Versprich es mir. Über Hoffnung

Joe Biden – Versprich es mir

He, Joe“, meinte Barack einmal zu Biden, „man kauft das Schlimme mit dem Guten ein“. Schon während der Präsidentschaft hatten die beiden Bs eng zusammengearbeitet. Biden war der Vizepräsident Barack Obamas und hätte 2016 auch selbst kandidiert. Doch dann kam die Krankheit seines Sohnes Beau dazwischen und Biden entschied sich für die Familie. Donald Trump gewann daraufhin gegen Bill Clinton die Wahlen. Aber 2019 übernahm Joe Biden das Ruder. Am 20.1.2020 wurde er als 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Und er übernimmt ein gespaltenes Land in der Corona-Krise mit einer Rekordarbeitslosigkeit und schlechten Wirtschaftsdaten. Aber Joe Biden verkörpert das, was in einer krisengeschüttelten Zeit wie der unseren das Wichtigste ist: Hoffnung.

Biden: Hoffnung für die Welt?

Biden wurde von seinen Gegnern gerne als „Trauerredner der Nation“ abgetan, was angesichts der Dinge, die er in seinem Leben schon mitmachen musste, geradezu pietätlos wirkt. Denn nicht nur, dass er 2015 seinen erst 45-jährigen Sohn Beau verlor, nein, schon Jahre zuvor gingen seine Frau und seine Tochter bei einem Autounfall von dieser Welt. Aber Joe Biden gab nicht auf und setzte sich seine Ziele, die ihn nun bis an die Spitze seines Landes brachten. Und seine Programm liest sich gar nicht so schlecht: Kampf dem Supperlobbyismus, Besteuerung der Vermögen statt der Arbeit, Ende der Steuerschlupflöcher und Steuernachlässe, Mindestlohn von 15 Dollar und Abschaffung der Studiengebühren an den öffentlichen Colleges und Universitäten. Schon während seiner Vizepräsidentschaft war er auch für die Homosexuellenehe und deren rechtliche Gleichstellung eingetreten. Und nicht zuletzt ein Mondfahrtprogramm zur Bekämpfung von Krebs. Now hope and history rhyme.

Joe oder The Luck of the Irish

Die vorliegende, äußerste lesenswerte Kampfschrift ist nicht nur gut geschrieben, sondern auch sehr persönlich gehalten. Biden schreibt über den Kampf seines Sohnes Beau gegen den Krebs, aber auch von seinen eigenen politischen Erfolgen im Irak oder seinen Vermittlungsbemühungen in Mittelamerika und der Ukraine. Dabei behält er auch eine gewisse subtile Form von Humor bei, was ihn noch sympathischer macht. Gerade weil er als Außenseiter startete und „against all odds“ die Vorwahlen und die eigentlichen Wahlen gewann und weil er sich durch seine schlimmen Schicksalsschläge nicht unterkriegen ließ, möchte man diesem Präsidenten nur das Beste wünschen. Denn für die Aufgaben, die vor ihm liegen, wird er jede Unterstützung brauchen. Man vertraut und glaubt seinen Worten. Was man nicht erfährt, ist seine Vorgeschichte. Das Buch handelt hauptsächlich in der Zeit der 10er Dekade des 21. Jahrhunderts, es erschien in den USA 2017, aber bereits nach der Angelobung von Trump. Der Vorwurf er würde aus dem Tod seines Sohnes politisches Kapital schlagen wollen und all die andere Schmutzwäsche, die gegen ihn lief, wird Lügen gestraft. Für seine Kritiker gilt: einen schönen Gruß von Onkel Ed. Und gerne nimmt man ihm auch das Versprechen ab, das er seinem Sohn gab: Die Welt wieder zu einem besseren Platz zu machen.

Joe Biden

Versprich es mir.

Über Hoffnung am Rande des Abgrunds

Aus dem Amerikanischen von Henning Dedekind und Friedrich Pflüger.

ISBN: 978-3-406-76713-5

2020, Hardcover, 250 S

C.H.Beck Verlag

22,00 €


Genre: Autobiografie, Politik
Illustrated by C.H. Beck München

“Little Nemo” nach Winsor McCay

Traumwelten

Der kleine Nemo freut sich im Gegensatz zu anderen Kindern auf das Schlafengehen, kann er doch im Schlaf und dessen Traumwelten Freunde wie Fips wiedersehen und mit ihnen viele Abenteuer erleben. Da gibt es z.B. einen riesigen Tiger, der von einem Tigergärtner gepflegt und dessen Narben liebevoll geharkt und bepflanzt werden. Oder er trifft, geleitet von einem Federmann und in Umgehung der Vorschrift sich die Augen blenden zu lassen, in der Literatur wichtige Literaten wie Victor Hugo, aber auch skurrile Gestalten, die nichts anderes als Wörter trinken oder den Dickhäuterismus pflegen. Auch schreibende bunte Elefanten gehören zum Standartrepertoire. Letzlich sind sie aber nur in der Literatur, weil Fips sein Lieblingsbuch und dessen Fortsetzung sucht. Aber auch das Abenteuer, in dem Fips ihm erklärt, dass sie alle nur gedruckte Gedanken sind und sich die Welt zweidimensional einfaltet, beeindruckt Nemo sehr. Auch Nemos Verhältnis zu Tieren ist besonders, denn sie lieben seine Nähe, auch wenn er sie oft nicht wirklich wahrnimmt. Und die Begegnung mit seinem wachsenden Ich fasziniert und verwirrt zugleich.

Surreale Welten

Es empfiehlt sich, das Vorwort des Autors Frank Pé (Zeichner von Spirou) und v.a. das von C.&B. Pissavy-Yvernault zu lesen, beides sinnigerweise noch vor dem eigentlichen Comic platziert. So wird nicht nur das Leben des Original-Autors Winsor McCay skizziert und dessen Vorliebe für alles, was nicht schnöde Realität ist (was angeblich auf den Traum seiner Mutter am Vorabend seiner Geburt zurückzuführen ist), sondern auch, wie es mit dieser lebenslangen Vorliebe, abgebildet in seiner Berufslaufbahn, weiterging.

Aber auch die Verbindung des jetzigen Autos Frank Pé wird deutlich, der mit dem vorliegenden Band eine Homage an einen der frühen Comiczeichner kreiert hat und dabei sowohl an das Original anknüpft, als auch es in die heutige Zeit versetzt und Winsor McCay selbst immer wieder zum Gegenstand der (Traum-)Geschichten macht und so die Verbundenheit McCays mit seinem Werk verdeutlicht. Das Original zeichnet sich nicht nur durch surreale Inhalte aus, die an die Werke von Surrealisten erinnern, sondern auch durch eine Verspieltheit der damals noch nicht festgelegten Comicsprache, die heutzutage gern wieder benutzt werden und dem mittlerweile in vielen Dingen festgefahrenen Comic-Genre neuen Wind verleihen, das Spielerische und die Freude am Experimentieren zurückholen würde. Das versucht Pé mit seinen Strips durchaus auch (z.B. in der Geschichte des Tigers, in der die Panels zusammengenommen ein Gesamtbild des Tigers ergeben oder in den an Artbooks erinnernden großformatigen und trotzdem sequentiellen Bildern am Schluss), aber man merkt, dass er in dem mittlerweile eher festen Comic-Vokabular verhaftet ist.

Trotzdem ist ihm eine schöne Hommage an McCoy gelungen, die durchaus lesenswert, humorvoll und mit Anspielungen versehen ist. Allerdings finde ich 35 Euro für 80 Seiten, auch für eine Schmuckausgabe, zu viel Geld.


Genre: Comic
Illustrated by Carlsen Comics

Magie der Farben – Aquarelle aus dem Tessin.

Hermann Hesse
Magie der Farben – Aquarelle aus dem Tessin.

Jeder Mensch hat etwas in sich, jeder hatte etwas zu sagen. Aber es nicht zu verschweigen und nicht zu stammeln, sondern es auch wirklich zu sagen, sei es nun mit Worten oder mit Farben oder mit Tönen, darauf einzig kam es an!“, schreibt Hermann Hesse voller Begeisterung über sein Tun und Lassen, denn der Schriftsteller war ja eben vor allem als solcher und weniger als Maler bekannt. „Dem allen bin ich davongelaufen, es gibt jetzt für ein paar Stunden keine Bücher, keine Studierzimmer mehr. Es gibt nur die Sonne und mich, und diesen hellzarten, apfelgrün durchschimmerten Septembermorgenhimmel, und das strahlende Gelb im herbstlichen Laub der Maulbeerbäume und der Reben.

Chiffren des Unsterblichen

Volker Michels spricht in seinem Nachwort zu vorliegender reich bebilderter Schmuckausgabe mit Bildern von Hermann Hesse von der geradezu „existentiellen Notwendigkeit“ zu der das Malen für Hesse geworden war. Das Eigenständige und Unverkennbare an Hesses Malerei sei „die enge Wechselwirkung zwischen der Abstraktion, Farbigkeit und Musikalität seiner Bilder mit denselben Komponenten in seiner Lyrik und Prosa“, schreibt Michels. „In seinen Dichtungen und Bildern vermittelt Hesse nicht ein Abbild der Wirklichkeit, sondern ihr Sinnbild.“ Denn die positive Tendenz der Zuversicht und Heiterkeit, die sich in Hesses Büchern erst nach langwierigen, krisenhaften Entwicklungen herauskristallisieren würden und „mit Chiffren wie das ‚Lachen der Unsterblichen’ (im ‚Steppenwolf’) oder ‚Die Goldene Spur’ (in ‚Narziß und Goldmund’) bezeichnet wird“, trete in seinen Aquarellen bereits augenfällig zu Tage.

Malen als Frühling der Seele

Oh, es gab auf der Welt nichts Schöneres, nichts Wichtigeres, nichts Beglückenderes als Malen, alles andre war dummes Zeug, war Zeitverschwendung und Getue.“ Im Alter von 40 Jahren, mitten im Ersten Weltkrieg, hatte Hermann Hesse zu malen begonnen und es ist auch für den Leser eine wahre Wonne, zu lesen, mit welchen Worten er seine Begeisterung für das Malen teilt: „Aber Tage wie heute, das war etwas anderes und Besonderes, an diesen Tagen konnte man nicht malen, sondern mußte malen. Da blicket jedes Fleckchen Rot oder Ocker so klangvoll aus dem Grün, jeder alte Rebenpfahl mit seinem Schatten stand da so nachdenklich schön in sich versunken und noch im tiefsten Schatten sprach jede Farbe klar und kräftig.“ Es ist förmlich zu spüren, wie ihm selbst das Herz aufgeht bei dieser neuen Tätigkeit, bei der er sich fast noch mehr entfalten kann als beim Schreiben. Es war ihm ein „Ausweg, um auch in bittersten Zeiten das Leben ertragen zu können“, wie er selbst an einer Stelle schreibt, „und um Distanz von der Literatur zu gewinnen“. „Das Produzieren mit Feder und Pinsel ist für mich der Wein, dessen Rausch das Leben so weit wärmt, dass es zu ertragen ist.“

Magie des Malens

Seine Malausflüge im Tessin zeitigten zusammenhängende Bilderfolgen und Aquarellalben und aus einem dieser Alben von 1922 erscheint hier eine Folge seiner reizvollsten Arbeiten, aber auch Blätter aus späteren Jahren. Zusammen mit seinen Betrachtungen über seine Malerei und Selbstzeugnisse aus seinen Briefen lässt dieser kleine schmale und doch so bunte Band den Leser an der Begeisterung teilhaben und einen sogar mitten im Winter eine Art Frühlingsaufbruch erspüren.

Hermann Hesse

Magie der Farben – Aquarelle aus dem Tessin.

Mit Betrachtungen und Gedichten

Zusammengestellt und mit einem Nachwort von Volker Michels

D: 14,00 € / A: 14,40 € / CH: 20,90 sFr

2019, Hardcover, Insel-Bücherei 1465, Gebunden, 104 Seiten

ISBN: 978-3-458-19465-1

Insel/Suhrkamp Verlag

 

 

 


Genre: Bildband, Essay, Malerei
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Nestor Burma – Bambule am Boul‘ Mich‘

Nestor Burma – Bambule am Boul‘ Mich‘

Nestor Burma – Bambule am Boul‘ Mich‘. Es schneit so schön am Cover dieser Retroausgabe von 2016, dass man sich dieser Tage sofort in das Paris des Jahres 1986 versetzt fühlt. „Micmac moche au Boul’Mich“ – so der Originaltitel entführt in das studentische Milieu im 5. Arrondissement, Rive Droite, wo sich die Universität von Paris, die Sorbonne, viele Studentencafés und Buchhandlungen befinden. Aber auch der Jardin des Plantes, das Muséum national d’histoire naturelle und die elegante Ruhmeshalle für die Helden der Nation, das Panthéon.

Nestor Burma: Recherche im Stripteaseclub

Nestor Burma ermittelt für die hübsche Studentin der Schauspielkunst, Jacqueline Carrier, die um ihren toten Liebsten trauert. Am Quai Saint-Bernard hatte man die Leiche eines jungen Mannes gefunden, Paul Leverrier, 20, Sohn eines Arztes am Bou Mich und selbst künftiger Arzt. Aber wieso sollte ein junger Mann, mit so einer vielversprechenden Zukunft und einer Freundin wie Jacqueline, die noch dazu im Cabaret als Burgfräulein einen formidablen Striptease hinlegt – wovon sich Burma selbst überzeugen kann – sich umbringen? Bald stellt sich heraus, dass es um ein Buch geht. Ein wertvolles Buch. Aber wer hat es entwendet? Und was hat das mit dem Tod von Paul Leverrier zu tun? Eine geheimnisvolle Tote, Yolanda Lachal, und ihr Geliebter, Toussaint Lanouvelle, spielen beim Verschwinden des Buches eine wichtige Rolle, doch bald befindet sich Burma zwischen zwei Leichen: Yolanda auf dem Bett und Toussaint erschossen auf ihm. Vom Mörder keine Spur.

Bambule zwischen zwei Leichen

Der Leichen nicht genug, findet Burma auch noch den Inspektor Masoultre im Branntkalk in seine Einzelteile zerlegt. Und schon steckt Burma ein Eisenstück zwischen seinen Rippen. Mit etwas Glück entkommt er auch dieser Bedrohung und kann sich endlich wieder seinen unkonventionellen Ermittlungsmethoden widmen. „Ich löschte das Licht und schloss die Augen, um konzentriert nachzudenken.“ Und siehe da, ecce homo, die Lösung befindet sich zwischen den Buchdeckeln! Im hinteren Teil der vorliegenden Ausgabe eines weiteren spannenden Abenteuers des anarchistischen Kommissars Nestor Burma befindet sich auch eine Karte von Paris, die die Schauplätze des Abenteuers verzeichnet haben. So fällt die Orientierung auch im 5. Arrondisement leichter und man lernt Paris noch etwas besser kennen. Denn ob es schneit oder nicht, sie ist und bleibt zu jeder Jahreszeit die schönste Stadt der Welt.

Abenteuer in allen Pariser Arrondissements

Die Romane von Lèo Malet und den Figuren von Tardi, die alle in einem anderen Bezirk (Arrondissement) von Paris spielen, wurden in vorliegendem Fall von Nicolas Barral als Comic umgesetzt. Aber es gibt noch viele weitere lesenswerte Abenteuer. Beim Schreiber&Leser Verlag sind viele davon in einer neuen Edition erschienen. Das derzeit neueste Abenteuer spielt im 14. Arrondissement und sein Titel lautet „Nestor Burma – Die Ratten im Mäuseberg“.

Léo Malet/Nicolas Barral

Nestor Burma – Bambule am Boul‘ Mich‘

Zeichnung: Nicolas Barral · Szenario: Leo Malet

96 Seiten | gebunden | Farbe | € 19,80

ISBN: 978-3-943808-67-4

Schreiber&Leser


Genre: Graphic Novel, Krimi
Illustrated by Schreiber&Leser

Bad Regina. Roman

Bad Regina – David Schalko

Bad Regina. Roman. Schalkos Medium ist eindeutig der Film und vielleicht weniger die Literatur. „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ oder „Braunschlag“ stammen nicht nur aus der Feder des enfant terrible der österreichischen Serienlandschaft, sondern entstanden auch unter der Regie desselben. Die vor dem Eindruck der realen Tragödien von Bad Gastein und Hallein entstandene absurde Groteske, Bad Regina, schreit geradezu nach einer Verfilmung, denn wem würde die düster-dekadente Atmosphäre, die im Roman gezeichnet wird, eingebettet in die pittoreske Landschaft des Salzkammerguts, keinen wohligen Schauer über die Wirbelsäule zaubern?

Bad Regina: der Untergang des Abendlandes?

Streckenweise besteht der „Roman“ hauptsächlich aus Dialogen, die partout nicht unter Anführungszeichen gesetzt, sondern nur mit Bindestrich vom Fließtext abgehoben werden. Aber auch die Zeichnung seiner Figuren ist nicht gerade unbedingt üppig geraten, vielleicht am ehesten noch der Othmar, der einen DJ pflegt, der aufgrund seiner Einladung einen Schiunfall hatte und darauf im Rollstuhl landete. Dieser Othmar ist einer der letzten „Verbliebenen“ in Bad Regina, einem Dorf in den Salzburger Alpen, das nur mehr von 46 Personen bewohnt wird. Vor eineinhalb Jahrzehnten waren es noch mehr als fünfmal so viele, jedoch hatte ein gewisser Chen aus China, der Strohmann eines ehemals nach Amerika vertriebenen Juden aus Bad Regina, begonnen, den Einwohnern so hohe Preise zu bezahlen, dass die meisten abwanderten. Als reales Vorbild diente David Schalko der Salzburger Kurort Bad Gastein, der ehemals das Monte Carlo der Alpenregion gewesen war, bis eben der endgültige Ausverkauf begann. Dieser Chen will jedenfalls eine Art Themenpark in Bad Regina errichten, bei dem die Einwohner als Statisten sich selbst spielen könnten. Das erinnert etwas an den ebenfalls realen Hintergrund der Marktgemeinde Hallstatt, das in Luoyangzhen, in der südchinesischen Provinz Guangdong, als Kopie aufgebaut wurde. Allerdings ohne die dazugehörigen oberösterreichischen Einwohner.

Kriminalfall Ausverkauf Heimat

Die Handlung des Romans befördert natürlich den Zweck der Gesellschaftskritik, aber David Schalko schießt damit etwas über das Ziel hinaus. Als Satire für den Film würde Bad Regina sicherlich gut funktionieren, aber als Roman fehlt Bad Regina leider der Zusammenhalt und eine klare erzählerische Struktur, die zielsicher auf einen Höhepunkt zusteuert. Nicht, dass es einen solchen in Bad Regina nicht gäbe! Ganz im Gegenteil. Die satirische Groteske wächst sich alsbald zu einem Kriminalfall aus, der im Inneren der Bergwerksdisco von Othmar, dem Kraken, nicht nur die österreichische Seele im Stile eines Thomas Bernhard seziert, sondern auch die aktuelle Lebenssituation vieler anderer Österreicher bloßlegt, die in Fremdenverkehrsregionen leben und vom Tourismus abhängig sind. Die Piefke-Saga (R: Felix Mitterer) zeigte dies schon Anfang der Neunziger auf. Aber das ist jetzt auch schon 30 Jahre her. Dass am Ende auch noch die „Stammesbrüder“ des DJs aus Afrika auftauchen, um den Roman stimmungsmäßig aufzuhellen, mag vielleicht im Film funktionieren, in der Literatur wirkt es aber leider nur fehl am Platz.

Bei aller Zustimmung, die man mit dem Konstrukt des Romans (die Kritik am Ausverkauf der Heimat) teilen mag, wirkt es doch beinahe antisemitisch (der vertriebene Jude, der hinter Chen steht und alles aufkauft) und rassistisch (die Afrikaner als Stimmungsaufheller) in welche Fahrwasser die Handlung gerät. Natürlich ist der Autor diesbezüglich über jeden Zweifel erhaben, eh klar. Schließlich bekommen auch die Österreicher einiges Fett weg und das sind für mich sicherlich die lesenswertesten Passagen dieses beinahe 400 Seiten langen Film-Drehbuchs. Aber es gibt auch noch sehr viele interessante und lesenswerte Stehsätze, die selbst Hartgesottene zum Nachdenken anregen, etwa diesen: “Wir sind alle dem Untergang geweiht.”

David Schalko

Bad Regina. Roman

2021, Hardcover, 400 Seiten

ISBN: 978-3-462-05330-2

Kiepenheuer&Witsch Verlag


Genre: Groteske, Krimi
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Maghrebinische Geschichten

Kein Wort ist wahr

Im breiten Œuvre von Gregor von Rezzori ist «Maghrebinische Geschichten» sein bekanntestes Werk, erstmals 1953 in Buchform erschienen. Einige seiner satirischen Erzählungen hatte der Autor vorher bereits im Nachtprogramm des NWDR vorgelesen. Als sein Lektor handgeschriebene Notizen von ihm für diese Radiosendungen gesehen hat, schlug er ihm vor, daraus ein Buch zu machen. Nach seinen ersten drei, im Krieg erschienenen und als trivial kritisierten Romanen wurde er als Schriftsteller von kitschiger Unterhaltungs-Literatur abgestempelt. Das änderte sich mit dem vorliegenden Buch, das nicht nur in Deutschland sehr erfolgreich war. Sechs Jahre später widmete ‹Der Spiegel› ihm seine Neujahrsausgabe, eine Art Ritterschlag dieses seinerzeit meinungsbildenden Nachrichten-Magazins, mit dem er quasi als ‹literarischer› Schriftsteller anerkannt wurde. Ein Erfolg allerdings, an den er später dann nicht mehr anknüpfen konnte. Zeitlebens, beklagte er sich im Alter, klebe sein Name an einem einzigen Buch. Es ist ein Klassiker seines Genres, der bis heute gerne gelesen wird.

In einer an Boccaccio erinnernden Sammlung von Anekdoten, Schwänken, Legenden, Mythen und in epischer Breite erzählten Witzen schildert Rezzori parodistisch das Leben und die Sitten in seinem Phantasiestaat Maghrebinien. Als Vorlage diente ihm dabei das multikulturelle Land seiner Kindheit, das historische Gebiet der Bukowina, einst habsburgisches Kronland mit Czernowitz als Hauptstadt, in der er 1914 geboren wurde. Diese kosmopolitische, längst untergegangene Balkan-Gesellschaft am östlichen Rand der einstigen k. u. k. Monarchie, in die auch ein islamisch-osmanisches Erbe hineinwirkt, prägt seine Erzählungen entscheidend, er hat sich ihr zeitlebens als zugehörig gefühlt. Die von ihm selbst als «balkanischer Operettenstaat» bezeichnete, fiktive Welt wird von einem bunten Völkchen aus Schlitzohren, Schlawinern, Schnorrern, Lebenskünstlern und Halunken bevölkert. Allesamt extrem lustbetonte Hedonisten, deren Zusammenwirken über die Höhe des obligatorischen Bakschischs geregelt wird, besser gesagt geschmiert wird. Einig ist man sich nur im extensiven Genuss, wobei auch die Frauen allenfalls als Genussmittel angesehen werden in dieser extremen Macho-Gesellschaft.

Einer der unzähligen Witze dieses Buches sei hier als Beispiel für diese Denkweise in Kurzform wiedergegeben: ‹Bei Reisen ritt früher der Maghrebiner auf seinem Pferd vorweg, die Frau folgte ihm zu Fuß. Inzwischen hat sich diese Sitte total geändert, heute laufen stets die Frauen vorweg. Aber einzig deshalb, weil nach dem Krieg die Wege noch so stark vermint sind›. In den nur lose verbunden Kapiteln brennt der Autor ein wahres Feuerwerk kurioser Einfälle ab, manchmal finden sich gleich mehrere Witze auf einer Buchseite. Kein Wort von alldem ist je ernst gemein, alles dient als virtuoses Spiel nur dem Angriff auf unsere Lachmuskeln. Dass darin auch manch versteckte Gesellschaftskritik steckt, kann wegen der maßlosen Übertreibungen leicht übersehen werden. Gregor von Rezzori, Grandseigneur alter Schule, hat sichtlich Spaß an der Verbreitung seiner Schnurren, er schildert ganz ungeniert und zuweilen zotig Sitten und Gebräuche in Form von Eulenspiegeleien.

Stilistisch in einer bewusst gedrechselten Sprache geschrieben, weisen alle 27 Kapitel als Einleitung eine stichwortartige Kurzfassung des Folgenden auf. Da findet man dann auch mal eine Warnung vor einer Fußnote, «welche ein zartfühlender Leser besser überschlägt». Es geht dabei um Zoophilie, sei angemerkt. An anderer Stelle wird bei einem Hermaphroditen mit Kinderwunsch von ‹lesbischer Autogenese› gespöttelt. Alle Fußnoten sind als persönliche Anmerkungen des Autors, vom Schriftsatz her deutlich abgesetzt, als ergänzende Absätze angefügt. «Bei der Drucklegung des vorliegenden Berichts über …» ist ein Beispiel, es folgt dann meistens noch eine weitere, nicht minder kuriose Geschichte. Als amüsante Lektüre unbedingt zu empfehlen!

Fazit: lesenswert

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Rowohlt

Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde

Für echte Leser

Was kann einen heutigen Leser dazu bewegen, ein Fachbuch wie «Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde» von Alfred Henschke zu lesen, besser bekannt unter seinem Synonym Klabund. In dem 1920 erstmals erschienenen Büchlein von gerade mal hundert Seiten erklärt er gleich im ersten Satz: «Diese kleine Literaturgeschichte verfolgt weder philosophische noch philologische Absichten». Volker Weidermann liefert das Vorwort zu dieser aktuellen Ausgabe von Klabunds literarischen Betrachtungen, im Klappentext feiert er es als «das subjektive Begeisterungsbuch eines echten Lesers».

«Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart» lautet der Untertitel, und so beginnt Klabund mit dem um das Jahr 800 entstandenen ‹Wessobrunner Gebet› als ältestem Zeugnis deutscher Dichtung. Weiter über das Nibelungenlied und die Minne eines Walther von der Vogelweide beleuchtet der Autor nach der Ritterpoesie, den Dichtern der Mystik und der Hinwendung zu den Volksmärchen dann das Aufkommen von Meistersinger-Schulen und das Genre der Eulenspiegeleien. Die sich anbahnende Abkehr vom Latein durch Luthers Bibelübersetzung schließlich «kann nicht überschätzt werden. Es ist, als hätte Luther die neue deutsche Sprache erst geschaffen». Die Wirkung des Dreißigjährigen Kriegs auf die Literatur, Grimmelshausen sei genannt, wird ebenso besprochen wie die Epoche des ‹Sturm und Drang›. Zum Einfluss von Herder merkt er an: «Die Kunstdichtung kann nur auf dem Acker der Volksdichtung gedeihen». Schiller und Goethe widmet er, wen wundert’s, die umfangreichsten Passagen seiner Literaturgeschichte, um sich dann der Romantik zuzuwenden mit Jean Paul, Hölderlin, Novalis, Eichendorf und anderen. Mit den Befreiungskriegen entsteht schließlich eine politische Dichtung, für die insbesondere Heine symptomatisch sei, den er mit den melancholischen Worten zitiert: «Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser – freilich / Das Beste wäre nie geboren sein». Es folgt der pfarrhausnahe schwäbische Dichterkreis, dessen Philisterhaftigkeit Klabund anprangert. Uhland, Hebbel und Mörike, um nur einige zu nennen, werden ausführlich besprochen. Es folgt Fontane, der es zu einiger Berühmtheit gebracht habe, «nicht aber wegen seiner großen Kunst der Milieu- und Menschen-Schilderung, sondern wegen seiner stofflichen Vorwürfe», wofür ‹Der Stechlin› als typisches Beispiel genannt wird. Das Buch endet schließlich mit der deutschen Literatur im zweiten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei Thomas Mann in zwei Sätzen abgehandelt wird.

Es liegt in der Natur der Sache, dass ein derart ambitioniertes Vorhaben anfechtbar ist. So mancher Germanist dürfte sich die Haare raufen wegen der nassforschen Art, wie Klabund hier mit seinem Studiengebiet umgeht. «Philologische Absichten» aber hat Klabund ja, wie wir wissen, definitiv ausgeschlossen, das müsste doch auch allen heutigen Kritikastern klar sein. Gerade wegen seiner Kürze hat ein solches Buch schließlich überhaupt erst eine Chance, für ein breiteres Lesepublikum goutierbar zu sein. Dicke wissenschaftliche Wälzer über deutsche Literatur gibt es zuhauf, die meisten aber verstauben, nur von wenigen Insidern in ihren akademischen Zirkeln je gelesen, ziemlich nutzlos in ständig weiter auswuchernden Archiven.

Ohne Zweifel ist dieses Buch äußerst kenntnisreich geschrieben, es teilt aber in seiner Subjektivität das Schicksal aller Kritiker, nicht in allem und immer jedermanns Zustimmung zu finden. Wie sollte das auch gehen, man erinnere sich nur an Marcel Reich-Ranicki, den Prototyp des subjektiven Rezensenten. Um auf Weidermanns «echten Leser» zurückzukommen, für den ist damit schon das Stichwort gegeben: Wer sich also über den Horizont seiner Lieblings-Lektüre hinausgehend für die Grundlagen der 24-Buchstaben-Kunst interessiert, dem sei dieses lehrreiche Büchlein empfohlen. Denn es bereichert nicht nur kenntnisreich, es bietet mit seiner etwas pathetischen Sprache zuweilen eine amüsante, immer aber sehr unterhaltsame Lektüre.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de

 


Genre: Sachbuch
Illustrated by Textem-Verlag

I had that same dream again 3

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Des Rätsels Lösung

Nanoka will sich Rat bei Frau Abazure holen, denn ihr Freund Hikari hat sich zu Hause verbarrikadiert und will die Schule nicht mehr besuchen, seitdem er gemobbt wurde. Die beiden Freundinnen sprechen sich gegenseitig Mut zu und tauschen wichtige Tipps für ihre Lebenswege aus. Gestärkt mit diesen Tipps, aber angesichts des Verlustes von Minami mit der Furcht im Herzen, dass auch Frau Abazure verschwindet, geht Nanoka zu Hikari. Sie hat sich vorgenommen, zu seinem Herzen zu sprechen. Tatsächlich gelingt ihr der Zugang zu Hikaris Herz und der Junge geht wieder zur Schule. Dort wehrt er sich auf seine Weise gegen die Anfeindungen und steht Nanoka bei. Aber als Nanoka Frau Abazure von ihrem Erfolg erzählen will, erfährt sie, dass in ihrem Apartment nie eine Frau gewohnt haben soll. Voller böser Vorahnungen geht Nanoka zum Haus ihrer ältesten Freundin und hofft, wenigstens sie noch anzutreffen.

Träume, Paralleluniversen, Zukünfte, das eigene Ich

Der letzte Band der Reihe löst nach und nach die Rätsel auf, vor die sich Nanoka gestellt sieht. Dabei bedienen sich die Autorinnen der Träume innerhalb eines Traumes und lassen dabei Paralleluniversen und diverse Zukunftszweige aufeinander treffen. Alle Frauen mit ihren unterschiedlichen Lebenswegen und Nanoka haben diesen einen Traum – und er ermöglicht ihnen nach und nach eine glückliche Zukunft. Nanoka lernt, dass jede Entscheidung, die sie trifft, einen neuen Zweig der Zukunft eröffnet, dass es viele Abzweigungen geben kann, die in jeweils unterschiedliche Richtungen führen. Und sie lernt, dass alle Antworten für eine glückliche Zukunft in ihr selbst liegen. Aus ihrem letzten Traum erwacht sie in der für sie glücklichsten Zukunft. Diese hat sie im Gespräch mit ihren unterschiedlichen Ich-Aspekten herausgearbeitet und überführt die wichtigsten Eigenschaften dieser Aspekte in ihr für sie bestes Leben. Ebenso deutlich wird, dass man in egal welchem Alter sein Leben zum Besseren wenden und trotz seelischer Narben das Beste aus sich herausholen kann.

Die schwarze Katze Merle fungiert dabei als sanfte Führerin Nanokas durch die verschiedenen Universen ihres Ichs. Bedenkt man, dass Katzen (v.a. schwarze; Schwarz steht für fruchtbaren Mutterboden => in dem Manga sind das wohl die fruchtbaren Gespräche und Ideen) früher zu den heiligen Tieren der Großen Göttin gehörten, die wie die Göttin selbst verteufelt wurden, dass die Katze bzw. der Hase eines der Tiere des chinesichen Kreises der Sternzeichen ist und sie zudem als Krafttier für Selbstbestimmtheit, innere Weisheit, den 7. Sinn und geistige Entfaltung steht, scheint Merle die göttliche Gesandte für Nanokas Lebensglück zu sein. Später verschwindet auch sie, aber Nanoka besitzt letztlich eine Katze, die Merle zum Verwechseln ähnlich ist.

Fazit

Insgesamt scheint diese Manga-Reihe eine Mischung aus Elementen der Science Fiction, der Psychologie, der frühen Religionen und der Esoterik zu sein. Und diese Mischung ist äußerst gelungen! Die Lebenstipps in dem Manga dürfen ruhig bedacht und für das eigene Leben geprüft werden. “Halte dich an dich selbst, finde heraus, was du wirklich willst, mache dich mutig Schritt für Schritt auf den Weg, entwickle wohlwollende Empathie und vertraue bei der Prüfung anderer Menschen auf dein Herz” scheint die Essenz dieser Manga-Reihe zu sein. Nicht die schlechteste, wie ich finde.


Genre: Manga
Illustrated by Carlsen Manga!

Von Bienen und Menschen: Eine Reise durch Europa

Auch für dieses Buch über Bienen und ihre Menschen nimmt die Autorin uns mit auf ausgedehnte Reisen, am Anfang und zum Schluss sind wir wieder bei Galina in Jasnaja Poljana, dem ehemaligen Trakehn bei Kaliningrad, wo wir schon beim Akazienkavalier waren. Die Reise geht bis zu den Pyrenäen, und über Gotland nach Slowenien. Einmal geht es nur von Lüneburg kurz mal über die Elbe, in das ehemalige Zonenrandgebiet, wo nach dem Mauerbau im Todestreifen Bienen gehalten wurden.

Ulla Lachauer‘s Kunst besteht darin, in ihren Gesprächen eine vertraute Atmosphäre zu schaffen, so dass die Menschen gerne von den Bienen in ihren Leben erzählen. Im Vorwort lesen wir, warum sie verstehen möchte, was Bienen den Menschen bedeuten, früher, während der gesellschaftlichen Umbrüche dieses und des letzten Jahrhunderts und jetzt, wo durch die Gifte der industriellen Landwirtschaft Bienen und andere Insekten sterben.

Zwischen den Texten stehen Rezepte, die sich für verschiedene Honigarten eignen, man liest, wie unterschiedlich Honig ist, je nach der Tracht, also der jeweils blühenden Pflanzen. Und wir lernen, dass Tannenhonig von Ausscheidungen von Blattläusen gewonnen wird, also eigentlich ziemlich eklig ist.

Ein Glossar zum Schluss klärt auf über das zur Bienenhaltung verwandte Vokabular und endlich glaube ich nun, deren ungewöhnliche Paarungsabläufe verstanden zu haben.

Von den zehn Orten, in denen die Begegnungen stattfanden, möchte ich einige vorstellen:

Wir beginnen in Stuttgart, wo ein Stadtbauer ihr sein Revier zeigt: eine Industriebrache, auf der er 15 Stöcke hält. Den Bienen fehlt es an nichts: die Spontanvegetation blüht, etwas weiter ist eine Lindenallee Der Stuttgarter Honigbauer arbeitet ohne Schutz, seine Bienen kennen ihn. Dann wird ein Volk einlogiert, also in seine Behausung eingeführt, dabei sind Geduld und Beobachtungsgabe gefragt.

Wer an einem bewohnten Stock arbeiten will, braucht einen Smoker, den hat jeder Imker. Wenn es nach Rauch riecht (und, wie wir sehen werden, hat jeder Imker sein Spezialrezept für seinen Rauch) glauben, die Bienen es wäre Waldbrand, packen ihre Vorräte für die Flucht, so kann der Imker sich in Ruhe am Stock zu schaffen machen.

Danach besuchen wir im Schwarzwald die Familie Pfefferle, eine „Bienendynastie“ seit Generationen, ein Vorfahre hat ein wichtiges Buch geschrieben. Mit seiner Schwiegertochter, inzwischen auch über sechzig Jahre alt, gehen wir zu den fünfzehn Völkern. Sie kontrolliert, wie groß die Schäden sind, die die Varroamilbe angerichtet hat (drei Völker müssen in Quarantäne) und erfahren, wie unterschiedlich Männer und Frauen als Imker sind. Und wir werden an das große Bienensterben am Oberrhein im Jahr 2008 erinnert, als Neonicotinoide in der Landwirtschaft eingesetzt wurden, später heißt es: „seitdem kämpfen die Imker für ihr Verbot.“

Länger halten wir uns in Slowenien auf, ein Land, das eine besonders lange Imkertradition hat, und als einziges europäisches Land die Imkerei staatlich fördert. Unser Gesprächspartner ist Franc Sivic, dessen Deutsch einen österreichischen Klang hat und der viel über die Geschichte der Bienen und Menschen im ehemaligen, Habsburg, aber auch im ehemaligen Jugoslawien weiß.

Für den Bienenhalter sind die Rassen wichtig: die heute in Europa verbreitete Carnica ist einfacher zu halten, als stechsüchtigere Rassen. Viele Imker sind begeistert von den Möglichkeiten, selbst zu züchten, schon seit Jahrhunderten werden Königinnen ex- und importiert. Kein Wunder, dass es während der Nazizeit vergleichende Theorien zu besseren Rassen nicht nur bei Bienen gab, bisher (das Buch erschien 2018) haben Imkerverbände dies nicht aufgearbeitet.

Veränderungen der Umwelt beeinträchtigen die Imkerei, überall, wo die Vielfalt der Blühpflanzen zum Verschwinden gebracht wurde, am schlimmsten ist es, wenn nach dem Juli nichts mehr blüht, oder wenn, wie bei Galina in Russland, aufgrund wechselnder Besitzverhältnisse gar nichts angebaut wird, oder dass sie sterben, wie beim Imker in Südfrankreich, der Gifte vermutet, die in der Landwirtschaft verwendet wurden.

Im Nachwort werden neben den ideellen die wirtschaftlichen Seiten der Imkerei zusammengefasst: Der Honigbauer braucht kein eigenes Land, und während der vielen Krisen, die die Menschen auch in Europa immer wieder heimsuchten, erbrachte der Honigverkauf ein Zubrot. Das wäre etwas für Sie?

Als Städterin empfehle als zukünftigen Standort Städte. Wir selbst bringen seit einem Jahr keinen Honig mehr von unseren Reisen zurück. Aber wir nehmen Berliner Stadthonig als Mitbringsel: der ist weniger mit Schadstoffen belastet, als der, den man in Dörfern bekommt. Für den Anfang reicht ein kleiner Stock …


Genre: Biographie, Garten
Illustrated by Rowohlt

Jahrestage

Mega-Roman im Intervall

Mit seinem Epos «Jahrestage» hat Uwe Johnson den Versuch unternommen, Realität verlustfrei in Sprache zu transferieren. Wie der Untertitel verrät, dient ihm dabei das Leben seiner Protagonistin Gesine Cresspahl als Spiegel für eine großangelegte Gesellschaftsstudie, in der er zu dem Ergebnis kommt, dass allen äußeren Widerwärtigkeiten zum Trotz der Mensch letztendlich seine seelische Integrität durchaus zu bewahren vermag. Der erste Teil des vierbändigen Werkes erschien 1970, der letzte 13 Jahre später. Man kann das systemkritische Hauptwerk von Uwe Johnson als engagierte Suche nach dem richtigen Leben deuten.

Der in 366 Tageskapitel eingeteilte Roman stellt eine subjektive Jahreschronik dar, vom 19.8.1967 bis zum 20.8.1968, den Schalttag eingeschlossen, ein Weltjahr also, wie es Siegfried Unselt formuliert hat. Ort der Handlung ist New York, Johnson lässt die 34jährige Gesine, die dort bei einer Bank arbeitet, mit ihrer zehnjährigen Tochter Marie im Apartment 204, 243 Riverside Drive, Manhattan wohnen, seine eigene Wohnadresse während seines zweijährigen Aufenthalts. Eine zweite Erzählebene bildet die fiktive Kleinstadt Jerichow in Mecklenburg, aus der Gesine 1953 während der DDR-Zeit in den Westen flüchtete, ehe sie dann 1961 nach New York ging. Neben der Hauptfigur und ihrer altklugen Tochter als Zuhörerin fungiert der Autor in Person als Protokollant ihrer Erzählungen. Als zweite Erzählinstanz tritt er zuweilen in Dialogen mit Gesine auf, die nicht immer friedlich verlaufen. «Wir können auch heute noch aufhören mit deinem Buch» hält sie ihm an einer Stelle entgegen. Quasi eine dritte Erzählinstanz ist die für Gesine unentbehrliche New York Times, ihre tägliche Pflichtlektüre, aus der im Roman tagebuchartig in beinahe allen Kapiteln zitiert wird. Nicht nur dass die Zeitung als seriöse Zeitzeugin die politischen und sozialen Themen zur Handlung beisteuert, der Autor vermittelt damit auf raffinierte Weise auch Authentizität.

Häufig unterbrochen durch Fragen der wissbegierigen Marie erzählt Gesine unermüdlich aus ihrem bewegten Leben und aus dem ihrer Vorfahren. Wobei, wie es der Untertitel «Aus dem Leben von Gesine Cresspahl» schon relativiert, all diese Rückblenden nie wirklich vollständig sein können. Der zeitliche Rahmen der Erzählungen reicht von Gesines Geburtsjahr 1933 mit der Machtergreifung der Nazis über das Kriegsende mit der gefürchteten Roten Armee in Mecklenburg, das nachfolgende sozialistische Paradies der DDR, die gefährliche Epoche des Kalten Krieges und den Vietnamkrieg bis hin zum Prager Frühling. Der Roman endet mit dem 20. August 1968, an dem die Russen den Reformen von Alexander Dubček ein Ende setzten. Zum persönlichen Schicksal von Gesine gehört neben dem frühen Tod ihrer Eltern auch der politisch bedingte Tod von Maries Vaters, über den sie untröstlich ist. Sie hat sich in eine Art inneres Exil zurückgezogen und lebt weitgehend in ihren Erinnerungen, die sie nach dem Motto «… für wenn ich tot bin» auch auf Tonband spricht.

In einer Art Collage werden persönliche Erinnerungen mit Zeitungsausschnitten, Briefen und Dialogen zu einer Erzählung zusammengefügt, die geradezu fanatisch nach Wahrheit strebt. Sprachlich ist der Roman durch eine äußerst präzise Beschreibungskunst gekennzeichnet, deren parataktischer Satzbau sich zielgerichtet aufs Wesentliche konzentriert. Neben etlichen Einsprengseln in Platt finden sich darin ganze Passagen in Englisch, Französisch und anderen Sprachen bis hin zu Russisch. Man kann hier mit Recht von einem Sprachkunstwerk reden, dessen schwierige Lektüre allerdings, nicht nur vom schieren Seitenumfang her, einiges an Durchhalte-Vermögen voraussetzt. Dieser collageartig aufgebaute Mega-Roman eignet sich aber auch ideal zum sequentiellen Lesen, immer wieder mal hundert Seiten im Intervall. Es gibt in ihm ja keinen durchlaufenden Erzählfaden, man kann also problemlos jederzeit wieder einsteigen in die Lektüre dieses kanonischen Werkes.

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Sketch every day – Einfach mit dem Zeichnen loslegen

(Fast) jeden Tag zeichnen

Das “fast” ist Simone Grünewald wichtig. Denn ohne das “fast” wird Zeichnen zum Zwang. Und wenn der Zwang da ist, geht der Spaß, geht die Kreativität. Zeichnen kommt aus der inneren Motivation heraus, und diese soll erhalten werden. Aus dieser inneren Motivation heraus entsteht auch die Lust, fast jeden Tag zu zeichnen. Aber Angst vor Unvollkommenheit hemmt die Motivation. Deshalb plädiert die Autorin dafür, einfach loszulegen und damit der Entwicklung seines Zeichnens Raum zu geben.

Mutterschaft und Beruf – schwierige Kombination, aber machbar mit eingehaltenen Versprechen und Absprachen!

Um den angehenden Künstler/innen Mut zu machen, beginnt sie mit ihrer eigenen Geschichte und rundet das Buch mit ihrem Mutter- und Künstlerinnendasein ab. Sehr gut gefallen hat mir, dass sie unangenehme Dinge nicht verschweigt; v.a. die schwierige Verbindung von Beruf und Elternschaft einer Frau. Sie gibt zu, dass sie das nicht geschafft hätte, wenn ihr Mann nicht seine 50% an Haushalt und Kindererziehung leisten würde. Sie machte zwar von Anfang an klar, dass sie nur dann ein Kind will, wenn der Mann seinen Teil der Arbeit tut. Aber: Das wird viel versprochen und genauso viel gebrochen, wenn das Kind erst einmal da ist und der Mann merkt, dass für ihn überhaupt kein Raum mehr bleibt. Dann ist es bequem, in alte Rollenklischees zu verfallen und zu sagen, das könne die Frau doch viel besser, um sich so aus der Affaire zu ziehen.

Im Fall Grünewalds scheint es funktioniert zu haben. Ihr zeichnerisch dargestellter Alltag mit Kind sollte für die Männer, die Vater sind und sein wollen, ein Vorbild sein. So funktioniert Beruf, so funktioniert Ehe, so funktioniert Elternschaft – in respekt- und liebevoller Absprache und v.a. dem Einhalten dieser Absprache! Schlimm genug, dass es immer noch nicht selbstverständlich ist, dass zum Mannsein mehr dazugehört als nur das Kind zu zeugen und danach der Frau das meiste bis alles weitere aufzubürden. So entsteht erst das Dilemma, in dem Frauen stecken: Sich entweder zwischen Beruf und Mutterschaft entscheiden oder bei beidem Abstriche machen zu müssen – und dann die (nicht nur finanziellen) Konsequenzen dafür bis ans Lebensende zu spüren. (Männer, für die es selbstverständlich ist, nach Hause zu kommen und – ohne dass die Frau das hundertmal sagt – z.B. die Wäsche richtig sortieren und das richtige Waschmschinenprogramm anschmeißen und alles aus der Waschmaschine räumen und aufhängen und später wieder abhängen und zusammenlegen und sogar in die richtigen Fächer des richtigen Schranks einräumen und nebenei das Kind wickeln und erneut die Waschmaschine bedienen, weil das Kind alles in erstaunlich großer Reichweite beim Wickeln vollgepullert und später in ebenso großer Reichweite auf das Sofa gebrochen hat, brauchen sich nicht angesprochen zu fühlen! ^^) Oder anders ausgedrückt: Die Autorin ist um ihren Mann, der immer noch ein seltenes, aber mindestens genauso begehrtes Exemplar darstellt, zu beneiden.

Übersichtlichkeit

Die Künstlerin gestaltet ihr Buch sehr übersichtlich, indem sie es in überschaubare thematische Kapitel und Unterkapitel einteilt und untergliedert. Innerhalb der Kapitel dominieren die Zeichnungen zur Veranschaulichung ihrer Tipps. Der Text ist kurz und in einfachen Sätzen gehalten. Trotzdem fällt es mir an manchen Stellen schwer zu verstehen, was genau sie meint. Aber ich schätze, das ist meiner zeichnerischen Nichtbegabung geschuldet. Grünewald teilt die Kapitel folgendermaßen ein: Einleitung (in der sie von vorneherein klarstellt, wie sie ihr Buch aufbaut und verstanden wissen will), Meine kreative Reise, Künstlerische Grundlagen (die sie trotz allen Spaßes für wichtig und v.a. hilfreich hält), Charakterdesign (mit umfassenden Tipps und Anschauungsmaterial von Menschen in allen Alltersstufen und Lebenslagen über Tiere bis hin zu Pflanzen), Familienleben.

Die Frau als Künstlerin

Dass in diesem Buch eine Künstlerin am Werk ist, merkt man allenthalben. Schon das Cover zeigt den weiblichen Aspekt des künstlerischen Daseins – und der wird immer und immer wieder im Buch deutlich. Das spiegelt sich nicht nur in Motiven aus weiblicher Perspektive, sondern v.a. auch daran, dass Grünewald als Referenzfigur nicht – wie sonst überlich – den männlichen, sondern den weiblichen Körper benutzt. V.a. dann, wenn explizit Männer und Jungen dargestellt werden sollen, rückt der männliche Körper in den Fokus. Ansonsten dominieren kleine Mädchen in Mechas, Frauen und Mütter in Berufs-, Alltags- und Fantasysituationen. Dabei stellt sie ganz nebenbei heraus, wie vielgestaltig der weibliche Körper ist. Das alles ist eine wohltuende Abwechslung zu dem meist eher eindimensionalen Frauenbild der Comicwelt, das in Bezug auf Frauen nicht nur (unrealistische) Männerträume ausdrückt, sondern viel zu oft sogar noch konservativer als der real gelebte Alltag ist.

Fazit

Sehr anschauliches und übersichtliches Buch über den Spaß am Zeichnen und die Grundlagen des Zeichnens, das wohltuend nicht den männlichen, sondern den weiblichen Körper als Referenz benutzt – aus weiblicher Sicht! Gerne mehr davon; die Comicwelt braucht dringend mehr Comics aus weiblicher Sicht und Hand!

 


Genre: Hobby, Sachbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Aus Liebe zu Deutschland – ein Warnruf

Abdel-Samad ist in Ägypten geboren, lebt seit vielen Jahren in Deutschland. Mich interessieren immer die Meinungen derer, die nicht hier geboren sind, aber unser Land gut kennen. Aus der anderen Perspektive sieht man vieles besser, das indigene Deutsche gar nicht wahrnehmen, weil es für sie selbstverständlich ist.

In seiner Jugend hat Abdel-Samad erlebt, dass Fragen, andere Meinungen, ein absolutes No-Go waren. Er kam nach Deutschland, weil er sich dort diese Freiheiten erhoffte. In diesem Buch schreibt er über Deutschland, das er liebt, aber auch über die Probleme, die er wahrnimmt.

»Deutschland ist das Produkt all dessen, was auf seinem Boden geschah, und es ist die Stimme aller Menschen, die hier leben. Es gibt für mich nur ein Deutschland, das viele Gesichter hat und viele Widersprüche vereint. […] Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by dtv München

Elektrische Fische

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Umzug, Heimweh und ein Fluchtplan

Von der irischen Hauptstadt Dublin ins verschlafene mecklenburg-vorpommerische Velgow: Der Unterschied könnte für Emma und ihre beiden Geschwister nicht größer sein. Nach der Trennung von ihrem trunksüchtigen Vater zieht die Mutter mit ihren drei Kindern zurück in das Haus ihrer Eltern, mit denen sie seit 20 Jahren kein Wort mehr gewechselt hat. Keine guten Voraussetzungen für einen Neustart. Der geht auch genauso holprig weiter, wie er begonnen hat: Die deutschen Großeltern sind Fremde, die geliebten irischen weit weg, ebenso die irischen Freunde, die sich einfach nicht durch deutsche ersetzen lassen wollen. Und Emmas kleine Schwester Aiofe verstummt vollständig, nachdem sie in ihrer neuen Schule gemobbt worden ist.

Emma ist sich sicher: Hier will sie nicht bleiben! Also fasst sie heimlich den Plan, wieder in ihre alte Heimat zurückzukehren. Unerwartete Hilfe bekommt sie von Levin, einem Klassenkameraden, der wie sie ein Außenseiter ist. Der dünne, langhaarige Junge ist ausgewiesener Metal-Fan, schüchtern und ein guter Beobachter. Obwohl er selbst große Probleme zuhause hat, bietet er Emma seine Hilfe an. Aber damit sein Plan klappen kann, müssen die beiden komplexen Charaktere erst einmal zueinander finden.

Entwurzelung

Die Geschichte stellt schön heraus, wie es ist, völlig fremd zu sein und seine Wurzeln verloren zu haben. Das immense Heimweh, das die Kinder plagt, der mühsame Neubeginn und eine Mutter, die immer Heimweh nach Deutschland hatte, sich jetzt aber nach all den Jahren verloren fühlt und wie ihre Kinder im Nirgendwo feststeckt.

Auch die finanzielle Lage ist angespannt, da die Mutter zumindest anfangs nichts verdient und später “nur” einen Aushilfsjob hat. Die dadurch entstandene Abhängigkeit von den Großeltern und der mangelnde Platz im Haus machen die Lage nicht besser.

Nur allmählich wachsen winzig kleine Wurzeln und finden fruchtbaren Boden zum Verwurzeln. Im Fall der Mutter ist es der Aushilfsjob, der ihr Spaß macht, und der Kontakt zu einer alten Klassenkameradin. Aber auch dieser Kontakt ist durchwachsen, da die Klassenkameradin, Levins Mutter, geistig erkrankt ist.

Emma findet in Levin einen neuen Freund, wobei aber auch diese Beziehung nicht unbelastet ist. Außerdem entflieht sie dem Alltag, indem sie in der Ostsee schwimmt, die aber, wie sie immer wieder anmerkt, nicht das Meer Dublins ist. Erschwert ist auch die Hinfahrt zum Meer, denn sie hat nur das alte DDR-Klappfahrrad als Vehikel.

Ihre Schwester Aoife findet in der alten Nachbarin jemanden, der ihr beim Schweigen zuhört, die die anderen aber eher seltsam finden. Und die deutschen Großeltern tun sich mit der Empathie für ihre irischen Verwandten schwer, zumal sie ihrer Tochter nachtragen, dass sie sie wegen ihres Mannes verlassen hat.

Aber auch hier wachsen erste zarte Wurzeln, als z.B. der Großvater für Emma ein Bett baut, sodass sie nicht länger nur auf ihrer Matratze schlafen muss. Diese kleinen gegenseitigen Annäherungsversuche an das jeweils Fremde sind zwar steinig, aber mit Erfolg gekrönt, sodass sich langsam ein Sog in Richtung eines neuen, nicht mehr so schlimmen Alltags entwickelt. Natürlich denkt man als LeserIn dabei an die diversen Flüchtlingskrisen, die zur Menscheitsgeschichte immer schon dazugehört haben. Und an die Entwurzelung, z.T. auch die Entwertung der geflüchteten Menschen, die oft nicht willkommen waren und es dadurch noch schwerer als ohnehin schon hatten. Vielleicht will das Buch u.a. Empathie wecken für solche Entwurzelten, weil es das mühsame Verwurzeln so ausführlich beschreibt.

Schwierige Familienverhältnisse

Dass es immer mal wieder Schwierigkeiten, auch gerne in diversen Abstufungen, in Familien gibt, ist wohl jedem bekannt. Emma trifft es allerdings härter, weil sie einen Alkoholiker in ihrer Familie hat. Und sie ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu ihrem Vater und v.a. zu ihren irischen Großeltern und der Liebe zu ihrer Mutter, die von Frust und Wut bgleitet wird, weil die Mutter unerreichbar weit von der irischen Verwandtschaft wegzieht. Auf der anderen Seite zeigt sie aber auch Ansätze, ihre Mutter und deren Entscheidung zu verstehen. Die Entfremdung zu ihrer deutschen Verwandschaft trägt allerdings nicht dazu bei, ihre Situation zu verbessern.

Auch Levins Familienverhältnisse sind schwierig. Die Mutter, vorher eine hoch dotierte Biologin, ist schwer psychisch erkrankt und belastet die Familie sehr. Ihr Selbstmordversuch am Schluss des Buches ist die Spitze vom Eisberg, unter dem die Familie schon seit Jahren leidet. Die beiden Brüder leiden aber auch an der Unfähigkeit des hilflosen Vaters, mit der Situation umzugehen. In dieser Familie ist praktisch jeder auf sich allein gestellt mit seinem Kummer.

Mit schwierigen Situationen umgehen lernen

Das Buch bietet keinen perfekten Lösungsweg. Es beschreibt eher, wie sich die Figuren an schwierige Situationen herantasten, stolpern, versuchen, damit umzugehen, wieder stolpern usw. bis es irgendwann erträglich und vielleicht sogar besser wird. Es gibt nicht den einen Weg, sondern ein ständiges Tasten und try and error – wie auch im echten Leben. Trotzdem sind immer wieder gute Lösungsansätze zu sehen wie z.B. Hilfsbereitschaft, die Bereitschaft zuzuhören, Schweres gemeinsam auszuhalten, denken und ausprobieren, miteinander kommunizieren, erste Schritte aufeinander zugehen, den anderen in seiner Entscheidung respektieren. Dass es dabei auch immer wieder Meinungsverschiedenheiten und Streit gibt, ist normal. Der Weg zueinander wird aber ebenso oft gesucht, auch wenn es manchmal dauert.

Sonstiges

Das Buch stellt sich den Schwierigkeiten, die es vor den LeserInnen ausbreitet. Aber vielleicht ist es zu überfrachtet mit all diesen Schwierigkeiten, die mal eher angedeutet, mal ausformuliert werden. Ich persönlich fand es etwas sperrig zu lesen, was nicht an der Satzlänge liegt. Die ist in Ordnung. Mir macht eher die Distanz zu schaffen, denn ich bin nicht wirklich warm geworden mit den Figuren, auch nicht mit der Hauptfigur. Vielleicht liegt es daran, dass Emma für einen Teenager viel zu erwachsen wirkt, trotz der Schwierigkeiten. Für mich ist die Darstellung der Figuren insgesamt zu gedeichselt, um noch plausibel zu wirken. Das Buch mutet wie eine typische Schullektüre an, die man als Teenager gezwungen ist zu lesen, weil sie so viel Lehrreiches vermittelt, danach aber nie mehr anrührt. Da ändert auch die Tatsache nichts, dass die Autorin u.a. schon für Preise nomminiert war und diese z.T. auch gewonnen hat.

Fazit

Das Thema Entwurzelung ist nach wie vor sehr aktuell, das Thema familiäre Schwierigkeiten sowieso und diese Themen werden im Buch gut herausgearbeitet und beleuchtet. Trotzdem ist eine Distanz vorhanden, die es LeserInnen schwer macht, mit den Figuren warm zu werden.


Genre: Jugendbuch
Illustrated by Carlsen Verlag Hamburg

Vor dem Sturm

Einfach genial

«Vor dem Sturm», als «Roman aus dem Winter 1812 auf 13» bezeichnet, das Opus magnum von Theodor Fontane, ist eine vierbändige Geschichte über den Beginn der preußischen Befreiungskriege nach dem gescheiterten Russlandfeldzug Napoleons. Der Autor schildert in seinem 1878 erschienenen Debüt-Roman die historischen Ereignisse in hunderten von separaten Erzählungen. Zentrum der Handlung ist das fiktive Schloss Hohen-Vietz im Oderbruch, im dritten Band auch Berlin. Zentrale Figuren sind die Mitglieder der Adelsfamilien Vitzewitz-Pudagla und Ladalinski. Als unangefochtener Großmeister des Plaudertons entwickelt Fontane ein breit angelegtes Panorama verschiedenster gesellschaftlicher Schichten und ihrer Eigenarten in einer fast durchgängig indirekten Erzählform. Er lässt nämlich sein vielköpfiges Figuren-Ensemble in unzähligen Gesprächsrunden, ergänzend auch in vielen Briefen, zu Wort kommen, um die Geschehnisse und ihre kulturellen Hintergründe zu erzählen.

Der Roman beginnt an Heilig Abend 1812 auf Schloss Hohen-Vietz, den der verwitwete Bernd von Vitzewitz mit Tochter Renate und Sohn Lewin, der Erzieherin ‹Tante› Schorlemmer, einer Herrnhuterin, sowie diversen Gästen gemeinsam begehen. Der Schlossherr sieht im Rückzug der geschlagenen französischen Armee die militärische Chance, endlich die demütigende Besetzung Preußens abzuschütteln. Unermüdlich wirbt er in Gesprächen für seine Idee eines Volkssturms, der die Franzosen aus dem Lande jagt. Nach langem Hin und Her entsteht dann tatsächlich eine örtliche Volkswehr, um mit Hilfe der nachrückenden Russen die in der Festung Küstrin stationierte französische Garnison aufzulösen.

Jeweils angelehnt an dieses narrative Gerüst werden die vielen Geschichten von Adligen, Militärs, Amtspersonen, Pastoren, Bauern, Dienstpersonal und zwielichtigen Gestalten fontanetypisch, also überaus anschaulich erzählt. Trotz der Fülle von Figuren behält man als Leser jederzeit den Überblick, weil der Autor seine durchweg sympathischen Charaktere derart stimmig beschreibt, dass man viele von ihnen schon bald persönlich zu kennen glaubt. Natürlich ist auch die Liebe ein Thema in diesem Roman, wobei das zeitbedingt verschämte Sich-nicht-erklären, aber auch Standesdünkel für allerlei Tragik sorgen. Köstlich sind die ständigen Dispute mit der bigotten Herrnhuterin, deren naiver Frömmigkeit weder der Pastor noch der Schlossherr gewachsen sind. Tante Amalie, die Gräfin Pudagla, verwitwete Schwester des Alten von Vitzewitz und Herrin auf Schloss Guse, bereichert die Gespräche in ständigen französischen Einsprengseln mit ihren Erlebnissen am Berliner Hofe. Aber auch Hoppenmarieken, eine verkrüppelte Alte mit angeblich übersinnlichen Fähigkeiten, spielt letztendlich eine entscheidende Rolle in dem vielfältigen Geschehen, in dem auch der Tod seinen Platz hat.

Zum Thema «Was soll ein Roman» hat sich Fontane schriftlich geäußert: «Er soll uns, unter Vermeidung alles Übertriebenen und Hässlichen, eine Geschichte erzählen, an die wir glauben. Er soll zu unserer Phantasie und zu unserem Herzen sprechen, Anregungen geben, ohne aufzuregen; er soll uns eine Welt der Fiktion auf Augenblicke als eine Welt der Wirklichkeit erscheinen, soll uns weinen und lachen, hoffen und fürchten, am Schluss aber empfinden lassen, teils unter lieben und angenehmen, teils unter charaktervollen und interessanten Menschen gelebt zu haben, deren Umgang uns schöne Stunden bereitete, uns förderte, klärte und belehrte». Im letzten Kapitel überrascht dann das Tagebuch der ins Kloster gegangen Renate, die darin kurz den Fortgang der Familiengeschichte skizziert. Und im letzten Absatz schließlich steht der Autor in persona auf einem Grabstein des Friedhofs und blickt auf die Kloster-Ruinen, eine raffinierte, dreifach verschachtelte Fiktion. «Im Scheiden erst,» schreibt er zum Schluss, «las ich den Namen, der auf dem Steine stand: Renate von Vitzewitz». Dieser kontemplative, extrem vielschichtige Roman ist einfach genial!

Fazit: erstklassig

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Lymph-Drainage: Hilfe bei Schwellungen und Ödemen. Selbst behandeln, einfach entschlacken

LymphdrainageLymphsystem – das unbekannte Wegenetz

… welches das Buch als erste “Amtshandlung” den Leser/innen näher zu bringen versucht. Denn das Lymphsystem transportiert nicht nur die Fette, sondern leitet u.a. auch Schadstoffe, Eiweißmoleküle und abgestorbene Zellen ab, neutralisiert und entsorgt Abfallstoffe des Stoffwechsels, produziert Abwehrstoffe und verteilt sie weiter.  Damit hat es eine wesentliche Funktion zur Gesunderhaltung des Körpers inne, die oft nicht im Fokus steht.

Das Buch erklärt also eingangs einfach und verständlich, was das Lymphsystem überhaupt ist, wie es funktioniert, wie die Lymphwege verlaufen, welche Störungen auftreten können. Den nächsten Block bilden die Behandlungen, die man an sich selbst ausführen kann, um das Lymphsystem zu unterstützen. Dabei wird deutlich gemacht, dass diese wirklich nur eine Unterstützung darstellen und man bei Beschwerden die Ärztin/ den Arzt und/oder Physiotherpeut/innen aufsuchen muss. Ich persönlich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Behandlungsgriffe zur besseren Anschaulicheit wie in anderen Büchern schrittweise bebildert werden. So würde ich sie wohl eher nicht anwenden aus Angst, etwas falsch zu machen, bzw. zur Physio gehen, um sie mir zeigen zu lassen.

Gut hingegen sind die mit Farbe unterlegten Kästchen, die Wissenswertes hervorheben oder zusammenfassen. Die Grenze zwischen dem Machbaren und dem, was in fachmännische Hand gehört, wird immer wieder klar gezogen. Auch weitere Beispiele für die Unterstützung der Lymphe außerhalb der Griffe werden aufgezeigt, z.B. Mini-Trampolin mit Gummiringen (sowieso ein Allround-Talent für die Gesundheit), Faszientraining, Nordic Walking, Wassergymnastik und Schwimmen, Spaziergänge, gesunde Ernährung, richtige Hautpflege und spezielle Kräutertees, lymphfreundliche Lebensmittel, viel trinken.

Auffällig sind allerdings die Tippfehler, die auf ein paar Seiten gehäuft vorkommen. Auch ein unterstützender Bildtext taucht unter einem völlig anderen Bild erneut auf (S. 39 und 42). Es entsteht der Eindruck, dass das Buch überhastet korrigiert worden ist.

25 Rezepte, die entschlacken, entwässern und entgiften sollen

Die Rezepte sind meist einfach gehalten mit wenigen Zutaten und Angaben der Zubereitungszeit, die sich ebenfalls in Grenzen hält. Allerdings hat man nicht mal eben Thai-Basilikum zuhause oder Mangold, Granatapfel, Spirulina-Pulver oder Kokoswasser. Manche der angegebenen Zutaten findet man nicht in jedem Supermarkt. Selbst wenn, sind sie nicht immer im Sortiment. Man sollte sich also die Rezepte raussuchen, die supermarktkompatibel sind. Ansonsten sind die Rezepte Geschmackssache. Ich persönlich würde z.B. den reinen Tomatenreis etwas fade finden und mit Mozarella, Basilikum und gerösteten Nüssen aufpeppen.

Davon abgesehen habe ich generell bei der Lektüre von gesunden Rezepten des Öfteren den Eindruck, dass sie v.a. für die (wohlhabende) Mittelschicht geschrieben worden sind, denn die Menschen, die gesundes Essen besonders nötig hätten, können es sich aufgrund der mangelnden Finanzen oft gar nicht leisten – ich selbst habe das gemerkt in Zeiten, als ich mit 50 Euro für einen Wocheneinkauf auskommen musste. Ungesundes ist tatsächlich weitaus günstiger als gesundes Essen. Und ich spreche hier nicht von empfohlenem Bio, sondern schon von konventionell angebautem Gemüse, das deutlich teurer ist als die Tüten- oder Dosensuppe für ein paar Cent.

Ebenfalls nicht miteinbezogen sind die Menschen (ältere oder Menschen mit Handicap), die allein leben, aber nicht (mehr) selbstständig kochen können. Oder die, die aus Zeitdruck nicht selbst kochen (wovon es mehr als genug gibt). In einer halben oder 3/4 Stunde Mittagspause lässt sich nicht viel zubereiten, geschweige denn essen. Und abends vorkochen, v.a. bei Frauen/Alleinerziehenden mit Kindern, ist schlicht meist unmöglich. Eine Fertigmahlzeit in die Mikrowelle oder Pfanne geworfen ist in einer solchen Situation für die meisten das (zeitsparenste, günstigste) Mittel der Wahl.

Allgemein müsste die Lebensmittelindustrie viel mehr in die Verantwortung gezogen werden, gesunde Fertigmahlzeiten herzustellen! Auch die Lieferanten der Mensas der Unis, Kitas, Schulen, Firmen müssten mehr auf gesunde, unverarbeitete Lebensmittel achten und es müsste mehr Küchenpersonal geben. Die meisten Menschen essen aus Zeitgründen außerhalb, also sollte man v.a. dort mit der gesunden Ernährung ansetzen.

Fazit

Bis auf ein paar Mängel ein gutes, verständlich geschriebenes Buch über die Wichtigkeit unseres Lymphsystems und wie man es behandeln und gesund erhalten kann.


Genre: Gesundheit, Sachbuch
Illustrated by Lisa Mestars, Riva Verlag München