Letzte Nacht in Twisted River

41fBYGsgFkL._BO2,204,203,200_PIsitb-sticker-v3-big,TopRight,0,-55_SX324_SY324_PIkin4,BottomRight,1,22_AA346_SH20_OU03_New Hampshire 1954: In einer kleinen Holzarbeitersiedlung verdient sich der verwitwete Koch Dominic (genannt Cookie) seinen Lebensunterhalt bis eines Tages sein Sohn Danny die Freundin des örtlichen Polizeichefs mit einem Bären verwechselt und kurzerhand pfännt (= mit einer Pfanne erschlägt). Gezwungen zur Flucht verschlägt es die beiden zunächst nach Boston, wo sie in der italienischen Gemeinde rasch heimisch werden und eine neue Liebe (Cookie) respektive eine gediegene Ausbildung (Danny) verpasst bekommen. 13 Jahre hält das fragile Glück, doch dann ist Constable Carl (der mit der bärigen Freundin) ihnen wieder auf den Fersen und sie setzen sich erneut ab, diesmal nach Vermont.

Auch hier finden sie sich prima zurecht, Cookie experimentiert (nicht nur in der Küche) mit asiatischen Einflüssen und Danny ist inzwischen selbst Vater und auf dem besten Weg, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden. Den Kontakt zur alten Heimat halten sie über ihren Freund Ketchum, ein grobschlächtiger aber herzensguter Holzarbeiter, der alles tut, um die beiden Exilanten vor dem verrückten und rachsüchtigen Cop zu beschützen. Allerdings können weder er noch eine weitere Flucht bis nach Kanada den unvermeidlichen Showdown nach fast 50 Jahren verhindern; die Dinge nehmen ihren Lauf und es kommt wie es kommen muss…

Es fällt nicht leicht eine Inhaltsangabe zu liefern, die diesem Epos gerecht wird, denn zu vielschichtig sind die Ereignisse in diesem neuen grandiosen Roman des begnadeten Erzählers John Irving. Natürlich finden wir jede Menge Liebe und Beziehungen, sowie tragische Tode und Verluste, die aber nie zu Bitterkeit führen, da sie als normaler Bestandteil des Lebens empfunden werden. Und natürlich gibt es auch Bären und schwergewichtig skurrile Frauengestalten wie Injun Jane, Six-Pack Pam oder Lady Sky, eine nackte Fallschirmspringerin, die im Schweinestall landet. Überhaupt die Charaktere: Wieder einmal gelingt es dem Romancier, liebenswert warmherzige und humorvolle Gestalten zu erschaffen, die den Leser tief anrühren, mit denen er nur zu gern Freud und Leid teilt und die er mit dem Zuklappen des Buches noch lange nicht vergisst.

Irvings fulminantes Werk umfasst fünf Jahrzehnte und ganz nebenbei serviert er als Soundtrack zum Leben der Protagonisten die dazu gehörige amerikanische Geschichte. „Last Night in Twisted River” ist somit auch ein politisches Buch; der Autor nimmt zum Beispiel kein Blatt vor den Mund, wenn die Rede auf den vorigen US-Präsidenten kommt. Keineswegs nur deswegen kann ich den Roman uneingeschränkt wärmstens ans Herz legen, denn viel zu selten stößt man heutzutage auf derartigen literarischen Hochgenuss wortwitziger Fabulierkunst. Irving-Fans werden das Epos lieben und für alle anderen ist es die perfekte Chance für den Einstieg in das Werk dieses außergewöhnlichen Schriftstellers. Zu wünschen wäre freilich, dass bald auch den Nobelpreisrichtern die Nordlichter aufgehen und dort nicht immer nur belanglose Brabbler á la Herta „Lieschen“ Müller prämiert werden.


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Das Schloss im Wald

51oSt9vpCUL._SX330_BO1,204,203,200_Ein Assistent des Satans, ein Teufel im gehobenen Rang, erzählt die Geschichte einer österreichischen Familie über einen Zeitraum von etwa 100 Jahren. So weit, so gut, eigentlich nichts Besonderes, könnte man sagen, wäre es nicht die Familie Adolf Hitlers, die hier im Fokus steht. Penibel widmet sich die Saga diesen Menschen aus ärmsten bäuerlichen Verhältnissen, ihrem Leben und Streben bis zur Geburt Hitlers, der das Produkt mehrerer Generationen von Inzest (sein Großvater ist auch sein Vater) darstellt. Genau das macht ihn interessant für die Agenten des Teufels (der „Maestro“, wie er vom Erzähler genannt wird), die ebenso wie die Engel Gottes (der „Dummkopf“) ständig Ausschau halten nach potenziellen Kandidaten, die sie für ihre Ziele einsetzen können.

Der Meister erteilt also den Auftrag, den Kleinen und seine Familie genau im Auge zu behalten und der Erzähler leistet ganze Arbeit. Immer wieder lenkt er Hitler in die gewünschte Richtung, er fördert schon früh seine Faszination für Kriegsspiele und dumpfen Patriotismus (ein vom Teufel geliebter Charakterzug!), schürt den Hass auf den autoritären Vater und den Neid auf die Geschwister und achtet darauf, dass die Beziehung des sexuell verklemmten Jungen zur bigotten Mutter zerrissen bleibt. Das Gewissen des Kindes wird durch die Suggestion von Träumen (eine der stärksten Waffen der Dämonen) Stück für Stück reduziert, bis auch Mord nicht mehr als verwerflich erscheint. Das Buch endet im Jahr 1905, Hitler ist 16 Jahre alt. Im Epilog werden die satanischen Diener nach Ende des 2. Weltkriegs in die USA gesandt, wo der Maestro in den Juden und Arabern viel versprechende neue Klienten wähnt…

Norman Mailer, ein Spezialist der Romanbiographie, also des Vermischens von Fakten mit Fiktion, hat wieder zugeschlagen, er hat ein brisantes Thema gewählt und gekonnt provokant umgesetzt. Es ist ein äußerst origineller Versuch, die Psyche dieses Menschen zu erklären; fernab von den bekannten und ausgetretenen Pfaden. Der Autor begeht dabei aber nicht den Fehler, alle Schuld an den Nazi-Verbrechen den teuflischen Mächten zuzuschreiben. In einer Schlüsselszene, in der Klein-Hitler seinem Vater begeistert zusieht, wie dieser einen Stock mit kranken und schwachen Bienen vergast, wird im nächsten Satz ein Kausalzusammenhang mit späteren Ereignissen abgelehnt; der freie Wille des Menschen steht im Vordergrund, auch wenn er durch frühkindliche Eindrücke geprägt ist. Das Buch liefert Denkanstöße statt Erklärungen für Dinge, die nicht erklärbar sind. Oder um es mit Mailer zu sagen: „Was die Teufel überlebensfähig macht ist, dass wir weise genug sind zu verstehen, dass es keine Antworten gibt – es gibt nur Fragen.“

Der Roman ist betont locker geschrieben; streckenweise amüsant, zum Beispiel in den Schilderungen vom täglichen Wettstreit der Engel und Teufel um die Menschenseelen und er ist auch spannend, etwa wenn der Erzähler Österreich zeitweise verlassen muss, um für Aufruhr im zaristischen Russland zu sorgen und so das Feld zu bestellen für künftige Geschehnisse dort. Mailer ist ein Meister der Sprache und der Erzählkunst, er versteht sein Handwerk wie kaum ein zweiter und hebt sich wohltuend ab vom großen Einheitsbrei der meisten Werke zeitgenössischer US- Literatur; ohne Zweifel einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Ohne Einschränkungen absolut lesenswert!


Genre: Romane
Illustrated by LangenMüller

Billard um halbzehn

Ein Tag i41gLwiF6FyL._SX312_BO1,204,203,200_m September 1958: Der rheinische Architekt Heinrich Fähmel begeht seinen 80. Geburstag, es ist die Zeit für Erinnerungen, für Rückblenden, nicht nur für ihn, sondern für die ganze Familie. Seine Frau, die im Irrenhaus lebt, ohne verrückt zu sein; sie erträgt nur das „normale“ Leben nicht und will endlich Rache nehmen (muss haben ein Gewehr) für die toten Kinder. Sein Sohn Robert, ebenfalls Architekt, der die vom Vater erbaute Abtei St. Anton in den letzten Kriegstagen sprengte, aus Hass auf die Nazis und ihre Kollaborateure, Mönche, die die Lämmer nicht geweidet haben, sondern stattdessen die Lieder der Faschisten sangen. Und auch Heinrich Fähmel selbst erinnert sich schmerzlich daran, wie er sein Lachen verlor, weil er erfahren musste, dass Ironie nicht ausreichte und nie ausreichen würde.

