Tyll – die große Schelmerei

Es scheint viel Geschichte in diesem Buch zu stecken. 30-jähriger Krieg. Der große Gaukler Tyll. Der zweite Prager Fenstersturz. Westfälischer Friede 1648. Genau genommen war‘s das aber auch schon. Denn ein geschichtlicher Roman ist Tyll nicht.

Tyll Eulenspiegel lebte im 16ten Jahrhundert (es existieren Drucke mit Darstellungen aus dem Jahr 1515), also hundert Jahre vor dem 30-jährigen Krieg. Warum Kehlmann die bekannte Figur ins nächste Jahrhundert versetzte, ist nicht nachvollziehbar. Irgendein Rezensent fabulierte von der „Vermessung des Krieges“. Das stimmt schon gar nicht. Denn außer einer Kurzbeschreibung der Schlacht von Zusmarshausen von außen quasi, von zufällig in die Schusslinie geratenen Reitern, die Eulenspiegel eskortierten, beschreibt Kehlmann nicht den Krieg. Er schwadroniert zwar darüber, wer aller Schlachten erlebt hatte, diese aber dann nicht in Worte zu fassen vermochte, schildert allerdings selber schon gar keine Schlacht. Und so wie er darüber hinwegseiltanzt, die Schlacht zu beschreiben, jongliert er mit Versatzstücken des Krieges, erfasst ihn aber nicht. Nun, den 30-jährigen Krieg zu beschreiben – noch dazu in einem Roman – ist wohl ohnehin unmöglich. Krieg generell in seiner Brutalität und Unmenschlichkeit zu zeigen, mag vielleicht das Ansinnen eines Pazifisten sein und scheint damit berechtigt. Kehlmann beschreibt aber keine Schlacht, auch nicht den Krieg, einzelne Episoden draus zwar, wie er sie für seine Story braucht – so etwa erzählt er die Geschichte vom Winterkönig, der quasi als Auslöser des Krieges gehandelt wurde, doch die Hässlichkeit des Krieges ermisst er nicht.

Tyll wird in fast allen Episoden implementiert, hat aber wieder keine erklärbare Funktion außer vielleicht geschmeidiger Kitt zu sein… Grauen versucht Kehlmann sehr wohl zu bezeugen – allerdings eher der Zeit, des Äons, in der dieser Krieg tobt.
Und das gelingt ihm drastisch: der Vater von Tyll Eulenspiegel, Claus, wird von päpstlichen Beauftragten auf deren Durchreise der Hexerei überführt, und hingerichtet. Die Grauen der Inquisition, der Hexenverfolgung, der Folter und der frömmlerischen Teufelsangst werden akribisch dargestellt. Speziell der irrwitzige Aberglaube thematisiert, den sich, Kehlmann nach, sowohl der Hexer – der eigentlich nur einige magische Sprüche vor sich hinmurmelt, auch Flüche ausstößt, jedoch ebenfalls Kranke heilt – als auch dessen Richter teilen. Das pikante an der Sache: Einer der Ankläger ist Anastasius Kircher, ein hoher päpstlicher Würdenträger, der von Kehlmann als lächerlicher, synkretistischer Scharlatan hingestellt wird, schrieb der doch über Drachen, die Pest, den Magnetismus und Hieroglyphen und sonst noch tausend Dinge. Kehlmann überführt ihn des Glaubens an die Analogien, an den Zusammenhang der Dinge und der Welt, die ihn auf haarsträubende Abwege führte, etwa dass Drachenblut die Pest besiegen würde. In einigen Belangen stimmt Kehlmanns Urteil offenkundig, anderseits war Kircher der Erste, der Blut unter einem Mikroskop untersuchte, der gegen Pest Isolation und Hygiene empfahl, und der eine Grundlage für die spätere Entschlüsselung der Hieroglyphen schuf. Kehlmann erwähnt den Heroen der anschließenden Epoche nicht – obwohl er Tyll leicht auf einem Bein in diese hinüberhüpfen hätte lassen können – aber es soll uns reichen, wiederholt zu bekommen, wie finster und dumm das Mittelalter war, wie bigott und abergläubisch, jeglicher Vernunft abhold. Nein: das ist ja nicht Mittelalter, sondern Frühbarock, die Neuzeit bereits im Jugendalter, in der Hexen verbrannt werden, sie der Häresie angeklagt, gefoltert und ausgelöscht werden. Mit ihnen die mittelalterliche Medizin, die Kräuterkunde und das Wissen von den Geistwesen – wie es Schamanen und Schamaninnen weltweit noch heute tradieren. Und nun beginnt das Zeitalter Descartes: Ich denke also bin ich. Mit der kartesischen Wende trennt Wissenschaft Geist vom Körper, die Seele von der Welt, den Verstand vom Leib. Und wir sind in der analytischen Welt: der Epoche des Intellekts, in der alles und jedes unter dem Mikroskop zerstückelt wird, aber es findet sich keine Seele und schon gar kein Gott; vielleicht die eine reine Wahrheit: Es gibt keinen Gott neben dem allmächtigen Verstand.
Kehlmann scheppert mit der Klingelbüchse voll bekannter Vorurteile über die unaufgeklärte, naive Zeit vor der Moderne, macht Späßchen und Salto Mortali rückwärts – uns zum Gaudium und zum Vergnügen, denn wir, wir wissen, wir sind gescheit, haben Smartphones und Apps und elektrisches Licht. Das Wetter damals um 1648 war furchtbar schlecht – kleine Eiszeit – es regnete dauernd oder schneite, und im Schnee erfror der pestkranke Winterkönig mit Tyll als letztem Gefährten. Aber erstens starb Friedrich von Böhmen nicht wie von Kehlmann eigentlich sehr ergreifend beschrieben, und zweitens war kein Tyll an dessen Seite, weil seit gut hundert Jahren selbst schon verschieden. Und zweitens war das Klima keineswegs so schiach wie von Kehlmann erdichtet (nachzulesen im Werk: 1648 von Heinz Duchhardt). Was will also unser Possenreißer Daniel Kehlmann? Warum greift er zu derart eklatanten Mitteln und stibitzt sich wie Max und Moritz die Buchteln Ereignisse aus zumindest einem Jahrhundert zusammen, um diese quasi-synkretistisch zusammenzugießen – wie die Stahlkugeln für die Kanonen im 17ten Jahrhundert?

Die Antwort gab ich Schelm bereits zuvor. Kehlmann ergötzt sich für uns über die Epoche des Synkretismus, des Glaubens, alles hinge irgendwie zusammen, alles habe Bedeutung und sei letztlich zu verantworten einer letzten Instanz, nämlich Gott gegenüber. Das ist tatsächlich derart amüsant; wir alle wissen doch längst: Gott ist tot, aber Atomstrom, Elektronenmikroskop, Kabel-TV und Coffee To Go hievten unsere heutige Welt aus dem eisigen Morast von Pest, Cholera und Vorurteilen mitten hinein ins Paradies der Glückseligkeit der modernen Menschen und der modernen Ideen, tagtäglich zu überprüfen in den – uns gratis gegebenen – Blättern in den vom Klimawandel erhitzten Bussen und vollgestopften U-Bahnen auf der Fahrt in unsere prekären Jobs.


Genre: Historischer Roman, Romane
Illustrated by Rowohlt

Speicher 13

Trau, schau, wem?

Der Klappentext von Jon McGregors Roman «Speicher 13» lockt den Leser in ein narratives Labyrinth, aus dem es lange keinen Ausweg zu geben scheint, in dem man sich anfangs fühlt wie «im falschen Kino». Unwillkürlich denkt man dabei «Trau, schau, wem?», denn den üblichen genretypischen Signalen zum Trotz ist dieses neue Buch des britischen Autors eben kein Krimi, sondern ein veritabler Gesellschaftsroman, der den sozialen Mikrokosmos einer kleinen, ländlich geprägten Gemeinde zum Gegenstand hat. Der in Deutschland bisher weitgehend unbekannte, kreative Schriftsteller benutzt dafür eine ausgeklügelte Erzähltechnik, die ganz ohne bedeutungsschwere Symbole und gängige Klischees auskommt und so gekonnt Atmosphäre erzeugt, dass man sich erstaunlicherweise bald schon als Mitbewohner des namenlosen englischen Dorfes fühlt.

Was vordergründig als Plot dient, ist schnell erzählt. Ein dreizehnjähriges Mädchen wird während des Urlaubs nach einer Wanderung mit ihren Eltern als vermisst gemeldet. Sie bleibt trotz intensiver Suche unauffindbar, und es kursieren bald allerlei Gerüchte unter den Dorfbewohnern. Fast schon sadistisch den Krimifans gegenüber streut der auktoriale Erzähler immer wieder mal einige knappe Sätze über die Suche nach der Vermissten mit ein in seine Geschichte, die aus dem Leben der Dorfbewohner berichtet. Denn genau das, nicht die Tragödie selbst, ist sein eigentliches Thema, der Alltag einfacher Menschen also im Ablauf der immer größer werdenden zeitlichen Distanz von dem albtraumhaften Ereignis.

Den dreizehn Kapiteln des Romans entsprechen dreizehn Jahre Erzählzeit. Gleich im ersten Kapitel findet sich schon der Satz «Um Mitternacht wurde das Neue Jahr in der Stadt hinter den Bergen mit einem Feuerwerk begrüßt», der dann jeweils variiert auch in sämtlichen folgenden Kapiteln als erster Satz fungiert, und zyklisch wiederholt sich hier auch vieles andere, Jahr um Jahr. Bevölkert wird diese Erzählung von mehreren dutzend Figuren, die wie beiläufig in den Erzählfluss eingeführt werden und vom Leser erst nach und nach, mit den sich allmählich ansammelnden Details zur Person, stimmig in das soziale Geflecht eingeordnet werden können. Ein Spickzettel ist unabdingbar, will man den Durchblick behalten über die verschachtelten Beziehungen der vielen Figuren. Wobei anzumerken ist, dass dieses üppige Figurenensemble keine signifikanten Unterschiede Einzelner in der Bedeutung für das Erzählte aufweist, es gibt nur dutzende Nebenfiguren, – oder Hauptfiguren, ganz nach Gusto! Das Kollektiv als solches also steht im Fokus des Autors, und es wird kein Aspekt des Lebens ausgespart dabei. Alle Generationen sind vertreten, Geburt, Liebe, Alter, Krankheit, Tod sind die ständigen Begleiter. Breiten Raum nimmt die Natur ein, immer wiederkehrend wird von Flora und Fauna berichtet, letztere wird von Füchsen, Dachsen, Rehen, Bussarden, Reihern und anderem Getier bevölkert. Ergänzt durch die allgegenwärtigen Schafe natürlich, man lebt von Schafzucht in diesem mittelenglischen Landstrich. Manche Details, manche Bräuche des dörflichen Lebens sind schwer zu verstehen ohne vertiefte regionale Kenntnisse.

Diese Chronik von der Monotonie des heutigen Dorflebens jenseits der ländlichen Idylle wird in einem auffallend distanzierten Ton erzählt. In strenger Form zudem, geradezu simpel im Satzbau, damit dem Leben ähnelnd, über das da mit zumeist kurzen Hauptsätzen trocken und wortkarg berichtet wird. Typische Merkmale dieser sehr zurückgenommenen Erzählweise sind darüber hinaus die ständigen, teilweise wörtlichen Wiederholungen von bereits Erzähltem, außerdem die schnellen erzählerischen Wechsel, die im gleichen Absatz oft mehrere Szenen ohne jedweden Kontext abrupt aneinanderreihen. Er wolle zeigen, hat der Autor erklärt, «wie sich Menschen ändern». Dafür aber sind äußerst aufmerksame Leser erforderlich, die sich von der sprachlichen Monotonie und den vielen bloßen Andeutungen McGregors nicht entmutigen lassen.

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Liebeskind

Toscana

Toscana 2018: ein Reiseziel

784 Seiten und dennoch kompakt und handlich mit herausnehmbarer Karte und Detailkarten ist dieser Reiseführer durch die wohl schönste Kulturregion Europas.Umfangreiche Beschreibungen der Kulturmetropolen Florenz, Siena und Pisa gehören ebenos zu diesem Reiseführer wie die Abtei der Camoldolenser Mönche im oberen Tibertal und die Etruskergräber bei Sovana. Natürlich kann man aber nach Besichtigungen der reichen Kulturschätze auch Badeferien an den Küsten der Toscana anhängen. Unzählige Tipps und Anregungen, in einem Sonderteil sogar zur Mittelmeerinsel Elba.

Kulturschätze und Badeferien

Seit 24 Jahren ist „Toscana“ vom Michael Müller Verlag ein Standardwerk für Selbstreisende. 2018 wurde es erneut wieder aktualisiert und erweitert. Restaurant- und Hoteltipps finden sich ebenso in diesem Reiseführer wie Hintergrundinformationen und Infos rund um das Lieblingsziel der deutschsprachigen Urlauber. Wen dürstet es nicht, wenn er etwa von der Apuanischen Riviera und Versilia liest, wo nicht nur der berühmte Carraramarmor abgebaut wird, sondern sich auch der Lido di Camaiore oder Viareggio befindet. Der mondäne Badeortglänzt durch Sommerhäuser der lucchesischen Kaufmannsfamilien und einen Hafen, alles in Jugendstil und klassizistische Fassaden geklediet. Das Gebiet zwischen Lucca und dem heutigen Viareggio, war ursprünglich ein Sumpfgebiet, das von Menschen zur Wildschweinjagd genutzt wurde. Erst durch den Bau von Entwässerungsanlagen wurde aus dem Sumpf ein begehrtes Badeziel. 1828 wurde dort die erste Badeanstalt eröffnet, gerade als es in Mode kam, sich an die Sonne zu liegen und nichts zu tun. 1902 wurde dann die Strandpromenade Viale Regina Margherita eröffnet: Cafés, Geschäfte und dekorative Eingänge zu Badeanstalten.

Italien zum Mitnehmen

Weitere Titel von Michael Müller im gleichnamigen Verlag finden Sie auch zu den Themen Reiseführer Algarve, Kochbuch Do schmeckts! – Kulinarische Reisen rund um Freiburg, den Kaiserstuhl und im Markgräflerland, Reiseführer Florenz & Chianti – Siena, San Gimignano, Reiseführer Fränkische Schweiz, Kochbuch Gscheitgut – Das Beste aus Band 1 + 2 – Franken isst besser,     Kochbuch Gscheitgut – Band 2 – Franken isst besser, Kochbuch Gscheitgut – Vegetarische Küche – Franken isst besser, Reiseführer Portugal, Reiseführer Südtoscana – Siena, Monte Amiata, Maremma, Monte Argentario.

Michael Müller
Reiseführer
 Toscana
Michael Müller Verlag, 784 Seiten + herausnehmbare Karte (1:250.000), farbig
ISBN 978-3-95654-507-8
26,90 EUR (D)/27,70 EUR (A)/39,90 CHF
Buch: 18. Auflage 2018
E-Book: 17. Auflage 2016
784 Seiten mit 341 Farbfotos und herausnehmbarer Karte
26,90 EUR


Genre: Reiseführer
Illustrated by Michael Müller Verlag

Alkohol und Tabak

Die Sünden des alten Jahrhunderts?

 

Alkohol & Tabak: In Zeiten wie diesen ist wohl nichts so unpopulär wie das Rauchen und Trinken. Vor 100 Jahren war das noch völlig anders. Der Tag ging, Johnnie Walker kam. Oder ein Cowboy ritt durch eine Wüste und glühte seinen Glimmstengel vor sich her. Ein Jahrhundert lang sorgte die Werbeindustrie dafür, dass man sich nur dann richtig entspannen konnte oder richtig cool war, wenn man trank oder rauchte. Sollten diese Konsumgewohnheiten tatsächlich schon Geschichte sein? Dann ist die vorliegende Publikation ein wunderbares Familienalbum, das einen in der Vergangenheit einer untergehenden Epoche blättern lässt.

Alc & Zig: Werbung als Propaganda?

Mit vorliegendem voluminösen Sammelband mit Abbildungen legendärer und mitunter skurriler Werbekampagnen der US-Tabak- und Spirituosenbranche kann man sich noch einmal die passionierte, aber heute stigmatisierte Freude des blauen Dunstes und des gepflegten Hangovers in sein Wohnzimmer zurückholen, keimfrei und völlig gesund für Atemwege und Leber. Der Untertitel der vorliegenden Publikation „100 Years of Stimulating Ads“ soll nämlich keineswegs zum Konsum, sondern zu einer ganz anderen Form des Genusses animieren: den der Kontemplation. Wer „Alcohol & Tabacco Ads“ durchblättert wird Zeuge eines kulturellen Vermächtnisses, das hauptsächlich von den USA geprägt wurde. Die Verantwortung von Rauch und Rausch wird von den Herausgebern bezüglich Propagandamittel sogar in die Nähe des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gerückt, ein ernstzunehmender Vorwurf, dem hier nicht widersprochen werden soll. Auch was die Vermarktung der Produkte dieser Industrien für Frauen betrifft ist wohl kaum der Vorwurf der Propaganda abzuwehren.

Deutscher Alkohol vs. amerikanischer Tabak

Aber es gab auch den Volstead-Act, der den Verkauf des Alkohols verbot und vor allem die Deutschen treffen sollte: nicht zu trinken wurde während und nach dem Ersten Weltkrieg zu einem patriotischen Gefühl hochstilisiert, denn es war plötzlich un-amerikanisch. Dafür wurde das Rauchen munter beworben und beinahe ein patriotischer Akt. Für Fraune und Männer. Der Kulturanthropologe und Grafikdesign-Experte Jim Heimann ist Executive Editor bei TASCHEN in Los Angeles und Autor zahlreicher Bücher über Architektur, Popkultur und die Geschichte der amerikanischen Westküste, insbesondere Los Angeles und Hollywood. Auch Steven Heller ist prädestiniert für eine Publikation dieses Ausmaßes: er ist Co-Vorsitzender des Studiengangs „School of Visual Arts MFA Designer as Author“ und war 33 Jahre lang Art Director der New York Times sowie Autor von 120 Büchern über Grafikdesign, Illustration und politische Karikatur. Allison Silver wiederum lebt als Schriftstellerin und Redakteurin in New York City und arbeitet bei der New York Times und war Gründungsredakteurin des Washington Independent.

Jim Heimann/Steven Heller/Allison Silver
20th Century Alcohol & Tobacco Ads
Hardcover, 23,8 x 30,2 cm, 392 Seiten
ISBN 978-3-8365-6652-0
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch
TASCHEN Verlag


Genre: Design
Illustrated by Taschen Köln

Paul Cézanne Ausstellung Paris 1907

Cezanne Ausstellung 1907 von Rilke besucht

Als der berühmte Schriftsteller und Poet Rainer Maria Rilke im Oktober 1907 in Paris weilte, fand ebendort eine Gedächtnisausstellung zu Ehren des ein Jahr zuvor verstorbenen Malers Paul Cézanne statt. Diese Ausstellung umfasste 49 Gemälde und sieben Aquarelle und begründete Cézannes Ruf als Vater der modernen Malerei und trug seinen Ruhm in die Welt, post mortem oder wie man halt so sagt. Rilke besuchte die Ausstellung mehrmals und schrieb über seine Eindrücke eine Serie von Briefen an seine Frau, die Bildhauerin Clara Rilke Westhoff. Diese Briefe gehören zu den wohl bedeutendsten Zeugnissen einer frühen Rezeption des Werks von Cézanne durch einen Dichter, der es vermag, seine Gedanken auch vom Werk des Malers inspirieren zu lassen. Rilkes Briefe enthalten zum einen erstaunliche künstlerische Einsichten und gehen inhaltlich weit über die klassische Kunstkritik hinaus, da sie auch viele persönliche Seiten des Dichters zeigen.

Briefe Rilkes über Cezanne

Rilke macht sich in einem Brief – viele davon werden übrigens auch mit der Originalhandschrift Rilkes als Faksimile abgedruckt – auch Gedanken über die künstlerische Arbeitsweise und das Arbeiten an sich. So schreibt er über Rodin und Van Gogh, dass der eine oder andere vielleicht die Fassung verlieren konnte, aber die Arbeit wäre noch hinter der Fassung gewesen, aus ihr hätte man nicht herausfallen können. „Es ist lauter Freude; es ist das natürliche Wohlsein in diesem Einen, an das nichts anderes heranreicht.“ Rilke sieht auch die Verkäufer am Seine-Ufer, die scheinbar nie ein Geschäft machen, „aber man sieht hinein und sie sitzen und lesen, unbesorgt, sorgen nicht um morgen, ängstigen sich nicht um ein Gelingen, haben einen Hunde, ver vor Ihnen sitzt, gut aufgelegt, oder eine Katze, die die Stille um sie noch größer macht, indem sie die Bücherreihen entlang streicht, als wischte sie die Namen von den Rücken“. Welch’ wunderbare Gedanken dieser Rilke doch formulieren kann, über scheinbare Nebensächlichkeiten, die doch den Reiz des Ganzen ausmachen!

Weiße Schwäne und schwarze Damen

„Leda“ heißt eines der hier abgedruckten Gemälde Cézannes und zeigt, wie der Schwan ihr in die ausgestreckte Hand beißt. Ihr Blick ist dabei so teilnahmslos, wie willig, denn sie nimmt es hin, was ihr beschert ist, ihre Brüste ebenso entblößt, wie ihre Gedanken. „La Dame en noir“ heißt ein anderes Gemälde aus den Jahren 1891/92 und ihr Blick ist melancholisch, ihr Kleid schwarz, aber die Blumen an der Wand und der Kirschbaum im Hintergrund zaubern einen Schatten auf ihre roten Bäckchen und gefalteten Hände. Auch Alte (Vieillards) porträtiert Cézanne und Rilke findet in seinen Briefen treffende Worte zum Werk Cézannes wie zum Leben zwischen Paris, Prag und Venedig. Der vorliegende, reich bebilderte Band führt erstmals und in höchster Druckqualität alle Werke Cézannes zusammen, die 1907 im Salon d’Automne zu sehen waren. Ihnen gegenübergestellt werden Rilkes Briefe, wodurch sich ein Zusammenhang zwischen bildender Kunst und ihrem Einfluss auf den Dichter herauskristallisiert. Zusätzlich wurden auch Einschätzungen und Zeugnisse bedeutender Zeitgenossen hinzugefügt, sodass die Publikation zu einem reich bebilderten, einzigartigen Gipfeltreffen zwischen einem der bedeutendsten Maler und einem der wichtigsten Dichter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gerät.

Lothar Schirmer
Paul Cézanne Ausstellung Paris 1907. Rainer Maria Rilke
Rekonstruktion der Cézanne-Ausstellung im Grand Palais, …besucht, betrachtet und beschrieben von Rainer Maria Rilke, zusammengestellt und eingeleitet von Bettina Kaufmann, hrsg. von Lothar Schirmer.
200 Seiten, 69 farbige Abb. Format: 20 x 26 cm, gebunden.
Deutsche Ausgabe.
Schirmer/Mosel Verlag
ISBN: 9783829608213
39.80€


Genre: Briefe, Kunst, Poesie
Illustrated by schirmer/mosel

Prawda

The fear starts here

Was der Buchtitel «Prawda» verheißt, «Wahrheit» nämlich, das findet sich in den eigenwilligen Romanen der Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe eher selten, ihr literarisches Markenzeichen ist vielmehr ihre mit Komik angereicherte, überbordende Phantasie, – «Eine amerikanische Reise» ist also alles andere als ein touristischer Bericht. Auf den Spuren zweier russischer Schriftsteller, Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, folgt Hoppe achtzig Jahre später deren von der Zeitung «Prawda» initiierten Reise durch die USA. Die beiden waren damals als Autorenduo mit ihren satirischen Romanen überaus populär, und nach ihrer viermonatigen Amerikatour verfassten sie das amüsante Buch «Einstöckiges Amerika» sowie einen Fotoband. Ihnen zu Ehren wurde 1982 ein neu entdeckter Kleinplanet «3668IlfPetrow» benannt.

«Red Ruby» tauft die reiselustige Felicitas Hoppe im September 2015 den rubinroten Ford Explorer (nomen est omen), mit dem sie in weniger als sechzig Tagen die USA durchqueren will, den beiden Russen folgend, etwa zehntausend Meilen liegen vor ihr. Mit an Bord sind drei in einem skurrilen Auswahlverfahren selektierte Reisegefährten, deren Schrulligkeit allein dem Roman schon eine amüsante Färbung gibt. Da ist zunächst mal Foma, der einzige Mann der Gruppe, ein Landschaftsgärtner mit russischen Wurzeln «auf der Suche nach dem größten Kaktus der Welt». Er wechselt sich mit MsAnnAdams am Steuer ab, einer sich geradezu zwanghaft an ihre Handtasche klammernden und den «Distanzplan» in Händen haltenden Kettenraucherin aus Wien, die mit wahrhaft enzyklopädischem Wissen gesegnet ist. Jerry Miller aus Halle schließlich arbeitet an einem fotografischen Projekt mit dem beziehungsreichen Arbeitstitel «Bräute am Wegrand». Die zwar nicht führerscheinlose, aber fahrunwillige Autorin, die sich «Frau Eckermann» nennt, sitzt hinter dem Fahrer auf der Rückbank des geräumigen SUVs, in ihrem «Torcqueville-Erker», und zitiert immer wieder mal den französischen Historiker Alexis de Torcqueville, dessen berühmtes Hauptwerk «De la démocratie en Amérique» sich ebenfalls auf eine Amerikareise gründet.

Zu den Sehenswürdigkeiten, die das muntere Quartett ansteuert, gehören unter anderen die Niagarafälle, die Werkstatt von Thomas Edison, die Ford-Werke in Detroit, ein elektrischer Stuhl, der Zaun von Tom Sawyer, das kuriose Museum für den Wirbelsturm Katrina, zwischendurch hält Hoppe Vorträge bei «Radio Goethe». Sie besucht auch Frankensteins Haus, über dessen Eingang es aus dem Maul einer schaurigen Maske tönt: «The fear starts here», – ein Slogan, der sich noch öfter findet im Roman. Unfreiwillig verbringt die Ich-Erzählerin eine Nacht in einem Bergwerksstollen, trifft den Maler Brueghel den Allerjüngsten, den «Pharao» Barak Obama im Weißen Haus, schließlich die Regie-Legende Quentin Tarantino. «Schriftsteller halten sich niemals an Fakten», heißt es beziehungsreich im Roman, und so ist denn diese mit Skurrilem üppig angereicherte Reise in jeder Hinsicht weit eher ein Ausflug in poetische Sphären denn ein faktenbasierter Bericht.

Diese hoppesche Sicht der Dinge, ausschließlich literarisch bestimmt also, ist eine Art Gegenwelt zur schnöden, so gar nicht froh machenden Realität, ihre poetisch gefärbte Perspektive ist nur von eigenen Phantasien befeuert und artikuliert sich in einer kreativen, mit Sinnsprüchen, Neologismen und Zitaten durchsetzten Sprache. «Notieren Sie das bitte, Gentlemen!» fordert Hoppe schnippisch immer wieder ihre Leser auf. Erfreulich ist auch die komödiantische Intertextualität des Romans, deren amüsanteste für mich das immer wieder neu abgewandelte Zitat des berühmten ersten Satzes aus Tolstois «Anna Karenina» ist. Nicht alle Besonderheiten ihres spezifischen Schreibstils aber haben mich überzeugt, ihr «wirklich (tatsächlich)» beispielsweise hat mich sogar ziemlich genervt, manchen Leser dürfte zudem auch der furiose Wirbel mit wilden Phantasmagorien und Assoziationen schwindelig machen. The fear starts here?

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

Ragtime

Und das war gut so

Hoch geehrt, mit Preisen überhäuft geradezu, gehört Edgar Lawrence Doctorow zu den Maßstab setzenden Autoren Amerikas, ihm gelang 1975 der Durchbruch mit «Ragtime», dem besten seiner zwölf Romane, der Charly Chaplin zum Weinen brachte und vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama als sein Lieblingsbuch genannt wurde. Doctorow wurde von seinen Eltern dezidiert nach einem anderen literarischen Giganten benannt, Edgar Allen Poe nämlich, – nomen est omen! Zu seinen deutschen Fans zählt insbesondere Daniel Kehlmann, – auch kein literarisches Leichtgewicht übrigens -, der E. L. Doctorow in einem FAZ-Artikel so überschwänglich gelobt hatte, dass ich mich, neugierig geworden, spontan an die Lektüre von «Ragtime» machte. Und das war gut so!

Den Gattungsbegriff «Historischer Roman» hat der Autor abgelehnt für sein Buch, gleichwohl ist es mit seinen vielen realen Figuren eine ebenso informative wie amüsante Zeitreise durch das Amerika der Epoche zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Zu den prominenten Protagonisten zählen der Autopionier Henry Ford und der Banker J. P. Morgan ebenso wie die Anarchistin Emma Goldman und der Entfesselungskünstler Harry Houdini, aber auch der Polarforscher Robert Edwin Peary und der Pionier der Psychoanalyse Siegmund Freud. Ein nicht in die Handlung einbezogener, namenloser Ich-Erzähler berichtet in der Rahmenhandlung vom stereotypen Leben seiner Familie in der Kleinstadt New Rochelle unweit von New York, sein Vater ist Fabrikant von Fahnen und Feuerwerkskörpern. Held des Romans ist ein farbiger Jazzpianist, den der Autor, – offensichtlich nach erfolgter Kleist-Lektüre -, Coalhouse Walker jr. nennt, ein amerikanischer Michael Kohlhaas. Dessen Furor wird ausgelöst durch eine demütigende Begegnung mit einem rassistischen weißen Pöbel, den Männern der Feuerwehr, die seinen funkelnagelneuen Ford Model T in purer Bosheit übel zurichten. Und auch hier findet der gnadenlos Gedemütigte, wie sein deutsches Vorbild, keine Unterstützung, wird sein Verlangen nach Gerechtigkeit, nach Bestrafung der Täter und Wiedergutmachung des Schadens, höhnisch abgewiesen. «Ein Mann sieht rot» lautet der Titel eines Spielfilms mit ähnlicher Thematik, und auch Coalhouse rächt sich auf unglaublich raffinierte und ebenso fürchterliche Weise.

