Die Romanhaftigkeit des Lebens
Das Markenzeichen des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino ist ‹der gedehnten Blick›, den er in seinem gleichnamigen Essay konkret beschrieben hat und der auch den Roman «Bei Regen im Saal» prägt. Gemeint ist damit eine zeitlich gedehnte, intensive Wahrnehmung auch kleinster, banaler Details des Alltags. Erst bei längerer Betrachtung erschließe sich «die Tiefendimension eines Gegenstandes oder einer Situation», und damit verliere sich auch das Triviale, hat er im Interview erklärt. Ein weiteres Merkmal seiner Prosa ist der elegische, resignative Grundton, die Protagonisten sind misanthropische Antihelden, das Milieu ist durch die «kleinen Leute» gekennzeichnet im Kampf mit dem alltäglichen Wahnsinn unserer immer komplizierter werdenden, modernen Zeit.
Der erst ganz am Ende als Reinhard ‹benamste› Ich-Erzähler ist ein 43jähriger, promovierter Philosoph, ein Verlierertyp, der sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben schlägt und schließlich als Redakteur bei einer Lokalzeitung landet. Als unverbesserlicher Eigenbrötler wohnt er im Chaos seiner spartanisch möblierten, verschmutzten Wohnung, ein schlecht gekleideter, schlecht rasierter, schmuddeliger und ungepflegter Mann. Er ist antriebslos und verrichtet seine Arbeit gleichgültig, ohne jeden Ehrgeiz. Seinem tristen Zuhause, seiner ereignislosen Existenz entflieht der Flaneur durch häufige Streifzüge durch die Stadt, er beobachtet dabei mit scharfem Blick sein ihm immer unverständlicher werdendes, urbanes Umfeld. Einziger Lichtblick in seinem ansonsten bindungsarmen Leben ist seine Freundin Sonja, eine dralle Finanzbeamtin, mit der er ein äußerst erfülltes Sexualleben führt. Der auch vom Aussehen her wenig attraktive Mann mit seinen Marotten ist ein ausgesprochener Busenfetischist, BHs und Brüste üben eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf ihn aus. Und erstaunlicher Weise machen ihm viele Frauen recht deutlich Avancen, weil sie seine Begehrlichkeit spüren, er aber weicht dem immer aus, seine eh schon schwach ausgeprägte Bindungsfähigkeit lässt ihn vor flüchtigen Affären zurückschrecken, seine Liebe gilt allein Sonja.
Eine Handlung ist in diesem kurzen Roman kaum auszumachen, das Wenige davon hier auszuplaudern wäre unfair, denn eine gewisse Spannung ergibt sich trotzdem, – es geht ja schließlich um Liebe, und die ist immer für Überraschungen gut! Die Geschichte als Ganzes lebt von den als Gedankenstrom erzählten Grübeleien und inneren Monologen des ewigen Flaneurs, den jede noch so kleine Begebenheit interessiert und oft zu abseitigen, philosophischen Betrachtungen animiert. Das Große im Kleinen zu erkennen, die tiefere Bedeutung auszuloten ist das erklärte Anliegen des Autors. Wobei politische, religiöse, ökonomische oder soziologische Aspekte ausgeklammert bleiben, das alltäglich Banale des menschlichen Seins steht im Fokus, hinzu kommen gelegentlich auch Beobachtungen in der Natur. Als Ergebnis solcher Selbstreflexion, als Extrakt dieser willkürlichen, sprunghaften Denkprozesse ergeben sich dann häufig völlig absurde, eigenwillige Einsichten und skurrile Assoziationen.
Wilhelm Genazino überrascht seine Leser zuweilen mit gelungenen Wortschöpfungen in einer angenehm lesbaren, den narrativ vorherrschenden Bewusstseinsstrom stimmig abbildenden, schnörkellosen Sprache. Zu der allfälligen Kritik an seinen handlungsarmen Plots hat der sich selbst als randständig verortende Schriftsteller in einem Interview angemerkt: «Denn unter den Lesern sind natürlich auch sehr viele, die nicht die entsprechende Muße aufbringen und stattdessen mehr Action wollen. Für diese Leser muss es viel mehr vordergründige Handlungsmuster geben, da müssen irgendwelche Scheidungen stattfinden und Liebesabenteuer usw. Wenn das nicht stattfindet, dann legen diese Leser so ein Buch wie eines von mir schnell beiseite und sagen: ‹Ach, wie langweilig›!» Die Romanhaftigkeit des Lebens ist selten actionreich, das wird beim Lesen dieses Romans sehr deutlich.
Fazit: lesenswert
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