“Billard um halbzehn“ von Heinrich Böll ist eines jener Bücher, die mich in der Jugend fasziniert, begeistert und geprägt haben; ich habe es mehrmals geradezu verschlungen. Für diese Rezension las ich den Roman nun erneut und stellte erfreut fest, dass er immer noch funktioniert, der Zauber ist nicht verflogen. Natürlich ist der Stoff in erster Linie eine Abrechnung mit der Nazi-Zeit, dennoch hat er in meinen Augen nicht an Aktualität eingebüßt, da er sich grundsätzlich mit Fragen des menschlichen Charakters beschäftigt. Täter und Opfer, und Opfer die manchmal zurück schlagen, ohne dass sie deshalb zu Tätern werden. Opportunisten, die sich in jedem politischen System zurechtfinden und andere, die das eben nicht können, auch nicht vergessen und vergeben, denn sie sind nicht Gott und können sich seine Allwissenheit so wenig anmaßen wie seine Barmherzigkeit.

Die Charaktere sind streng eingeteilt in Gut und Böse, viel Spielraum für Zwischentöne bleibt nicht, sie kosten entweder vom „Sakrament des Büffels“ oder vom „Sakrament des Lammes“. Böll, der rigorose Moralist, fordert klare Entscheidungen, mit allen Konsequenzen, die dann zu tragen sind, in einer Zeit, in der eine Handbewegung das Leben kosten kann. Die Sprache, mit der er dies vorträgt ist ungeheuer intensiv, jedes Wort ist wichtig. Wie in fast allen seinen Romanen ist auch in „Billard um halbzehn“ die Konfrontation mit der katholischen Kirche wieder ein Thema, sie steht zwar nicht im Vordergrund wie bei „Ansichten eines Clowns“, aber sie ist da. Böll nimmt die Kirche beim Wort, er misst sie an ihren eigenen Ansprüchen und stellt fest, dass sie diesen nicht gerecht wird. Gewogen und zu leicht befunden.

 


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Miss Blackpool

Miss BlackpoolWir schreiben die bewegten 60er Jahre und kurz bevor Barbara, ein junges ehrgeiziges Mädchen, sich zur „Miss Blackpool“ krönen läßt, wird ihr klar, dass es nicht das ist, was sie will.

Denn ihr wirklicher Traum ist es, in die Fußstapfen der bewunderten Komödien-Schauspielerin Lucille Ball zu treten. Kurzentschlossen verlässt sie das vom Arbeitermilieu geprägte Nord-England, geht ins swinging London, ändert ihren Namen in Sophie Straw und schon nach kurzer Zeit entzückt sie die britische Fernsehnation als frischer Stern am Comedy-Himmel in einer Sitcom, die in ihrem Herkunftsmilieu spielt und ausgerechnet Barbara (and Jim) heisst.

Diese Zeit, vor allem die hinter den Kulissen verbrachte Zeit mit allen Mitwirkenden, wird die beste Zeit ihres Lebens werden. Doch irgendwann lassen sie alle das Skript zu nahe an sich heran und sie beginnen, die Dramen aus der Serie auf ihr eigenes Leben zu übertragen. Plötzlich sehen sie sich alle vor eine Wahl gestellt. Die Drehbuchautoren Tony und Bill, von Haus aus Comedy-Besesssene, verbergen beide ein Geheimnis. Doch während der eine Frau und Kind zu versorgen hat, fühlt der andere sich zu Höherem berufen. Regisseur Dennis hasst seine Ehe, aber er liebt seinen Job (und scheinbar aussichtslos Barbara/Sophie). Der männliche Co-Star Clive steht sich vor allem selbst im Weg. Sie alle müssen entscheiden, ob und wie sie weitermachen wollen oder ob sie sich für ein anderes Programm entscheiden.

Soweit der Inhalt von „Miss Blackpool“, den neuen Roman des britischen Kultautors Nick Hornby. Hätte man mir dieses Buch als „blind audition“ in die Hand gedrückt und mich gebeten: „Rate den Autor. Kleiner Hinweis: Du hast auch sonst jede Zeile von ihm gelesen“ – ich hätte mich schwer getan, dieses Buch einwandfrei als „einen Hornby“ zu identifizieren. Was an sich ja so schlecht gar nicht sein muss. Jeder Autor will sich weiterentwickeln, muss es sicher auch. Aber – was sich schon bei seinen letzt erschienenen Short Stories andeutete, ist jetzt zur Gewissheit geworden: Nick Hornby weiß ganz offensichtlich nicht, wohin er sich entwickeln soll oder (schwerwiegender) entwickeln kann.

Aber auch so war mein erster Gedanke: Was bitte gibt das jetzt? Mad Men für die englische Landbevölkerung? Muss jetzt unbedingt der Nächste auf den gerade so beliebten Zug der Sechziger-Jahre-Nostalgie aufspringen? Das Ganze dann auch noch gegossen in eine Gemengelage aus selbstmitleidigem Gejammere, möglicherweise autobiographisch gefärbten Problemen (die zerrissenen Drehbuchautoren Bill und Tony!) und Milieustudie. Nicht nur die titelgebende Beinahe-Miss-Blackpool gerät seltsam blutleer. Dass weibliche Figuren in Hornby Romanen oft zu holzschnittartig geraten, ist nichts Neues, aber dass das ganze Buch einem eigenartig fremd bleibt, schon.

Es ist auch das erste Mal, dass mit der Tradition gebrochen wird, einen Nick-Hornby-Roman in Deutschland mit demselben Titel zu veröffentlichen wie im Original. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, aber man kommt nicht umhin zu bemerken, dass es in diesem Fall angebracht war. Denn was Barbara/Sophie zum „Funny Girl“ (so der Originaltitel) macht, bleibt tatsächlich unklar. Der Autor erzählt uns unermüdlich von ihrem außergewöhnlichen komischen Talent, aber nicht ein einziges Mal kann man mit ihr oder über sie lachen.

Es ist wohl so, dass Dinge, die auf der Bühne oder auf einem Bildschirm lustig wirken, in einem Buch nicht witzig rüberkommen. Außerdem bleibt Hornby nicht bei seiner Hauptperson. Er mäandert von einem Charakter, von einer Nebenlinie zur anderen und Barbara/ Sophie wird eher zum Rahmen für die männlichen Psychodramen.

Die frische, leichte Überzeichnung und die daraus resultierenden Schrulligkeiten der handelnden Personen, für die Nick Hornby berühmt und geliebt wurde, fehlen fast völlig. Während Hornby das Buch erkennbar dazu nutzen möchte, sogenannte leichte und gut gemachte Unterhaltung zu verteidigen, geht ihm selber jegliche Leichtigkeit verloren. Ganz klar nutzt er seine eigentlichen Stärken nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ihm die gewählte Zeit nicht vertraut ist und er zuviel Energie auf originalgetreue Darstellung verwendet hat. In seinen bisherigen Büchern schöpfte er im wesentlichen aus eigenen Erfahrungen und schrieb über Dinge und Zeiten, die ihm vertraut waren. Möglicherweise sind es deswegen auch die Figuren der Drehbuchautoren, die dem Leser am vertrautesten werden und mit denen er am meisten mitfiebert.

Seine schönsten Geschichten schrieb Hornby immer, wenn er von den Überraschungen erzählte, die das Leben für jeden von uns bereithält. Das zeigt auch der wehmütige, aber liebevolle und schöne Epilog. Man mag bemängeln, dass der eigentlichen Thematik des Buches ein richtiges Ende fehlt und es nur ein Kunstgriff ist, das Buch mit einem Epilog zu beenden, der in der Gegenwart spielt. Doch so gibt der Epilog dem Buch ein zwar melancholisches, aber versöhnliches Ende.

Miss Blackpool ist Hornby erster Roman nach 5 Jahren, in denen er hauptsächlich als Drehbuchautor gearbeitet hat. Bleibt die Hoffnung, dass er damit nicht einen weiteren Schritt „a long way down“ macht. Dennoch: Enttäuscht werden eher die eingefleischten Hornby-Fans sein, deren Erwartungen zugegebenermaßen sehr hoch hängen. Wer zu „Miss Blackpool“ greift und leichte, gut gemachte Unterhaltung sucht, wird sich mit diesem Buch nicht schlecht bedient finden.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de  


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Im Aufruhr jener Tage

41tgFUvy6SL._SX327_BO1,204,203,200_Vorweg: Ich habe das Buch im amerikanischen Original gelesen, zur Qualität der Übersetzung kann ich also nichts sagen.

Boston 1918: Der junge Polizist Danny Coughlin soll seinen Vorgesetzten beweisen, dass er für höhere Aufgaben taugt, indem er die überall sprießenden Gruppen von Anarchisten und Bolschewiken infiltriert; auch in den Polizeigewerkschaften soll er Informationen sammeln für seinen Vater, der Polizeichef ist und dessen Freunde, allesamt honorige Mitglieder der Stadtelite.

Luther Laurence ist ein junger Schwarzer, frisch verliebt und werdender Vater, der hofft, sein ganz persönliches Stückchen Glück zu finden, als er nach Tulsa kommt, wo der Erdölboom in vollem Gange ist. Doch die Verhältnisse, die sind nicht so, Luther gerät schnell auf die schiefe Bahn und als der Chef seiner Gang tot am Boden liegt lässt er Frau und Ungeborenes zurück und flieht alleine nach Boston’

»The Given Day« (so der Originaltitel) ist der erste Teil einer Trilogie (Teil zwei »Live By Night«, Teil drei »World Gone By«) und es war kein Geringerer als Stephen King himself, der mir via Twitter diese Bücher empfahl. Und was soll ich sagen, der Roman ist einfach großartig. In diesem epischen Meisterwerk werden viele Geschichten erzählt, von Familie, Freundschaft, Liebe und Hass, vom Erwachsenwerden, vom Kampf des Individuums gegen die Verhältnisse, von Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, vom Leben in all seinen Facetten. Der Autor erledigt das stets voller Empathie, seine Protagonisten sind alles andere als eindimensional, nicht nur schwarz oder weiß.

Ganz nebenbei lehrt das Buch auch Geschichte, der historische Hintergrund ist stets präsent, die Grippeepidemie von 1918 kommt ebenso darin vor wie die Baseballlegende Babe Ruth. Dieser spannende Zeitabschnitt in den USA ist geprägt von Rassen- und Klassentrennung, von Armut und Korruption, aber auch vom Aufbegehren der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Beherrschten gegen die Herrschenden. Dennis Lehane fesselt mit seiner herrlichen Erzählweise den Leser, trotz des beachtlichen Umfangs des Buches kommt nie Langeweile auf und ich freue mich schon sehr auf die weiteren Bände!


Genre: Romane
Illustrated by List München

Otis

Es gibt Bücher, die einen ratlos zurücklassen, bei deren Lektüre man sich ernsthaft fragt, was in aller Welt der Autor hat mitteilen wollen.

Schlimmer noch: Wollte er dem Leser überhaupt etwas mitteilen oder wollte er einfach nur mal all seine Gedanken aufschreiben und loswerden? Am allerschlimmsten: Wenn man am Ende des Romans angelangt ist, es nicht ungern gelesen und sich nicht gelangweilt hat, aber trotzdem nicht weiß, ob einem das Buch gefallen hat, ob man aus der Lektüre jetzt etwas für sich mitnimmt. So ein Buch ist für mich „Otis“, der erste Roman von Jochen Distelmeyer, dem hochgelobten Sänger und Texter der ehemaligen? wiedervereinigten? (man weiß es derzeit nicht so genau) Hamburger Band Blumfeld.

Distelmeyer erzählt vom Leben, Wirken, und Denken seines Helden Tristan Funke, von seinen wolkigen Träumen und seinen gelegentlichen Stippvisiten auf dem Boden der Realität. Tristan ist erst vor kurzem von Hamburg nach Berlin gezogen, um über die Trennung von seiner langjährigen Liebe hinwegzukommen. Einen gutbezahlten Job hat er deswegen geschmissen, nun ist er unter die Schriftsteller gegangen. Sein Thema ist die Odyssee, darunter macht er es nicht. Natürlich übertragen in die Neuzeit. Sozusagen Metaebene auf der Metaebene in der Metaebene.

Der Held in Tristans Buch ist Otis, ein moderner Anti-Held auf der Flucht, angelehnt an die Figur des berühmt berüchtigten Kim Dotcom. Während Tristan – meist erfolglos – an seinem Buch rumdoktert, erlebt er in der Hauptstadt so etwas wie seine persönliche Odyssee.

In Tristans Lebens gibt es genug, wovor er nur zu gerne flüchten mag. Vor gleich zwei Frauen, mit denen er zeitgleich Liebschaften unterhält, während er sich eigentlich eher für eine Dritte interessiert. Vor dem Intellektuellen-Gehabe der neugewonnenen flüchtigen Hauptstadt-Bekanntschaften, mit denen er doch eigentlich so gerne konkurrieren möchte. Vor dem ganzen Elend bundesrepublikanischer Wirklichkeit in den Zehner-Jahren des noch jungen Jahrtausends. Tristan – so scheint es – ist geradewegs von der Pubertät in die Midlife-Crisis gerutscht.

Jochen Distelmeyer ist ein belesener, ein gebildeter, sehr kluger Mensch, der kluge Gedanken noch klüger zu formulieren weiß. Er kann wunderbar mit Worten umgehen, sie zu melodischen, lange nachklingenden Sätzen zusammensetzen. Es ist eine Freude, diese Sätze zu lesen, einfach um der Sätze willen. Formulieren also kann er, eine Handlung stringent erzählen hingegen eher nicht.

Wikipedia merkt zur Band Blumfeld an, dass deren Texte „eigene Gefühlswelten mit Gesellschaftskritik“ verbinden. Sehr gelungene Formulierung, die sich eins zu eins auf „Otis“ übertragen lässt. Denn genau das ist es, was in diesem Buch passiert. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr. Das, was in Songtexten so ganz wunderbar funktioniert, lässt sich eben nicht so einfach in Romanform übertragen. Zumal die Gesellschaftskritik an jeder Stelle so wirkt, als habe Distelmeyer sie einfach unbedingt unterbringen wollen, um jeden Preis. Auch um den Preis, dass die behandelten Themen selten etwas mit der ohnehin schon recht dürftigen Romanhandlung zu tun haben. Schlussendlich hat man das Gefühl, einfach nur aneinander montierte Szenen gelesen zu haben, die sich bei allem spürbaren Bemühen einfach nicht verdichten wollen.

Distelmeyer scheint wie sein Protagonist Tristan der Meinung zu sein, dass die Bevolkerung quasi in der „Sicherheit ausländischer Krisensituationen gewiegt wird“, während „allen im Innersten längst klar ist, dass das Spiel an sich längst gelaufen ist.“ So. Das muss mitgeteilt werden, das muss endlich mal allen klar werden. Und wenn man es in einen Roman presst, damit es nicht nur eingefleischte Blumfeld Anhänger zu hören/lesen kriegen.

Das liest sich streckenweise spannend, zum Beispiel wenn Distelmeyer sein schwelendes Unbehagen am Umgang mit jüngerer deutscher Geschichte am Beispiel des Berliner Holocaust-Mahnmals erzählt. Da ist es eigenartig berührend, wenn man selbst miterlebte Geschichte in Romanform erzählt bekommt und gleichzeitig bestürzend offenlegend, wie absurd doch so vieles ist.

Aber kein Thema ist abseitig genug, um nicht irgendwie noch in den Roman hineingequetscht zu werden. Wozu geht Tristan auf schicke Partys, wenn nicht, um die dort entstehenden Dialoge für Gesellschaftskritik zu nutzen? Da kann man gerne schon mal über Cern in Genf als das „Ground Zero für Urknall-Traumatisierte“ philosophieren. Schön formuliert, griffig, wohlklingend, aber was genau soll das dem Leser jetzt sagen?

Überdruss macht sich da schnell breit, vor allem auch, wenn kaum einmal etwas auch von einem zweiten Standpunkt aus betrachtet und so ungewollt das Vorurteil vom weltfremden Kulturschaffenden genährt wird. Sehr schön zu sehen am Exkurs über den Verlag Behrmann, wohl angelehnt an die jüngere Geschichte des Suhrkamp-Verlags. Alles richtig, alles wahr, aber alles auch nur aus der Sicht des Literaten betrachtet. Dass es auch noch andere Dinge gibt, die das Zusammenleben regeln, Gesetze beispielsweise – das schenkt Tristan/Distelmeyer sich durch elegantes Weglassen. Dadurch reduziert er seine ihm doch so am Herzen liegende Gesellschaftskritik auf eine trotzige Pippi-Langstrumpf-Ich-mach-mir-die-Welt-wie-sie-mir-gefällt-Attitude.

Dazu kommt, dass vieles im Buch sehr Berlin-spezifisch ist und für den, der nicht so mit der Welt der Promis und Hipster in der Hauptstadt vertraut ist, schwer zu enträtseln. Kann man sich immerhin gut in Tristan hereindenken, dessen nordisch-grüblerisches Wesen in der Hauptstadt auch weit weniger gefragt ist als das im Buch nicht ungeschickt gezeichnete intellektuell verbrämte, überhebliche Weltenerklärer-Gehabe. Tristan befindet sich da in einem Zwiespalt und Distelmeyer mit ihm. Nie weiß man genau, was ihn eigentlich treibt und schon gar nicht warum. Wut? Überhöhtes Selbstverständnis? Resignierte Melancholie der intellektuellen Boheme?

Viel authentischer, viel empathischer und glaubwürdiger wirkt Distelmeyers Roman dafür an den Stellen, an denen er die Gesellschaftskritik einfach beiseite lässt und von den Leuten erzählt, mit denen Tristan sein Leben verbringt. Cousine Juli und Freund Ole beispielsweise sind so fein entworfen, so lebensnah, darüber hätte man gerne mehr gelesen. Genauso wie über das Romangeschehen auf der Meta-Ebene. Die Geschichte von Otis als modernem Odysseus ist eine großartige Idee, liest sich auch in Ansätzen so schön, dass man sich bei dem Gedanken ertappt, lieber als Tristans Irrwege durch Berlin hätte man diese Geschichte gelesen. Doch auch Distelmeyers Auslassungen zu Odyssee und Orestie sind weit hergeholt und verschwurbelt. Es ist eine Odyssee der Ziellosigkeit.

Erstveröffentlichung in den Revierpassagen am 20.04.2015 


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Wald

Ein Haus in den Voralpen. Tief im Wald, in der Nähe ein Fluss, Idylle pur. Marian lebt allein in diesem Haus. Im Garten baut sie Gemüse an. Davon und von dem, was sie sonst noch so findet, ernährt sie sich.

Ab und an angelt sie ein Festmahl, dazu gibt es selbstgebackenes Brot, zum Dessert einen selbstgebackenen Apfelkuchen. Wärme spendet ein Holzofen, befeuert aus dem sorgsam gestapelten Holz hinter dem Haus. Ihr Tagesablauf wird nur durch die Grundbedürfnisse vorgegeben: Essen, schlafen, es warm haben. Keine Termine drängen sie, Telefonate führt sie nur äußerst selten, einen Email-Account besitzt sie nicht mehr. Ihre Kleidung näht sie aus alten Stoffresten, das kann sie besonders gut, das hat sie gelernt.

Denn – das ist die Kehrseite der Medaille: Kleider entwerfen, das war ihr Beruf, ihre Berufung. Marian ist nicht freiwillig dort in diesem Haus im Wald. Ihre primitive Autarkie ist unfreiwillig, sie hat alles verloren. Noch vor wenigen Monaten lebte sie als gefeierte Designerin in der Großstadt und schneiderte den Damen der Gesellschaft edle Roben auf den Leib. Sie residierte in einer hochherrschaftlichen Wohnung, ernährte sich biologisch wertvoll und hätte niemals diesen schnöden Filterkaffee getrunken, der sie heute so beglückt.

Doch dann kam die Finanzkrise und fatalerweise ignorierte sie die ersten warnenden Anzeichen. Die Vorstellung, irgendwelche Lehman-Brüder, von denen sie nie gehört hatte, könnten sie und ihr Geschäft bedrohen, empfand sie einfach nur als absurd. In einer fatalen Mischung aus Größenwahn und hormonvernebeltem Tun ob des neuen attraktiven Lovers eröffnete sie einen Flagship-Store, dessen Miete sie bald nicht mehr bezahlen konnte und segelte unaufhaltsam in einen spektakulären Bankrott.

Ihre Schulden sind so hoch, dass ein Leben alleine niemals reichen würde, um sie abzuzahlen, auch wenn sie sich zunächst als Näherin am Stadtrand die Finger blutig näht. Dann lieber der totale Rückzug in den Wald, in ein Haus, das ihr niemand nehmen kann, weil es ihr gar nicht mehr gehört. Es ist das Erbe einer Tante und in einem Moment der Klarsicht hat sie es auf ihre Tochter überschrieben. Die Tochter, die sie kaum kennt, weil sie das Kind der Karriere wegen beim Vater gelassen hat.

Geschickt spielt die österreichische Autorin Doris Knecht in ihrem neuen Roman „Wald“ mit zwei großen Themen, die derzeit die Mittelschicht umtreiben: die Sehnsucht nach dem sogenannten einfachen, selbstbestimmten Leben auf dem Lande und die Angst vor dem Absturz aus der bürgerlichen Welt, der angesichts immer neuer Unsicherheiten stets nur einen Schritt entfernt zu sein scheint.

Man nähert sich dieser Erzählung mit schon fast voyeuristischer Neugier. Nicht, dass man sich am Unglück von Marian (die eigentlich Marianne heisst, die vermeintlich schicke Abkürzung bewahrt sie als letzte Reminiszenz an ihr altes Leben) weidet. Nein, es ist jedem klar, dass es passieren kann, jederzeit und überall. Auch Marian hat keine gravierenden Fehler gemacht, „manchmal übernehmen eben die Umstände das Leben“. Als Leser will man wissen, wie es sein wird, wie es sein kann, wenn die Existenz zerbricht und man auf sich selbst zurückgeworfen wird. Gibt es dann wirklich eine Chance für das Aussteigerleben, von dem so mancher heimlich träumt?

Doris Knecht, deren erster hochgelobter Roman „Gruber geht“ bereits verfilmt wurde, ist für ihre messerscharfen Analysen von Lebenssituationen bekannt. Eindeutige Antworten gibt sie hingegen nie, auch in „Wald“ nicht, Schlußfolgerungen überläßt sie dem Leser. Bei ihr gibt es kein „richtig“ oder “ falsch“, weder verherrlicht sie das Aussteigerleben, noch verdammt sie das snobistische Dasein in der Stadt. Auch ihre Figuren haben Brüche und Widersprüche. Ihre Marian zeichnet sie distanziert, geradezu kühl. Dass man sich ihr als Leser trotzdem nahe fühlt, liegt an der Projektion, die man unwillkürlich vornimmt. Ein Stückchen Marian steckt in jedem von uns und wenn nicht, kennt doch jeder eine Marian in seinem Umfeld.

Doris Knechts Marian bleibt allen Widrigkeiten und gelegentlichen Anfällen von Resignation zum Trotz eine Kämpferin. Sie entdeckt unbekannte Fertigkeiten und Talente an sich. Dinge, die sie früher unbekümmert „outsourcte“, gehen ihr nun leicht von der Hand. Ein Opfer ist sie nicht, war sie nicht und will sie auch jetzt nicht sein, wo sie zu allem Überfluss auch noch von der alteingessenen eingeschworenen Dorfgemeinschaft angefeindet wird.

Allerdings gibt es da noch Franz, den heimlichen Herrscher über das Land, auf dem sie lebt. Franz, der Großgrundbesitzer, der sich um sie und ihre Holzvorräte kümmert, ihr kleine dringend benötigte Geschenke macht und sich seine vorgeblich nächstenliebende christliche Fürsorge in der einzigen Währung bezahlen lässt, die Marian noch geblieben ist. Diese Beziehung läßt sich nicht so einfach in ihr neugezimmertes Weltbild einordnen. Wird sie dadurch wirklich zur „Hur“, wie ihr ein Unbekannter auf die Haustür geschmiert hat? Oder hat nicht jede Beziehung letzten Endes ihre eigene Ökonomie?

Doris Knecht erzählt klar, uneitel und ohne jede Sentimentalität. Obwohl man der Autorin eine gewisse Affinität zu Schachtelsätzen nicht absprechen kann, erzählt sie den Roman in hohem, forderndem Tempo, die Härte vieler Sätze lediglich durch österreichische Klangfärbung abgemildert. Und ihr Roman endet mit einem Lichtblick.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen am 13.07.2015 


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Konzert ohne Dichter

Konzert ohne DichterAusgehend von einem berühmten Gruppenbild des Jugendstil-Stars Heinrich Vogeler schildert »Konzert ohne Dichter« Szenen aus der legendären Künstler-Kolonie Worpswede. Der Präraffaelit Vogeler hatte in seinem 310 x 175 cm großen Gemälde »Das Konzert« seine Frau Martha porträtiert, die an einem Sommerabend der Jahrhundertwende auf der Eingangstreppe vor ihrem gemeinsamen Wohnsitz Barkenhoff steht. Zu den Füßen der Frau, die in die Ferne blickt, liegt ein russischer Windhund. Auf der rechten Seite sitzen drei Musiker, darunter der Maler selbst am Cello, halb verdeckt durch seinen Bruder Franz an der Violine. Sein Schwager spielt Flöte. Zur Linken sind prominente Künstler aus dem Künstlerdorf abgebildet. Die »Malweiber« Paula Modersohn, Agnes Wulff und Clara Rilke-Westhoff sind zu sehen. Im Hintergrund steht der bärtige Otto Modersohn. Nur ein Mitglied der damaligen Barkenhoff-»Familie« fehlt: Das ist der Dichter Rainer Maria Rilke, dessen Bildnis Vogeler, der fünf Jahre lang an dem Bild arbeitete, wieder löschte.

In seinem höchst feinfühligen Künstlerroman schildert Klaus Modick, wie es zu dem Zerwürfnis zwischen dem berühmten Maler und dem nicht minder bekannten Dichter kam. Der Autor beschreibt drei Tage im Leben Heinrich Vogelers und nimmt dies immer wieder zum Anlass, die Gedanken seines Protagonisten in die Vergangenheit wandern zu lassen. Das biographisch angelegte Werk klingt am Freitag, den 9. Juni 1905 in Oldenburg aus. An jenem Tag wurde »Das Konzert« auf der Nordwestdeutschen Kunstausstellung gezeigt und Vogeler mit der Goldmedaille für Kunst und Wissenschaft geehrt.

Angeregt durch Tizians Gemälde »Das ländliche Konzert« hatte der Kunstgewerbler, der Möbel, Gebrauchsgegenstände, Kleidung und Schmuck entwarf, ein monumentales Gruppenbild geschaffen, das auf den ersten Blick wie ein Idyll wirkt. Dem Blick des aufmerksamen Betrachters entgeht jedoch nicht die Konstellation, in der die Figuren stehen, und so hatte Vogeler auch allen Grund, seinen »Seelenverwandten« Rilke auszusparen. Der stets recht blasiert auftretende Dichter hatte trotz geringer körperlichen Größe oder Schönheit einen Schlag bei Frauen, die er mit seinen weltentrückten Versen in Bann schlug. Vogeler rückte ihn in seinem Bild anfangs aufgrund einer Ménage-à-trois, in die sich Rilke verwickelt, mal näher an Paula Modersohn-Becker heran, mal näher an seine spätere Ehefrau Clara Westhoff. Als er erfährt, dass der krankhaft narzisstische Rilke sein eigenes Kind zu Pflegeeltern gibt, um seine Ruhe zu haben, streicht er ihn vollends aus dem Bild.

Während sein Gemälde in der Öffentlichkeit als Meisterwerk gefeiert wird, will der 33-jährige Vogeler nur noch dem goldenen Käfig Worpswede entfliehen. Sein Bild ist insofern Resultat eines dreifachen Scheiterns: Seine Ehe mit Martha kriselt, sein künstlerisches Selbstverständnis wankt, und die vermeintliche Freundschaft zu Rilke zerbricht. Tatsächlich bricht Vogeler bald zu neuen Ufern auf. Er reist durch die Welt und erlebt mit eigenen Augen die sozialen Widersprüche. Erfahrungen im Ersten Weltkrieg machen ihn zum radikalen Pazifisten, der sich während der Novemberrevolution 1918/19 auf die Seite der aufständischen Arbeiter und Soldaten schlägt. Nach Reisen in die Sowjetunion wird der Barkenhoff zu einer sozialistischen Künstlerkommune und dann zu einem Kinderheim der »Roten Hilfe« umgestaltet. Die Nazis zerschlagen schließlich den Barkenhoff, Vogeler geht ins sowjetische Exil, wo er am 14. Juni 1942 stirbt.

Autor Klaus Modick verwebt höchst kunstsinnig historische Fakten mit Rilke-Zitaten, Vogeler-Äußerungen und narrativen Mutmaßungen. Er bedient sich dabei einer blumenreichen, bisweilen kitschig-ornamentalen Sprache, um seinem Gegenstand wie dem Zeitgeist jener Epoche nahe zu kommen. Dies führt zu einem ebenso lyrisch einfühlsamen wie spannenden Gesellschaftsroman, der in seiner Kunstfertigkeit einzigartig ist. Im Ergebnis ist »Konzert ohne Dichter« ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art.


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Zeiten ändern Dich

81Qu-QYh3YL._SL1500_Alexander sitzt im Knast. »Betrug zum Nachteil einer Bank« lautet sein Vergehen. Der Betrüger war als eine Art externer Kreditsachbearbeiter für eine Schweizer Bank tätig, beriet Kunden, Kreditanträge auszufüllen, damit sie an Geld kamen und fälschte dabei gekonnt die Zahlen. Fünfundzwanzig Jahre gab er sich dieser Tätigkeit hin, bis er auf die Idee kam, nicht immer nur die Kunden, sondern zur Abwechslung auch mal die Bank selbst zu bescheißen. Dabei wurde er jedoch von einem Neidhammel aus dem Rechenzentrum des Geldinstituts anonym angezeigt.

Im Knast lernt er einen Mithäftling kennen, der ihn vor einem Schläger in Schutz nimmt und dem er daraufhin blauäugig vertraut. Nach zweieinhalb Jahren wird der inzwischen 52-jährige entlassen und begegnet Lena, einer Prostituierte, die ihn aufnimmt. Er landet in einem Bordell und erfährt die Lebensgeschichte der Frau, die sich am Mörder ihrer Tochter rächen wollte, dabei aber den Falschen erledigte und dafür acht Jahre absitzen musste.

Alexander will nach Zürich an sein Geld, das auf einem Nummernkonto liegen müsste. Die dreiviertel Million wurde jedoch während seines Zwangsurlaubs von dem Herrn, dem er im Knast vertraute, abgeräumt. Der heißt in Wirklichkeit, wie er bald erfährt, Pavel Kirillov und ist angeblich ein gefährlicher Neonazi.

Der Verfassungsschutz, der ebenfalls an Kirillov interessiert ist, zwingt ihn dazu, Pavel zu kontaktieren und finanziert ihn. Der bietet ihm einen Job in einem illegalen Bordell an, in dem Safari-Simulationen mit blutjungen Mädchen gespielt werden. Pavel vertraut im und setzt ihn als Geldkurier ein. Nun hält Alexander seine Stunde für gekommen, sich sein gestohlenes Vermögen zurückzuholen. Dabei gerät er zwischen die Mühlsteine von organisiertem Verbrechen, Verfassungsschutz und Kreisen, die unter dem Deckmantel der angeblichen Jagd auf Neonazis ihre eigene Politik betreiben.

Bordelle und Gefängnisse sind die Universitäten des Lebens, schreibt Autor Detlev Crusius, der sich hinter dem Pseudonym Eddy Zack verbirgt. Crusius hat dort mehrere akademische Grade erworben und mit diesem Buch in gewisser Weise ein Stück eigenes Erleben zu Papier gebracht. So zählen die Schilderungen der Abläufe im Gefängnis, das Verhalten der Häftlinge untereinander und die Risiken und Nebenwirkungen, die ein Aufenthalt hinter schwedischen Gardinen mit sich bringt, zu den emotional stärksten Szenen dieses ansonsten in lakonischem Stil geschriebenen Roman.

Der Leser spürt Authentizität, wenn Zack/Crusius schreibt: »Wer es nicht erlebt hat, kann nicht verstehen, was man mit Schweigen und Dunkelheit alles erreichen kann. Körperliche Schmerzen sind überflüssig. Dunkelheit und Nichts, das reicht.« Ebenso dicht sind auch die Beschreibungen der Welt der Bordelle wie die Szene vom Heiligabend im Puff, der ganz großes Kino ist.


Genre: Romane
Illustrated by Kindle Edition

Zanskar und ein Leben mehr

Zanskar, Ort und Kloster tief im tibetanischen Himalaya. Dorthin verschlägt es Dölma auf der Suche nach ihren Wurzeln. Sie wuchs bei Zieheltern in der Schweiz auf, Flüchtlingskind, nie richtig angekommen, auch als Ehefrau nicht oder in der Mutterrolle. Schreiben verschafft ihr ein Stück Heimat entdeckt Dölma, als sie im fremden Geburtsland ihrer Bestimmung folgt und sich einer Nonne anschließt, sodass sie Teil wird der Rituale, Gesänge und Gebete eines buddhistischen Klosters.

Nach zehn Jahren in denen Dölma als verschollen gilt benachrichtigt ein Brief aus Nepal ihre Tochter Pema-Marie, dass die Tagebücher in Kathmandu gefunden wurden. Pema-Marie begibt sich auf eine mannigfache Spurensuche: sie, die Wissenschaftlerin, begegnet einer spirituellen Glaubenswelt, Schamanen, ihrer Vergangenheit, verdrängten und verhärteten Schichten ihrer Psyche.

Facettenreich wie ein Juwel schillern die unterschiedlichen Ebenen des Romans. Gehalten in das Licht der diversen Betrachtungsweisen funkeln spirituelle Erfahrungen auf, glänzende Einblicke in das Wesen der Seele im Westen lebender Menschen, Ahnungen von Weite und Tiefe der Natur und den Räumen buddhistischer Gedankenwelten.

Feinfühlig geht Ulli Olvedi vor, nie schildert sie spirituelle Erlebnisse vordergründig blendend, nie zerrt sie ihre Protagonisten in ein kaltes Licht der akribischen Analyse, welches die Figuren bleich und hässlich aussehen lässt; selbst die typischen Verkorkstheiten Pema-Maries, ihre westlich-starren Denkmuster, die seelischen Verkrustungen beleuchtet die mitfühlende Art der Autorin so, dass Pema in einem sympathischen Licht erscheint.

Auch politisch bezieht der Roman Stellung: die chinesische Herrschaft über Tibet wird massiv angeprangert; und bei aller Klarheit und Schönheit, die das Leben der Nonnen im Kloster Zanskar bestimmt, übersieht die Autorin nicht die paternalistischen Formen des tibetanischen Buddhismus und lässt Dölma über die Freiheit der Frauen im Westen und die Emanzipation dozieren. Geschickt dann zeigt Olvedi anhand der Neurosen und Erstarrungen Pema-Maries, wie wenig wahre geschlechtliche Unabhängigkeit im Westen gelang, wie sehr die Frau vom leistungsfixierten Urteil des Vaters, sowie durch intellektuelle Selbstzensur von ihrem Leben abgeschnitten in ihrem wertenden überkritischen Denken dahinrotiert.

Olvedi zeigt Auswege, lässt ihre Figuren nicht in modernen Ohnmachtsphantasien abstumpfen und versumpfen.
Sie ist so weise, nicht auf alle Fragen willfährig zu antworten: das Konzept der Wiedergeburt beinhaltet die Gefahr, Hierarchien zu rechtfertigen, in die hinein man aus (vor-)bestimmten Gründen inkarniert wird; diesem Thema weicht Olvedi nicht aus… sie reflektiert die Opferbereitschaft der Nonnen, spricht das Für und Wider aus. Letztlich lässt sie einen jungen Rinpoche sagen, dass im Exil starre Strukturen sich zunehmend auflösen. Die Essenz des Inkarnationsgedankens wird ausgesprochen: man sei die Summe aller Wiedergeburten bis dato, es gehe nicht um Strafe oder Schuld, sondern besäße konkret jetzt die Möglichkeit, aus dem Vergangenen zu lernen und sein Leben zu ändern…
Bei all den subtil verpackten essentiellen Aussagen, die Olvedi trifft, ist ihr schriftstellerisches Talent so groß, Predigten von der Kanzel herab vermeiden zu können; nie sind Dialoge zu lang, weil Olvedi mittels ihrer Figuren belehren will, nie wird der Roman trocken oder langatmig. Im Gegenteil: stets zeichnet sie in ihrer einfühlsamen Sprache die Konturen der Landschaft mit, stets agiert der Mensch in die Natur eingebettet, bewegt sich darin wie in einem wundersamen Haus, auch wenn die Gefahren eines Lebens in den Riesen des Himalayas nicht verniedlicht werden: Nonnen murmeln Mantras, ihr Glaube an die Mutter der Buddhas beschützt sie – Tara wacht über ihre Töchter… doch das Sterben gehört zum Alltag wie das Sein.

Olvedis Sprache ist sanft und präzise: ihre Sätze stehen nicht als kalte Felsblöcke im Buch herum, uns als schroffe Lehrgebilde einzuschüchtern. Sie liefert Mimik, Gestik der Figuren mit, emotionale Färbungen, Stimmungen. Dadurch wird ihre Sprache so lebendig, menschlich, und anderseits eben geheimnisvoll, magisch, wo überwältigende spirituelle Erfahrungen faszinieren. Oder existentielle Erschütterungen, wie der Tod, abgemildert freilich durch das Wissen über die Wiedergeburt im Gewand des neuen Körpers, das nun besser um die gereifte Seele sich hüllt.
Oftmals scheinen Olvedis Sätze sich aus dem Buch auf einen Baum zu schwingen, wo sie Vögel werden und jubilierend trällern.

Ein Buch, wertvoll wie ein Diamant, wobei sich vermuten lässt, dass wohl die Sehnsucht des Lesers nach solch mystischen Räumen, die dieser Roman eröffnet, ihn drängt, sich selbst in spirituelle Bereiche, in die Meditation vorzuwagen…

Manfred Stangl


Genre: Romane
Illustrated by O.W. Barth München

Heleneland

Elsa Rieger hat ihr Meisterwerk geschrieben. »Helene« beschwört wie schon in früheren Büchern der Autorin den Geist der Flower-Power-Ära und wird durchweht von der Musik jener farbenfroh-freigeistigen Zeit.

In diesem Fall ist es der geheimnisvolle Lennon/McCartney-Song vom »Nowhere Man« aus dem Jahre 1965, der den Leser in Form einer Marionette durch das Leben einer jungen Frau begleitet. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Twentysix

Hotel Alpha

Das “Alpha” ist eine Institution in London, das außergewöhnlichste Hotel der Metropole und wohl auch sein schönstes. Sein Besitzer, der charismatische Howard York, Selfmademan, Zauberkünstler und Alleskönner, hat sich mit dem Alpha das Reich seiner Träume gebaut. Er ist ein Mensch, der jedem das Gefühl gibt, einfach alles sei möglich. Ganz London liegt ihm zu Füßen und sonnt sich in seinem Glanz und dem seiner Bilderbuchfamilie; der bildschönen Gattin Sarah-Jane, JD, dem ältesten Sohn und Nachwuchsplayboy und dem blinden Adoptivsohn Chas, den Howard dareinst bei einem Brand aus den Flammen gerettet hat.

Für Chas ist das Alpha noch mehr ein Kosmos im Kosmos als für die anderen. Er geht nicht gerne hinaus in die Welt, ihm reicht der Widerhall, den alles, was draußen geschieht, im Alpha erfährt und er findet Halt in den ganz eigenen Regeln des Hotels. Bis zwei Dinge seinen Horizont erweitern – das Internet im noch jungen Computerzeitalter und die Liebe. Sie alle werden begleitet und behütet von Graham, dem unnachahmlichen, einzigartigen, unentbehrlichen Concierge, Seele und guter Geist des Hauses seit dem Tage seiner Eröffnung.

Doch ist wirklich alles so einzigartig, so perfekt wie es scheint? Ist das Alpha wirklich aus Träumen und Visionen erbaut oder gibt es da ein dunkles Geheimnis, eine Lüge gar, die in stillem Einverständnis von allen, die das Alpha lieben und glorifizieren, mitgetragen wird? Erste Risse bekommt das ach so perfekte Gebäude mit dem überraschenden Weggang zweier Mitarbeiterinnen, die vor allem Graham und Chas mehr als nur bloße Kollegialität bedeutet haben. Im Laufe der Jahre verliert Grahams Mantra “”Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben soe, wie sie sind” seinen tröstlichen Charakter. Dinge ändern sich und mit ihnen das Licht, in dem der Held erscheint. Und das führt zu einem der wiederkehrenden Lieblingsthemen Mark Watsons: Manchmal sind es unwesentliche kleine Entscheidungen, die im Nachhinein ein furchtbares Gewicht bekommen.

Einmal mehr ist es dem Briten Mark Watson mit dem “Hotel Alpha” gelungen, einen Kosmos zu erschaffen, den der Leser gerne betritt, mehr noch, von dem er sich wünscht, dazugehören zu dürfen. Die Geschichte des Hotels wird über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten abwechselnd aus der Perspektive Grahams und Chas’ erzählt, wobei sie das Hotel nicht nur glorifizieren, sondern geradezu personifizieren. Howard ist ihr Held, der Charakter, um den sich alles dreht. Dennoch erfährt der Leser nichts aus seiner Perspektive, so dass Howard (fast) bis zum Schluß der unangefochtene Entertainer seiner eigenen Vision bleiben darf.

Obwohl das Hotel vordergründig im Mittelpunkt steht, ist das Hotel Alpha letztendlich eine Familiengeschichte, in eine sehr geschickte, sehr ansprechende Rahmenhandlung gepackt. Der Rahmen des Hotels gibt dem Autor die Gelegenheit, eins seiner größten Talente zu entfalten: Zu zeigen, wie sich Charaktere entwickeln, wie Menschen sich miteinander vernetzen und wie vielfältig sie miteinander verbunden sind. Der Roman entwickelt sich wie eine gehobene Seifenoper für die unterhaltungssüchtige, aber anspruchsvolle Leserschaft. Es gibt die euphorische Anfangszeit, in der alles möglich scheint. Ein Feuer, welches alles beinahe zunichte macht, aber gerade eben nochmal gut ausgeht und so die eigentlich schon da fällige Katharsis um Jahrzehnte verzögert. Den technischen Fortschritt und schließlich eine weitere Beinahe-Katastrophe, die endgültig alle Mitwirkenden zwingt, den Schleier der Illusion zu lüften. Eine großartige Fernsehserie könnte man daraus machen.

Auch Howard ist nur vordergrüding die Person, um die sich alles dreht. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto klarer wird, dass seiin Mythos erst von denen ermöglicht wird, die scheinbar am Rande stehen und “nur” beobachten. Dass der Mythos Alpha, mit ihm der Mythos Howard so lange überlebt, das große Geheimnis so lange gewahrt bleibt, liegt an denen, die es wahren und beschützen, denen die sich nicht trauen, die sie wärmende Illusion aufzugeben. “Wenn das Alpha auch nicht dier reale Welt war, so war es doch die, in der wir lebten.” Es bleibt die Frage, wie geht man mit Veränderungen um, wie nimmt man sie an, ohne seine ureigensten Überzeugungen zu verraten und sich selber treu zu bleiben?

Es hat eine gewisse berückende Logik, dass ein Ausnahmeschriftsteller wie Mark Watson, der schon in seinen vorherigen Romanen mit einem ganz eigenen, besonderen und warmherzigen Schreibstil gefiel, mit dem Hotel Alpha einen so eigenen, besonderen, von Warmherzigkeit gekennzeichneten Ort zum Mittelpunkt eines Romas macht. Das Hotel Alpha und seine Eigentümer zeichnen sich durch eine ganz besondere Atmosphäre, einen sehr speziellen Flair aus – ebenso wie die Bücher von Mark Watson. Auch im “Hotel Alpha” fällt eines wieder besonders auf: Bei aller Begabung zur Lakonie ist Watson ein Autor, der seine Protagonisten aufrichtig mag. Alle. Ausnahmslos. Auch die, die nicht als Sympathieträger angelegt sind. Watson hat für alles Verständnis, nichts Abseitiges ist ihm fremd, er begleitet alle seine Charaktere mit Menschlichkeit und Nachsicht. Watson wirbt fortgesetzt für mehr Empathie und weniger Schubladendenken. Gerade heute – in einer Zeit allzu schnell festgesetzter Urteile – wichtiger denn je.

Das Hotel Alpha ist ein kluges Buch, nie verliert es seinen optimistischen Unterton Anspruchsvoll ob der vielen sich kreuzenden Geschichten und handelnden Personen schafft Mark Watson den Spagat zwischen Leichtigkeit und Tiefsinn und gibt dem Leser so ganz en passant den Glauben an die Wunder des Lebens und des Alltags zurück.

Mark Watson genießt in England auch als Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator sowie als Stand-Up Comedian Kultstatus. Die Briten lieben ihn für seine Unerschrockenheit, seine klaren Worte und seine Experimentierfreude auf allen Gebieten Früh schon hat er mit seinem Blog die Möglichkeiten, die das Internet ihm zusätzlich bietet, erkannt und genutzt. Konsequenz aus dieser Erfahrung und seiner Experimentiertfreude ist nun eine fulminante Idee. Mit dem Schluss des Buches ist noch lange nicht Schluss mit dem Hotel Alpha. Auf der liebevoll und sorgfältig gemachten Seite hotelalphastories.de finden sich hundert weitere Stories aus dem Hotel-Kosmos. Eine Geschichte ist nun mal nicht nur auf das beschränlt, was man zwischen zwei Buchdeckeln pressen kann. Anstatt das Internet zu verteufeln, nutzt Watson seine Möglichkeiten – ganz so wie Chas’ in seinem Roman. Mit den Alpha-Stories hat er die Möglichkeit, seinen Kosmos noch schillernder auszubreiten und – der Leser muss sich nicht nach Ende der Lektüre allzu schnell von der gerade erst liebgewordenen Welt und den ans Herz gewachsenen Helden verabschieden. Der Vorsatz allerdings, das Goodie der 100 Stories nur wohldosiert zu genießen, lässt sich aufgrund des hohen Suchtfaktors von Watsons Geschichtens eher nicht halten

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Heyne München

Lady Cardington und ihr Gärtner

Der Titel »Lady Carington und ihr Gärtner« erinnerte mich anfangs an »Lady Chatterley’s Lover« aus dem Jahre 1928. Der Roman von D. H. Lawrence wurde vor allem wegen seiner erotischen Szenen berühmt, in den USA als »obszön« verboten und auch von Deutschlands Katholiken unterdrückt. Kolars Roman ist jedoch anders. Weiterlesen


Genre: Liebesroman, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Und Johnny zog in den Krieg

Nach den ersten Seiten blättere ich irritiert zurück, das Lesen fällt mir aufgrund fehlender Satzzeichen im ersten Moment schwer. Ist dieses Buch vielleicht keinem Korrektor begegnet? Hasst der Verlag Kommata? Oder hat der Verzicht auf Interpunktion, von Satzschlußzeichen einmal abgesehen, Methode?

Eine Rückfrage beim Verlag klärt auf: Dalton Trumbo, der Verfasser des Werkes, setzte in seinem Original die fehlende Interpunktion als bewusstes Stilmittel ein, und die Herausgeber der deutschen Übersetzung wollen diesem entsprechen. Und tatsächlich geht es recht schnell, bis ich in einen permanenten Gedankenfluss eintauche, der von dem US-Autor ausgebreitet wird. Wie ein Mahlstrom zieht mich der ungewöhnliche Text tief in das unheimliche Grauen, das seinen Er-Erzähler umgibt.

Aus dieser ungewöhnlichen literarischen Erzählperspektive belichtet Trumbo nämlich einen grausigen Film: Johnny Bonham, ein blutjunger amerikanischer Soldat, der in den Krieg gelockt wurde, erwacht in einem Krankenhaus. Nach und nach realisiert er, dass ihm Arme und Beine amputiert wurde, dass er taub ist und sein halber Kopf weggesprengt wurde. Er vegitiert als Torso und fühlt sich bald wie ein Embryo im Mutterleib – Felix Gebhart hat es anschaulich in der Titelvignette gezeichnet. Der Mann, der bewegungsunfähig auf seinem Krankenbett liegt, kommt sich vor, als sei er als ausgewachsener Mensch wieder in den Mutterleib zurückgestopft worden. Doch anders als ein Kind, das ins Leben wächst und eines Tages den Kokon in die Freiheit verlassen darf, wird ihm diese Freiheit nie mehr vergönnt sein. Er ist für den Rest seines Lebens ans Bett gekettet!

Lediglich Erinnerungen sind ihm geblieben, und so blendet er in Analepsen nach und nach Szenen aus dem Leben eines glücklichen jungen Mannes ein, der in den Krieg zog, um zweifelhafte Werte und Freiheiten zu verteidigen, die nicht die eigenen waren. Als hätte er einen zweifelhaften Lotteriegewinn gezogen, zählt er jedoch nicht zu den Millionen Opfern, die auf dem Schlachtfeld blieben. Er hat überlebt, und doch ist sein Leben vorüber. Irgendwo in seinem Bauch steckt ein Schlauch, der ihn mit Nahrung versorgt. Lediglich sein Bewusstsein ist noch vorhanden und aktiv, obwohl das niemand registriert. Sein Körper ist unfähig, mit seiner Umwelt zu kommunizieren, und er spürt nur am Vibirieren des Bettes, wann sich eine Pflegerin nähert, um seinen jämmerlichen Rest zu waschen und seine Stümpfe zu versorgen.

Drei Jahre oder noch länger versucht er, anhand der wenigen Möglichkeiten, die ihm seine eingeschränkte Wahrnehmung erlaubt, die Nacht vom Tag zu unterscheiden, den Stand der Sonne zu erkunden, die unterschiedlichen Schwestern zu erkennen. Er spürt, dass ihm im Nebel seines Zustandes ein schwerer Orden an die Brust geheftet wird und möchte am liebsten laut herausschreien, dass ihm nicht einmal die Freiheit der Entscheidung zugebilligt wird, das Blech aus dem Fenster zu werfen.

Als er schließlich eine besonders feinfühlige Schwester erspürt, nimmt er mit ihr Kontakt auf, indem er mit seinem Hinterkopf Morsezeichen auf das Kopfkissen klopft. Tatsächlich versteht sie sein Bemühen und mit Hilfe eines Funkers kann er sich mühsam äussern. Johnny schlägt den Ärzten im Funkkontakt vor, seinen verstümmelten Körper als Mahnmal gegen den Krieg auszustellen. So gewänne sein Leben einen Sinn. Doch das verstößt gegen die »Vorschriften« und sicherlich auch gegen alles, was Kriegstreiber und Militärs für wertig halten. Sein Vorschlag wird abgelehnt.

Dalton Trumbos Anti-Kriegsroman ist neben seiner stilistischen Kunstfertigkeit schon aus dem Grund wichtig, weil die Generationen, die den letzten Krieg überleben durften, inzwischen nahezu ausgestorben sind. Dies mag auch einer der Gründe sein, warum in der jüngsten Geschichte wieder viel von Krieg und Völkerschlacht die Rede ist. Dass dabei die USA, die den bekennenden Kommunisten Trumbo wegen »unamerikanischer Umtriebe« ins Gefängnis warf und ihn als gefragten Hollywood-Regisseur mit Berufsverbot belegte, wieder einmal die führende Rolle spielt, wundert wenig.

Während also die Amis A-10-Thunderbolt-Kriegs»Warzenschweine« über meinem Kopf nach Deutschland einschweben lassen, lese ich diesen Roman und schaue betroffen in die Zukunft …


Genre: Romane
Illustrated by Onkel und Onkel

Akte 12/12/08-AO1-16. Alles in Ordnung. Ein Poetry-Roman

Leider ist mir dieses Buch erst jetzt bei meiner letzten Poetry-Slam-Tour in Hannover in die Hände gefallen. Ich hab’s gleich mit großer Freude gelesen und möchte andere potentielle Leser an diesem Spaß teilhaben lassen …

Ja, es geht gleich ziemlich verrückt los: ein Typ, der aus dem Rahmen fällt, dieser Finanzcontroller einer Versicherung, der mir als Leser da begegnet, wie er, mit seiner Armbanduhr in der Hand, der Stadtbahn 5 Minuten Verspätung zum Vorwurf macht und ihr, als Fahrgast endlich ganz hinten eingestiegen, mit Blick auf seine Nettolebenszeit diese Rechnung aufmacht:

„Ich benutze immer den hinteren Waggon, da ich berechnet habe, dass dies die Wegstrecke von meiner Zielhaltestelle bis zu meiner Wohnungstür um bis zu 50 Meter verkürzt. Auf diese Weise kann man 30 Sekunden Netto-Lebenszeit einsparen. Das sind 2,5 Minuten pro Woche, 10 Minuten pro Monat, 2 Stunden pro Jahr. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 77 Jahren erhöht sich meine Netto-Lebenszeit um 154 Stunden. Bei meinem Brutto-Stundenlohn von 21 Euro 43 und dem zu erwartenden Anstieg des Renteneintrittsalters entspricht das einem Gegenwert von 3.300 Euro und 22 Cent.“

Da ein Roman von der Spannung lebt, trifft der Protagonist, der interessanterweise nie einen Namen abkriegt und die ganze Zeit über als namenloses Ich (als Ich-Erzähler) agiert, auf Sibido, einen nicht minder abgefahrenen Typen, sein Gegenbild, weniger vom Beruf her (Sibido ist Vertriebsmitarbeiter in einem Technologiekonzern) als dem Oufit, dem Lebensstil und Lebensentwurf nach: (nach-)lässiges Äußeres, (im Gegensatz zu ihm) ein „Frauenflüsterer“, (nach-)lässig im Umgang mit Geld, aber: „Ein eigenes Atelier für meine künstlerische Arbeit wäre noch toll. Weißt du, ich will irgendwann mal davon leben können.“

Gegensätzlicher geht’s eigentlich nicht: für den einen sind Zahlen „was Wunderbares“, sie „bringen Ordnung in die Welt“, der andere hat „Probleme mit dem Finanzamt“. Der Protagonist sagt sich: „Sibido ist schon sonderbar, aber in Ordnung … Ich beschließe, dass Sibido mein soziales Projekt wird.“ So kommen die beiden zusammen. Und Sibido hilft beim Frauenproblem etwas nach: Auch wenn es laut Ich-Aussage „für Frauen keine Bedienungsanleitung gibt … keinen funktionstüchtigen Gesprächsleitfaden zur Reproduktionsanbahnung“ sorgt der neue Kumpel dafür, dass er bereits am Ende des 1. Aktenvermerks („First Contact“) nach durchzechter Nacht an der Seite einer „feuerroten“ Schönheit aufwacht: „Ich hatte ungeplanten Geschlechtsverkehr, den ersten in meinem Leben.“

So bewegt und spannend geht’s dann weiter. „Um diese widernatürliche Symbiose zu dokumentieren, hat unser Protagonist seine Begegnungen mit Sibido …gewissenhaft mit dieser Akte archiviert“ (rückwärtiger Buchdeckel), ja, ein Roman, wie der Teil-Titel schon erahnen lässt, in Form von „Aktenvermerken“ 1-16, über 1 Jahr lang, von Januar des einen bis Mai des folgenden Jahres. Und was in dieser Zeit nicht alles passiert, oft unverhofft, kurios, grotesk – echt abgefahren! Eine Buchbesprechung darf nicht alles vorweg nehmen. Deshalb als Leseanreiz nur dies: da taucht im Leben des Protagonisten eine Tara auf, anfangs fast gerichtsvollziehermäßig als Mitarbeiterin der GEZ-Gebühreneinzugszentrale, später als erhoffte Lebenspartnerin umworben mit einer Folien-Präsentation zu „Strategischem Vermögensaufbau“, „Risikolebensversicherung“, „Altersvorsorge“ und dem schlagenden Argument „Wenn du alt bist, bist du nicht nur grau und faltig, sondern auch wohlhabend! Na, was sagst du dazu?“ Und Sibido zieht alle Register bei den Streifzügen der beiden Freunde (natürlich meist begleitet von den Frauen) durch die Stammkneipe, das Fitnessstudio, den Supermarkt, den Sommerschlussverkauf, das Schwimmbad usw. In „Vernissage“ und „Mein neuer Chef“ wird’s unverhohlen zeitkritisch. In „Six Feet Under“ geht’s grotesk zum Bestatter zur „Todesplanung“. Aktenvermerke wie „Sibidos Traumwandel“, „Der Kühlschrank“, „Mein Traumwandel“ verlassen die fiktive Realität des Hier und Jetzt des Romans; da wird’s surreal. Und was wird am Ende der Geschichte(n) aus den beiden Hauptdarstellern? Wird nicht verraten …

Der Untertitel „Ein Poetry-Roman“ deutet das Genre an, mit dem der Leser es zu tun hat. Gerrit Wilanek ist seit Jahren beim „Poetry Slam“ unterwegs, bei diesem modernen Dichterwettstreit, wo die Autoren auf der Bühne selbst verfasste Texte vortragen, sie mit Mimik, Gestik und Körperhaltung „performen“ (wie es Slammer-Szene-mäßig korrekt heißt) und sich dabei dem Urteil des Publikums als Jury stellen. Wilanek gehört zu den bekanntesten Slammern der Slamily-Familie in Deutschland. Seinen Roman präsentiert er in einzelnen Kapiteln („Aktenvermerken“) auf zahlreichen Lesebühnen. Und aus der Szenerie im Schwimmbad geht dann z.B. auch schon mal eine typische Poetry-Slam-Nummer über den Bademeister von früher hervor, ähnlich dem, was der Protagonist im Roman zu Tara sagt: „Schau mal da drüben! Siehst du ihn? Einst deutscher Bademeister, wurde er durch grausame Fort- und Weiterbildungen zum Wellness-Berater dequalifiziert … Aber kann er eigentlich noch eine anständige Arschbombe? … Die deutsche Arschbombe läuft Gefahr, in Vergessenheit zu geraten.“

Über weite Strecken also ein Lesevergnügen. Dieser „Poetry-Roman“ lebt wie alle Komik von der Übertreibung, der Karikatur, der Satire – und dies hier mal in wirklich differenzierter Art und Weise, völlig anders also, als man’s leider heute oft in der Comedy-Szene geboten bekommt. Aber es geht nicht nur ums Lachen, um das sich schnell verflüchtigende Spaß-Haben. Man wird beim Lesen schon bald auch nachdenklich. Dafür sorgt bereits der Titel „Alles in Ordnung“. Mehrdeutig ist er. Und man fragt sich irgendwann: Was ist denn hier eigentlich alles (womöglich nicht) in Ordnung? Der Lebensentwurf des Protagonisten? der seines Gegenspielers Sibido? Geht’s hier vielleicht um Aus- und Aufbruch? Sehnsüchte werden beim Lesen geweckt. Ja, wo soll’s eigentlich (noch) hin gehen? Was für eine „Endzeit“? Nun, lest ihn selbst, diesen (letzten) Aktenvermerk 16 vom Mai …

(Das Buch ist bestellbar über https://m.shop-asp.de/de/decius-hildesheim/, Preis: 10 €)

Eberhard Kleinschmidt


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag