Krafttiere

Krafttiere: Wieder steht ein Jahreswechsel an und mit ihm die guten Vorsätze für das kommende Jahr. Viele Menschen spielen am Vorabend, dem nach dem Heiligen Silvester benannten Abend, diverse Gesellschaftsspiele. Eines davon könnte auch das Kartenlegen sein und da es nicht immer ausschließlich Tarotkarten sein müssen, vielleicht dieses Jahr die Krafttiere-Karten, damit das Neue Jahr gut getankt neu beginnt? Auf den Schwingen des Adlers etwa oder den Blicken der weisen Eule?

Silvesterunterhaltung mit Helfertieren

 

Diese Originalausgabe besteht aus einer Schmuckschachtel, einem Buch mit 60 Seiten, 49 Karten im Format 95 x 140 mm und vielen Informationen zu den Krafttieren, darunter Eule, Fuchs, Adler und 46 weitere, insgesamt also 49. Das ausführliche Booklet mit 60 Seiten erklärt, wie man mit die Karten benutzt und beschreibt jedes Tier mit seinen besonderen Eigenschaften.  Man kann es dem Zufall überlassen, oder selbst wählen, das jeweils eigene Krafttier wird in jedem Fall helfen, das Neue Jahr gut beginnen zu lassen.

Neue Gedanken für ein neues Leben

Ein Helfertier lässt sich mittels einfachen Kartenziehens eruieren. Damit wähle man dann bewusst – oder unbewusst – die „Fährte der Inspiration“, denn Kartenlegen dient ja hauptsächlich dazu, sich neuen Gedanken auszusetzen und sie für sich selbst zu adaptieren. Das kann oft zu Lösungen führen – oder noch mehr Problemen. Aber die Helfertiere haben ja die Aufgabe, Sie über diese Stromschnellen hinwegzuführen. Nach dem Mischen und Ziehen der Karten, sollte man sich den Text im Booklet dazu gut durchlesen und sich zu neuen Gedankengängen verführen lassen. „die Fragen müssen immer an die Realität angebunden sein“, schreiben die Herausgeber, „egal ob sie in die Vergangenheit oder Zukunft führt“.

Regula Meyer / Karin Lurz
Krafttiere und ihre seelischen Botschaften
Set mit Booklet und Karten
ISBN: 9783868267686
Umfang: Set (Buch + Karten)
2017, Königsfurt-Urania Verlag
17,95 €

Eine liebevolle Geschenkidee zu jedem Anlass. Für Jedermann.


Genre: Spiele
Illustrated by Königsfurt Urania

Bewusst fasten

Fasten mit dem Profi: Rüdiger Dahlke

Bewusst fasten: Wegbegleiter und Wegweiser sind die Bücher von Ruediger Dahlke allemal, hat er sich doch schon 1980 für einen bewussteren Lebensweg entschieden und dieses Buch nun in einer Neuausgabe beim Königsfurt-Urania Verlag herausgebracht. Der 1951 geborene Dahlke ist Arzt, Psychotherapeut, Referent und Bestseller-Autor, einige seiner Bücher wurden in 28 Sprachen übersetzt.
Seine Schwerpunkte sind ganzheitliche Psychosomatik, „Krankheit als Symbol“ und vegane Ernährung. Er betreibt seit mehr als drei Jahrzehnten Seminare zu diesen Themen und das vorliegende Buch ist ein guter Einstieg in sein Leben und Werk.

Solve et coagula

Bewusst fasten – das Buch entstand Ende der 1970er Jahre als lose Blättersammlung – wurde zu Beginn von Dahlkes Karriere noch belächelt, doch heute gelte es bereits als wissenschaftlich erwiesen, dass das Fasten gesunde Körperzellen stärkt und kranke schwächt. Es könne mit Fasten sogar Erfolg bei Geisteskrankheiten erzielt werden und auch gegen Krebs kann es unter Umständen Wunder wirken. Denn wer fastet, beschäftigt sich mit seinem Unbewussten, den eigenen dunklen Seiten, den Schattenseiten und dem Verdrängten. „Fasten ist Körperbehandlung und Psychotherapie in einem“, schreibt Dahlke und wer es einmal ausprobiert hat, der wird zugeben müssen, dass die positiven Effekte des Fastens nicht von der Hand zu weisen sind. „Solve et coagula“, das wussten schon die Römer: „Löse und binde!“

Vertrauen schafft Sicherheit

Das Erfolgsgeheimnis des Fastens liege vor allem in der Übernahme von Eigenverantwortung, denn wer fastet, kann seine Verantwortung nicht mehr delegieren, sondern wird aktiv und selbstbezogen – und gerade das ist sehr heilsam. „Therapie“ bedeute viel zu oft „den Irrweg, Patienten scheinbar abzunehmen“, meint Dahlke, „anstatt ihnen die fürs eigene Gesunden notwendige aufzuzeigen“. Der Sinn des vorliegenden Buches liege darin, Vertrauen zu schaffen, denn daraus erwachse Sicherheit. Selbst Hildegard von Bingen vertraute auf das Fasten als Heilmaßnahme: sie traute dem Fasten zu, 29 von 35 Lastern oder Süchten zu therapieren. „Wenn all mein Fleisch hinwegschwindet, wird die Seele immer heller, des Geistes Wachsein immer fester“, sagte schon Buddha. Der „Reiseführer für eine Reise nach innen“, wie Dahlke sein Buch auch nennt, gibt eine Anleitung wie man es richtig macht, enthält einen Fastenplan, Rezepte, viele Fotos und aufbauende Worte. Und damit es kein Neujahrvorsatz bleibt: am besten heute schon beginnen, denn weniger ist ja bekanntlich mehr.

Dr. Med. Ruediger Dahlke
Bewusst fasten
Ein achtsamer Wegweiser zu neuen Erfahrungen
Taschenbuch, durchgängig farbig, 224 Seiten, 11,8 x 18 cm
ISBN: 9783868261639
2017, Königsfurt-Urania Verlag
9,95 €


Genre: Gesundheit, Ratgeber
Illustrated by Königsfurt Urania

Besoffen – Deutsch. Ein Wiener Sprachführer

Ein Sprachführer durch das Wienerische: Besoffen Deutsch

Homseihinshianschssn?“ Die vorliegende Holzbaum Publikation “Besoffen -Deutsch” widmet sich wie immer mit sehr viel Humor ganz besonderen Verständigungsschwierigkeiten, denn wer versteht den Wienerischen Besoffenen noch, wenn ihn selbst die Wiener nicht mehr verstehen können. Ein kleiner blauer Sprachführer schafft jetzt Abhilfe, denn mit „Besoffen – Deutsch. Ein Wiener Sprachführer
“ von Harald Havas, kann man ihm nun immer und überall und gut vorbereitet begegnen: dem Homo viennensis ebrius, dem betrunkenen Wiener, auch – laut Autor – als „gemeiner Bsuff“ bekannt. Die eingangs erwähnte Floskel kann hier aus Pietätsgründen leider nur sinngemäß und nicht wortwörtlich übersetzt werden: „Geht es auch günstiger?“

Besoffen auf Wienerisch

 

„Sbife is Glas!“ Wer einem betrunkenen Wiener begegnet – und das muss, wie auch der Herausgeber betont durchaus nicht unbedingt immer in der österreichischen Hauptstadt sein – der ist künftig gut gewappnet: in 20 kurzen, aus dem Leben gegriffenen, beispielhaften Lektionen wird archetypisch die Ausdrucksweise der Spezies Homo viennensis ebrius vermittelt und für mehr Verständnis gesorgt. „Denn gar nicht selten ist der betrunkene Wiener auch in den Bergen oder am Meer anzutreffen. Manchmal sogar in Begleitung seines Weibchens, das oft seine Leidenschaft für alkoholisch-induzierte Entrückungszustände teilt“, schreibt Havas und spricht damit zugleich eine Warnung aus: sie können auch in Paaren (!) auftreten. Zum Beispiel am Eislaufplatz: „Das Buffet ist hervorragend.“ Mehr als 600 weitere Floskeln erwarten Sie!

Bonustracks zum Mitsingen

 

Als Bonustracks werden in “Besoffen – Deutsch. Ein Wiener Sprachführer.” auch bekannte Wienerlieder, die beim Heurigen mitgesungen und Austropop zum Mitgröhlen als Quiz vorgestellt. Etwa: „Eif Ah Ah Ah Ah Ah Eifiseif!“ Na, hätten Sie’s erkannt? Was? Na, dann wird’s höchste Zeit!

Harald Havas:
Besoffen – Deutsch
Ein Wiener Sprachführer
978-3-902980-63-2
38 Seiten, Softcover,
ISBN 978-3-902980-63-2
5,00 EUR
Holzbaum Verlag


Genre: Humor, Sprache
Illustrated by Holzbaum Wien

Die Aspern-Schriften

Vom steinernen Zölibatär

Der im angelsächsischen Sprachraum als Kultautor verehrte Schriftsteller Henry James hat auch in dem Roman «Die Aspern-Schriften» von 1888 ein grandioses Beispiel geliefert für seine Kunst, psychologisch ausgefeilte Frauenfiguren zu erschaffen, das andere Geschlecht also vielschichtig und tiefgründig darzustellen. Dabei bleibt allerdings eine – nicht ganz unwichtige – Komponente des Weiblichseins völlig ausgeschlossen. Der Autor hat sich selbst mal als einen «sexuellen Selbstversorger» bezeichnet, seine Geschichte – wen wundert’s – ist ein geradezu puritanisch anmutender Text ohne jeden erotischen Esprit. Aber auch Wittgenstein hat ja in seinem berühmten Tractatus logico-philosophicus gefordert: «Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen». Es bleibt aber, das sei vorweg gesagt, genügend übrig aus dem fragwürdigen Innenleben seiner Figuren, was diesen subtilen Roman trotzdem zu einem Lesevergnügen werden lässt.

In einem kammerspielartigen Plot mit nur drei Hauptfiguren und einem verfallenen Palazzo in Venedig als Bühne wird die Geschichte einer literarischen Obsession erzählt. Ein amerikanischer Ich-Erzähler, der namenlos bleibt und auch altersmäßig unbestimmt, ist als Herausgeber von Werken des – etwa um 1820 herum – jung verstorbenen, romantischen Dichters Jeffrey Aspern auf der Suche nach hinterlassenen Schriften von ihm. Dabei ist er auf Juliana Bordereau gestoßen, die einst zu seinen Musen gehörte und in seinem Werk etliche Spuren hinterlassen hat. Sie lebt hochbetagt mit Tina, ihrer Nichte ebenfalls unbestimmten Alters, die genau so gut auch ihre Großnichte sein könnte, völlig zurückgezogen in Venedig. Auf schriftliche Anfrage wird der Romanheld denn auch brüsk abgewiesen, also versucht er mit einer List, in die Nähe der uralten Dame, – eine Hundertjährige mutmaßlich -, und damit auch an die bei ihr vermuteten, begehrten Papiere zu kommen, Liebesbriefe höchstwahrscheinlich. Und tatsächlich zieht er unter falschem Namen und unter einem trickreichen Vorwand für eine horrende Summe als Untermieter in den Palazzo ein und kann auch tatsächlich, nach anfänglich eiskalter Abweisung seitens der Damen, allmählich einen Kontakt zu ihnen aufbauen. Seine wahnhafte Gier nach schriftlichen Zeugnissen seines Dichter-Idols, den er auf einer Stufe sieht mit Shakespeare, lässt ihn alle Demütigungen ertragen und bringt ihn finanziell an den Rand des Ruins. Moralische Skrupel kennt er nicht, «es gibt keine Niederträchtigkeit, die ich nicht um Jeffrey Asperns willen begehen würde» sagt er im Roman. Der Nichte verrät er schließlich den wahren Grund seines Aufenthalts im Palazzo, und nach dem ersten Schrecken deutet sie vage an, ihm vielleicht ja helfen zu können.

Die in neun Kapiteln konventionell erzählte, spannende Geschichte, die zeitlich nur einige wenige Monate umfasst, steigert sich in einer geschickten Dramaturgie auf ein so nicht unbedingt vorhersehbares Ende zu. Mit ihrem kenntnisreichen Nachwort gibt die Übersetzerin dem Leser eine hochwillkommene Ergänzung des Textes zur Hand, die auf dessen viele Bezüge zum Ambiente Venedigs eingeht, auf die im Roman beschriebenen Kunstwerke zudem, vor allem aber auf das verwirrend komplexe psychische Geflecht der drei Protagonisten. An dieser Stelle erfahren wir auch, dass all dem eine Anekdote zugrunde liegt von einem Geschehen, das sich im Jahre 1879 in Florenz zugetragen habe, – mit identischem Ausgang der Geschichte übrigens.

Der sprachlich recht altbackene Roman mit seiner enigmatischen Erzählweise lässt den Lesern reichlich Raum für eigene Interpretationen. Mit kriminalistischen Anklängen wird da von beiden Seiten ein ebenso schlitzohriger wie erbitterter, skrupelloser Kampf zwischen den Damen und dem im Nachwort als «steinerner Zölibatär» bezeichneten Ich-Erzähler geführt. Keiner von ihnen kann wirklich gewinnen, was einen nicht unwesentlichen Teil des – zugegeben – schadenfrohen Lesevergnügens ausmacht, bei mir war es jedenfalls so!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Trennung

Wenn Trennung obsolet wird

Der erste auf Deutsch erschienene Roman der amerikanischen Schriftstellerin Kati Kitamura mit dem Titel «Trennung» überrascht in mancherlei Hinsicht. Denn es geht um die Trennung eines Ehepaares, was in vergleichbaren Geschichten ein Gefühlschaos auslöst und zu emotionalen Ausbrüchen führt, die unter dem Motto «Herz-Schmerz» ganze Bibliotheken mit Trivialliteratur füllen. Nicht so in diesem Buch, dessen Autorin sich dieses Themas kühl sezierend annimmt, das Geschehen vielmehr sehr distanziert, geradezu gelassen schildert und damit erzählerisch überraschend dieses beliebte literarische Genre konterkariert.

Die seit fünf Jahren verheiratete, in London lebende, namenlose Ich-Erzählerin hat sich mit Christopher auseinander gelebt, er ist seit einigen Monaten ausgezogen, sie selbst wohnt inzwischen bei ihrem Freund. «Es begann mit einem Anruf von Isabella» lautet der erste Satz. Die Schwiegermutter, die nichts von ihrer Trennung weiß, erkundigt sich nach ihrem Sohn, der in Griechenland für ein Buch recherchiert, aber nicht erreichbar ist. Ob sie nicht dorthin reisen könne, um zu klären, was mit ihrem Sohn sei. Vor Ort stellt sich heraus, dass Christoph schon seit vielen Tagen nicht mehr in seinem Hotelzimmer war, niemand weiß etwas über seinen Verbleib. Bis nach drei Tagen die Polizei erscheint, er sei an einer einsamen Landstraße tot aufgefunden worden, ausgeraubt und ermordet, es gäbe den Umständen nach leider kaum eine Chance, den Mordfall aufzuklären.

Diese vom Plot her wenig originelle, in dreizehn Kapiteln erzählte Geschichte lebt von den kontemplativen Einschüben, von den gedanklichen Rückblenden und Reflexionen der Ich-Erzählerin, die in Form des Bewusstseinsstroms, oft auch mit der inneren Rede all das ergänzt, was das erzählerische Gerüst erst zu einer vollständigen Geschichte formt. So erfährt man, dass Christoph ein notorischer Schürzenjäger war, als Schriftsteller aber kaum reüssieren konnte, und auch, wie wenig seine Frau letztendlich über ihn weiß. Aus ihrem geradezu voyeuristischen Blickwinkel werden dem Leser einige weitere Figuren vorgestellt. Da ist zunächst die Hotelangestellte Maria, mit der Christoph ein Verhältnis hatte, was sie der Witwe in einem der wenigen Gespräche, die die Handlung direkt voranbringen, freimütig gesteht. Oder der Taxifahrer Stefano, der Maria liebt und als eifersüchtiger Mann zumindest vom Motiv her als Täter in Frage käme. All das Spekulation, Teil der endlosen Gedankenspiele und Projektionen der Ich-Erzählerin, und auch über sie selbst übrigens erfährt der Leser herzlich wenig. Es ist eine äußerst minimalistische Erzählweise, mit der hier Illusionen aufgearbeitet, die Realitäten in einem Prozess des ständigen Sinnierens hinterfragt werden, und in der immer wieder über die Leerstellen und Lügen einer Ehe spekuliert wird.

Geschickt bindet die Autorin die trostlose griechische Landschaft, in der erst vor kurzem ein Waldbrand gewütet hat, in Ihre nicht minder trostlose Geschichte ein, die viele Fragen bewusst offen lässt. Ihre narrative Emotionslosigkeit macht nachdenklich, es wird damit eine Betroffenheit beim Leser erzeugt, die resignativ wirkt, die die Schrecken von Trennung und Tod evident werden lässt. Eine ziemlich makabre Szene spielt sich – darauf hinzielend – im Haus einer der im ländlichen Raum noch typischen Klageweiber ab, die bei einem Besuch der jungen Witwe eine Kostprobe ihres Klagegesangs zum Besten gibt und sich dabei exstatisch in ihren Gesang hineinsteigert. Das Todesmotiv taucht übrigens bereits am Anfang des Romans auf, Christoph recherchiert nämlich für ein Buch über Trauerrituale, er war mutmaßlich auch genau deswegen dorthin gereist. Mit irritierender Distanz und gelegentlich durchschimmernder Ironie wird in diesem psychologischen Roman jenes weibliche Gefühlsleben thematisiert, das mit dem langsamen Auflösungsprozess einer Ehe einhergeht, in der paradoxer Weise die Trennung selbst schlussendlich obsolet wird.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Die siebte Sprachfunktion

Für den idealen Leser

Der französische Autor Laurent Binet nimmt in seinem satirischen Roman «Die siebte Sprachfunktion» seine Leser mit auf einen Parforceritt durch die Semiotik, in dem die Poststrukturalisten gehörig durch den Kakao gezogen werden. Der Romantitel deutet auf die performative Funktion von Sprache hin, thematisiert wird hier also die Frage, inwieweit Sprache Realität herstellen kann. Ein einfaches Beispiel dazu: Mit dem Ausspruch «Ich eröffne die Versammlung» durch den Vorsitzenden tritt genau das ein, was er sagt, die Sprache schafft Fakten, die Versammlung ist tatsächlich eröffnet. Im Roman nun geht es darum, die von einem russischen Semiotiker perfektionierte siebte Sprachfunktion politisch zu nutzen, um damit Wahlen zu gewinnen, hier beim entscheidenden Rededuell um die französische Präsidentschaft mit dem sozialistischen Herausforderer François Mitterand.

Der in den 1980er Jahren angesiedelte, turbulente Plot versammelt alles, was Rang und Namen hat im Bereich der Semiotik, in einer geradezu burlesken Kriminalgeschichte, die den Tod von Roland Barthes, einem ihrer führenden Köpfe, kurzerhand zum Mordfall erklärt. Denn der Professor war im Besitz eines hochbrisanten Manuskripts, angeblich von dem russischen Linguisten Roman Jakobson verfasst, das den Schlüssel zur siebten Sprachfunktion bildet und eine mächtige Waffe darstellt in der Hand dessen, der es besitzt, es habe «die Sprengkraft einer Neutronenbombe». Bei seinem Verkehrsunfall muss das Papier dem berühmten Wissenschaftler, der just von einem Dinner mit François Mitterand kam, ganz offensichtlich entwendet worden sein. Kommissar Bayard ermittelt, nachdem der Schwerverletzte im Krankenhaus ermordet wird, in Intellektuellenkreisen, assistiert von Simon, einem Linguistik-Doktoranden mit Sherlock Holmesartiger Kombinationsgabe, der ihm im elitären Dschungel der Sprachwissenschaft die dringend benötigte Schützenhilfe geben soll.

In seiner ebenso aberwitzigen wie respektlosen Story, die über Paris, Bologna, Ithaka (USA) und Venedig bis nach Neapel führt, vermischt der Autor unbekümmert historische Realität mit tolldreister Fiktion. Er lässt sich die absurdesten Winkelzüge einfallen in einem Krimi, der im Wesentlichen als Vehikel dient für ausgiebige, teilweise auch ausufernde Streifzüge durch die Sprachwissenschaft. Wobei sein intellektuelles Personal aus namentlich benannten, realen Personen der Zeitgeschichte besteht, von denen viele noch leben. Wirklich erstaunlich, dass niemand von den Betroffenen gegen den Autor vorgegangen ist, niemand seine Persönlichkeitsrechte verletzt sah. Aber das kann wohl nur daran liegen, dass die Satire hier deutlich erkennbar ist und niemals hämisch daherkommt, also immer wohlwollende Karikatur bleibt. Der bulgarische Geheimdienst, die Mafia, zwei mysteriöse Asiaten, eine weltweit operierende, intellektuelle Loge, bei der auch Umberto Eco Mitglied ist, sie alle spielen eine Rolle in der spannenden Geschichte. Und leitmotivisch taucht immer wieder der schwarze Citroen DS-19 vom Titelbild auf. Déesse also, die Göttin, in Deutschland liebevoll «Flunder» genannt, als automobiler Klassiker ein Wahrzeichen der «Mythen des Alltags», der auch in einem Essay von Roland Barthes thematisiert wurde.

Der ideale Leser nach poststrukturalistischer Lehre ist der detektivisch veranlagte Spurenleser, immer auf der Suche nach Bedeutungen, mit einer geradezu lustvollen Beziehung zum geschriebenen Wort. Binets kecke Farce ist für eben jenen Leser als vergnügliches Lehrstück über eine epochetypische Theorieseligkeit angelegt, deren Absurdität nur mit viel Humor zu goutieren ist. Er erzählt sprachlich perfekt und schnörkellos, zeichnet dabei jeweils stimmige Bilder, jagt auf wechselnden Schauplätzen von einer interessanten Szenerie zu anderen. Egal, ob man an seinen semiotischen Exkursen Gefallen findet als idealer Leser, an der temporeichen Kriminalstory oder an der köstlichen Satire, lesenswert ist der Roman in jedem Fall.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Monument 14 – Die Rettung (Band3)

Nachdem ein Tsunami die Ostküste der USA verwüstet hat, finden sich Dean und sein kleiner Bruder Alex in einer Welt wieder, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen gelingt es ihnen, sich in ein Flüchtlingslager in Kanada zu retten. Doch Zeit zum Atemholen bleibt ihnen nicht: Noch immer ist Josies Schicksal ungewiss, die sich nicht mit ihnen aus dem Herzen des Sturms retten konnte und dann spurlos verschwand. Und auch Astrid, Deans Freundin, schwebt in Gefahr: Da sie während des Chemieunfalls, der sich kurz nach der Naturkatastrophe ereignete, schwanger war, zeigt die Regierung nun ein beunruhigendes Interesse an ihr. Astrid fürchtet um ihr Kind und flieht aus dem Flüchtlingslager, begleitet von Dean. Doch sie ahnen nicht, was sie draußen erwartet…

Fast alle Kinder und Jugendliche haben es unter dramatischen Umständen zum Denver Airport geschafft und wurden nach Kanada ausgeflogen, wo sie nun unter akzeptablen Umständen in einem Flüchtlingslager untergebracht sind. Dort haben ein paar der Kinder sogar ihre Eltern wiedergefunden.

Allerdings herrschen nicht in allen Flüchtlingslagern solch akzeptable Bedingungen und in manchen Lagern der USA herrschen katastrophale Zustände die eher Hochsicherheitsgefängnisse für Schwerverbrecher oder sogar an Konzentrationslager erinnern.

Durch Zufall erfahren die Jugendlichen dass Josie in einem solchen Lager gelandet ist denn sie wurde bei der Flucht vom Rest der Gruppe getrennt. Natürlich gibt es jetzt für die Jugendlichen kein Halten mehr und sie wollen Josie dort raus holen. Vor allem ihr Anführer Niko will sofort aufbrechen denn Josie und Niko haben sich während der Flucht verliebt und sind mittlerweile ein Paar.

In einer ziemlich überstürzten Aktion verlassen Niko, Dean, Astrid und Jake das Lager und machen sich auf den langen Weg zu Josie.

Dass die hochschwangere Astrid die Jungs begleitet ist eigentlich nicht geplant aber Gerüchte darüber dass die Regierung Experimente an schwangeren Frauen durchführt die dem Giftgas ausgesetzt waren, treiben die Jungs dazu Astrid mit auf die Reise zu nehmen.

Diese Reise stellt sich aber als noch gefährlicher und anstrengender heraus als gedacht denn das Giftgas ist nicht völlig verschwunden. In manchen Bundesstaaten gibt es noch gefährliche Gaswehen, was die Regierung allerdings zu vertuschen versucht und natürlich sind das genau diese Bundesstaaten die die Jugendlichen auf dem Weg zu Josies Lager durchqueren müssen…

Im dritten und letzten Teil der Trilogie gibt nun die „Dean-Kapitel“, sowie auch die „Josie-Kapitel“, die jeweils aus der Ich-Erzählperspektive erzählt werden.

Obwohl die Josie-Kapitel aus dem grauenvollen Flüchtlingslager auch sehr spannend, interessant und heftig sind und auch die Dean-Kapitel sehr spannend bleiben, so muss ich doch sagen dass der dritte Band der schwächste der Trilogie ist.

Ich fand das Buch auch sehr gut und die komplette Trilogie extrem empfehlenswert, allerdings hat mich der dritte Band nicht so extrem gefesselt wie die ersten beiden Bände und das Ende fand ich auch etwas zu abrupt und ein bisschen zu schmalzig.

Alles in allem kann ich Endzeitfans diese Trilogie aber wirklich sehr ans Herz legen und auf jeden Fall extrem empfehlen.


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten
Illustrated by Heyne München

Trutz

Glücklich ist, wer vergisst

Der mit Preisen üppig dekorierte Schriftsteller Christoph Hein erzählt in seinem Roman «Trutz», wie zwei Familien in Deutschland und Russland ins Mahlwerk der Geschichte geraten. Im Vorwort erfahren wir: «In diesen Roman geriet ich aus Versehen oder vielmehr durch eine Bequemlichkeit». Bei einem Vortrag nämlich trifft er zufällig auf Maykl Trutz, der ganz offensichtlich ein phänomenales Gedächtnis hat und aus dem Stehgreif mit seinen gezielten Fragen die Rednerin arg in Verlegenheit bringt. Von dem verblüfften Ich-Erzähler angesprochen, woher er denn seine Detailkenntnisse habe, erklärt er: «Ich habe es irgendwann einmal gelesen. Und was ich gelesen habe, weiß ich. Und wenn ich es aufgeschrieben habe, weiß ich es für alle Zeiten». Von ihm stammt die Geschichte, die hier erzählt wird, und ihm hat der Autor sein Epos auch gewidmet.

Die Mnemonik, die Kunst des Gedächtnistrainings also, zieht sich wie ein roter Faden durch den Plot, der von der Weimarer Republik bis ins neue Jahrtausend hinein insbesondere die verheerenden Auswirkungen der durch Hitler und Stalin, aber auch durch die SED errichteten Diktaturen am Beispiel seiner Protagonisten verdeutlicht. Da ist zunächst Maykls Vater Rainer, der nach der Schule aus seinem kleinen Dorf nach Berlin geht, um dort als Schriftsteller sein Glück zu versuchen. Er schreibt eine kritische Rezension für die «Weltbühne» über die Reise einer Gruppe von Schriftstellern durch die Sowjetunion und hat mit einem kleinen Roman seinen ersten Erfolg, bis plötzlich im «Stahlhelm», dem Kampfblatt der Nazis, eine bösartige Kritik erscheint, der sich alle anderen Zeitschriften geflissentlich anschließen, – er ist als Autor damit vernichtet. Mit seiner Lebensgefährtin, die einer christlichen Gewerkschaft angehört und ebenfalls unter politischen Druck gerät, emigriert er schließlich nach Moskau. Sie bauen sich dort unter großen Mühen ein bescheidenes Leben auf und bekommen 1934 einen Sohn, Maykl.

Bei einer Weihnachtsfeier mit ihrer russischen Freundin lernen sie Waldemar Gejm kennen, Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft, der als Pionier der Mnemonik in Russland erfolgreiche Studien betreibt. Selbst sein kleiner Sohn Rem und Maykl werden darin einbezogen, als sie zwei Jahre alt sind, beide machen begeistert mit, die Knirpse profitierten deutlich erkennbar von dem neuartigen Gedächtnistraining. Bis plötzlich beide Familien Opfer der stalinschen Säuberungen werden und man sie unter völlig unhaltbaren Anschuldigungen zur Zwangsarbeit im Osten verurteilt, die beide Elternpaare letztendlich nicht überleben. Auch in der DDR leidet der später nach Deutschland zurückgekehrte Maykl erneut unter politischer Willkür, er trifft Rem schließlich erst nach 48 Jahren wieder, als beide schon pensioniert sind.

Dramaturgisch geschickt erzählt Hein in drei Teilen seine ebenso spannende wie bewegende Geschichte von der oft abstrusen politischen Willkür dieses für das Menschsein eher katastrophalen, rückschrittlichen Jahrhunderts. Wobei er sich einer geradezu «zweckdienlichen», schnörkellos klaren Sprache bedient, die besonders in den lebensechten Dialogen überzeugt. Auch die Verstrickung der beiden Familienschicksale ist glaubwürdig dargestellt. Allerdings hat man all das, wovon berichtet wird, schon anderswo gelesen, sieht man mal von der Mnemonik ab, und es wird leider auch so manches Klischee bemüht. Zuweilen stellt sich – auch durch einige unnötige Wiederholungen – Langeweile ein bei den detailverliebten, aber eben auch ausufernden Schilderungen. Ironie mithin, weil Maykls Verleger im Roman ihn ermahnt, nicht mehr als 150 Seiten zu schreiben bei seinem zweiten Romanprojekt, – Hein selbst braucht 477, Suhrkamp ist da deutlich großzügiger. Und das Couplet «Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist» am Ende von Rems Trauerfeier, das auch den letzten Satz des Romans bildet, den Maykl da vor sich hinträllert, ist geradezu unglaublich kitschig. Schade!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Brick Lane

Prekär wie die gleichnamige Straße

Ihr Debütroman «Brick Lane» hat die britische Schriftstellerin Monica Ali auf einen Schlag berühmt gemacht, er wurde 2003 für den Booker Price nominiert und löste einen entsprechenden Hype aus, der sich in Deutschland allerdings nicht wiederholte, ganz im Gegenteil. Der 2007 verfilmte Roman wurde vom britischen Feuilleton positiv kommentiert, führte jedoch auch zu erregten Debatten, an denen sich sogar Salman Rushdie vehement beteiligte. Es ging dabei allerdings nicht um die literarische Qualität, sondern um seine Thematik, Immigration ist schließlich ja nicht nur in Großbritannien ein Reizthema par excellence. Die Autorin mit bengalischem Vater und englischer Mutter verdeutlicht schon mit dem Titel ihres Buches, worum es geht. Die reale Brick Lane in Londons East End, knapp zwei Kilometer lang, liegt in der prekären Gegend von ‹Tower Hamlets›, einer Art ‹Klein-Indien›, sie bildet den Mittelpunkt im Viertel der Immigranten aus Bangladesch.

Erzählt wird die Geschichte von Nazneen, die als 18jährige Bengalin von ihrem Vater mit dem zwanzig Jahre älteren, behäbigen Chanu verheiratet wird und aus einem kleinen Dorf in Bangladesch zu ihm nach London geht. Sie ist völlig ungebildet, kann kein Wort Englisch und ist in ihrer traditionellen Rolle als islamische Frau strikt an das Haus gebunden, sie verlässt die winzige, armselige Wohnung kaum. Wir haben es mit einem typischen Entwicklungsroman zu tun, der erste Satz lautet denn auch: «Eine Stunde und fünfundvierzig Minuten bevor Nazneens Leben begann – es begann, wie es für einige Zeit auch weitergehen sollte, das heißt ungewiss -, spürte ihre Mutter Rupban, wie eine eiserne Faust ihren Leib zusammenpresste.»

Im ersten Teil der Geschichte wird das armselige Leben Nazneens in Bangladesch beschrieben, aus dessen Fremdbestimmung sich ihre jüngere Schwester Hasina befreit, indem sie mit ihrem Geliebten in die Hauptstadt Dhaka durchbrennt, eine Auflehnung gegen die Eltern, die für Nazneen völlig undenkbar wäre. Ihr Mann ist gut zu ihr, erweist sich aber mit den Jahren als völlig unrealistischer Schwadroneur, er kündigt am Ende entmutigt seine Stellung, um in die Heimat zurückzukehren. Die Töchter von Nazneen aber bestärken ihre inzwischen immer selbstbewusster gewordene Mutter darin, nicht mitzugehen nach Bangladesch, eine Entscheidung, bei der auch die Ereignisse von 9/11 eine gewichtige Rolle spielen. Um diesen Handlungskern herum breitet die Autorin auf vielen hundert Seiten Nazneens Weg aus der Unmündigkeit vor uns Lesern aus, berichtet minutiös vom kargen Leben der Immigranten in der Hauptstadt des Empire. Als Gegenpol dienen hierbei die Briefe der Schwester aus Dhaka, deren Leben alles andere als beneidenswert erscheint und die am Ende gar, vom Geliebten verlassen, als Prostituierte arbeitet. Und auch die Nachrichten von ihrem nichtsnutzigen Ehemann sind alles andere als ermutigend, Nazneen ist froh, ihm nicht gefolgt zu sein.

Die Widersprüche zwischen traditionell muslimischer und moderner westlicher Lebensweise sind hier wenig überzeugend dargestellt, die aus privilegierten britischen Verhältnissen stammende Autorin hat jedenfalls keinerlei autobiografische Erfahrungen in ihre Geschichte einbringen können, und das merkt man deutlich. Ihr Roman ähnelt einer schier endlosen, gefühlsduseligen Soap Opera mit hoffnungsvollem Ausgang, wobei sie wohlweislich nur beschreibt, die Geschehnisse also nicht bewertet. Das entscheidende Manko aber ist die quälende Langatmigkeit, in der die handlungsarme Story, völlig humorlos übrigens, erzählt wird. Eine Geduldsprobe für den Leser also, mindestens ebenso langweilig wie das Leben, das die Heldin mit ihrem Mann führen muss, bevor sie sich trennen. Schade, denn das sprachliche Können der Autorin, ihre Beobachtungsgabe, die Sensibilität, mit der sie alles Menschliche erfasst, ist ja durchaus vorhanden. Aber das allein reicht halt nicht für einen bereichernden, unterhaltsamen, lesenswerten Roman!

Fazit: miserabel

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Droemer Knaur München

Monument 14 – Die Flucht (Band 2)

Wenn die Zivilisation zusammenbricht, bist du ganz auf dich allein gestellt.
Nachdem ein Tsunami die Ostküste der USA getroffen und weite Teile des Landes verwüstet hat, stranden vierzehn Jugendliche in einem Einkaufszentrum. Der Strom fällt aus, die Zivilisation bricht zusammen, und aus einer nahen Chemiefabrik entweicht eine gefährliche Giftwolke. Dann dringt das Gerücht durch, dass die Überlebenden von Denver aus ausgeflogen werden. Die Jugendlichen bestimmen eine Gesandtschaft, die sich nach Denver durchschlagen soll. Der Rest von ihnen bleibt zurück, darunter der eher schüchterne Dean, der sich früher immer aus allem herausgehalten hat. Als sie von einem gewalttätigen Einbrecher bedroht werden, muss Dean über sich selbst hinauswachsen…

Die Lage im Einkaufszentrum hat sich dramatisch zugespitzt. Nachdem Fremde in das Einkaufszentrum gelangt sind, wurde einer der Jugendlichen angeschossen und benötigt dringend Hilfe. Außerdem gibt es das Gerücht, dass am Flughafen von Denver Hilfe zu erwarten ist. Angeblich ist dort der Sammelpunkt für Überlebende, die von dort durch das Militär nach Kanada und Alaska ausgeflogen werden. Aber was ist dran an diesem Gerücht, und können die Kinder und Jugendlichen die 100 Kilometer nach Denver überhaupt schaffen? Die Straßen sind zerstört oder verstopft und die Giftgaswolke hängt noch immer über dem Land …

Den Jugendlichen bleibt keine Wahl, denn wenn Braydon nicht dringend Hilfe bekommt, dann sieht es sehr schlecht für ihn aus. Aber nicht alle sind dafür, das (relativ) sichere Einkaufszentrum zu verlassen, und so teilt sich die Gruppe auf. Die eine Hälfe der Kinder und Jugendlichen bleiben im Einkaufszentrum und die andere Hälfte macht sich auf die gefährliche und lange Reise nach Denver …

Dadurch dass sich die Gruppe aufgeteilt hat, ist im zweiten Band der Trilogie nicht mehr nur der 17jährige Dean der Ich-Erzähler, sondern auch sein 13jähriger Bruder Alex, der sich mit den anderen auf den Weg nach Denver macht. Von nun an gibt es immer abwechselnd die „Alex Kapitel“ und die „Dean Kapitel“, was mir sehr gut gefallen hat und gleichermaßen spannend war. Denn auch im Einkaufszentrum spitzt sich die Lage immer weiter zu, während Alex und die anderen sich mit den Gefahren der Außenwelt und anderen Überlebenden herumschlagen müssen, die nichts zu verlieren haben und an die Vorräte der Jugendlichen gelangen wollen.

Der zweite Teil der Trilogie hat an Spannung und Dramatik noch um einiges zugelegt, und ich habe das Buch noch schneller verschlungen als den ersten Teil. Jetzt kann ich es kaum erwarten, mich direkt auf den dritten Teil zu stürzen.

Einfach nur großartig, extrem spannend und sehr bewegend!

 

 


Genre: Dystopie
Illustrated by Heyne München

Das Ende einer Affäre

Der dritte Mann

Auf der im Dezember 2015 von der BBC veröffentlichten Liste der hundert bedeutendsten britischen Romane ist Graham Greene dreimal vertreten, wobei sein Roman «Das Ende einer Affäre» von den 82 nicht-britischen Juroren als sein bester auf Platz 31 gewählt wurde. Das 1951 erschienene Buch des mehrfach erfolglos für den Nobelpreis nominierten Autors wurde zweimal verfilmt, es gibt auch eine Adaption als Oper. Beherrschende Themen seiner Werke ist das Menschsein insbesondere in Hinblick auf Schuld, Verrat und Glaube, er wird wegen seiner religiösen Bindung zu der in Frankreich entstandenen literarischen Bewegung Renouveau catholique, der Religiösen Erneuerung gerechnet. Seine frühen Romane sind von einer düsteren, traurigen Atmosphäre gekennzeichnet, für die im englischen Sprachraum der Begriff «Greeneland» geprägt wurde. Auch der vorliegende Roman zählt dazu, er gehört thematisch zu den «catholic novels» dieses Autors. Es finden sich darin diverse autobiografische Bezüge, auch der Ich-Erzähler des Romans ist Schriftsteller, hat eine Affäre mit einer verheirateten Frau, und eine Konversion zum katholischen Glauben, wie sie der Autor auch selbst vollzogen hat, ist letztendlich das Schlüsselelement dieser moralinsauren Geschichte.

Maurice Bendrix, lediger und wenig erfolgreicher Schriftsteller, hat während des Zweiten Weltkriegs eine leidenschaftliche Affäre mit Sarah, der Frau des hohen Beamten Henry Miles in London, deren kinderlos gebliebene Ehe in liebloser Alltagsroutine erstarrt ist. Als bei einem Rendezvous ganz in der Nähe eine deutsche V1-Rakete einschlägt und Sarah Maurice im Hausflur tot unter Trümmern liegen sieht, gelobt sie Gott, – an den sie nicht glaubt -, im Gebet verzweifelt, die Liaison sofort zu beenden, wenn Maurice wieder lebendig würde. Der aber war tatsächlich nur ohnmächtig und konnte sich fast unverletzt aus den Trümmern befreien. Sarah fühlt sich nun an ihr Gelöbnis gebunden und wendet sich von ihrem Geliebten ab, ohne ihm den Grund zu sagen. Nach mehr als einem Jahr, in dem sie sich nicht sehen, trifft der eifersüchtige Maurice, der an einen neuen Liebhaber glaubt, 1946 zufällig Sarahs Mann. Der erzählt ihm bei einem Drink von seiner Befürchtung, dass Sarah ihn betrügt, er zögere aber, des Skandals wegen, einen Detektiv zu engagieren. Maurice, immer noch rasend eifersüchtig, greift Henrys Idee auf und engagiert seinerseits einen Detektiv. Es findet sich aber kein neuer Liebhaber, nur ein charismatischer Atheist und Straßenredner, den Sarah regelmäßig aufsucht, damit er sie von der Nichtexistenz Gottes überzeuge. Was sie letztendlich dann von ihrem Gelübde entbinden würde, denn sie liebt Maurice nach wie vor inniglich.

Die in fünf «Bücher» untergliederte Geschichte wird, abgesehen von einer längeren Tagebuch-Passage, von Maurice in Ich-Form erzählt. In dem Tagebuch, das sich direkt an Gott wendet, lesen wir von Sarahs verzweifelten Versuchen, gottgläubig zu werden, ihre Schuld zu sühnen, ihren Seelenfrieden wieder zu finden. Liebe und Glaube stehen sich hier also als moralische Instanzen entgegen und zerstören Sarah seelisch durch ihre tragische Unvereinbarkeit. Die ja, das lehrt diese Geschichte, nicht Gott anzulasten ist, sondern dem katholischen Klerus mit seinen ebenso willkürlichen wie unversöhnlichen Dogmen. In Maurice aber, der inzwischen selbst an die Existenz Gottes glaubt, ist nur tiefer Hass ihm gegenüber.

Der Plot wirkt arg konstruiert, er ist ganz in Hinblick auf das moralische Dilemma seiner weiblichen Protagonistin angelegt, das der Autor hier wenig glaubwürdig vor uns ausbreitet. Das uralte Thema der Frau zwischen Ehemann und Liebhaber erfährt hier eine Ausweitung ins Metaphysische, Gott selbst ist der dritte Mann in diesem Rührstück, dessen Kernthema einer Konversion zum Katholizismus banal und langatmig abgehandelt wird von einem missionarisch bemühten Graham Greene. Schade, dass er sein literarisches Können hier so naiv zweckgebunden eingesetzt hat!

Fazit: mäßig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Bei Vollmond

Bei Vollmond: Scherenschnittkunst für Kinder und Erwachsene

Bei Vollmond: Scherenschnittkunst für Kinder und Erwachsene

Ein bestechend schönes Weihnachtsgeschenk könnte dieses wunderschöne Scherenschnittbuch über eine Vollmondnacht im Wald werden. Der Grafikdesigner Antoine Guilloppé, geboren in Chambéry in den französischen Alpen, legt ein beeindruckendes und überzeugendes Bilderbuch vor, das nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene begeistern wird. Passend zur herbstlichen und bald winterlichen Stimmung erzählt dieses wunderschöne Scherenschnittalbum von einer Vollmondnacht im Wald, die ein ganz besonderes Ereignis feiert. Was genau passiert wird hier aber nicht verraten, den die Spannung baut sich durch die schönen Bilder mit wenigen Worten so gut auf, dass sie hier nicht gespoilert werden soll.

Im Wald bei Vollmond …

Etwas Sonderbares geht jedenfalls vor sich, in diesem dunklen Wald. Alle Tiere629(3) des Waldes lauschen aufmerksam, ein Wolf öffnet seine Augen, Reineke Fuchs wird nervös und eine Wildschweinmutter grunzt durchs Unterholz. Ein nicht einzuordnendes Geräusch hat die Tiere des Waldes aufgeweckt. Der Vollmond steht in seiner ganzen weißen Pracht am Himmel und alle Tiere sind plötzlich still und lauschen gespannt in den Wald hinein. Was hat sie aufgeweckt? War es die Helligkeit des Vollmondes oder droht von irgendwoher Gefahr? Antoine Guilloppé zeigt alle Tiere des Waldes in Großaufnahme und man sieht sie vor sich, den Wolf, den Fuchs, einen Uhu, einen Hirsch, sogar eine Fledermaus huscht vorbei und ein Wildschwein grunzt einem flüchtendem Kaninchen nach.

… der Bär sich streckt

629(2)Doch dann tauch plötzlich der Bär auf. Was bringt er mit sich? Gefahr? Warum ist er so stumm, hat auch er Angst? Angst vielleicht ja, aber nicht um sich. Denn selbst die grobschlächtigsten Bestien haben ein Herz. Aber Bären sind keine Bestien. Was also hat er? Fühlt er? Eine Entdeckungsreise in den tiefen, tiefen Wald bei Vollmond, was kann es Schöneres zu entdecken geben? Antoine Guilloppé schafft es mit wenigen Worten aber großartigen Bildern die Sinne anzusprechen und sowohl Erwachsene als auch Kinder für eine weitere Entdeckungsreise zu begeistern.

Antoine Guilloppé
Bei Vollmond
Aus dem Französischen von Ana María Montfort
32.0 x 29.0 cm, gebunden mit SU, 40 Seiten mit 10 schwarz-weiß-Abbildungen
ISBN 978-3-86873-394-5
Knesebeck
24,95 €


Genre: Kinder- und Jugendbuch, Kunst
Illustrated by Azur Verlag Mannheim, Reclam Verlag

Max und Moritz auf Wienerisch

Max & Moritz von Wilhelm Busch im Wiener Dialekt

Max & Moritz von Wilhelm Busch im Wiener Dialekt

Max und Moritz auf Wienerisch: Dass der Wiener Dialekt für Dichtungen aka Verdichtungen oder Mehrdeutigkeiten äußerst geeignet ist haben schon andere bewiesen. H.C. Artmann gehört sicher zu den besten Kennern seines Faches: der Wiener Dialekt. Aber ein bereits existierendes deutsches Werk ins Wienerische umdichten? Hat man das schon gehört?

Max und Moritz auf Wienerisch: Freche Frotzn ohne Rotzn

Hans Werner Skop zeigt schon beim ersten Streich der beiden „Frotz“ Max und Moritz, was in dieser wunderbaren Sprache alles steckt: mit dem Wort „spaunans“. Denn das bedeutet so viel wie „spannen“, aber eben auch „erkennen“. Es reiche aber nicht „blede Witz nur driber reißn/und si denken: Geh doch –fuat“, die Leerstellen kann man sich gerne selbst dazu denken, sondern es geht mehr darum Entsprechungen zu finden, die sich auch reimen. So etwa im fünften Streich, bei dem aus den Mäusen nicht die „Mais“, sondern die Rotzn – also Ratten – werden, denn das reimt sich eindeutig besser auf „Frotzn“.

A Buamgschicht in siebm Stickln

Was in bundesdeutschen Kreisen gerne belächelt und als „herzig“ abgetan wird, ist tatsächlich ein eigenes Universum für sich, das zeigt eben auch die Umdichtung von Wilhelm Buschs Meisterwerk „Max und Moritz“ aus dem Jahre 1865 in den Wiener Dialekt. Aus einer Strophe werde hier wörtlich zitiert, damit die werten LeserInnen sich ein Bild machen kann, was genau sie bei der Lektüre von XX erwartet: „Mauncher tuat si sehr vü au,/Daß er Hendln hoitn kau./Erschtens, d Eier san a Segn,/Wos de Piperln fleißig legn;/Zweitens mocht ma daun und waun/Si an Brotn in der Pfaun;/Drittens oba wern s aa grupft,/Daß ma d feinan Federn zupft,/Tuchantn und Poistern füt,/Weu ma si net gern verküht.“ Wer jetzt Angst bekommen hat, dass er nichts versteht, um was es hier geht, dem sei anvertraut, dass sich natürlich auch eine deutsche Übersetzung in dieser Publikation im Anhang befindet, denn die eigentliche – Wienerische – Erzählung ist natürlich bebildert. Die „Buamgschicht in siebm Stickln“ hätte vielleicht aber doch mit Anmerkungen auf derselben Seite bei ganz schwierigen Ausdrücken ergänzt werden können, da doch gerade die Etymologie und Narration eines Wienerischen Ausdrucks – wie es der Autor an zwei, drei Beispielen im Nachwort ja auch macht – den Hochgenuss dieser Lektüre noch verstärken hätten können. Wenn ich zum Beispiel lese „Des woa scho der zweite Wickl,/Glei kummts dritte Lausbuamstickl“, würde mich der Ausdruck Wickl doch sehr interessieren, der eben nicht „Wickel“ bedeutet, sondern „Kampf, Streit, Auseinandersetzung, Kapriole, etc.“ Aber nein, ich will natürlich „kaan Wickl“, sorry, bitte gerne…

Hans Werner Skop, Magistratsjurist a.D. bei der Stadt Wien, hat nicht nur vom Deutschen ins Wienerische übersetzt, darunter „Wienerisch is aa a Sproch“ (1979), „Sunst samma gsund“ (1984), „Wiener Woikerln“ (1991), „Wienerisches Adventkalenderbuch“ (2005) und „Wienerische Viechereien“ (2012), sondern auch vom Italienischen ins Deutsche: die (hoch)deutsche Terzinenfassung von Dante Alighieris Göttlicher Komödie, erstmals 1983 erschienen.

Hans Werner Skop
Wilhelm Busch
Max und Moritz auf Wienerisch
Übers.: Sokop, Hans Werner
2015, 79 S.
ISBN: 978-3-15-019286-3
Reclam Verlag


Genre: Dichtung
Illustrated by Reclam Verlag

Reiseführer Sardinien

sardiniaReiseführer Sardinien in 15. Auflage: Der vorliegende Reiseführer gliedert Sardinien nach den vier Himmelsrichtungen und dem fünften Kapitel „Innersardinien“ in fünf lesens- und besuchenswerte Destinationen. Auf beinahe 700 Seiten wird Sardinien nicht nur als Ferien-, sondern vor allem auch Kulturregion vorgestellt, das jedem etwas zu bieten hat. Sardinien ist immerhin die zweitgrößte Insel des Mittelmeers und Italiens und die fünftgrößte Europas. Auf 24.090 km2 finden sich Gebirge wie die Punta la Marmora (1834m), der Bruncu Spina (1829m) und das Bergmassiv Supramonte bei Nuoro (1463m) ebenso wie Strand- und Wüstenlandschaften oder Wälder resp. die Macchia. Das italienische Festland ist ca. 190 km entfernt, Tunesien aber sogar nur 180 km. Und was Sardinien besonders attraktiv macht: es gehört zu den Ländern/Inseln mit der geringsten Bevölkerungsdichte: nur 1,66 Millionen Menschen leben auf Sardinien, die meisten davon arbeiten im benachbarten In- oder Ausland.

Festkalender und Attraktionen

Dafür beheimatet die Insel 3,6 Millionen Schafe, knapp 300.000 Ziegen und fast 2 Millionen (!) Rinder, was man wirklich nicht erwartet hätte. In der schönsten Reisezeit, allgemein wird der Mai genannt, wenn alles blüht, begegnet man also auch den vielen Hirten der Insel, die das Bild Sardiniens wesentlich mitgeprägt haben. Korkeichen sind bezüglich der Flora typisch, Mufflon-Schafe und Wildschweine bezüglich der Fauna. Aber auch Hirsche und Mönchsrobben wurden schon gesichtet. Geier, Adler und Mufflons gibt es auch. Der Festkalender der Sarden ist ebenso erwähnenswert wie die alten Trachten und die Volksmusik des Inselvolkes. So gibt es etwas das Reiterfest Sa Sartiglia am Karnevalssonntag und –Dienstag, bei dem weiß maskierte Reiter versuchen einen über die Straße hängenden Stern zu durchbohren. Auch die Mamoiada, ein heidnisches Fest, ist über die Grenzen Sardiniens hinaus bekannt und erinnert an den Perchtenlauf unserer Breitengrade. Ostern wird in dem katholischen Sardinien opulent mit Umzügen gefeiert, das größte Fest des Frühjahres ist die Sagra di Sant’Efisio, bei dem auf einem Umzug von Cagliari nach Nora die schönsten Trachten der Insel gezeigt werden. Weitere Feste werden in dem Reiseführer mit den jeweiligen vormerkbaren Daten beschrieben.

Viel Geschichte, Kultur und Geheimtipps vom Profi

Um Missverständnissen vorzubeugen: die Insel hat ihren Namen nicht von den Sardinen, sondern von srdn resp. Shardana, einem kriegerischen Volk, das aus Ägypten kam. Auf einer Stele bei Nora hat man erstmals das Wort srdn entdeckt und seither trägt Sardinien seinen Namen. Schon Phönizier und Nuraghier, Römer und Barbaren besuchten die Insel, wenn auch zumeist nicht so friedlich wie die heutigen Touristen, die nach Sardinien wegen dem glasklaren Meer und dem Wind zum Surfen kommen. Und natürlich wegen der ausgezeichneten Gastronomie. Der vorliegende Reiseführer gibt eine ausführliche Einführung in die Geschichte des Landes, erklärt sein Wappen (das mit den vier Mohren) und besucht quasi jede Stadt und jedes Dorf, wo es Vorschläge zum Übernachten und Essen, Campen oder für Ausflüge macht. Sehr ausführlich und dennoch sehr übersichtlich gestaltet, viele Fotos und Karten und interessante Zusatzinformationen sowie Geheimtipps: Sardinien hat viel zu bieten: die bizarren Granitbuchten der Gallura im Nordosten, die Tauchgründe und Surfspots, Tropfsteinhöhlen, das Schwemmland des Tirso mit seinen salzigen Lagunenseen und den rosafarbenen Flamingos oder das steile, weißglänzende Dolomitmassiv des Supramonte. Hintergrundinfos für Ausflüge und längere Aufenthalte im Inselinneren bietet Fohrer ebenso wie seinen reichhaltigen Reisebuchautorenschatz.

Der studierte Autor aus Marburg arbeitet nämlich schon seit über dreißig Jahren als hauptberuflicher Reisebuchautor. Seine Bücher sind – laut Verlag – Bestseller und sein Reiseführer zu Kreta (der inzwischen in der 20. Auflage vorliegt) gilt unter Griechenlandkennern anscheinend sogar als „Kreta-Bibel“.

Eberhard Fohrer
Reiseführer Sardinien
2016, 15. Auflage, aktualisiert
Michael Müller Verlag, 708 Seiten + herausnehmbare Karte (1:300.000), farbig
ISBN 978-3-95654-224-4
26,90 EUR (D)/27,70 EUR (A)/39,90 CHF


Genre: Reiseführer
Illustrated by Michael Müller Verlag

Der Nazi und der Friseur

hilsenrath-1Widerlegt Adornos Diktum

Bis auf wenige Ausnahmen erfolgt die literarische Aufarbeitung des Holocausts unverändert in ehrfürchtiger Betroffenheit aus der Sicht der Opfer. Edgar Hilsenrath verlässt mit seinem Roman «Der Nazi und der Friseur» diesen Konsens, er erzählt aber nicht nur aus der Täter-Perspektive, sondern benutzt unbeirrt auch noch die Form des Schelmenromans, damit genüsslich sämtliche gängigen Klischees zu diesem höchst sensiblen Thema ad absurdum führend. Obwohl von dem 1971 in den USA erschienenen, auf Deutsch verfassten Roman bereits mehr als 2 Millionen Exemplare verkauft waren, wurde das Buch damals von mehr als 60 deutschen Verlagen unter fadenscheinigen Gründen feige abgelehnt, ehe es 1977 schließlich doch noch auch in Deutschland erschien, – mit großem Erfolg übrigens, gleich vom Start weg!

In dem als Groteske angelegten Plot erzählt der SS-Mann Max Schulz seine Lebensgeschichte. Als Sohn einer Nutte verbindet den aufgeweckten Jungen eine innige Freundschaft mit Itzig Finkelstein, dem Sohn des jüdischen Friseurs in der Nachbarschaft. Itzig ist gut aussehend, blond und blauäugig, während der arische Max wie ein Jude aussieht, schwarzhaarig, mit Hakennase, wulstigen Lippen und schlechten Zähnen. Bei Itzigs Vater lernt er schließlich den Beruf des Friseurs und arbeitet dort jahrelang sehr erfolgreich. Als die Naziherrschaft beginnt, tritt Max in die SA ein und wechselt später zur SS. Er folgt im Krieg mit seiner Einheit der Wehrmacht in die besetzten Gebiete Russlands, um dort die Juden auszurotten. Max landet 1942 schließlich als Aufseher im KZ Laubwalde in Polen, wo er im Winter 1944 auf der Flucht vor der Roten Armee von der Front überrollt wird. Bis Kriegsende versteckt er sich bei der alten «Waldhexe» Veronja und macht sich schließlich mit einem Sack voller Goldzähne aus dem KZ auf den Weg nach Deutschland. Die polnischen Behörden halten ihn für tot, sie identifizieren eine Leiche im Wald als den gesuchten SS-Mann Max Schulz.

In Deutschland nimmt Max die Identität von Itzig Finkelstein an, der den Holocaust nicht überlebt hat. Er besorgt sich neue Papiere, lässt sich von einem verschwiegenen Arzt beschneiden, seine SS-Tätowierung wegoperieren und eine Auschwitznummer auf den Arm tätowieren. Mit den Goldzähnen als Startkapital macht er nun Geschäfte am Schwarzmarkt in Berlin, bis ihn seine «blonde Gräfin» bei einer riskanten Transaktion um sein gesamtes Kapital bringt. Als die Gründung eines jüdischen Staates greifbar wird, entschließt er sich, stets in Furcht vor seiner Enttarnung, zur Emigration nach Palästina. Er fasst schnell Fuß dort und baut den neuen Staat Israel mit auf, heiratet auch, macht einen Friseursalon auf und beteiligt sich an den Kriegen mit den arabischen Nachbarn. Immer wieder aber holt ihn die Vergangenheit ein, ist er in Gedanken Max Schulz und nicht Itzig Finkelstein. Am Ende geht er gar eine Wette mit einem pensionierten Amtsgerichtsrat ein: Er sei sicher, dass Max Schulz lebe. Aber keiner nimmt ihn ernst, er habe einen Dachschaden von den schrecklichen Erlebnissen, heißt es, – aus seiner Rolle kommt er nicht mehr heraus!

In dieser mit schwärzestem Humor gewürzten, spannenden Groteske berichtet Ich-Erzähler Max in betont naiver Sprache geradezu lapidar von dem Ungeheuren, das er miterlebt oder als Täter – ohne jedes Schuldgefühl – selbst begangen hat. Der durch einen realen Fall inspirierte Hilsenrath konterkariert mit seiner scharfsinnigen Verspottung des verlogenen Philosemitismus auch die gängige Erwartungshaltung der Leser. In absurden Szenen ist sein ambivalenter Romanheld eine gelungene Karikatur seiner selbst, man kommt aus dem Schmunzeln kaum noch heraus, erfährt aber en passant auch viel Wissenswertes über die jüdische Geschichte, von der Thora über den Holocaust bis zur Gründung Israels. Zwischen abstrusem Witz und blutigem Ernst hat Hilsenrath hier literarisch eine bewundernswerte Balance gefunden und Adornos berühmtes Diktum über Auschwitz widerlegt.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München