Der Weg ist das Ziel
Ein Mann zieht mit seiner Frau in ein schönes, beschauliches Städtchen. Er beschließt spontan, ein paar Schritte vor die Tür zu gehen. Das ist der Auftakt nicht nur für einen, sondern für viele weitere ausgedehnte Spaziergänge. Sie entpuppen sich als willkommene Auszeiten vom Alltag, in denen der Mann immer wieder Wunder in den kleinen Dingen entdeckt, z.B. in der Begegnung mit einem Ornitologen, die kristalline Zartheit einer Schneeflocke, das spontane Spiel mit einem Papierluftballon und einem Spielzeugflieger, die Aussicht von einem Baum, das Erklimmen eines kleinen spirituellen Berges, das nächtliche Schwimmen, die Begegnung mit Hühnern und anderen Vögeln, das Gespräch mit einem Angler, der Wettspaziergang mit einem Unbekannten, nächtlicher Sternenhimmel und Kuchengenuss, enge Gassen, andere Sichtweisen durch eine zerbrochene Brille, das Gespräch mit einer Unbekannten, das Leben der Frauen, spontanes Auspowern am Morgen, ein Abstecher nach einem Regenguss ins Badehaus, ein Besuch am Strand.
“Die Zeit floss dahin… So langsam wie der Fluss. Ein kurzes Zwischenspiel im Alltag. Es stimmt… Wozu sich immer hetzen müssen…?”
Damit trifft der spazierende Mann eine zentrale Aussage nicht nur der vorliegenden Graphic Novel, sondern des momentanen Zeitgeistes, der durch Wettbewerb, Konkurrenzdruck und Schnelllebigkeit mit all seinen (negativen) Konsequenzen geprägt ist. Japan ist noch mehr als der Westen für seine hart arbeitende Bevölkerung bekannt, die sich wenig Auszeiten und Ferien gönnt und in der die Gruppe wichtiger ist als das Individuum.
Der Kontrast zwischen der völlig unscheinbaren Hauptfigur, die nicht erahnen lässt, dass im Inneren ein Freigeist steckt, und dem Verhalten, das so gar nicht gesellschaftskonform ist, wird in den schönen, sehr detaillierten Zeichnungen deutlich. Der Ausstieg aus dem Alltag erfolgt aber nicht mit großem Tamtam, sondern still und unspektakulär. Stille Wasser sind tief, so auch im Fall des spazierenden Mannes. Er sagt nicht viel, dementsprechend wenig Text gibt es. Die Panels sprechen für sich und zeigen in der Stille die tiefgreifenden kleinen Veränderungen, die der spazierende Mann innerlich erlebt. Der Weg ist dabei das Ziel, denn er bereichert den Mann mit vielfältigen Erkenntnissen, die nur eine genaue Beobachtungsgabe und das Einlassen auf die Welt, wie sie sich ihm bietet, ermöglichen kann. Das stille Verweilen in der Gegenwart und die langsame Gangart erden den Mann und bringen ihn immer wieder in seine Mitte zurück. Er folgt seinem Gefühl – für einen Mann eher ungewöhnlich – und seinen spontanen Eingebungen.
Seine Spaziergänge sind spirituell, was auch im Erklimmen eines kleinen Berges, der mit religiösen Figuren bestückt ist, deutlich wird. Wettkampf hat keine Bedeutung auf dem Weg. Das erkennt der spazierende Mann, als er spontan mit einem anderen Mann ein Wettspazieren veranstaltet, das schließlich in ein einträchtiges und schweigsames Nebeneinandergehen mündet. Dem Mühlrad der Arbeit entflieht er an einem Tag durch einen spontanen Abstecher in eine ruhige Gegend, die ihm bewusst macht, wie sehr er sich täglich hetzt. Vielleicht hat Corona mit den erzwungenen Auszeiten und den vermehrten Spaziergängen mangels Alternativen den Menschen den Wert einer solchen Auszeit draußen in der Natur oder in städtischen Gässchen bewusst gemacht, damit sie sich Alternativen zu überlegen, dem krank machenden ewigen Hamsterrad zu entkommen.
Die Neuauflage enthält neben einen neuen Cover zusätzliche Geschichten, die in der Ausgabe von 2009 nicht enthalten sind, und ordnet die in sich abgeschlossenen Episoden etwas anders an. Dafür enthält die ältere Ausgabe andere Bilder und ein Nachwort von Andreas Platthaus, Redakteur der “Frankfurter Allgemeine Zeitung” mit Themenschwerpunkt Comics. Beide Auflagen enthalten eine Biografie Taniguchis. In der Neuauflage bestreitet der japanische Filmregisseur Hirokazu Koreeda das Nachwort, in dem er nachdrücklich auf die Wunder, die im Alltäglichen liegen, hinweist und sich ebenfalls als temporärer Aussteiger outet, weil seine Arbeit ihn eine zeitlang sehr frustriert hat. Außerdem bietet die Neuauflage zusätzliche Geschichten an: ein Ehebrecher, der traurig über das Beziehungsaus mit seiner Affäre ist; ein Mann, der eine Begegnung mit dem Göttlichen hat; ein junger Mann, der aus Versehen in eine andere Zeit reist.
Die zufällige Begegnung des älteren Mannes mit einer älteren Frau und deren plötzliches Verschwinden hallt in dem Mann nach. Er sieht einen weißen Kranich im Sonnenuntergang und denkt an diese Begegnung zurück. Der Kranich steht in Japan für Langlebigkeit, Ewigkeit und Glück. Der Kranich im Sonnenuntergang könnte eine symbolische Bedeutung in Richtung spirituellem Wandel haben. Die Bachstelze als weiterer bedeutender Vogel in der Geschichte war in Japan früher ein Herbstvogel. Außerdem hat er einem japanischen Götterpaar das Tanzen beigebracht und gilt als “Lehrer-Vogel”. Die Bedeutung des Herbstes trifft auf die beiden älteren Menschen zu, der des Tanzes auf die Leichtigkeit, auf die die Frau anspielt: Sie sehnt sich nach Freiheit und der Leichtigkeit des Lebens. Und die Bachstelze spielt auf die des Lehrers an, da der Mann aus dieser Situation etwas lernt.
Ein junger Mann durchquert mithilfe einer schwarzen Katze in einer Vollmondnacht Raum und Zeit. Die schwarze Katze ist in Japan im Gegensatz zum Westen ein Glücksbringer. Die Katze wird seit Jahrtausenden verehrt. Es gibt auch japanische Katzencafés, eine eigene Katzeninsel und die Glückskatze Maneki Neko. Im Westen war die Katze allerdings in vorpatriachaler Zeit ein göttliches Tier und wurde verehrt, da sie mit Aspekten der Großen Göttin in Zusammenhang gebracht wurde und die Göttin begleitete. Der Vollmond gilt als das weibliche Yin-Prinzip, da er u.a. an den weiblichen Zyklus erinnert. Außerdem werden in Japan am Herbstvollmond Feste gefeiert. Im esoterischen Buddhismus steht der Vollmond für die Buddha-Natur des Menschen. Kein Wunder also, dass der Vollmond und die schwarze Katze den jungen Mann in eine andere Zeit entführen, in der er trotz unscheinbarer Kulisse tiefgreifende Erfahrungen macht. Die engen Gassen, durch die ihn die Katze führt, muten dabei wie ein Geburtskanal an – nichts ist nach diesem Erlebnis mehr so wie vorher.
Fazit
Jiro Taniguchi versteht es immer wieder Tiefsinniges in seine Geschichten zu verpacken, die zunächst in stiller Demut und Unscheinbarkeit daherkommen. Sie lehren, dass wahre Schönheit in den alltäglichen und unscheinbaren Dingen liegt. Wer genau beobachtet, spontan reagiert und sich auf das Hier und Jetzt einlässt, kann wahre Schätze heben.