil einen breiten Raum einnimmt und ja auch die Protagonistin selbst betrifft, steht in diesem distanziert erzählten Roman aber vor allem Ninas innere Abkehr von ihrem ursprünglichen Leben im Blickpunkt. Ihr entgleiten die Dinge, sie tut nicht das, was sie eigentlich tun wollte und befindet sich am Ende in einer seelischen Vorhölle. Ein schicksalhafter Auflösungs-Prozess, aus dem es kein Entkommen zu geben scheint. Es ist die permanente Selbstreflexion, die hier im Blickpunkt steht, als Romanfigur bleibt Nina auffallend blass, ihre Gefühle sind kaum zu entschlüsseln. Über allem liegt stilistisch die für Tschechow typische, traumverlorene Melancholie, und wie dieser belässt auch Giulia Corsalini vieles im Ungefähren und verzichtet auf psychologische Deutungen. Unpassend jedoch ist leider der Schluss des Romans, bei dem alle Dissonanzen zwischen Mutter und Tochter kurzerhand weggebügelt werden.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by nonsolo.Verlag

Zukunftsmusik

Aus der Kommunalka

Als Roman einer Zeitenwende beschreibt «Zukunftsmusik» von Katerina Poladjan den Beginn einer neuen Ära in Russland, die sich in diesem Fall ungewöhnlich exakt auf ein genaues Datum fixieren lässt, den 11. März 1985. Aber ebenso exakt lässt sich mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine der Tag für das Ende dieser Ära benennen, der 24. Februar 2022. Natürlich konnten die Menschen im Roman nicht ahnen, was sich mit der Wahl von Michail Gorbatschow zum ZK-Generalsekretär für sie verbessern würde, sie haben es allenfalls gespürt. So wie wir Heutigen noch nicht ahnen, was Putins Wahn letztendlich bedeutet.

Handlungsort ist eine unbenannte Stadt tausend Werst östlich von Moskau, wo sich in einer aus unterschiedlichsten Mitgliedern bestehenden, WG-ähnlichen Kommunalka mit sechs Mietparteien die Protagonisten des Romans eine Wohnung teilen. Da leben in einem der Zimmer auf engstem Raum Großmutter Warwara, pensionierte Hebamme, die aushilfsweise noch in der Klinik arbeitet und an diesem Tag einem Kind auf die Welt hilft. Mutter Maria arbeitet als Aufseherin im Museum und ist in Matwej verliebt. Ihre Tochter Janka schließlich arbeitet in Nachtschicht in der Glühlampenfabrik und will am Abend in der Küche ein Kwartirnik veranstalten, ein zur Umgehung der Zensur von jungen Leuten einfach in den Privathaushalt verlegtes Konzert. Der Ingenieur Matwej von nebenan hat einen schlechten Tag, denn einer der Probanden bei den von ihm betreuten Versuchen zur Aufhebung der Schwerkraft stirbt. Er hat die Marotte, alles aus seinem Leben in kleinen Kästchen aufzubewahren, deren Inhalte er geradezu zwanghaft ständig umsortiert. Der hoch angesehene alte Professor ist selten zu sehen, bei der Feier zu dessen letztem Geburtstag nutzte Ippolit, Schaffner bei der Eisenbahn, die Gelegenheit und flüsterte Warwara zu, «er sei schon lange hinter ihr her, ihre Verbindung sei durch die Vorsehung bestimmt, und nun sei es an der Zeit, sich dem Schicksal zu ergeben. Warwara ließ ihn wissen, sie werde über sein Ansinnen nachdenken und ihn bezüglich ihrer Entscheidung in Kenntnis setzen». Sie hat ihn erhört!

Bezeichnend für die Verhältnisse ist eine Szene, in der sich Maria an diesem 11. März spontan in einer Schlange mit anstellt, die bis weit auf die Straße hinaus reicht. «Was glauben Sie, was uns erwartet»? fragt sie den Mann vor ihr. «Am Anfang dieser Schlange erwarten uns feine, rosa glänzende Krakauer Würstchen, und wenn wir Pech haben, erwartet uns das Nichts. Und bis wir an der Reihe sind, ist uns die Möglichkeit gegeben zu überlegen, ob wir das, wofür wir anstehen, überhaupt brauchen». Zwischen Resignation und Aufbruch in bessere Zeiten strahlen die Figuren des Romans eine innere Unruhe aus, die sich bereits von der Gegenwart gelöst zu haben scheint und einem Gefühl Platz gibt, das vielleicht ja doch alles besser werden könnte. Wobei die Befreiung aus den beengten Wohnverhältnissen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben steht.

Der für den Leipziger Buchpreis nominierte Roman enthält viele Anspielungen auf die russische Literatur, wobei besonders Zitate von Tschechow teils wörtlich übernommen werden. Deutliche Bezüge gibt es aber auch auf Bulgakow, dessen ins Surreale weisender Stil sich bei Katarina Poladjan in ihrem ins Fantastische übergehenden Schluss wiederfindet. Da öffnet sich der Flur plötzlich ins Freie, ohne das sich jemand daran stört. In der kleinen Küche tummeln sich unglaublich viele Leute, obwohl Janka selbst gar nicht auftritt. In Anspielung auf den «Kirschgarten» werden jede Menge kleine Bäumchen aus der Küche durch den Flur getragen, Menschen steigen aus dem Fenster und fliegen davon. Auffallend ist auch die Diskrepanz zwischen den geschliffenen Dialogen aller Bewohner, man siezt sich natürlich, und dem eher proletarisch anmutenden Leben in der beengten Wohnung. Dieser im Stil des Magischen Realismus ohne Larmoyanz geschriebene Roman aus einer Kommunalka ist eine bereichernde, aber auch amüsante Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Rombo

Eine Geschichte, die partout keine sein will

Der das Thema des neuen Romans von Esther Kinsky bereits andeutende Titel «Rombo» steht im Italienischen mythisch für das dumpfe, mehr spür- als hörbare Grollen aus der Tiefe, welches heftigen Erdbeben vorauszugehen scheint. Es geht hier um die verheerenden Erdbeben, die am 6. Mai 1976 im Bereich des Monte San Simeone im Friaul begannen und denen im September gleichen Jahres weitere schwere Erdbeben folgten. Bis zum Herbst jenes Jahres zerstörten die gewaltigen Erschütterungen zehntausende Häuser und forderten fast tausend Tote. Wie schon in «Hain», ihrem letzten Roman, dienen auch hier ausufernde Beschreibungen von Natur und Landschaft als stimmungsmäßige Grundierung für das eigentliche Thema. Es geht um das menschliche Trauma bleibender Erinnerungen an zerstörerische Naturgewalten, das in Worte zu fassen nicht so einfach ist. Ähnlich traumatische Erfahrungen von 9/11, nicht weniger schrecklich, zeugen davon.

Jedes der sieben Abschnitte des Romans wird durch ein kurzes Zitat aus verschiedenen wissenschaftlichen Werken zur Geognosie eingeleitet, wie die Lehre von Aufbau und Struktur der Erdkruste im neunzehnten Jahrhundert noch hieß. Ebenso fachkundigen Ehrgeiz verwendet die Autorin auf ihre eigenen, minutiösen Schilderungen der zerklüfteten Landschaft des betroffenen Gebietes. Mit großer sprachlicher Präzision beschreibt sie die Eigenarten von Flora und Fauna der rauen Bergregion mit ihren oft extremen Wetterlagen. Die krempeln im Verein mit den häufigen Erdbeben die geologischen Verhältnisse manchmal derart um, dass quasi neues Gelände entsteht. Meist durch Felsstürze oder plötzliche Schneeschmelze verursacht, werden unversehens Flüsse und Bäche in ein entferntes Bett umgelenkt. Oder durch Fels und Geröll verursachte Aufstauungen lassen an anderer Stelle neue Tümpel und Teiche entstehen. – und nichts ist mehr, wie es mal war.

Wenn es im Roman heißt, «die Erinnerungen, das sind wir selbst», dann ist das ein Hinweis auf die sieben Dorfbewohner, die zum Teil als Ich-Erzähler in meist kurzen Erinnerungs-Schnipseln über sich selbst und ihre persönlichen Lebensumstände, vor allem aber über ihre Beobachtungen und Erlebnisse vor, beim und nach dem Erdbeben berichten. Allesamt Einwohner des armseligen Bergdorfes Venzone, das sich mangels Arbeitsplätzen zusehends entvölkert und immer mehr ins Abseits gedrängt wird. «Die Erinnerung ist ein Tier, das aus vielen Mäulern bellt», merkt der alte Anselmo zum Thema an. Esther Kinsky verwendet ihre fiktiven Protokolle nicht dokumentarisch, sondern schiebt sie in scheinbar bunter Folge in ihre thematisch nur bruchstückhaft zusammen gefügten Natur-Betrachtungen ein. Angereichert wird dieses Pendeln zwischen den Erzähl-Gegenständen durch immer wieder mal eingeschobene Mythen wie die von «Rombo», dem seismischen Unglücksboten. Es gibt aber auch Legenden und Sagen, wie sie zum Beispiel im Lied von der «Riba Faronika», dem pharaonischen Fisch, in der Region weiterleben als eigenständige Schöpfungs-Geschichte.

Mit ihrem verstörenden Mix aus Natur, Trauma und Mythen stellt die Autorin dem äußeren Chaos ein poetologisches gegenüber, eines der Sphären und Wörter, wohl um das Unfassbare sichtbar zu machen. Insoweit kann man ihren artifiziellen Roman als metaphorisch angelegten Versuch über das Erinnern lesen. Und natürlich steckt darin auch die alte Frage der Theodizee, wie kann Gott das zulassen? Durch ihre peniblen Natur-Beschreibungen festigt sie zunehmend den Eindruck, dass aber alles richtig ist, wie es ist. All diesen vielen geologischen und biologischen Exkursen, den Berichten ihrer blutleer bleibenden Figuren, den knappen, auktorialen Ergänzungen über Land und Leute fehlt jedoch ein narrativer Überbau, der die nicht weniger als 142 disparaten Textblöcke zu einer als Roman überzeugenden Prosa mit erkennbar rotem Faden zusammen bindet. Denn so bleibt kaum was haften nach der Lektüre einer Geschichte, die nun mal partout keine sein will.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Serge

Schade eigentlich

Wen wundert’s, dass auch «Serge», Yasmina Rezas neuer Roman, eher wie ein Drama in Prosaform wirkt. Er lebt sprachlich von seinen funkelnden Dialogen, mit denen die französische Schriftstellerin in ihren Theaterstücken ja ebenfalls brilliert. Hier nun kreuzen die Mitglieder einer jüdischen Familie verbal die Klingen. Der titelgebende Sohn Serge ist ein nichtsnutziger Aufschneider, der von seinem jüngeren Bruder Jean, dem Ich-Erzähler, maßlos bewundert wird. Jean selbst ist ein unscheinbarer Typ ohne Charisma, ein Leisetreter, der im Hintergrund bleibt und außer seiner Funktion als Protokollant auch kaum in das Geschehen hineinwirkt. Nana, die von allen geliebte Tochter der Poppers, hat einen nach Ansicht der Familie unpassenden Mann geheiratet. Sie ist aber im Beziehungs-Chaos der diversen anderen Familien-Mitglieder als einzige wirklich glücklich. Die nicht praktizierende jüdische Familie ist innerlich gespalten durch den Antisemitismus-Vorwurf, den der verstorbene Vater regelmäßig in die Debatte warf, wenn es um Israel und seine Politik ging. Wer diesen Staat kritisiert, ist gegen die Juden, so seine felsenfeste Überzeugung!

Das verkrachte Genie Serge, ein unsympathischer Kotzbrocken, ist als Sechzigjähriger auf der ganzen Linie gescheitert. Seine ominösen Geschäfte als Berater sind nur noch reine Luftnummern, die er sich aber unverdrossen schönredet, auch wenn er finanziell völlig am Ende ist. Seine Ehen sind ebenfalls gescheitert, um seine Kinder kümmert er sich kaum, sie leben bei den Müttern, Auch seine Beziehungen halten nicht lange, er vermasselt es jedes Mal. Als plötzlich auch die achtzigjährige Mutter stirbt, stellen die Geschwister fest, dass sie von ihren Vorfahren und deren Schicksal so gut wie nichts wissen, zum Fragen ist es nun aber zu spät. Auf Vorschlag der Tochter von Serge starten sie zu einem gemeinsamen Besuch nach Auschwitz. Wie zu erwarten ist auch hier Serge der Störenfried, er weigert sich, die wichtigen Stationen der Gedenkstätte zu betreten, zeigt keinerlei Interesse an dem, wovon doch auch seine eigene Familie betroffen war. Jean protokolliert, ebenfalls wenig beeindruckt, das abstoßende touristische Umfeld. Erstaunt stellt er fest, er habe noch nie eine so mit Blumen herausgeputzte Stadt wie Auschwitz gesehen. Was als Versuch gedacht war, das nach dem Tod der Mutter auseinander zu brechen drohende Familiengefüge zu erhalten, erweist sich als Illusion. «Nach unserer Rückkehr aus Auschwitz haben Nana und Serge übereinstimmend und ohne Absprache beschlossen, nie wieder miteinander zu reden».

Das zentrale Thema der Erinnerung wird hier weitgehend im Desaster einer tragikkomischen Reise behandelt, wobei die eigentlichen Motive der Suche nach familiären Spuren und nach Wahrheit völlig in den Hintergrund geraten. Mit ihrer genauen Beobachtungsgabe und der ungenierten Art, Figuren sezierend kühl zu beschreiben, gleichzeitig aber auch noch warmherzig auf sie zu blicken, bewirkt die Autorin eine zuweilen unfreiwillig komisch wirkende, sprachliche Ambivalenz. Und auch der aus diesem Blickwinkel beschriebene Auschwitz-Besuch erscheint als kühnes Unterfangen und wirft die drängende Frage nach einem angemessenen Umgang mit der unsäglichen historischen Vergangenheit auf.

Hervorzuheben sind die brillanten, oft sarkastischen und zuweilen sogar witzigen Dialoge in diesem Roman. Misslungen ist zweifellos die von Anfang an fragwürdige, nebulöse Erzählerfigur des Jean, der im Text eher selten auftritt und mangels klarem eigenen Profil kaum erkennbar ist. Wenn er als Ich-Erzähler dann aber zuweilen auch noch in die Position eines auktorialen Erzählers rückt, weil er Dinge und Vorgänge beschreibt, die er als Akteur gar nicht wissen kann, ist man als Leser vollends irritiert. Dieser illusionslose Roman, der ohne Moralisieren ein schwieriges Thema behandelt, liefert weder neue Erkenntnisse, noch ist er, abgesehen von den Dialogen, besonders unterhaltsam. Schade eigentlich!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Eine andere Epoche

Rädchen im Getriebe

Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als 1953, wo in Bonn die Wiederbewaffnung zur Abstimmung anstand. Handlungsort ist nun natürlich Berlin, Handlungszeit sind die Jahre 2011 bis 2014, die SPD befand sich damals in der Opposition. Eine parteinahe Politikberaterin konstatierte lapidar: «Dass die SPD überhaupt einen Kanzler-Kandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben». Auch wenn viele politische Akteure mit Klarnamen benannt sind, kann man das Buch durchaus als Schlüsselroman lesen.

Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als ‹Indianer› bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort.

In der politischen Chronik jener Jahre gibt es einige markante Ereignisse, die der Autor strikt aus dem Blickwinkel seiner Figuren heraus schildert. Da ist vor allem der Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, den die gegen ihn gerichtete Medien-Kampagne zur Aufgabe des Amtes bewogen hat. Später wurde er jedoch wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor Gericht freigesprochen. Ein großes Thema jener Jahre war auch die NSU-Affäre, die in einem Untersuchungs-Ausschuss unter dem Vorsitz von Andi Nair natürlich nicht aufgeklärt werden konnte. Alle Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsschutz haben ‹gemauert›, um ihr eigenes Unvermögen und ihre hanebüchenen Fehler zu vertuschen. Ein Kollege aus der SPD Bundestags-Fraktion gerät wegen Besitz von Crystal Meth in die Schlagzeilen, und ganz zum Schluss verlässt einer der Protagonisten wegen offensichtlich berechtigter, schwerer Vorwürfe fluchtartig den Reichstag.

Kennzeichnend für Zieglers Erzählweise ist, dass er gerade den karriere- und bedeutungsmäßig am wenigsten hervorstechenden Wegman Frost in den Mittelpunkt stellt. Er ist Angestellter seines Freundes Andi Nair und arbeitet ihm zu, schreibt Reden für ihn und hält ihn auf dem Laufenden über die politische Stimmungslage hinter den Kulissen. Auch privat ist er eher eine unscheinbare Figur ohne Charisma, ein Wunder geradezu, dass sich die toughe Immobilien-Maklerin Marion mit ihm einlässt, ihn sogar bald schon in ihre noble Wohnung einziehen lässt. Deren altkluge Tochter Elli, in der man Uwe Johnsons Marie Cresspahl zu erkennen glaubt, versteht sich von Anfang an sehr gut mit Wegman und verwickelt ihn wissbegierig in manchmal allerdings gar zu tiefsinnig erscheinende Debatten zu Themen jenseits der Politik. Auffallen ist, dass Marion und auch ihre elfjährige Tochter als Charaktere ziemlich blass bleiben. Was übrigens auch für alle anderen, fast durchweg politischen Akteure gilt, deren Privatleben weitgehend ausgeklammert ist. Einzig Wegmans häufige Tagträume enthalten für ihn produktive Aspekte über die Tretmühle des politischen Alltags hinaus. Der Autor schreibt in einer angenehm lesbaren, klaren Sprache aus Sicht seines Helden, wobei er sich aber jeder moralischen Wertung enthält. Wegman Frost agiert als kleines Rädchen im Getriebe der großen Politik, er ist lediglich ein auf kleinste Details achtender Berichterstatter mit einem untrüglichem Sinn für politische Stimmungen. Und dass er sich am Ende sogar vornimmt, jetzt unbedingt mal Hannah Arendts Werk «Über die Revolution» zu lesen, ist fast schon ein revolutionärer Akt für ihn.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin