Ein Irrweg
Stefan Aust hat mit seinem bekannten Sachbuch «Der Baader-Meinhof-Komplex» die Phase des Umbruchs in Deutschland kenntnisreich beschrieben, nun scheint die Zeit reif für eine mehr fiktionale Aufarbeitung der Geschehnisse, die gemeinhin mit der Jahreszahl 1968 symbolisiert werden. Mit seinem buchpreisgekrönten Roman hat auch Frank Witzel diese Thematik aufgegriffen, zwei Jahre vorher, 2013 erschien «Das Verschwinden des Philip S.» von Ulrike Edschmid, ein autobiografisch geprägter Roman über ihren damaligen Lebensgefährten Werner Philip Sauber, dessen revolutionärer Weg ihn schließlich in den bewaffneten Untergrund führt.
Philip S. stirbt am 9. Mai 1975 bei einem Schusswechsel mit der Polizei auf einem Kölner Parkplatz. «Vor den Krankenwagen sind die Fotografen da.» lautet der erste Satz, womit das Ende schon vorweggenommen ist. Als Leser wird man regelrecht hineingestoßen in die brutale Schlussphase einer Geschichte, die den allmählichen Wandel eines kreativen Studenten der Film- und Fernsehakademie zum gewaltbereiten Revolutionär beschreibt. Fast vierzig Jahre später nun blickt Ulrike Edschmid auf die Jahre zurück, in denen sie mit ihm zusammen war. Er kam als Sohn aus einer reichen Schweizer Unternehmerfamilie 1967 nach Berlin, sie lebte nach der Trennung von ihrem Mann mit dem kleinen Sohn in bohemeartigen Verhältnissen. Philip hingegen tritt ziemlich exzentrisch auf, sie schildert ihn als filmisches Genie, dessen hohe Kunst zwar Vielen ziemlich unverständlich bleibt, in der Akademie aber voll anerkannt und entsprechend gefördert wird. Die sich zuspitzenden Ereignisse in Berlin, deren Höhepunkt 1968 das Attentat auf Rudi Dutschke darstellt, verschärfen auch die anfangs vornehmlich auf die Hochschule gerichteten Proteste der Studentenclique um Philip und weiten sich aus auf revolutionäre, zunehmend radikaler, gewalttätiger und schließlich kriminell werdende Aktionen. Ulrike unterstützt diese Aktivitäten, ihre WG wird immer öfter von der Polizei durchsucht, bis sie beide eines Tages in Untersuchungshaft landen. Für Ulrike eine Zäsur, sie nimmt aus Angst um ihren Sohn daraufhin nicht mehr teil an den Aktionen, das Paar trennt sich schließlich, Philip taucht ab in den Untergrund.
Ein bemerkenswertes Kennzeichen der damaligen Ereignisse war die überwiegend gutbürgerliche Herkunft der Revolutionäre, und auch Philip stammt ja nicht aus dem Proletariat, ganz im Gegenteil. In seinem Hass gegen die Bourgeoisie sagt sich Philip schon früh von seinem spießigen Elternhaus los, schlägt sich finanziell mit Gelegenheitsjobs und als Taxifahrer durchs Leben. Edschmid zeichnet ein positives Bild der damals neu aufkommenden studentischen Wohngemeinschaften, ihre Figuren sind anschaulich beschrieben, man kann sich sehr gut in das stimmig geschilderte Milieu revolutionärer WGs hineinversetzen. So gut wie nichts hingegen erfährt man über die konkreten Ziele der Revolutionäre, die Perspektive der Autorin ist die einer wenig eingeweihten Randfigur.
Ihre Geschichte wird, das Vorwort ausgenommen, strikt chronologisch im Präsens erzählt, in einer prosaischen Sprache zudem ohne irgendwelche Ausschmückungen, ohne raffinierte Zeit- und Perspektivsprünge. Sie hat damit eher den Charakter eines nüchternen Berichtes als den eines unterhaltenden Romans, bleibt aber, trotz des vorweggenommenen Endes, wegen der fast beängstigen Direktheit bis zum Schluss spannend, man wird immer tiefer hineingezogen in die Entwicklung von Philip S. zum Terroristen. Wenig überzeugend ist der Versuch der Autorin, bei einem Besuch am Tatort den Tod ihres Helden als vermeidbar darzustellen, ihn als Notwehr, sogar als regelrechte Hinrichtung umzudeuten. Außer bei Gericht wird nirgends so gelogen wie in Autobiografien, das gilt wohl auch hier – und ist deshalb verzeihbar. So hautnah aber, literarisch aus einer seltenen Innensicht heraus entstanden, ist man dem damaligen Geschehen noch nie gekommen, dieser Roman ist allein deswegen schon eine lohnende Lektüre.
Fazit: lesenswert
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