Die leider heute noch bestehende Rassenproblematik und die skandalösen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten im «Land der unbegrenzten Möglichkeiten», – welche ja auch im Negativen unbegrenzt sind -, stehen thematisch im Mittelpunkt des Romans. Sprachlich dem Titel folgend wird die Geschichte in einfachen Sätzen rhythmisch vorangetrieben, den Synkopen eines Scott Joplin vergleichbar, stakkatoartig eng aufeinander folgend. Die Charaktere sind stimmig beschrieben, sie stehen plastisch vor dem Auge des Lesers in parallelen Erzählsträngen, die klug ineinander verwoben den Plot voranbringen, wobei sich die Spannung, dramaturgisch geradezu mustergültig, ständig steigert bis hin zum letzten Kapitel. Dem bis dorthin geradezu zwingend vorgezeichneten und Amerika-typischen Showdown folgt ein kurzer, versöhnlicher Ausblick auf das weitere Schicksal der Figuren.

Die raffinierte Verknüpfung von historischen Fakten, die als Versatzstücke in den Roman eingebaut sind, mit den fiktionalen Erzählmotiven des Romans ist wahrhaft meisterlich, die deutlich durchscheinende Ironie gibt häufig Anlass zum Schmunzeln. Mit seiner in Episoden erzählte Geschichte ist der Roman eine kluge Abrechnung mit dem «American Dream», jenem laut Sigmund Freud «gigantischen Irrtum», dem die vielen Figuren gleichwohl unbeirrt nachjagen. Dieses breit angelegte Panorama mit New York als zentraler Bühne ist nicht nur beste Unterhaltung, ein Stimmungsbild dieser Epoche, es bietet auch einiges Wissenswerte. «Das Leben eines Schriftstellers ist so riskant, dass alles, was er tut, schlecht für ihn ist», soll Doctorow gesagt haben. Wie auch immer, «Ragtime» zu schreiben war jedenfalls gut für den Leser.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Nur ein Spielmann

Ein verkannter Poet

Wer Andersen sagt, meint Märchen, – und versäumt durch diese ebenso weit verbreitete wie voreilige literarische Zuordnung womöglich, auch den Romancier Hans Christian Andersen kennen zu lernen. Der dritte seiner insgesamt sechs Romane, 1837 erschienen, brachte ihm vor allem in Deutschland literarisch den Durchbruch, «Nur ein Spielmann» wurde ein Riesenerfolg. Es waren seine Romane, die den Dänen in Europa und im englischsprachigen Raum überhaupt erst bekannt machten, nicht seine 156 Märchen. Erfreut berichtet er 1852 in einer Tagebuchnotiz von einer Begegnung mit Amerikanern, die ihm erzählt hätten, «dass ich so weit verbreitet in Amerika gelesen werde, dass alle meine Romane an den Bahnhöfen verkauft werden». Vermutlich verdankt Andersen diese Popularität dem damals neuartigen Typus des Gegenwartsromans, der den ausländischen Lesern einen Einblick in das Alltagsleben eines fremden Landes ermöglichte, das zu jenen Zeiten die meisten niemals selbst würden bereisen können. Der Roman hat in seiner Modernität, in seiner Abkehr von der bis dahin üblichen, retrospektiv erzählten, biedermeierlicher Romantik, einen berühmten Landsmann auf den Plan gerufen, den Philosophen Søren Kierkegaard, der dem Werk einen wütenden, achtzigseitigen Verriss hat angedeihen lassen. Aber das war vor 180 Jahren!

Wir haben es mit einem melancholischen Entwicklungsroman zu tun, dessen beide Protagonisten ganz unterschiedliche Schicksale haben. Mit biografischen Bezügen zur eigenen Vita erzählt Andersen von Christian (sic!), dem Sohn eines armen Schneiders, der davon träumt, mal Musiker zu werden. Im herrschaftlichen Nachbarhaus wohnt ein reicher Jude, der seine Enkelin Naomi bei sich aufzieht. Der schüchterne Christian verliebt sich heftig in das schöne Mädchen. Auf dem Dach ihres Hauses nistet ein Storchenpärchen, und als das Haus eines Tages bis auf die Grundmauern abbrennt und auch die Störchin hoch oben im Nest verbrennt, weil sie ihre Jungen nicht verlässt, wird nur Naomi gerettet, – der Schneider nimmt die Waise vorerst bei sich auf. Leitmotivisch begegnet uns der Storch bis zum Ende immer wieder mal in dieser Geschichte, und zwar als Symbol für Reisen, für die Sehnsucht nach fernen Ländern, aber auch für Treue. Aus Christian und Naomi jedoch wird nie ein Paar, zu verschieden sind ihre äußeren Prägungen. Da ist die bittere Armut, in der Christian aufwächst und aus der er sich als mäßig begabter Geiger letztendlich nicht befreien kann. Auch zum Seemann taugt er nicht, wie er schnell erkennen muss, ihm fehlt ganz einfach der Mut zur kühnen Tat. Naomi hingegen, der das behütete Leben in Wohlstand zu langweilig wird, brennt mit einem Kunstreiter vom Zirkus durch und reist durch halb Europa, trennt sich schließlich aber von ihm. Der reiseerprobte Autor baut neben Kopenhagen auch die Metropolen Wien und Paris – kontrapunktisch zum einfachen Landleben – als Handlungsorte mit ein in seinen elegischen Roman. Weniger spektakulär und komfortabel hingegen ist Christians Weg, er schlägt sich recht und schlecht durchs Leben und ist am Ende des Romans «nur ein Spielmann».

Andersen erzählt seine berührende Geschichte mit ihrer Vielfalt an Motiven in einer betulichen Sprache und mit reichlich zeitbedingtem Pathos, durch die Neuübersetzung von 2005 ist sie aber flüssig lesbar. Immer wieder sind darin ziemlich naive religiöse Bezüge und nicht immer überzeugende, philosophische Reflexionen eingewoben, es finden sich aber auch wunderbar plastische Natur- und Landschaftsbeschreibungen, seine Figuren sind zudem sehr lebensecht beschrieben. Der linear und erfreulich stringent erzählte Plot lässt keine Langeweile aufkommen, die große Stärke jedoch ist das uns Heutigen zumeist unbekannte Lokal- und Zeitkolorit dieses Romans. Als hilfreich erweisen sich die fast zweihundert vom Autor selbst eingefügten Fußnoten und ein äußerst informatives Nachwort mit nützlichen Infos zu diesem sozialkritischen Roman und seinem als Romancier völlig verkannten Autor.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S. Fischer

God‘s Kitchen

Die 19-jährige Studienanfängerin Celine ist hypersensibel und verfügt über eine Gabe, die sie zunehmend als Last empfindet: Ab und an erscheinen ihr Visionen, die sich als tatsächliche Ereignisse in naher Zukunft herausstellen. Ihre Eltern, die in einem Zugunglück umkamen, das das Mädchen voraussah, schenkten den verzweifelten Warnungen ihrer Tochter keinen Glauben und zahlten mit ihrem Leben. Ein Studienfreund, den sie vor einem Unfall mit dem Fahrrad warnt, kommt zwar mit dem Schrecken davon, aber er meidet daraufhin Celine, weil sie ihm nicht ganz geheuer ist.
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Genre: Jugendbuch
Illustrated by Loewe Bindlach

Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war (Alle Toten fliegen hoch Band 2)

Der junge Held in Meyerhoffs zweitem Roman wächst zwischen Hunderten von Verrückten als jüngster Sohn des Direktors einer Kinder- und Jugendpsychiatrie auf – und mag es sogar sehr. Mit zwei Brüdern und einer Mutter, die den Alltag stemmt – und einem Vater, der in der Theorie glänzt, in der Praxis aber stets versagt. Wer schafft es sonst, den Vorsatz, sich mehr zu bewegen, gleich mit einer Bänderdehnung zu bezahlen und die teuren Laufschuhe nie wieder anzuziehen? Oder bei Flaute mit dem Segelboot in Seenot zu geraten und vorher noch den Sohn über Bord zu werfen?
Am Ende ist es aber wieder der Tod, der den Glutkern dieses Romans bildet, der Verlust, der nicht wieder gutzumachen ist, die Sehnsucht, die bleibt – und die Erinnerung, die zum Glück unfassbar pralle, lebendige und komische Geschichten hervorbringt.

Nun habe ich vier der geplanten 7 Bände des autobiografischen Romans von Joachim Meyerhoff gelesen. Dieser Band ist Band 2, obwohl er mE Band 1 sein sollte, denn hier geht es um Meyerhoffs Kindheit. Einer Kindheit inmitten Geisteskranker, die zugleich – weil für den Jungen Normalität – eine Art erweiterter Familie waren. Manche überaus geliebt, andere gefürchtet oder belächelt. So wie er selbst, denn die beiden älteren Brüder necken und verspotten ihn allzugern. Nur seine beängstigenden Tobsuchtsanfälle bringen sie zur Räson.

Den Auftakt bildet ein Toter, den der knapp Siebenjährige findet. Schon früh erkennt er, dass Leben und Tod untrennbar verbunden sind.

Liebevoll und detailliert beschreibt Meyerhoff den Alltag in der Psychiatrie, wir lernen die Insassen genau kennen, ihre Macken, die zum Teil amüsieren, dann traurig machen oder sie uns fürchten lassen. Der Autor behält auch in den berührendsten oder erschreckendsten Situationen einen leichten, sehr nahen Tonfall, übrigens einen literarisch ausgezeichneteten, bei. Niemals kitschig oder abwertend den gezeigten Personen gegenüber. Dieses Buch ist mir bisher das schönste und nahegehendste seiner Erinnerungsreihe.

 


Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Hain

Codierte Verlusterfahrung

Das Genre «Nature Writing» möchte Esther Kinsky nicht gelten lassen für ihr als «Geländeroman» apostrophiertes neues Prosawerk «Hain», das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2018 prämiert wurde. Denn obwohl Landschaft und Natur darin einen breiten Raum einnehmen, dienen sie ihr vornehmlich als meditativer Hintergrund für einen Prozess der Trauerbewältigung, in dem die Möglichkeiten hinreichender verbaler Verarbeitung von individuellen Wahrnehmungen und Erinnerungen für sie das eigentliche Thema bilden. Handlung, ein irgendwo hinführender Plot gar, sind so gut wie nicht vorhanden bei dieser in sich gekehrten Prosa, die von ihrer schieren Beschreibungskunst lebt wie kaum ein anderer Roman, den ich je gelesen habe.

«In Olevano Romano lebte ich auf einige Zeit in einem Haus auf einer Anhöhe», beginnt eine namenlose Ich-Erzählerin, die um ihren Lebenspartner trauert, ihre dreiteilige Erzählung, «zwei Monate und ein Tag nach M.s Beerdigung». Der Roman ist in 59 kurze Kapitel mit jeweils aus nur einem Wort bestehenden, wunderbar deskriptiven Titeln unterteilt. Eine mosaikartige Erzählung mithin, die sich jedoch hier nicht zu einem Ganzen fügt, vielmehr schlaglichtartig nur die Sinneseindrücke einer melancholischen Hinterbliebenen aneinanderreiht. Und es sind Reisen nach einem Italien, das nicht als Sehnsuchtsland dargestellt ist, ganz im Gegenteil. Wobei dann auch noch die Jahreszeiten so unspektakulär wie möglich gewählt sind, es ist frostig, neblig, stürmisch, regnerisch, verschneit, alles andere als das Wetterklischee von Bella Italia also. Im zweiten Teil wird als zeitlicher Einschub von Erinnerungen an die Kindheit erzählt, hauptsächlich an Italienreisen in den siebziger Jahren mit der Familie, wobei der italophile Vater mit seinem sehr speziellen Faible für etruskische Nekropolen dominant im Blickpunkt steht, Mutter und Bruder werden kaum erwähnt. Im dritten Teil «Comacchio» reist die einsame Ich-Erzählerin ins Podelta, und auch dort sind es wieder die Dinge, das Gelände, die weite Lagune, die erzählerisch im Fokus stehen. Die schmuddeligen Ortschaften werden ungeschönt in ihrer wenig einladenden Alltäglichkeit beschrieben, ihre Friedhöfe aber ziehen sie geradezu magisch an.

Alles ist Grau in Grau in diesem statisch wirkenden, farblosen Szenario, in dem Menschen allenfalls als Statisten vorkommen, in dem die Leere scheinbar grenzenlos ist und die eifrig fotografierende Ich-Erzählerin fast unsichtbar bleibt als Person. Das reizarme Milieu steigert ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung ins beinahe Übersinnliche, selbst das kleinste Detail wird hier zum Ereignis, wobei der Erzählrhythmus allein ein wenig Bewegung in diese narrative Ödnis bringt. Über all dem liegt permanent die Trauer, verdüstert der Tod von M. und der des Vaters leitmotivisch das Geschaute, scheinbar Nebensächliche, das da ebenso präzis wie ausufernd beschrieben wird.

Als feinfühlig dargestellte Verlusterfahrung erfordert dieser erzählerisch fast schon asketische Roman einen ebensolchen, mithin geduldigen Leser, der aufnahmefähig ist für die zahlreichen subtilen Verweise und versteckten Symbole, aber auch für eine fein dosierte Intertextualität. Giorgio Bassani und dessen berühmter Roman «Die Gärten der Finzi-Contini» sind da vor allem zu nennen, wobei die Ich-Erzählerin diese Gärten vergeblich sucht im heutigen Ferrara, immerhin aber doch sein Grab findet. Pathetisch zwischen den Lebenden und den Toten schwebend, unentschieden zwischen Gegenwart und Vergangenheit oszillierend, ist Kinskys Hain der Ort, wo die Götter wohnen, von denen einer der übermächtige Vater ist. Vor den von ihm schwärmerisch beschriebenen Mosaiken in Ravenna stehend fühlt sie sich ihm seelisch zutiefst verbunden. Und man ahnt, dass die vordergründig spröde Erzählerin mit ihrer zuweilen fragwürdigen Semantik womöglich in ihrem «Geländeroman» eine Geheimsprache im Sinne Wittgensteins benutzt, für deren Code nicht jeder den passenden Schlüssel findet.

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Kurze Interviews mit fiesen Männern

Ironisches Psychogewäsch

Drei Jahre nach dem Opus magnum von David Foster Wallace erschien 1999 eine Sammlung von Geschichten unter dem ebenso deskriptiven wie amüsanten Titel «Kurze Interviews mit fiesen Männern». Der wichtigste und innovativste US-amerikanische Schriftsteller der Postmoderne glänzt hier wieder mit seinem geradezu verwegenen Sprachstil, der in einigen narrativen Aspekten an James Joyce erinnert und wohl auf seine Mutter Sally Foster zurückzuführen ist, deren Sprachbegeisterung ihn, wie er trotz sonstiger Vorbehalte gegen sie einräumte, entscheidend geprägt habe. Es geht im Wesentlichen um abnorme Beziehungen zwischen den Geschlechtern in diesem Band, wobei, wie der Titel schon ahnen lässt, den Männern allein hier die Rolle des Buhmannes zugewiesen ist, ein feministischer Ansatz also.

Geradezu als Lehrstück, als Quintessenz aus den 22 Geschichten, die noch folgen, beginnt das Buch mit «Ein stark verkürzter Abriss des postindustriellen Lebensstils», eine halbe Buchseite nur, in der jemand einen Mann und eine Frau einander vorstellt. Ein kommunikativer Akt mithin, der grandios fehlschlägt, – die Drei verstehen nichts, weil sie unehrlich sind, weil sie sich verstellen. Probleme mit der Verständigung aber durchziehen alle diese Geschichten von der Suche nach Identität. Da ist der 13jährige Junge, der an seinem Geburtstag erstmals auf den Sprungturm im Freibad klettert und nun schlotternd vor Angst nach unten starrt, oder die Ehefrau, die nach dreijähriger Ehe das abgekühlte sexuelle Verlangen mit allerlei Hilfsmitteln aus der Adult-World wieder gehörig aufheizen will. Um Sex geht es in vielen der Geschichten, sei es um machohafte Protzerei, um brutale Vergewaltigung, um ausgeklügelte Methoden der Anmache. Unter den insgesamt vier Geschichten des Buches mit dem Titel «Kurze Interviews mit fiesen Männern» ist am Ende eine, bei der ein junger Mann erzählt, mit welchen Tricks er ein schönes Mädchen auf einem Stadtfest zu einem One-Night-Stand verführt hat. Postkoital berichtet sie ihm dann von dem schlimmen Erlebnis, wie sie mal als Tramperin unbedacht bei einem Mulatten ins Auto gestiegen ist und voller Entsetzen zu spät erkannt hat, dass der Mann offensichtlich ein pathologischer Lustmörder ist. Und wie sie mit purer Willensanstrengung zwar nicht der Lust, aber doch dem Mörder entkommen ist. Ihre «Anekdote», wie er es naiv nennt, beeindruckt den jungen Mann derart, dass er am Schluss aus seiner lieblosen Rolle als Frauen vernaschender Macho herausfindet und glaubt, sie könne ihn retten. «Ich wusste, ich konnte lieben. Ende der Geschichte».

In einem intellektuellen Feuerwerk erzählt Wallace, human und wütend gleichermaßen, von der Reizüberflutung des modernen Menschen, von dem informellen Dauerfeuer, unter dem er steht und bei dem sich Quantität und Qualität diametral gegenüberstehen. Er setzt seinen fulminanten Wortschatz und seine ebenso geschliffene wie komplexe Syntax mit beißender Ironie ein, wobei er auch in dieser Sammlung psychologischer Skizzen wieder die für ihn typischen Fußnoten verwendet, was seine ironische Intention oftmals ins verächtlich Sarkastische verschärft. All die Selbstdarsteller, Neurotiker, Depressiven in diesen Geschichten sind keine sonderlich markanten Figuren, denen man vielleicht sogar Empathie entgegenbringen könnte als Leser. Sie treten vielmehr narrativ deutlich zurück hinter das Geschehen, welches Wallace wie ein brillanter Diagnostiker mit Akribie psychologisch seziert, damit pathologische Marotten entlarvend, wobei er allerdings nicht selten gehörig übertreibt.

Zugegeben, DFW ist nicht leicht zu lesen, ein wenig muss man sich schon anstrengen, will man ihm gedanklich folgen. Gleichzeitig aber bietet die Lektüre beste Unterhaltung, wobei sich unter den oft schreiend komischen Erzählskizzen, unter dem «Psychogewäsch», wie es im Buch selbstironisch heißt, die depressiven Krüppel unserer Konsum- und Mediengesellschaft verbergen, und davon gibt es mehr, als man glaubt.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek