Zanskar und ein Leben mehr

Zanskar, Ort und Kloster tief im tibetanischen Himalaya. Dorthin verschlägt es Dölma auf der Suche nach ihren Wurzeln. Sie wuchs bei Zieheltern in der Schweiz auf, Flüchtlingskind, nie richtig angekommen, auch als Ehefrau nicht oder in der Mutterrolle. Schreiben verschafft ihr ein Stück Heimat entdeckt Dölma, als sie im fremden Geburtsland ihrer Bestimmung folgt und sich einer Nonne anschließt, sodass sie Teil wird der Rituale, Gesänge und Gebete eines buddhistischen Klosters.

Nach zehn Jahren in denen Dölma als verschollen gilt benachrichtigt ein Brief aus Nepal ihre Tochter Pema-Marie, dass die Tagebücher in Kathmandu gefunden wurden. Pema-Marie begibt sich auf eine mannigfache Spurensuche: sie, die Wissenschaftlerin, begegnet einer spirituellen Glaubenswelt, Schamanen, ihrer Vergangenheit, verdrängten und verhärteten Schichten ihrer Psyche.

Facettenreich wie ein Juwel schillern die unterschiedlichen Ebenen des Romans. Gehalten in das Licht der diversen Betrachtungsweisen funkeln spirituelle Erfahrungen auf, glänzende Einblicke in das Wesen der Seele im Westen lebender Menschen, Ahnungen von Weite und Tiefe der Natur und den Räumen buddhistischer Gedankenwelten.

Feinfühlig geht Ulli Olvedi vor, nie schildert sie spirituelle Erlebnisse vordergründig blendend, nie zerrt sie ihre Protagonisten in ein kaltes Licht der akribischen Analyse, welches die Figuren bleich und hässlich aussehen lässt; selbst die typischen Verkorkstheiten Pema-Maries, ihre westlich-starren Denkmuster, die seelischen Verkrustungen beleuchtet die mitfühlende Art der Autorin so, dass Pema in einem sympathischen Licht erscheint.

Auch politisch bezieht der Roman Stellung: die chinesische Herrschaft über Tibet wird massiv angeprangert; und bei aller Klarheit und Schönheit, die das Leben der Nonnen im Kloster Zanskar bestimmt, übersieht die Autorin nicht die paternalistischen Formen des tibetanischen Buddhismus und lässt Dölma über die Freiheit der Frauen im Westen und die Emanzipation dozieren. Geschickt dann zeigt Olvedi anhand der Neurosen und Erstarrungen Pema-Maries, wie wenig wahre geschlechtliche Unabhängigkeit im Westen gelang, wie sehr die Frau vom leistungsfixierten Urteil des Vaters, sowie durch intellektuelle Selbstzensur von ihrem Leben abgeschnitten in ihrem wertenden überkritischen Denken dahinrotiert.

Olvedi zeigt Auswege, lässt ihre Figuren nicht in modernen Ohnmachtsphantasien abstumpfen und versumpfen.
Sie ist so weise, nicht auf alle Fragen willfährig zu antworten: das Konzept der Wiedergeburt beinhaltet die Gefahr, Hierarchien zu rechtfertigen, in die hinein man aus (vor-)bestimmten Gründen inkarniert wird; diesem Thema weicht Olvedi nicht aus… sie reflektiert die Opferbereitschaft der Nonnen, spricht das Für und Wider aus. Letztlich lässt sie einen jungen Rinpoche sagen, dass im Exil starre Strukturen sich zunehmend auflösen. Die Essenz des Inkarnationsgedankens wird ausgesprochen: man sei die Summe aller Wiedergeburten bis dato, es gehe nicht um Strafe oder Schuld, sondern besäße konkret jetzt die Möglichkeit, aus dem Vergangenen zu lernen und sein Leben zu ändern…
Bei all den subtil verpackten essentiellen Aussagen, die Olvedi trifft, ist ihr schriftstellerisches Talent so groß, Predigten von der Kanzel herab vermeiden zu können; nie sind Dialoge zu lang, weil Olvedi mittels ihrer Figuren belehren will, nie wird der Roman trocken oder langatmig. Im Gegenteil: stets zeichnet sie in ihrer einfühlsamen Sprache die Konturen der Landschaft mit, stets agiert der Mensch in die Natur eingebettet, bewegt sich darin wie in einem wundersamen Haus, auch wenn die Gefahren eines Lebens in den Riesen des Himalayas nicht verniedlicht werden: Nonnen murmeln Mantras, ihr Glaube an die Mutter der Buddhas beschützt sie – Tara wacht über ihre Töchter… doch das Sterben gehört zum Alltag wie das Sein.

Olvedis Sprache ist sanft und präzise: ihre Sätze stehen nicht als kalte Felsblöcke im Buch herum, uns als schroffe Lehrgebilde einzuschüchtern. Sie liefert Mimik, Gestik der Figuren mit, emotionale Färbungen, Stimmungen. Dadurch wird ihre Sprache so lebendig, menschlich, und anderseits eben geheimnisvoll, magisch, wo überwältigende spirituelle Erfahrungen faszinieren. Oder existentielle Erschütterungen, wie der Tod, abgemildert freilich durch das Wissen über die Wiedergeburt im Gewand des neuen Körpers, das nun besser um die gereifte Seele sich hüllt.
Oftmals scheinen Olvedis Sätze sich aus dem Buch auf einen Baum zu schwingen, wo sie Vögel werden und jubilierend trällern.

Ein Buch, wertvoll wie ein Diamant, wobei sich vermuten lässt, dass wohl die Sehnsucht des Lesers nach solch mystischen Räumen, die dieser Roman eröffnet, ihn drängt, sich selbst in spirituelle Bereiche, in die Meditation vorzuwagen…

Manfred Stangl


Genre: Romane
Illustrated by O.W. Barth München

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert