Hitchcock’s Blondes

Hitchcock’s Blondes: „Fake it!“, habe Hitchcock seiner Lieblingsschauspielerin Ingrid Bergman zugerufen, als diese sich einmal während der Dreharbeiten zu Notorious beklagt hatte, mit ihrem Kleid nicht durch die Türe zu passen. So legendär wie dieser Ausspruch sind auch Alfred Hitchcocks Vorlieben für blonde Frauen, die allesamt in vorliegender hochwertiger Publikation des Schirmer Mosel Verlages mit ihren Filmen vorgestellt werden: Joan Fontaine, Ingrid Bergman, Grace Kelly, Shirley MacLaine, Doris Day, Vera Miles, Kim Nowak, Eva Marie Saint, Janet Leigh, Tippi Hedren, Julie Andrews und Karin Dor.

Der Hitchcock-Touch

Grace Kelly ©courtesy Schirmer/Mosel

Wie Thilo Wydra im „Vorspann“ schlüssig erklärt sind Hitchcocks 53 Filme wesentlich an der Erfindung eines bestimmten Frauentyps beteiligt gewesen: Die Blondine. Aber auch seine Frau, Alma Reville, hatte einen großen Anteil daran, denn sie stand dem Regieass bei allen seiner 53 Filme als Ehefrau und Mitarbeiterin zur Seite. Sie stammt so wie Hitchcock ebenfalls aus England und arbeitete als Cutterin und Drehbuchautorin bis sie ihren nur einen Tag älteren Ehemann Alfred kennenlernte. 53 Ehejahre und 53 Kinofilme blieben sie zusammen. „Der Hitchcock-Touch hat vier Hände“, schrie die Los Angeles in einem Nachruf einmal, „- zwei davon gehören Alma. Aber Hitchcock liebte seine Schauspielerinnen wohl ebenso wie seine Ehefrau indem er ihnen ein Celluloid-Denkmal setzte, ihnen Close Ups widmete oder sie einfach berühmte Schauspieler küssen ließ. So auch in „Notorious“ (1946): Laut dem damaligen Production Code durften Filmküsse nicht länger als drei Sekunden sein, aber Hitchcock machte daraus drei Minuten. Er verstand es einfach, die Zensur geschickt zu umgehen, indem er Cary Grant und Ingrid Bergman immer wieder reden oder das Telefon klingeln ließ. So machte er aus drei Sekunden drei Minuten voller Intensität, die damals das Kinopublikum so fesselte, dass der Film schon allein deswegen in die Geschichte einging.

Zehn Porträts von Hitchcock’s Blondes

Ingrid Bergman ©courtesy Schirmer/Mosel

Aber auch diese „seine“ Blondine, Ingrid Bergman, wird er bald an einen anderen Mann verlieren, nämlich an Regisseur Roberto Rosselini mit dem die Bergman fortan in Italien drehte. Zuvor hatte er schon Grace Kelly an den Fürsten von Monaco verloren, aber das schmerzte „Hitch“ – wie seine Freunde ihn nennen durften – weit weniger. Dennoch kommt es nach „Spellbound“ und „Notorious“ noch zu einem dritten gemeinsamen Film: „Under Capricorn“ (Hitchcocks zweiter Farbfilm, der 38. von 53), eine Literaturverfilmung, die er nur in Angriff nahm, weil die Rolle der Protagonistin, Lady Henrietta, darin – seiner Ansicht nach – perfekt zu seiner Lieblingsschauspielerin Ingrid Bergman passte. Wie so oft geht es auch in diesem bei Publikum und Kritikern leider durchgefallenen Film um eine Dreierkonstellation, um Liebe, das Sich- Erkennen, emotionale Wahrhaftigkeit, schreibt Thilo Wydra. Alle Psychothriller Hitchcocks seien im Kern tief romantisierte Liebesfilme. Romanzen. Melodramen. „Under Capricorn“ sei aber vor allem ein Film über ein Gesicht. Ingrids Gesicht. So Thilo Wydra. Hitchcock resümierte über die zehnjährige Zusammenarbeit mit der Bergman: „Ich trauere immer noch um die Filme, die ich mit Ingrid Bergman hätte machen können, die Filme, die es nie gegeben hat. Als sie nach Italien ging und dort blieb, war das ein Verlust für mich, für die Welt und für sie.

Für Cineasten und Filmfreaks

Alle zehn Essays im vorliegenden Fotoband widmen sich einer der zehn Schauspielerinnen Hitchcocks und ihren Filmen mit Standfotos, Szenenfotos, Porträts und geben Hinweise und Informationen zu den Dreharbeiten, Originalzitaten und Hintergründen wieder. Eine wunderschöne Publikation für Filmfreaks und Liebhaber schöner Frauen. Im Anhang befindet sich auch ein Nachwort mit „Abspann“ betitelt, eine Biblio- und eine Filmografie.

Thilo Wydra

Hitchcock’s Blondes

232 Seiten, 83 Abb. in Farbe und Duotone. Format: 21,5 x 24 cm, gebunden. Deutsche Ausgabe.

ISBN: 9783829608350

Schirmer/Mosel

39,80.-


Genre: Bildband, Film, Psychothriller
Illustrated by schirmer/mosel

Wir sehen uns dort oben

Makabre Schwejkiade

Mit dem 2013 erschienenen historischen Roman «Wir sehen uns dort oben» hat der bis dato nur für seine Krimis bekannte französische Schriftsteller Pierre Lemaitre erstmals dieses Genre verlassen und den Ersten Weltkrieg und dessen unmittelbare Folgen thematisiert. Dieser erste «literarische» Roman aus seiner Feder ist gleichwohl mit typischen Krimi-Elementen angereichert, die für Spannung sorgen sollen in seiner gesellschaftskritischen Geschichte. Strammer Patriotismus und verlogenes Heldengedenken werden hier mit satirischen Mitteln als reine Farce entlarvt. Der in Frankreich überaus erfolgreiche Roman wurde mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, in viele Sprachen übersetzt, vier Jahre später ebenso erfolgreich verfilmt und gleich mehrfach mit dem César-Filmpreis prämiert.

In einem absolut sinnlos gewordenen Stellungskrieg mehren sich Anfang November 1918 die Gerüchte, ein Waffenstillstand stehe unmittelbar bevor. Der skrupellose Leutnant Pradelle will sich vorher unbedingt noch durch eine Heldentat hervortun, um Hauptmann zu werden und damit dann auch seinen sozialen Aufstieg nach dem Krieg zu befördern. Er befiehlt deshalb einen riskanten Vorstoß in seinem Frontabschnitt an der Maas, der mit hohen Verlusten endet. Albert wird in einem Granattrichter verschüttet, Édouard wird am Kopf schwer verletzt, es gelingt ihm aber, den verschütteten Kameraden vor dem Ersticken zu retten. Beide werden enge Freunde, Albert kümmert sich rührend um den im Gesicht grauenhaft entstellten Édouard, der ihm im schlimmsten Kriegsgetümmel so selbstlos das Leben gerettet hat. In der Nachkriegszeit steigt Pradelle mit hanebüchenen Methoden ins lukrative Geschäft mit dem Umbetten von nur provisorisch in Frontnähe bestatteten Kriegsopfern ein, deren Angehörige sie zurückholen und in der Heimat würdig beerdigen wollen. Der künstlerisch begabte Édouard entwickelt die kühne Idee, mit einer Scheinfirma ganz groß ins Geschäft mit Kriegsdenkmälern einzusteigen, die er allerdings niemals zu bauen gedenkt. In einer Hauruck-Aktion, mit hohen Rabatten bis zu einem bestimmten Stichtag, wollen die Freunde nämlich alle bis dato eingegangenen Anzahlungen kassieren und dann unter falschem Namen ins Ausland fliehen. Tatsächlich kassieren die ins Kriminelle abgerutschten Freunde auf diese Art mehr als eine Million Franc von vielen arglosen, unbedarften Kunden, bevor sie abtauchen, während Pradelle mit seinen skrupellosen Geschäftsmethoden auffliegt, sein ganzes Vermögen verliert und im Gefängnis landet.

Mit seinem Roman decouvriert Pierre Lemaitre die patriotische Heldenverehrung für die gefallenen französischen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg als verlogene Ablenkung von den tatsächlichen Gräueln des unsäglichen Gemetzels auf den Schlachtfeldern mit seinen Millionen von Toten. Unter der wirtschaftlichen Misere als Folge des Krieges leiden aber vor allem die vielen Kriegsversehrten, die sich nur schwer wieder eingliedern können in die Zivilgesellschaft, während die Wohlhabenden sowie gerissene Profiteure gute Geschäfte machen auch in diesen schweren Zeiten.

In zwei Handlungssträngen werden abwechselnd die Geschichten der beiden vom Krieg gezeichneten Landser sowie die ihres brutalen Offiziers erzählt, sie sind lose miteinander verflochten und laufen ganz am Schluss erst zusammen. Über weite Strecken ist diese stilistisch anspruchslose Erzählung ziemlich langweilig zu lesen, sie steigert sich erst zum leider vorhersehbaren Finale hin. Ein Showdown allerdings, der, sogar noch im ergänzenden Epilog, an Kitsch kaum zu überbieten ist. Die Figuren sind maßlos übertrieben gezeichnet, es gibt kein Klischee, das da nicht bedient wird, trotzdem erzeugen sie alle kaum Empathie, ihr Inneres bleibt verborgen. Der krimiartig mit vielen Abschweifungen konstruierte Plot weist zudem auch etliche Ungereimtheiten auf, er ist als sarkastisches Sittenbild bestenfalls eine, vergleichsweise allerdings deutlich weniger amüsante, makabre Schwejkiade.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by btb Verlag

Möbius oder die Kunst des Betrügens

Vieles an diesem Buch fasziniert, als Erstes das kostenlose Angebot des Autoren: Der emeritierte Juraprofessor Daniel Zinner lädt uns ein, es kostenlos herunterzuladen.

Und das, was dann kommt, ist zur Überraschung sehr wertvoll und regt zum Nachdenken an: Ist es ein Krimi, gibt es einen Mord? Oder geht es nur um einen alten weißen Mann in der Midlife crisis, den seine Frau nicht versteht und die Geliebte, eine seiner Studentinnen, auch nicht?

Die Konstante durch alle Phasen ist die Kunst des Betrügens. Als Erstes geht es natürlich um sich selbst, den man betrügen kann, aber es wird durchdekliniert: Wie betrügen Wissenschaftler, die Gutachten erstellen, wie verlaufen Verhandlungen zwischen Gutachtern und deren Auftraggeber, wie beteiligt der Gutachter seine Mitarbeiter, die eigentlich die Arbeit machen. Natürlich wird auch mit Hilfe des Netzes betrogen, etwa, in dem eine Lokalpolitikerin in ihrem Zuhause der Sodomie überführt wird. Wir gehen mit zu langen universitären Gremiensitzungen und führen Telefongespräche mit dem Senator über die Finanzen.

Ein Juwel ist ein Angebot des Protagonisten, Juraprofessor an einer Berliner Hauptstadtuniversität, der eine Lehrveranstaltung über das Betrügen in der klassischen Literatur durchzieht, wir erfahren dann die Einsichten der Jurastudenten dazu.

Die Sache wird heikel, als die Studentin schwanger wird und er beschließt, sie zu ermorden. Dann ändert sich alles, es geht weiter in der Ichform, und mit Betrug auf höherem Niveau. Aber sehen Sie selbst, am besten sofort, und das kostenlos frei Haus: einfach herunterladen!

 

 

 


Genre: Romane
Illustrated by Selbstverlag

Canto

„Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“

 

Suhrkamp veröffentlicht 56 Jahre nach der Erstausgabe eine Neuausgabe von „Canto“, anlässlich des 90. Geburtstages von Paul Nizon. Dieses Werk steht schon lange auf meiner Leseliste.

Ich hörte schon einiges über „Canto“, wusste nichts Konkretes, aber der Kommentar auf Seiten des Verlags, „Paul Nizon nennt für sich zwei Geburtsdaten: das Jahr, in dem er in Bern zur Welt gekommen ist, und das Jahr, in dem er sich mit dem Canto selber zur Welt gebracht habe. 1929 und 1963″ machte mich neugierig. Warum hat es dem Autor dieses Gefühl gegeben? Und ich begann zu lesen.

Schon nach wenigen Seiten geriet ich in einen Strudel der Emotionen und konnte nicht glauben, dass dieses Werk tatsächlich Anfang der sechziger Jahre entstanden ist.

„Canto“ verstehe ich als Teil von Paul Nizon. „Canto“ kommt man nur dann nahe, wenn man sich auch mit seinem Autor beschäftigt.

Also beginnen wir erst einmal mit Paul Nizon.

Wer ist Paul Nizon?

1959 veröffentlicht der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon bei Scherz in Bern seinen Erstling, den Prosaband, „Die gleitenden Plätze“. Einige Persönlichkeiten des Literaturbetriebs, Ingeborg Bachmann, Max Frisch, Carl Seelig und weitere, werden auf ihn aufmerksam. Er wird mit einem Stipendium des Schweizer Instituts nach Rom eingeladen.

Diese „römischen“ Erlebnisse verändern sein Leben. Er kehrt zurück in die Schweiz, wird leitender Kunstkritiker bei der Neuen Zürcher Zeitung. Aber er kann die Enge des Berufs- und Ehelebens nicht dauerhaft ertragen. Seine Frau verlässt ihn, er kündigt bei der Neuen Zürcher Zeitung und schreibt „Canto“ – über sein römisches Jahr. 1962 gibt er das Manuskript dieser Auftragsarbeit bei Suhrkamp ab. Siegfried Unseld (Verleger / Suhrkamp) hält ihn für ein Genie.

Doch entgegen der Voraussage bleibt Paul Nizon in Deutschland ein Geheimtipp. Die Franzosen lieben ihn.

Zu einer ausführlicheren Zeittafel über Paul Nizons Vita verweise ich auf die Suhrkamp Verlagsseite.

Jan Küveler („Welt“ Feuilleton) schrieb über ihn:

„Es wäre ein Irrtum, Nizon für eitel zu halten. Nizon pflegt stattdessen ein erotisches Verhältnis zum eigenen ich, eins von der unstillbaren Art, er spürt in sich hinein, tastet sich ab und wird mit der Skulptur doch nie fertig.“

Zum Inhalt „Canto“ von Paul Nizon

Dieser Prosaband erzählt das Jahr in Rom, das Paul Nizon so beeindruckte. Es ist keine Geschichte, es hat keinen Plot – und doch bin ich beim Lesen unglaublich nah beim Autor. Ich glaubte, selbst zu spüren, was Paul Nizon beschreibt.

Worum geht es dann?

Es geht um Paul Nizon. Er durchlebt Rom, mit allen seinen Sinnen. Es ist ein manisches Aufsaugen sämtlicher Gefühlswallungen und Empfindungen, erzeugt von einer sich immer schneller drehender Helix mit Namen Paul Nizon. Wirklich außergewöhnlich dabei ist, dass er den Leser nicht nur beim Lesen auf diese Reise mitnimmt, sondern auch beim Fühlen. Man könnte versucht sein zu sagen, die Spiegelneuronen springen umgehend auf Paul Nizons Worte an und lassen dich die Emotionen umgehend spüren.

„Den wir als Ich leben ließen, den lassen wir laufen, uns zu suchen. Zusammenzusuchen aus den Plätzen für Lebensminuten, den Minutenplätzchen in Rom. Der ist Stipendiat in Rom. Der liegt auf dem Bauch unter dem Baum mit dem Ding. Der möchte hinaus aus dem Bann, der ihn auf Bauch warf und hinein in das Ding. Das hier Rom heißt.“
Auszug aus: Nizon, Paul. „Canto.“

Der Autor schlendert durch Rom. Wie ein Minnesänger betet er die Geliebte an. Wer aber ist die Geliebte? Die Stadt Rom? Oder sind es die (geliebten) Gefühle, Empfindungen, Reize und Begegnungen, ihm die diese Stadt beschert?

Die sprachliche Gewalt in „Canto“ von Paul Nizon – oder Literarisches Action Painting

Paul Nizon spricht eine bildgewaltige Sprache. Er bereichert und formt die Sprache in einer Art Rausch zu überwältigenden Bildern, denen man nicht fliehen kann.

Dieser Text ist für jeden Sprachwissenschaftler ein Füllhorn an literarischen Stilmitteln. Der Autor erzählt uns von „zirpender Milch“ und „fauchender Maschine“. Und er beschreibt Rom, wie er die Stadt empfindet. Er erzählt auch von Frauen, Huren, Gabriella.

„Lacht. Mit Schluchzern in der Stimme. Über sich, über Mauro, über die Rosen, über dies verrückte, heiße, schöne Tier Rom, dessen Glieder von dunkel gekleideten Menschen wimmeln, dessen Kadaver von losgelassenen Wagen juckt, dessen Leib dampft, kocht, blendet. Und sie muß nun wirklich zurück. Um die Koffer zu holen. Mit dem Rosenstrauß in durchsichtigem Zellophan. Wie eine Gefeierte. Allein nach dem Applaus.“
Auszug aus: Nizon, Paul. „Canto.“

Warum bezeichnet sich Paul Nizon in „Canto“ als „Der Hurenhirt oder Hirt der Huren“?

Er selbst sagt, es sei „ein vorübergehendes Amt ehrenhalber“. Der Hurenhirt „kennt die Stunden des Schichtwechsels“. Er kennt die Mädchen und sieht keine Huren, sondern Frauen, Menschen.

Ja, wie man sehen kann, ist der Text so aussagekräftig, dass ich eigentlich gar nicht zum Ende kommen kann. Ich höre jetzt damit auf und sage nur noch: „Canto“ ist der erste Teil der siebenbändigen Ausgabe der „Gesammelten Werke“.

„Ich klammerte mich an fühlbare, greifbare Dinge, weil ich durch mein Fehlen von Handlung und Einfall nichts anderes besaß. Ich hatte nicht den geringsten Plan, und ich ersetzte diesen Mangel durch eine mu-sikalische Struktur, die an eine Sonate in drei Sätzen denken läßt.“
Auszug aus „Die Republik Nizon“

„Canto“ – Warum dieser Titel?

Der Titel bedeutet: Ich singe. Was hat das mit dem Inhalt zu tun? Es ist mir unbegreiflich, dass es kein Hörbuch zu „Canto“ gibt. Wenn man den Text laut liest, hört man, dass sich der Text in eine Art Ballade verwandelt. Aus dem rein visuellen Text, wird eine hörbare Botschaft. Ich stelle es mir als Hörbuch, gelesen von einem Sprecher, wie z. B. Burghart Klaußner, großartig vor.

Kritik „Canto“ von Paul Nizon

Eine Buchbewertung finde ich immer schwierig. Habe ich wirklich alle Fakten objektiv gesehen und bewerte ich angemessen? Aber dieses Buch ist so außergewöhnlich, dass man es nur lieben oder schrecklich finden kann. Ich liebe es, wenn ein Autor mit der Sprache spielt. Ich liebe es, wenn der Autor mit Worten malt, und sich vor meinem inneren Auge, andere nennen es Kopfkino, ein Film entwickelt, der einzigartig ist. Aber hier entwickelt sich noch dazu eine Filmmusik! Also halten wir fest: Es ist ein einzigartiges Buch. Paul Nizon steht in dem Ruf, ein Egomane, ein Erotomane zu sein, der sich um die „Nizon-Republik“ dreht.

Ich würde es ein klein wenig anders sehen. Paul Nizon liebt die Abgründe und Höhen, die Gefühle, Begegnungen, das Leben überhaupt und vor allem, wie der „Mensch Paul Nizon“, darauf reagiert, und das möchte Paul Nizon „in einer Sonate ähnliche Struktur“ dem Leser darreichen. Und er liebt die Freiheit, die für ihn über Allem steht.

Du, als Leser, musst entscheiden, ob du dieser Form eine Chance geben möchtest. Ich empfehle es, du triffst einen sehr offenen empathischen Autor, dem es sehr wichtig erscheint, im Hier und Jetzt des Augenblicks zu leben und alles aus diesem Wimpernschlag herauszusaugen und für die Ewigkeit festzuhalten und zu verschriften.

Ein Leseerlebnis, der etwas anderen Art, eine Lautmalerei der Gefühle.


Genre: Antiroman, Belletristik, Literarisches Action Painting
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Ein Held unserer Zeit

Eine multiple Persönlichkeit

Der einzige vollendete und zu Lebzeiten veröffentlichte Roman des russischen Schriftstellers Michail Lermontow trägt den ironischen Titel «Ein Held unserer Zeit», sein Erscheinen 1840 markiert deutlich das Ende der russischen Romantik, er ist zudem der erste psychologische Roman in dieser Sprache. Mit Puschkin, dem unangefochtenen Nationaldichter jener Zeit, der großen Einfluss auf ihn ausgeübt hat, teilt der nur 27 Jahre alt gewordene Literat neben der Vorliebe für den Kaukasus als Handlungsort auch die Todesart, beide starben mit wenigen Jahren Abstand in einem Duell. Im Vorwort begegnet Lermontow der aufkommenden Kritik, sein Roman beruhe im Kern auf der Schmähung einer Persönlichkeit: «Der Held unserer Zeit, meine Herrschaften, ist in der Tat ein Porträt, aber nicht das eines einzelnen Menschen: es ist ein Porträt, zusammengesetzt aus den Lastern unserer ganzen Generation, in ihrer vollen Entfaltung». Das war starker Tobak für die damalige Leserschaft, aber seine schreibenden Kollegen wussten es besser. «Niemand in Russland hat je solch eine Prosa geschrieben, so genau, so schön, so köstlich» hat Nikolai Gogol geschwärmt.

Dieser relativ kurze Roman ist im Prinzip aus fünf Novellen zusammengesetzt, er spielt an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten. Stabshauptmann Maxim erzählt von gemeinsamen Abenteuern mit dem Offizier Petschorin, den er als rätselhaften Sonderling beschreibt. Während der Kur in Pjatigorsk beginnt dieser Draufgänger eine Liaison mit Prinzessin Mary, von der er sich aber nach einiger Zeit wieder trennt, er habe nur mit ihr gespielt, erklärt er ihr. Auch sein kurzes Verhältnis mit der verheirateten Vera geht nicht gut aus, sie schickt dem Hallodri einen Abschiedsbrief. Gruschnitzkij, sein eifersüchtiger Nebenbuhler, der allerlei Gerüchte verbreitet, wird im Duell von Petschorin erschossen. Der wird später zum Dienst auf ein Fort versetzt, verliebt sich dort in die tscherkessische Fürstentochter Bela, die auch der Bandit Kasbitsch begehrt, aber Petschorin entführt sie kurzerhand. Bald jedoch verliert er wieder jedes Interesse an dem Mädchen und sagt es auch ihr ganz unverblümt. Der Ich-Erzähler erhält von Petschorin dessen Tagebuch, in dem eine Episode geschildert ist, bei der in nächtlicher Kartenrunde die Frage der Vorherbestimmung debattiert wird. Petschorin wettet, es gäbe sie nicht, Leutnant Vulic hält dagegen und will das auch gleich an Ort und Stelle klären. Er nimmt im Zimmer des Majors aufs Geratewohl eine von dessen Pistolen vom Nagel und hält sie sich an die Stirn, die Frage, ob sie geladen ist, kann der Major in seiner Verwirrung nicht sicher beantworten. Trotzdem drückt Vulic ab, – es löst sich kein Schuss! «Sie war nicht geladen», rufen alle erleichtert. «Das werden wir sehen» sagt Vulic, spannt den Hahn erneut und schießt auf seine am Haken hängende Schirmmütze, – es knallt, die Mütze ist durchlöchert, die Kugel steckt tief in der Wand.

Der hier nur kurz skizzierte Plot wird von verschiedenen Erzählern aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und in diversen zeitlichen Voraus- und Rückblenden erzählt. Sein hedonistischer Held ist ein desillusionierter Fatalist mit charismatischer Ausstrahlung, als intelligenter, bösartiger Unglücksbringer ein Archetyp, der alle Laster der Zeit gleichzeitig zu verkörpern scheint.

Diese ebenso spannende wie bereichernde Geschichte taucht tief hinein in die Abgründe der menschlichen Seele, ihr Held verkörpert zudem erstmals eine multiple Persönlichkeit. Zu seiner Entstehungszeit war der Roman eine ausgemachte Provokation, eine beißende Kritik nämlich an den rückständigen sozialen Verhältnissen unter Zar Nikolaus I. Mit schnörkelloser Diktion, in einer allerdings ziemlich verwirrenden fragmentarischen Erzählweise, liest sich dieser damals avantgardistische Roman mit seinem zynischen Helden heute vor allem als eine interessante psychologische Studie, – ohne irgendwelche moralischen Intentionen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Taschenbuch

Der Tokio-Montana-Express

In seinem 1979 erschienenen »Tokio-Montana-Express« bietet Richard Brautigan ein buntes Potpourri: Tagebucheinträge über Personen, die er beobachtet hat. Kleine Geschehnisse, die ihm widerfuhren. Gedanken, die sich spontan vordrängten, aber keine Durchsetzungskraft besaßen. Gesamt: 131 heterogene Prosabissen formen eine phantasievolle Textcollage mit deutlichen biographischen Bezügen. Schon der Buchtitel deutet auf das häufige Hin und Her zwischen seiner Wohnung in Tokio und seiner Ranch nahe Livingstone, Montana. Weiterlesen


Genre: Kurzprosa, Underground
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Kirio

Ein narratives Verwirrspiel

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Anne Weber hat mit «Kirio» einen quecksilbrigen Schelmenroman geschrieben, der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 nominiert war. Wie bei vielen ihrer Werke steht auch hier der experimentelle Charakter ihrer Prosa im Fokus, hinter den eine erzählenswerte Geschichte völlig in den Hintergrund tritt. Ihre Titelfigur ist schwer greifbar, sie erinnert an Jesus ebenso wie an Till Eulenspiegel, Don Quichotte oder den Rattenfänger von Hameln. Hinzu kommt ein virtuoses, verwirrendes Spiel mit vielerlei Erzählperspektiven, welches die Lektüre dieses postmodernen Roman-Märchens zu einem Leseabenteuer mit fraglichem Ausgang werden lässt.

Erzählt wird die Geschichte eines rätselhaften Kauzes namens «Kirio». Sein Geburtsort ist die Nothaltebucht in einem Autobahntunnel, wo er vorzeitig das Licht der Welt erblickt. Schon während der Schwangerschaft redete die Mutter mit ihm, als Ich-Erzählerin berichtet sie: «… tun das nicht alle angehenden Mütter? Und das Kind antwortete. Damals dachte ich, das täten alle ungeborenen Kinder. Natürlich sagte es keine langen, verschachtelten Sätze, auch gebrauchte es fast nur die Gegenwartsform, und den Konjunktiv II habe ich es nie verwenden hören». Schon als Schüler fällt er als seltsamer Vogel auf, weil er gerne und oft auf Händen geht, das entsprechend gestaltete Buchcover weist auf diese Marotte hin. Typisch für ihn, der nur sporadisch immer wieder irgendwo auftaucht, sind auch die weitaufgerissenen, staunenden Augen, mit denen er neugierig und unerschrocken die Welt betrachtet. Außerdem spielt er gerne Flöte, die bei vielen Gelegenheiten zu hören ist, auch wenn er ihr nur disharmonische Töne zu entlocken vermag. Streitereien schlichtet er mühelos, indem er den Kontrahenten Reis auf die Köpfe rieseln lässt. Er redet mit Tieren, Pflanzen und unbelebter Materie ebenso wie mit Menschen, nimmt alles wörtlich und glaubt auch alles. Und manchmal vollbringt er sogar Wunder, ohne es zu merken, ohne es zu wollen, einfach so, indem er da ist. Als Mitfahrer gelangt Kirio am Ende nach Hanau, in die Geburtsstadt der Gebrüder Grimm, die Anne Weber dann im Futur erzählen lässt: «Es wird einmal ein wunderlicher Flötenspieler sein». Dort aber verliert sich dann seine Spur.

Die Autorin benutzt diese märchenartige Geschichte als Vehikel für ihre phantasievollen Gedankenblitze, mit denen sie, darin ihrer Titelfigur folgend, die Welt auf den Kopf stellt. Sie bewirkt mit dieser irrwitzigen, grotesken Sichtweise beim Leser ungeahnte Inspirationen, löst ganze Assoziations-Ketten aus. Diese lustvolle Umkehrung aller Dinge und Erscheinungen ist das Leitmotiv eines umstürzlerischen Schelmenromans, dessen grundguter Held wie ein Irrwisch durch die Welt geistert und immer wieder überraschend an den verschiedensten Ort auftaucht, um dort meist Unerwartetes zu bewirken. Er ist als Person ebenso wenig zu fassen wie die diversen Erzähler, die hier zu Wort kommen, sich gegenseitig ablösen, spurlos verschwinden, deren Perspektiven, schwer durchschaubar, oft bunt durcheinander gewirbelt sind.

Dieses kreative, für den Leser aber auch verwirrende Spiel mit den Erzählformen erzeugt zusammen mit der wunderlichen Titelfigur, die ohne jede Intention einfach da ist, einen narrativen Zauber, der zunächst unmerklich die Gewissheiten des Lebens in Frage stellt und dann meist ins Gute weist – oder ins Unabänderliche. Eine derart federleichte, ebenso unbeirrte wie unkonventionelle Erzählweise ist – nicht nur im deutschen Sprachraum – eher selten anzutreffen. Leider fehlt dieser Geschichte voller unmotivierter Hirngespinste jedwede Spannung, zudem setzt das übermütige Erzähler-Verwirrspiel der Autorin einen detektivisch veranlagten Leser voraus. Im Verein mit der schlichten, oft bemüht lustigen Diktion, zu der auch die eher störenden, weil unmotiviert eingestreuten, fremdsprachigen Floskeln beitragen, konnte sich bei mir partout kein Lesevergnügen einstellen.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

30 Jahre Nirvana

Nirvana: Kurt Cobain in his own words.

30 Jahre Nirvana: 1990 stieg Dave Grohl (Ex-Scream und heutiger Frontman von Foo Fighters) bei Nirvana ein und machte sie damit zu dem Erfolgstrio als das sie heute – 30 Jahre später – immer noch bekannt sind. Mit ihrem Album Nevermind (1991) und der Hitsingle „Smells Like Teen Spirit“ schrieben sie Musikgeschichte. Michael Azerrad wurde quasi vor dem Selbstmord Kurt Cobains seine Vita direkt diktiert. Aber auch mehr als ein Viertel Jahrhundert nach dem Suizid bleibt unklar, wie lange vorher dieser schon geplant war.

“Sprachrohr seiner Generation”

1994, im Todesjahr von Kurt Cobain, erstmals erschienen, erzählt Azerrad in 18 Kapiteln den Aufstieg und Fall des „Sprachrohrs seiner Generation“, der sich kurz vor Erscheinen dieser einzigen autorisierten Nirvana-Biografie in seiner Garage in Seattle erschoss. Natürlich kann auch der Autor dieser Biografie, die sich vor allem durch das persönliche Interview mit dem Leadsänger von Nirvana von anderen unterscheidet, die wahren Umstände seines Selbstmordes nicht aufklären, dafür kommt aber der Künstler in his own words zu Wort und der Leser erfährt alles Wissenswerte über das Leben, wenn schon nicht den Tod, dieses einzigartigen Musikers, Songwriters und Komponisten. Auch wenn Kurt Cobain nie für irgendjemand anderen als sich selbst sprechen wollte, wurde er doch zum Sprachrohr seiner Generation, die es satt hatte, sich von den Baby Boomers der Sechziger bevormunden zu lassen.

Hippie vs. Punk = Grunge

Die „Baby Busters“ (Generation X) wollten endlich ihre eigene Rebellion haben und nicht die Dinosaurierhelden ihrer Väter (Led Zeppelin, The Who, Kiss, …) kritiklos übernehmen. Zum Zeitpunkt des Erscheinens von „Nevermind“ hatte sich eine ganz neue musikalische Zielgruppe gebildet, die baby busters, die zahlenmäßig sogar noch die baby boomers übertrafen, schreibt Azerrad: „Und sie wollten eine Musik, die sie ihre eigene nennen konnten“. Die baby boomers hatten als uneingeschränkte Herren der Jugendkultur längst abgedankt, denn sie waren zu genau den fetten in ihren Positionen sitzenden Blockierern geworden, wie jene, die sie einst selbst bekämpft hatten. Aus Hippies wurden Punks und die Punks wurden dann von den Hippiepunks der Grungegeneration hinweggefegt. Denn so hieß die neue Gegenkultur der Neunziger: Grunge. Und auch wenn dies nur ein Marketingbegriff war, trifft er doch sehr gut die Verquickung von Heavy Metal mit Punk. Die Mischung macht’s eben aus.

30 Jahre “wahre” Nirvana

Aufgewachsen in der Redneck-Hölle von Aberdeen und erst von seiner Mutter, dann von seinem Vater zu Verwandten hin- und hergeschoben, erlebte der junge Kurt alles andere als eine schöne Kindheit, obwohl – wie er später selbst sagte – die Scheidung der Eltern noch lange nicht das schlimmste Schicksal für Kinder seines Alters seien. Ein Weg aus diesem privaten Elend bot ihm die Musik und er fand sich schon früh mit Chris Novoselic zusammen, gründete Nirvana mit fünf (!) wechselnden Schlagzeugern, bis schließlich mit Dave Grohl ab August 1990 das Trio perfekt war. „Nevermind“ verkaufte sich – laut Azerrad – über Geffen sagenhafte 50 Millionen mal und trotz des Punkethos und Alternative-Status der Band schlug es ein, wie eine Bombe, ohne dass eigentlich irgendwer wusste warum das genauso kam. Am wenigsten die A&R Leute von Geffen, dann schon eher die von Sub Pop, das Plattenlabel aus Seattle, das an der Spitze einer Bewegung stand, die Rockmusik wieder zu etwas Echtem und Authentischen machen wollte. Und durch den Erfolg von Nirvana, profitierten dann ja endlich auch ihre alten Freunde und Musikerkollegen davon.

Michael Azerrad führt den Leser in “Nirvana. Come as you are.” durch die verschiedenen Stationen der Karriere von Nirvana, bespricht die Alben, Songtexte und die Lieben von Kurt Cobain. Auch die vielen Fotos von Charles Peterson illustrieren die Neunziger und was sie ausmachte. Voller Insiderwissen und liebevollen Details – etwa dass Kurt Cobain ausgerechnet in der sauberen Schweiz sein Pass, seine Schuhe und sein Portemonnaie gestohlen wurden – erzählt Michael Azerrad die echte und authentische Geschichte eines Vertreters seiner Generation, Kurt Cobain, der aber leider zu wenig Durchhaltevermögen besaß und seine Generation im Stich ließ. Aber vielleicht geht es ihm heute ja besser.

Michael Azerrad
Nirvana. Come as you are.
Die wahre Kurt-Cobain-Story
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Pöll
14. Auflage 2017, Paperback, 382 Seiten
19,99 EUR
ISBN: 978-3-85445-099-3
Hannibal Verlag


Genre: Biographie, Grunge, Rockmusik
Illustrated by Hannibal

Das Schöne, Schäbige, Schwankende

Konglomerat literarischer Vignetten

Die Schriftstellerin Brigitte Kronauer hat ihr kürzlich erschienenes Werk «Das Schöne, Schäbige, Schwankende» erst kurz vor ihrem Tod fertig gestellt, es trägt die eigenwillige Genrebezeichnung «Romangeschichten». Schon als Schülerin hat sie angefangen zu schreiben, später dann als Deutschlehrerin gearbeitet, ehe 1980 der erste Roman der damals Vierzigjährigen erschien. Ohne Zweifel gehört die Büchner-Preisträgerin zu den herausragenden deutschen Schriftstellern unserer Zeit, viele, auch ich, schätzen sie als deren wortmächtigste ein. Ihre unbeirrt zum Credo erhobene Erkenntnis von der Ambivalenz der Dinge beherrscht auch den vorliegenden Band. Gegensätze seien nun mal die Würze in der Literatur, hat sie dazu erklärt, sie erst würden ermöglichen, viel dichter an die Wirklichkeit heranzukommen, denn man dürfe sich das intensive Erleben nicht nehmen lassen. Genau das ist ihr hier in ihrer geradezu als Vermächtnis anmutenden Sammlung von Geschichten wahrlich gelungen.

Die Autorin schildert in einem vorwortartig kurzen, ersten Kapitel ihr Vorhaben, in ihrem Romanprojekt über Menschen zu schreiben, Freunde, flüchtige und alte Bekannte. Das Manuskript trug den Arbeitstitel ‹Glamouröse Handlungen›, «der ein bisschen aggressiv gemeint war, denn solange ich veröffentliche, hat man mir vorgeworfen, mal grob, mal mit sanftem Kopfschütteln, vom sogenannten Plot nichts zu verstehen. Im Klartext heißt das, man unterstellt mir narrative Impotenz. Weiß ich etwa nicht, dass die Welt von sogenannten Handlungen  und Ereignissen zwischen Mikro- und Makrokosmos geradezu birst und Heerscharen von Autoren ihnen nachhetzen auf Teufel komm raus? Ich hoffte, diesmal den Stier nach meinem Gusto bei den Hörnern packen zu können. Irgendwelche Leute sollten sich schwer wundern». Und sie schreibt weiter: «Neununddreißig Porträts sollten zu je dreizehn nach Kategorien geordnet werden. Sie lauteten: ‹Das Schöne, das Schäbige, das Schwankende›». Die Schäbigen würden in einen stetigen Fall geraten ins immer Unerfreulichere, erläutert sie ihre geplante Vorgehensweise, bei den Schönen würde sich der Aufstieg zur lichten Offenbarung erst allmählich abzeichnen, die Schwankenden sollten «… unentschieden anfangen, dann zu einem glänzenden Moment aufsteigen und von dort aus wieder absinkend, in der Weise gezähmt, wie sie es jeweils verdienen».

Im zweiten und dritten der fünf Kapitel werden kurze Figurenporträts aus verschiedenen sozialen Gruppen skizziert, die in einem weiten Bogen über diverse Milieus hinweg psychologisch feinsinnig über Alltägliches ebenso berichten wie über Kunst und Natur. Formal kühn entstehen so äußerst kunstvolle narrative Vignetten, in denen bildhaft diverse solitäre Individuen auftreten, die sich allmählich zu einem polyphonen Wortgemälde fügen. Die beiden folgenden, weit umfangreicheren Kapitel handeln vom schwankenden Schicksal einer lebenslustigen, schönen jungen Frau sowie vom ebenso schwankenden, insgesamt aber eher behaglichen letzten Lebensabschnitts eines Literatur-Professors, der sich als schwärmerischer Bewunderer des berühmten Renaissance-Malers Matthias Grünewald erweist. Über dessen Isenheimer Altar wird in der letzten Geschichte immer wieder aufs Neue und bis ins allerkleinste Detail berichtet, der 92jährige Ich-Erzähler findet kein Ende in seiner schier grenzenlosen Verehrung.

Selbstironisch, spöttisch, geradezu übermütig bekennt Brigitte Kronauer im ersten, dem unverkennbar autobiografischen Kapitel, dass sie an ihrem streng geplanten Romanprojekt letztendlich gescheitert sei, «alles verlor den sortierenden Halt». Und so ist denn auch diese Geschichten-Sammlung ein undurchschaubares Konglomerat literarischer Vignetten und Kurzgeschichten geworden. Genau das aber ist als wortmächtiges Sprachkunstwerk mit einem kunterbunten Ensemble stimmig beschriebener, lebensechter Figuren, die viele Formen und Varianten menschlichen Daseins abbilden, unbedingt zur Lektüre zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

La cucina veneziana

La cucina veneziana: Diese ist kein Kochbuch, sondern eine Lesebuch mit Geschichten, welche sich hinter den Küchengeheimnissen Venedigs verbergen, wie der Autor gleich im Vorwort betont. Aber natürlich finden sich neben den Geschichten auch Kochrezepte und viele ansprechende Fotos der Gerichte und Venedigs in diesem Prachtband über die venezianische Küche. Weiterlesen


Genre: Lesebuch, Reisen, Rezepte
Illustrated by Braumüller

Du stirbst nicht

Mit ihrem autobiografisch inspirierten Roman «Du stirbst nicht» hat die Schriftstellerin Kathrin Schmidt auf eindrucksvolle Art verdeutlicht, wie entscheidend das Sprachvermögen für die menschliche Existenz ist. Ihre 2009 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Geschichte wird ungeschönt aus der Innenperspektive ihrer Protagonistin erzählt, die nach einer Hirnblutung auf der Intensivstation aufwacht und nicht mehr sprechen kann, auch fehlt ihr jedwede Kontrolle über den Körper, in den ihr Geist hilflos eingeschlossen ist.

Helene ist Schriftstellerin, 44 Jahre alt, verheiratet und hat fünf Kinder. «Es klappert um sie herum» heißt es im ersten Satz, sie ist aus dem Koma erwacht und hört Geräusche. In einem mühsamen Genesungsprozess gewinnt sie allmählich nicht nur ihre Erinnerung zurück, sondern zunächst recht bruchstückhaft auch die Sprache. Ihr Alltag in der Klinik ist voll ausgefüllt mit Terminen für diverse Therapien, langsam kann sie dabei auch die körperlichen Funktionen reaktivieren, nur der rechte Arm macht kaum Fortschritte und bleibt fast unbeweglich. Mit dem Rollstuhl und später mit dem Rollator gewinnt sie teilweise auch ihre Bewegungsfreiheit zurück. Matthes, ihr Mann, pflegt sie aufopferungsvoll und sorgt dafür, dass sie nach sechs Wochen die Klinik verlassen darf. Der Roman endet sibyllinisch damit, dass sie sich, zu Hause angekommen, im Wohnzimmer neben Matthes setzt: «‹Ich sterbe›, sagt sie ruhig. ‹Du stirbst nicht›, sagt er ruhig».

Ausführlich wird in allen – auch unerquicklichen – Details der Genesungsprozess geschildert, in Rückblicken erzählt der Roman aber auch von Helenes Ehe. Matthes hatte früher mal eine Affäre mit ihrer besten Freundin, die jedoch nach sechs Wochen schon beendet war. Helene hingegen war vor einiger Zeit in heiße Liebe zu Viola entbrannt, einer Transsexuellen, die sich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat. Diese lesbische Beziehung, darüber war sie sich nach vielen Monaten jedoch klar geworden, konnte zu nichts führen, zu stark waren doch ihre Bindungen an Matthes. Sie hatte sich deshalb wieder von Viola getrennt und nur noch sporadisch per E-Mail Kontakt mit ihr. Helene ist Schriftstellerin und hat kurz vor dem Schlaganfall einen Roman beendet, der noch nicht erschienen ist. Als ein Freund sie bittet, für ein neues Buch über Georg Büchners «Lenz» ein Geleitwort zu schreiben, sagt sie zu, ohne zu wissen, ob sie dazu sprachlich überhaupt noch in der Lage ist. Aber es gelingt ihr nach einigen mühsamen Versuchen tatsächlich doch, sie ist hocherfreut.

Es ist das Besondere dieses Romans einer Neuaneignung der Welt, dass er sehr authentisch und ungeschönt aus der Innenperspektive der Protagonistin erzählt wird, wobei Kathrin Schmidt eine recht einfach strukturierte Sprache für ihr Albtraum-Szenario benutzt. Sie schildert ihre beklemmende Leidensgeschichte aus der Vorhölle menschlichen Lebens nüchtern und völlig unpathetisch, wodurch diese schon fast analytische Selbstwahrnehmung sehr wahrhaftig erscheint. Weniger gekonnt und überzeugend aber sind die mutmaßlich fiktionalen Ergänzungen, ob das nun die Ehegeschichte mit Matthes ist oder die zeitweise Affäre mit der transsexuellen Viola, einer lebenslustigen Intellektuellen, die in prekären Verhältnissen lebt und überraschend Suizid begeht. Das wirkt denn doch arg konstruiert! Erstaunlich auch, wie wenig die Kinder in die Erzählung einbezogen werden und wie wenig man letztendlich über die Schriftstellerei von Helene erfährt. Dieser Roman ist mit seiner radikalen Intimität nichts für hypochondrisch veranlagte Leser, zuweilen trifft er sprachlich auch regelrecht daneben, was wohl der lyrischen Ader der Autorin anzulasten ist, ein Beispiel davon ist am Ende zu lesen. Eine Lektüre ist also auch nur bedingt zu empfehlen, nirgendwo sonst jedoch wird die Kausalität von Sprache und Identität so überzeugend thematisiert, wird das Menetekel einer Aphasie so eindringlich heraufbeschworen wie hier.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Ausgewählte Texte

Seltsam. Der Titel dieses mit reifen Erdbeeren bedruckten Buches besteht aus lediglich zwei Zeilen mit insgesamt zwölf Punkten. Und ebenso ungewöhnlich wie der geheimnisvolle Titel ist auch der Inhalt dieser Sammlung.

Mit den zur Veröffentlichung ausgewählten Texten in Lyrik und Prosa wird die Wiederentdeckung mit einem nahezu vergessenen Autor ermöglicht, dem eine Renaissance zu wünschen wäre:

Underground-Autor Richard Brautigan.

 

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Genre: Kurzprosa, Lyrik, Underground
Illustrated by Hoffmann und Campe

Metropol

Geistige Wegbereiter der DDR

Acht Jahre nach seinem erfolgreichen Debütroman ist nun von Eugen Ruge mit «Metropol» ein Prequel erschienen, der nach dem berühmten Moskauer Hotel benannte Roman geht seiner DDR-Saga zeitlich voraus und behandelt die stalinistischen Säuberungen von 1936/37. Die Erzählung wird durch einen Prolog eingeleitet, in dem der in Russland geborene Autor berichtet, auf welch unglaublich kompliziertem Weg er zu den Kopien der Kaderakte seiner Großmutter Charlotte gekommen ist, 246 Blatt handschriftlich durchnummeriert, als ‹Streng geheim› klassifiziert und mit ‹Aufgehoben› übergestempelt. Diese Unterlagen sind Grundlage seiner Geschichte, über deren auf Fakten beruhenden und fiktional kräftig angereicherten Erzählstoff er im Klappentext erklärt: «Die wahrscheinlichen Details sind erfunden, die unwahrscheinlichsten aber sind wahr». Und das trifft auch gleich auf den Prolog zu, in dem man auf knapp vier Seiten beispielhaft ablesen kann, woran der Kommunismus letztendlich gescheitert ist, – an seiner grotesken Bürokratie nämlich, der Charlotte ihr eher unwahrscheinliches Überleben verdankt.

Auf der Flucht vor den Nazis ist die überzeugte, linientreue Kommunistin mit ihrem Lebensgefährten Wilhelm nach Moskau emigriert, sie ist dort unter dem Decknamen Lotte Germaine für den Nachrichtendienst der Komintern tätig, der Weltorganisation der kommunistischen Parteien, und Wilhelm arbeitet als Agent für deren Geheimdienst. Als während der stalinistischen Säuberungen einem ihrer Bekannten als Volksfeind der Prozess gemacht wird, geraten auch sie ins Visier des NKWD, der allmächtigen, an kein Gesetz gebundenen politischen Polizei. Sie werden vom Dienst suspendiert, müssen ihre Wohnung verlassen und werden ins Hotel Metropol eingewiesen. Dort verbringen sie wartend 477 Tage, ohne Verhör, ohne Anklage, ehe dann völlig überraschend ihre Ausreise nach Frankreich verfügt wird. Neben Charlotte gibt es mit Hilde, der ersten Frau von Wilhelm, die als Sekretärin arbeitet für einen hohen Funktionär mit direktem Draht zu Stalin, einen abwechselnd erzählten zweiten Handlungsstrang. Hilde hat Charlotte denunziert, hat jedoch weniger Glück als sie. In größeren Abständen wird in einem dritten Strang schließlich von Wassili Wassiljewitsch Ulrich erzählt, dem mächtigen Vorsitzenden der Moskauer Schauprozesse, der während dieser Terrorzeit mehr als 30.000 Todesurteile unterzeichnet hat.

Letzteres erfährt man aus dem Epilog, diesem zusammen mit dem Prolog außerhalb des Romans stehenden Rahmentext, wo näher erläutert wird, wie das Buch entstanden ist, welche Ergebnisse die umfangreiche Recherche von Eugen Ruge erbracht hat und welches Schicksal die einzelnen Figuren dann tatsächlich erlitten haben, soweit das bekannt geworden ist. Der Fokus jedoch liegt auf Charlotte, der dreizehn von zwanzig Kapiteln des Romans gewidmet sind. Die eineinhalb Jahre im Hotel Metropol, in dem auch der Richter Ulrich residiert, erscheinen als beklemmende Zeit voller Angst und böser Ahnungen, niemand traut mehr irgendwem, man bespitzelt sich gegenseitig und denunziert den anderen, es herrscht grenzenlose Willkür. In der kommt es dann auch zu unkalkulierbar grotesken Zufällen, wie das aus einer Laune heraus gefällte Todesurteil für Hilde exemplarisch belegt.

Der Mikrokosmos der Hotels Metropol, in dem kurzzeitig auch Lion Feuchtwanger als willfähriger Prozessbeobachter direkt neben Charlotte und Wilhelm wohnt, wird hier atmosphärisch dicht, aber leider nicht ganz klischeefrei beschrieben. Besonders aufschlussreich sind die Passagen, in denen die Psyche der diversen Akteure mit ihrer ständigen Angst, vielleicht als nächster abgeholt zu werden, durchaus stimmig geschildert wird, oft im Stil der erlebten Rede. Eugen Ruge füllt hiermit eine Lücke, die deutschen Kommunisten in Moskau als geistige Wegbereiter der DDR werden literarisch hierzulande ja eher selten thematisiert. Insoweit ist dieser Roman wichtig und als bereichernde Lektüre unbedingt zu empfehlen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Mobbing Dick

Satire über Schweizer Bankster

Mit «Mobbing Dick» hat der Schweizer Schriftsteller und Werbetexter Tom Zürcher seinen vierten Roman veröffentlicht, der 2019 auf die Longlist für den deutschen Buchpreis gewählt wurde, also unter die letzten 20 von 203 eingereichten Romanen. In den Printmedien wurde das Buch jedoch ignoriert, von den namhaften Feuilletons erschienen keine Rezensionen, und auch die Laienkritiken bei den Versandhändlern fallen wenig euphorisch aus, wenn man die üblichen anonymen Claqueure mal unberücksichtigt lässt. Ein miserabler Roman also?

Dick Meier beißt in seinen Arm hinein, bis er zum Arzt muss. Als Motiv für seine Selbstverstümmelung nennt er das immer trockener werdende Jurastudium, das immer enger werdende elterliche Reihenhäuschen, «ich kriege keine Luft mehr». «Und beißen hilft?» fragt der Arzt, und was er denn tun würde, wenn er so leben könnte, wie er will. «Aufhören zu studieren, einen Job suchen und zuhause ausziehen», ist seine Antwort. Und weiter liest man: «Vielleicht sollte er das tun, meint der Arzt. Schon seinem Arm zuliebe». Trotz fehlender Qualifikation bekommt Dick einen Job bei der Schweizerischen Bankanstalt, legt dort eine Blitzkarriere hin und mietet sich eine deutlich überteuerte Wohnung in einem üblen Viertel Zürichs. Schnell merkt er jedoch, dass sein Job ein neues Gefängnis für ihn geworden ist, in der ominösen Bank geht es drunter und drüber, Amerikaner kaufen sie auf und vergrößern das Chaos noch mehr. Auf wundersame Weise aber übersteht Dick alle Rückschläge, sein mehrmals drohender Rausschmiss verwandelt sich urplötzlich in eine Beförderung, er fällt immer wieder die Treppe rauf statt runter. Unmerklich aber entwickelt sich sein Dauerstress allmählich zu einem veritablen Burnout, seine Persönlichkeit spaltet sich Jekyll-und-Hyde-mäßig in den braven ‹Dick› und den bösen ‹Mobbing Dick›, der seine Kollegen tyrannisiert. Das Ganze mündet in einen brutalen Showdown und endet in der Psychiatrie.

Der hier kurz skizzierte Plot wird chronologisch im Präsens, zwischen beruflichem und privatem Handlungsstrang wechselnd, und in einem ganz eigenen Duktus erzählt, der temporeich und journalistisch knapp stets schnell ohne Umwege direkt auf den Punkt kommt. Stilistisch einer Slapstick-Komödie vergleichbar werden hier grotesk-komische verbale Gags am laufenden Band geliefert, die in ihrer unbedarften Naivität die Lachmuskeln des Lesers ständig strapazieren. Besonders in den oft pingpongartigen Dialogen läuft dieser Stil, in dem hoch komprimiert die sprachliche Treffsicherheit des Werbetexters Tom Zürcher zum Tragen kommt, zur Höchstform auf. Dick erzählt den Eltern zum Beispiel, der neue Name seiner Bank stamme von ihm, die Mutter bedauert jedoch die Umbenennung: «Aber Honey, das ist doch von Dick. / Was? / Swiss American Bank. Hat unser Sohn erfunden, hat er doch erzählt. / Oh, stimmt, sagt Mutter. Wie viel bekommst du dafür? / Einen Franken, sagt Dick. / So wenig? / Für jedes Mal, wenn der Name in den Medien auftaucht. / Mutter tätschelt seine Hand und Vater zählt mit, wie oft der Sprecher Swiss American Bank sagt. Nach den Nachrichten ist Dick sieben Franken reicher».

Der Romanheld ist ein Hans-im-Glück, der immer wieder an der Tücke des Objekt zu scheitern droht, an dem letztendlich aber doch jedes Missgeschick völlig wirkungslos abprallt. Seine schlagfertigen, lakonischen Äußerungen verblüffen und erzeugen zusammen mit seinen unbekümmert naiven Gedanken und sinnfreien, irrealen Handlungen eine aus dem Grotesken resultierende Situationskomik. Als Parabel auf die Gesellschaft wird hier auf ungemein lustige Weise mit überbordendem Sprachwitz der Weg vom naiven Muttersöhnchen zum gemeingefährlichen Psychopathen beschrieben und so ganz nebenbei auch das Milieu der geheimniskrämerischern Schweizer Großbanken genüsslich auf die Schippe genommen. Allein das schon macht diese Satire über die skrupellosen «Bankster» der Alpenrepublik lesenswert!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Salis Verlag Zürich

Hier sind Löwen

Hic sunt leones

In ihrem dritten Roman «Hier sind Löwen» beschreibt Katerina Poladjan, in Moskau geborene Schriftstellerin mit armenischen Wurzeln, eine Spurensuche ihrer autobiografisch inspirierten Protagonistin. Die Autorin selbst hatte 2015 eine Reise in die Heimat ihrer Vorfahren unternommen, aus der das SWR2-Feature «Zwischen Aragaz und Ararat» entstanden ist. Der ins Deutsche übersetzte Titel ihres Romans bezieht sich auf den in antiken Landkarten verwendeten Hinweis «Hic sunt leones» für unerforschte Gebiete. Hier im Roman weist er auf die Leerstellen in der Familiengeschichte einer Buchrestauratorin ebenso hin wie auf die unzureichende Aufarbeitung des Genozids am armenischen Volk. Der Großvater der Autorin hatte diese von vielen Türken bis heute geleugneten Massaker als Kind überlebt.

Helen Mazavian, eine deutsche Buch-Restauratorin, deren Vorfahren aus Russland und Armenien stammen, reist in die armenische Hauptstadt Jerewan, um dort im Archiv für Handschriften ein dreihundert Jahre altes Evangeliar zu restaurieren und die traditionelle Buchbindekunst zu studieren. Man erfährt wenig über sie, häufig telefoniert sie mit ihrem Freund in Deutschland, die Beiden scheinen engstens miteinander vertraut zu sein, was Helen aber nicht hindert, schnell mal mit dem Sohn der Archiv-Leiterin ins Bett zu gehen. Der tritt gelegentlich als Jazzmusiker in einem Club auf und ist, wie sie später erfährt, Offizier der armenischen Streitkräfte, ein Musikstudium in Moskau hatte er, sehr zum Verdruss seiner Mutter, entschieden abgelehnt. «Mein Sohn sagt, er muss für ein starkes und unabhängiges Armenien kämpfen, aber er kämpft gegen Windmühlen, denn wer wirklich in Bergkarabach kämpft, das sind die Russen, die Türken und die Amerikaner, wir sind nur die Marionetten» schimpft sie.

In ihrem Evangeliar findet Helen viele handschriftliche Einträge, Familienbibeln wurden früher oft mit solchen persönlichen Anmerkungen versehen, und ihre Kollegen helfen ihr gern beim Entziffern und Übersetzen. Eine dieser Randnotizen lautet: «Hrant will nicht aufwachen. Mach, dass er aufwacht». Dieses «Mach» ist eine verzweifelte Bitte an Gott und Inspiration für einen zweiten Handlungsstrang. Im ständigen Wechsel nämlich und in kurzen Szenen wird der Spurensuche in der Jetztzeit die märchenartige Geschichte zweier Kinder gegenübergestellt, die 1915 als einzige aus ihrer Familie den Pogromen entkommen sind und mit einem in Leder eingeschlagenen Evangeliar herumirren, das Helen nun hundert Jahre später zu restaurieren hat. Dieser historische Handlungsfaden bewirkt eine ständige, unheilvolle Präsenz des ‹Aghet›, wie die Armenier die Katastrophe des Völkermords bezeichnen. Angeregt durch den Auftrag ihrer Mutter, ihren Aufenthalt in Jerewan doch auch zu nutzen, um nach familiären Spuren zu suchen, vor Ort inspiriert zudem noch durch ein aufkommendes Heimatgefühl, lässt Helen nichts unversucht, trifft viele hilfsbereite Menschen, ohne aber letztendlich Klarheit über ihre Herkunft zu bekommen. Nur ihr Evangeliar ist am Ende fertig geworden, sie zeigt es stolz ihrem Freund, der ihr nachgereist ist, um sie nach Hause zu holen, im Institut legt sie in seinem Beisein letzte Hand an die komplizierte Bindung.

Es bleibt vieles offen in diesem fragmentiert erzählten, poetischen Roman, dessen Protagonistin seltsam entrückt wirkt und deren Psyche sich allenfalls in den stimmigen Dialogen ein wenig erschließt. Ziemlich verwirrend ist zudem die ausufernde Fülle von Figuren. Der hart an Kitsch grenzende, gefühlsbetonte Plot ist denn doch zu weit hergeholt, was seine durch das Evangeliar arg willkürlich verknüpften beiden Handlungsstränge anbelangt. Das Ganze wird zudem geradezu pathetisch erzählt selbst in den durchaus bereichernden Passagen, in denen das genuin Handwerkliche des alten Volksevangeliars beschrieben wird. «Hic sunt leones» gilt letztendlich also auch für die vielen Leerstellen dieses Romans, der sich allzu sehr auf das rein Atmosphärische stützt!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag