Die Witwen

leupold-3Kein Highlight

Bis auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 hat es Dagmar Leupolds neuer Roman «Die Witwen» geschafft, weiter allerdings nicht. Mit der Ergänzung «Ein Abenteuerroman» und seinem frechen Cover mit engelsgleichen Frauengestalten lädt dieses Buch geradezu zum Lesen ein, verspricht doch beides eine vergnügliche Lektüre. Nach «Edmond» von 1992 und «Unter der Hand» von 2013, ihrem letzten Roman, war ich doch sehr gespannt, ob der neue ähnlich forsch und charmant erzählt ist, eventuell gar eine Steigerung darstellt gegenüber den zwei anderen Romanen. Ich wurde, um es gleich vorweg zu sagen, ziemlich enttäuscht.

Ein glückverheißendes Kleeblatt sind jene vier Schulfreundinnen aus Berlin, die auch nach dem Abitur eng befreundet bleiben. Penelope heiratet und folgt ihrem Mann Otto an die Mosel, wo die Schwiegereltern ein Weingut mit angeschlossenem Gasthaus betreiben. Sie haben einen Sohn, ihr Glück scheint perfekt, bis eines Tages Otto von einer Dienstreise nach Fernost nicht zurückkommt, er bleibt spurlos verschollen. Penny, wie die Freundinnen sie nennen, stellt keine Nachforschungen an, selbst nach vielen Jahren kann sie sich nicht dazu durchringen, ihn für tot erklären zu lassen. Sie ist de facto Witwe, de jure nicht, aber sie will dies einfach nicht wahrhaben, ignoriert hartnäckig die offensichtliche Realität. Nach und nach folgen ihr die drei anderen Freundinnen aus der quirligen Großstadt in den beschaulichen Winzerort Steinbronn. Sie wollen ihr Leben entschleunigen, zu sich selbst finden in der idyllischen Umgebung. Auch sie sind ohne Mann, waren nie verheiratet, haben sich beruflich als Gärtnerin, Joga-Lehrerin und Logopädin selbstständig gemacht und sich behaglich, aber illusionslos in ihrem Singledasein eingerichtet. Die vier unzertrennlichen Freundinnen verharren antriebslos in einer Art Wartestand, ohne recht zu wissen, worauf genau sie denn warten.

Eines Tages jedoch wachen sie auf aus ihrer Lethargie und beschließen spontan, mit dem Auto eine Reise ins Blaue zu machen. Da keine von ihnen den Führerschein hat, suchen sie einen Chauffeur, der den Mietwagen fahren soll, und entscheiden sich unter den Bewerbern einstimmig für Bendix, ein vor sich hin lebender Privatier aus dem Ort, geistreich aber wortkarg, ebenfalls alleinlebend, ebenfalls mit sich selbst nicht im Reinen. Es geht die Mosel aufwärts zum Col de Bussang, zur Moselquelle. Bei einer Panne in einsamer Lage der Vogesen beginnt eine der Frauen plötzlich von sich zu erzählen, und nacheinander legen alle vier eine schonungslose Lebensbeichte ab, reden sich wie im Rausch ihren Frust von der Seele. Die intime Beichte der Frauen offenbart ihre Verletzlichkeit, enthüllt Verdrängtes, zeigt die harte Realität ihrer so unterschiedlichen Lebensgeschichten auf, ihre zerplatzten Träume, ihre Illusionen über Männer, die sich stets als Enttäuschung erweisen.

Und auch ihr Chauffeur Bendix wird nachdenklich, hinterfragt grübelnd sein Einsiedlerdasein: «Er wollte von der Welt nicht mehr wissen als ein Säugling. Er wollte vergessen, was Angst war. Ja, das war die Schrebergartenfantasie, der Entwurf eines Gärtleins aus Wohlbehagen mit Rabatten, deren Geradlinigkeit wildgezackte Unruhen vertrieben. Und bucklicht Männlein auch. Und Lumpensammler. Auch Engel hatten dort nichts verlorenen.» Man wird mit lebensklugen Reflexionen konfrontiert, von Dagmar Leupold in einer amüsant saloppen Weise gekonnt erzählt, oft verblüffend direkt formuliert, ihrem sehr persönlichen Stil folgend. All das ist durchaus erfreulich zu lesen. Nicht gelungen jedoch sind die Figuren, alle Protagonisten bleiben merkwürdig blutarm, man kommt ihnen nicht näher, Sympathie gar entwickelt sich nicht zu ihnen. Und was den Plot anbelangt, so konnte er mich ebenfalls nicht überzeugen, zu weit herbeigeholt und konstruiert wirkt dieses Abenteuer, über das da so munter berichtet wird. Schade eigentlich, die Geschichte hätte von der Idee her das Potential zu einem lesenswerteren Roman gehabt.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

Hausfrau

essbaum-1Ehebruch ist der Kracher

Viel Autobiografisches hat die US-amerikanische Schriftstellerin Jill Alexander Essbaum in ihrem Debütroman von 2015 verarbeitet, nicht nur den Handlungsort Dietlikon in der Nähe von Zürich, wo sie mit ihrem Mann selbst zwei Jahre gelebt hat, sondern auch die eigenen Erfahrungen als unglücklicher Expat in der Schweiz. Angesprochen auf Gemeinsamkeiten mit ihrer neurotischen Protagonistin Anna erklärte sie im Interview: «Ich war ebenso ständig traurig und depressiv». Anders als ihre Romanfigur aber habe sie erkannt: «Nicht die Schweiz hat mich unglücklich gemacht, sondern ich mich selbst». Vom amerikanischen Feuilleton zum Erotik-Bestseller hochgejubelt, ist die Rezeption hierzulande deutlich distanzierter, zu Recht?

Die 37jährige Amerikanerin Anna ist mit Bruno verheiratet, einem Banker bei der Credit Suisse. Sie hat drei Kinder und lebt als Hausfrau seit zehn Jahren komfortabel in der beneidenswerten Postkarten-Idylle des Züricher Umlandes, in Dietlikon, wo ihr Mann geboren ist, – alles scheint bestens zu sein. Aber sie ist innerlich zerrissen, fühlt sich einsam in einem Land, dessen Bewohner mental so völlig anders sind als ihre Landsleute. Sie bekommt keinen Kontakt zu den Schweizern, bleibt Außenseiter, nicht zuletzt der deutschen Sprache wegen, die sie nur rudimentär beherrscht. In einer depressiven Abwärtsspirale gefangen, aus der sie weder die Sitzungen mit ihrer Psychotherapeutin noch ein Deutschkurs zur besseren gesellschaftlichen Integration zu befreien vermögen, verfällt sie in eine ungehemmte Sexsucht. «Sie begehrte, begehrt zu werden», heißt es dazu, Sex wirkt wie ein Ventil für ihre innere Einsamkeit. Bedenkenlos fremdgehend, hat sie immer wieder einen neuen Liebhaber, ohne dass jemand etwas bemerkt. «Ob man einen Liebhaber hat oder zwanzig, ist auch egal» denkt sie, «Sie sind wie Chips. Man kann nicht nach dem ersten aufhören». Ihre von alldem nichts ahnende Freundin animiert sie einmal beim Plaudern auf einer Party, sich doch ruhig auch mal einen Liebhaber zu gönnen. Und weiter heißt es dann: «Ja, dachte Anna, Ehebruch ist der Kracher». – Man ahnt als Leser, das kann nicht lange gut gehen!

Der Roman ist flott geschrieben und leicht lesbar, er vermittelt manch Wissenswertes über unser Nachbarland und seine Bevölkerung, das Lokalkolorit ist bewundernswert stimmig eingefangen. Auch die Sprache wird im Deutschkurs thematisiert, die Meditationen über Wortbedeutungen dort wirken aber eher albern, und auch die Methoden der Psychotherapie erscheinen mir nicht gerade stimmig. Letzterem war sich wohl auch die Autorin bewusst, sie weist im Nachwort explizit darauf hin, dass es sich um reine Fiktion handelt dabei. Die parallelen Handlungsstränge und diverse Rückblenden treiben, in kleinste Textfragmente zerlegt, den Plot abwechselnd voran, er zieht den Leser allmählich immer tiefer in seinen Bann. Für literarische Voyeure, um auch das nicht unerwähnt zu lassen, bietet die Autorin reichlich Verbalerotik, geradezu klinisch orgasmusorientiert allerdings, ohne jede Sinnlichkeit, ohne lustvolle Raffinesse, – die typische Prüderie Amerikas ist unverkennbar.

Wer sich – wie ich – ohne jede Vorinformation an diese Lektüre macht, merkt womöglich am Ende erst, dass die Heldin ihren Namen nicht zufällig trägt. Auf die russische Anna wird schon auf Seite zwei dezent hingewiesen, wenn es um die verblüffende Pünktlichkeit Schweizer Bahnen geht, der letzten Satz des Romans lautet dann ebenso beziehungsreich: «Für den restlichen Nachmittag und bis tief in die Nacht verspäteten sich alle Züge». Mehr sei hier nicht verraten, – die Klassikleser wissen ja ohnehin Bescheid. Der spürbar dem Creative Writing verpflichtete Roman wirkt lehrbuchartig konstruiert, seine Protagonistin ist als Figur überzeichnet, sie nervt irgendwann regelrecht. Stark aber ist das Ende herausgearbeitet, man ist betroffen von der Zwanghaftigkeit des Abwärtsstrudels und der erschreckenden Einsamkeit der unglücksseligen Anna.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Unterleuten

zeh-2Lucy Finkbeiner lässt grüßen

Man darf ihn als Opus magnum von Juli Zeh bezeichnen, den neuen Roman mit dem wunderbar deskriptiven, originellen Titel «Unterleuten». Eine Gesellschaftsroman also, wobei es sich hier um Leute einer fiktiven dörflichen Gemeinschaft in Brandenburg handelt. Man schreibe, hat sich die Autorin mal geäußert, immer nur über das, was nicht klappt, und zwar, soweit es ihr Schreiben betreffe, ohne Intention. Und so ist es denn auch, ihr ambitionierter Dorfroman ist ein klug angelegtes Epos vom Scheitern, ganz ohne Botschaft. Und er ist wahrlich keine Hymne auf das Landleben, obwohl das ja nahegelegen hätte bei einer Autorin, die persönlich auch «Landflucht» begangen hat. Es sind Phänomene der Zeit, mit denen sich die politisch engagierte und streitbare Autorin vornehmlich auseinandersetzt, hier speziell das komplizierte Spannungsgeflecht im Mikrokosmos eines überschaubaren Soziotops aus Einheimischen und Zugezogenen in der Nähe Berlins.

Die zeitlich im Sommer 2010 angesiedelte Geschichte weist ein vielköpfiges Ensemble von Figuren auf, deren jeweiliges Agieren kapitelweise wechselnd erzählt wird. Als Protagonist ist dabei der ehemalige Großgrundbesitzer Gombrowski dominant, der nach den Enteignungen durch die DDR Vorsitzender der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft von Unterleuten wurde und nach der Wende dann Chef der neugegründeten Ökologica GmbH, die aus dieser LPG hervorging. Er ist nicht nur der größte Arbeitgeber im Dorf, er hält auch alle Fäden in der Hand in einem nur von wenigen Eingeweihten durchschaubaren, virtuosen Wechselspiel von gegenseitigen Abhängigkeiten der Dorfbewohner. Man regelt in diesen Kreisen alle Angelegenheiten unter sich, die Obrigkeit wird nicht gebraucht beim Austarieren von Forderungen und Gegenforderungen, die oft auch mit brutaler Gewalt geregelt werden.

In diesem literarischen Panoptikum fehlt weder der unbelehrbare Altkommunist noch die geldgierige Heuschrecke, die toughe Pferdeflüsterin aus der Villa Kunterbunt, ein zum Vogelschützer mutierter Soziologe, der gewalttätige Autoschrauber als Gombrowskis Mann fürs Grobe, die demente Oma mit zwanzig Katzen, der wirklichkeitsferne Nerd, der marionettenhaft im Dienste Gombrowskis handelnde Bürgermeister, um nur die Wichtigsten zu nennen. Bei dieser sich großenteils schon während der DDR-Zeit gebildeten Gemengelage wirkt der projektierte und politisch stark forcierte Bau einer Windkraftanlage wie die Lunte am Pulverfass, es kommt zu diversen Konflikten aller Beteiligten, und beteiligt ist in dem kleinen Dorf letztendlich jeder. Und alle scheitern am Ende auch, wie wir in einem Epilog der eigentlichen Autorin von «Unterleuten», der Journalistin Lucy Finkbeiner erfahren, in dem sie kurz die Vorgeschichte ihres uns vorliegenden Romans und das weitere Schicksal ihrer Figuren über das Romanende hinaus skizziert. Eine ähnliche Camouflage benutzt Juli Zeh auch, indem sie die «Pferdefrau» in ihren Handlungsstrategien gläubig dem real existierenden Ratgeberbuch «Dein Erfolg» von Manfred Gortz folgen lässt, ein in Wahrheit aber von ihr selbst unter Pseudonym geschriebenes Werk, das «sofort als Satire erkennbar» sei, wie sie angemerkt hat.

Gegensatzpaare wie Natur/Technik, Ossis/Wessis, Reiche/Habenichtse, Landvolk/Großstädter, Utopisten/Ewiggestrige kennzeichnen das Geschehen, und immer wieder gibt es trotzdem Zweckallianzen, – aus jeweils knallhartem Kalkül, Empathie ist nirgendwo im Spiel bei alldem. Der extrem handlungsorientierte Roman wird sprachlich betont sachlich und distanziert erzählt. An verblüffend vielen stimmigen Details erkennt man Juli Zehs äußerst penible Recherchearbeit, in ihrem Plot konzentriert sie sich ansonsten weitgehend auf die psychologischen Aspekte ihrer diversen Figuren. Ihr journalistisch nüchterner Text – Lucy Finkbeiner lässt grüßen – zeichnet gekonnt ein zeitkritisches Stimmungsbild der Gegenwart, zum wirklich großen Roman aber fehlt ihm das entscheidende Quantum Emotionalität.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Cox oder Der Lauf der Zeit

ransmayr-2Zweckfreier Ästhetizismus

Vergleicht man Christoph Ransmayrs ersten mit seinem neuesten, fünften Roman, der den Titel «Cox oder der Lauf der Zeit» trägt, dann kommt auch gleich die Zeit ins Spiel, denn es sind mehr als drei Jahrzehnte, die zwischen ihrer Veröffentlichung liegen. Man findet trotz dieser beachtlichen Zeitspanne Bestandteile einer für diesen Autor typischen Erzählweise: beide Romane schildern ein Geschehen an fernen, uns fremd erscheinenden, fast schon mystischen Handlungsorten, sie sind zeitlich weitab der Jetztzeit angesiedelt und verbinden beide historisch Verbürgtes mit fantasievoll Erdachtem. Und ihre Protagonisten eint ein Hang zur Weltentrücktheit, sie befinden sich in einer Sinnkrise, sind auf der Flucht vor einer Realität, deren Unbill sie in der Ferne zu entkommen hoffen.

Der weltberühmte englische Uhrmacher Cox folgt Mitte des 18ten Jahrhunderts einem Ruf an den Hof des chinesischen Kaisers Qiánlóng, um vor Ort ganz besondere Uhren für den damals mächtigsten Mann der Welt zu bauen. Den Gottkaiser verlangt es nach Uhren, die in der Lage sind, die unterschiedlich schnell erscheinenden Zeitläufte der Kindheit, der Liebe und des Sterbens adäquat anzuzeigen. Nachdem drei entsprechende Kreationen des Meisters die hochgespannten Erwartungen des «Herrn der Zehntausend Jahre» erfüllen, erhalten Cox und seine Mitarbeiter schließlich von ihm den Auftrag, eine Uhr zur Messung der Ewigkeit zu bauen, ein Perpetuum mobile mithin. Ein vermessenes Unterfangen, für das Cox eine perfekte Lösung findet, die letztendlich dann auch dem Kaiser seine Endlichkeit vor Augen führt, auch er ist nicht zeitlos. Denn selbst die ihm ehrfurchtsvoll – in der maßlosen Verehrung seines Hofstaates – zugedachten zehntausend Jahre sind nur ein Wimpernschlag in der Ewigkeit der Zeit.

In einer dem höfischen Zeremoniell angepassten, blumenreichen Sprache erzählt Ransmayr eine fantastische Geschichte, zu der ihn ein Museumsbesuch in Peking inspiriert habe. Bewundernswert ist die Detailfülle, mit der er den Leser penibel in die Uhrmacherkunst einführt, mit der er die von ihm selbst erdachten, wundersam anmutenden, feinmechanischen Kreationen minutiös beschreibt, um die sich scheinbar alles dreht. Tatsächlich aber geht es hier um Sinnsuche, um die Endlichkeit des Seins, letztlich um den Tod also, Ursache und Fundament sämtlicher Religionen. Sehr farbenprächtig ist auch die Schilderung des höfischen Lebens in der Verbotenen Stadt, zu dessen sagenhafter Glorie die eingestreuten Szenen auf dem Blutgerüst einen brutalen Kontrast bilden, der den Leser aus himmlischen Sphären in die Wirklichkeit – und Endlichkeit – zurückholt. Denn die Zeitmesser stehen als Metapher für die zeitliche Begrenztheit alles Irdischen, die der Mensch so gern verdrängt, wenn es um ihn selbst geht. Proust hat in seiner «Recherche» bekanntlich resümiert, man müsse einen Roman schreiben, um die verlorene Zeit zu finden, Ransmayrs Versuch deutet in die gleiche Richtung.

Geradezu verstörend war für mich die pathetische, effekthascherische Sprache, die hier zuweilen hart an Kitsch grenzende Satzgebilde hervorbringt, deren Aussagewert gegen Null tendiert. «Es war Selbstmord, eine Uhr für die Ewigkeit zu bauen, eine Uhr, die ihre Stunden aus dem Inneren der Zeit in die Zeitlosigkeit schlug». Man staunt als Leser darüber mindestens ebenso wie über die fantastischen Uhrwerke selbst, aber auch über das ausufernd beschriebene Hofzeremoniell, von dem immer wieder langatmig und völlig humorfrei berichtet wird. Beim Lesen stellt sich da trotz aller Wortgewalt allmählich gepflegte Langeweile ein, weicht das anfängliche Staunen dem Eindruck, hier werde poetisch hübsch verpackt philosophisch Belangloses behandelt, ein zweckfreier Ästhetizismus, bei dem Zeit und Vergänglichkeit zur Nebensache geraten. Bei allen Meriten des Autors, Etiketten wie «Weltliteratur» oder «Der größte Gegenwartsautor in deutscher Sprache» auf dem Buchdeckel sind nichts als platte Werbesprüche.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Meine geniale Freundin

ferrante-1Geniales Marketing

Der Hype um die unter Pseudonym schreibende italienische Schriftstellerin Elena Ferrante hat nun auch Deutschland erreicht, als erster Band in ihrem vierteiligen Romanzyklus erschien jüngst der Titel «Meine geniale Freundin». Die wilden Spekulationen der Medien über die Identität der Autorin sind für die Auflage mindestens ebenso förderlich wie die Verbindung der einzelnen Bände dieser Tetralogie durch Cliffhanger. Die in den USA besonders durch Kritikerpapst James Wood hochgepushte Rezeption ist in Deutschland zwar weniger euphorisch, Bestsellerstatus aber hat der Roman mühelos auch hier erreicht. Ein literarisches Meisterwerk, wie der Buchumschlag dem Leser verheißt, ein Literaturwunder gar?

Dieses neapolitanische Epos zweier Freundinnen wird von einer der beiden, Elena (sic!) genannt Lenù, aus einem Abstand von etwa sechzig Jahren erzählt. In einem kurzen Prolog erfahren wir, dass ihre Freundin aus Kindertagen, Lila, spurlos verschwunden ist, der Sohn sucht nach ihr. Spontan setzt sie sich an den Computer und beginnt ihre Geschichte aufzuschreiben «mit allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist». In zwei Kapiteln erzählt die Ich-Erzählerin aus dem Leben der Mädchen in einem der ärmsten Vierteln Neapels, sie beide eint der Wunsch, diesem prekären Milieu zu entfliehen. Was ihnen auch gelingt, bei jeder auf unterschiedliche Art allerdings. Sie entkommen nämlich ganz klassisch, durch Bildung und Heirat, dem Albtraum eines ihnen vorgezeichneten, archaischen Frauenlebens in den Slums von Neapel. Ein Entwicklungsroman mithin, beginnend bei der frühesten Kindheit und endend mit der alle Klischees bedienenden, pompösen und turbulenten Hochzeit der sechzehnjährigen Lila. Von Herkunft gleich, unterscheiden sich die beiden Busenfreundinnen grundlegend in ihrem Wesen. Während Lenù von einer Karriere als Autorin träumt, fleißig und brav in der Schule durch Leistungen glänzt, entsprechend gefördert wird und sogar aufs Gymnasium kommt, ist Lila hochintelligent, ein Wunderkind, Lenù geistig weit überlegen, aber so unangepasst und sprunghaft, dass sie scheitern muss, als unbezahlte Arbeitskraft in der Schumacherwerkstatt ihres Vaters landet und zuletzt, ganz konventionell und gegen ihre Art, den reichen Sohn des Lebensmittelhändlers heiratet.

Konventionell wird auch diese Geschichte erzählt, geradezu brav einsträngig, chronologisch, in einer klaren, leicht lesbaren Sprache, und zwar aus einer strikt feministischen Perspektive, – die Frauen dominieren in diesem breit angelegten Sittengemälde, alle Männer sind nur Randpersonen. Das Figurenensemble des Romans ist ziemlich üppig ausgefallen, was trotz vorangestellter Personenliste die volle Aufmerksamkeit des Lesers fordert. All diese vielen Charaktere sind stimmig beschrieben, die beiden in ständiger Konkurrenz zueinander stehenden Protagonistinnen werden psychisch geradezu durchleuchtet bei ihrem pubertären Selbstfindungsprozess, sympathisch allerdings werden sie dem Leser leider nicht.

Zweifellos ist dieser Roman gekonnt aufgebaut, man hat aber das Problem, dass er Fragment bleibt. Als Cliffhanger dient hier das Entsetzen Lilas, als ihr verhasster Ex uneingeladen auf ihrer Hochzeit auftaucht und dabei auch noch die Schuhe trägt, die sie mit ihrem Bruder mühsam von Hand gefertigt hat, ein unglaublicher Affront, der bei Lilas Naturell nicht ungesühnt bleiben wird, – aber bis zum Band vier fehlen noch etwa 1300 Seiten, man muss Geduld haben. Das wortreiche Geplapper der Autorin über Belangloses, Unwichtiges, verschärft durch viele Wiederholungen, löst schnell Langweile aus, man erkennt nicht recht, wozu man all diese Banalitäten denn lesen muss. Besonders nervig fand ich die irgendwann unerträglich werdende Lobhudelei der Ich-Erzählerin über ihre schulischen Leistungen, man fragt sich, ob da nicht etwa eine echte Elena durchschimmert hinter der Romanfigur. Genial, so mein Fazit, ist nur das Marketing der Verlage, nicht dieser Roman.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Nora Webster

toibin-1Die Vierte im Bunde

Im Werk des irischen Schriftstellers Colm Tóibín stehen Muttergestalten häufig im Mittelpunkt, so auch in seinem neuen Roman «Nora Webster», bei dem schon der Titel selbstbewusst das literarische Genre verdeutlicht. Es geht um die Selbstfindung einer Frau Mitte vierzig nach dem viel zu frühen Tode des Mannes. In etlichen Details dieser Geschichte sind autobiografische Hintergründe erkennbar, so zum Beispiel beim Schauplatz der Handlung, die Kleinstadt Enniscorthy der irischen Grafschaft Wexford, Tóibíns Heimat. Und auch sein eigener Vater war ein politisch engagierter Lehrer, nach dessen frühem Tod er zu stottern anfing – wie der älteste Sohn im Roman. Die Titelheldin durchlebt gemeinsam mit ihren vier Kindern den schockartig einsetzenden, mühsamen Prozess einer radikalen Umstellung ihrer Lebensführung, die Verantwortung für das bisher vorbildlich geordnete und wohlbehütete Leben liegt nun unerwartet plötzlich bei ihr allein, sie muss ein neues Fundament dafür schaffen.

Diese Geschichte einer Emanzipation wird in kleinsten Schritten vor dem zeitlichen Hintergrund des Nordirlandkonfliktes Ende der 1960er Jahre erzählt, beginnend beim qualvollen Sterben des Mannes bis hin zur Räumung seines Kleiderschranks drei Jahre später, die eine bis dato ängstlich vermiedene, symbolträchtige Loslösung aus der rückwärtsgewandten Trauerphase darstellt, Voraussetzung für ein zukunftsorientiertes, nunmehr völlig selbst bestimmtes Leben. Detailliert beleuchtet der Autor ein weit verzweigtes, engmaschiges Beziehungsgeflecht im inneren Zirkel einer großen Familie wie auch im Zusammenleben mit den Nachbarn und Bewohnern dieser Kleinstadt, in der jeder jeden kennt und man ständig unter Beobachtung steht. Tóibíns eindringliches Porträt einer selbstbewussten, mutigen, manchmal auch störrischen Hausfrau glänzt mit einer äußerst subtilen Schilderung der Banalitäten ihres Alltags. Er seziert geradezu sein Kleinstadtmilieu, um dann liebevoll das zutiefst Menschliche darin aufscheinen zu lassen, ganz fernab spektakulärer Posen und großartiger Geschehnisse.

Besonders hervorzuheben ist die fein ziselierte Darstellung der Figuren, allen voran der Protagonistin Nora Webster, deren innerste Gedankenwelt Tóibín als auktorialer Erzähler stimmig vor dem Leser offenlegt, was die Epiphanie ihres verstorbenen Mannes als traumhaftes Erlebnis durchaus mit einschließt. Auch die vielen anderen Charaktere sind glaubwürdige und sympathische Figuren, deren Psyche sich oft in realitätsnahen Dialogen erschließt. Überhaupt ist Realitätsnähe eine der vielen Stärken dieses Romans, was mir gleich zu Beginn bei der ungeschönten Schilderung des bescheidenen Strandhäuschens der Familie Webster angenehm aufgefallen ist. Nicht der Plot also steht im Mittelpunkt des irischen Autors, es ist das sich mosaikartig entwickelnde Panorama eines überschaubaren Mikrokosmos, überaus ruhig und unspektakulär erzählt, sprachlich gekonnt und völlig unprätentiös, eine ebenso großartige wie seltene Beschreibungskunst.

Insoweit ist das positive, sogar euphorische Echo im deutschen Feuilleton berechtigt, zweifellos ist «Nora Webster» auf dem Weg, einer der Frauennamen in der Literatur zu werden, die man sich merken wird. Nicht nachvollziehbar allerdings ist der Vergleich mit den berühmten Figuren von Tolstoi, Flaubert und Fontane. Anna, Emma und Effi nämlich sind alle drei Ehebrecherinnen, die tragisch enden, – nicht so Nora, sie ist insoweit nicht die Vierte im Bunde! Sexualität, Ehebruch gar kommen schlicht nicht vor bei Tóibín, und seine Heldin geht zuletzt als überlegene Siegerin aus dem Trauerprozess hervor, sie hat sich emanzipiert, ohne kitschiges Happy End übrigens. In einem symbolträchtigen Akt der Selbstfindung nämlich verbrennt sie, gemütlich vor dem Kamin sitzend, am Ende des Romans die wieder aufgefundenen Briefe ihres Mannes aus der Anfangszeit ihrer Beziehung, – ohne sie jedoch nochmals zu lesen. Eine starke Figur, die man nicht mehr vergisst.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Männer mit Erfahrung

Freeman_GehMitMIr_P06_DEF.inddSchwarze Komödie

«Männer mit Erfahrung» ist der erste Roman des US-amerikanischen Schriftstellers Castle Freeman, der auf Deutsch erschienen ist. Vermutlich ist die Verfilmung dieses im Original 2008 unter dem Titel «Go with me» erschienenen Romans der Anlass dafür gewesen. Anthony Hopkins spielt darin den Lester, Ray Liotta ist in der Rolle des Bösewichts Blackway zu sehen. Ich kenne zwar nur den Trailer des Spielfilms, prompt aber wird dort eine Szene gezeigt, die der ganzen Geschichte die Spannung nimmt, es empfiehlt sich auch hier mal wieder, lieber das Buch zu lesen. Nicht nur der markige Titel der deutschen Ausgabe, auch das stimmige Titelbild lädt ja geradezu zum Lesen ein.

Der kurze Roman wird quasi in Echtzeit erzählt, die Geschichte ereignet sich an einem einzigen Tage in dem kleinen Ort Dead River im US-Bundesstaat Vermont, sie ist zeitlich im Heute angesiedelt. Wegen Lillian hat ein gewisser Blackway seinen Job als Hilfssheriff verloren, sie hat ihn angezeigt, weil er ihrem Freund Kevin Drogen abgenommen und dann selbst verkauft hat. Nun sinnt er auf Rache. Der Bösewicht wird von allen gefürchtet in dem kleinen Kaff, jeder kennt ihn, niemand möchte ihm in die Quere kommen, keiner weiß, wo er gerade ist. Kevin ist vor ihm geflüchtet, Lillian jedoch trotzt der Bedrohung. Sie ist Kevin in seinen Heimatort gefolgt und will nun auch hier bleiben, egal was passiert, – die junge Frau lässt sich nicht einschüchtern. Bis eines Tages ihre Katze mit durchgeschnittener Kehle vor der Haustür liegt. Der Sheriff kann Lillian nicht helfen, er hat keine rechtliche Handhabe gegen Blackway, aber er gibt ihr den Tipp, sich an die Männer in der ehemaligen Stuhlfabrik zu wenden und die um Hilfe zu bitten. Ein guter Tipp, wie sich herausstellt, denn zwei der dort immer herumlungernden Typen erklären sich spontan bereit, ihr zu helfen, den üblen Burschen in seinem Schlupfwinkel in den Wäldern zu stellen.

Fast im Stil einer schicksalhaft auf die Katharsis zulaufenden antiken Tragödie erzählt Freeman seine im Milieu von Hinterwäldlern angesiedelte Geschichte, die mit ihrem geradezu zwangsläufigen Ablauf des Geschehens, vor allem aber im Showdown an den Western «High Noon» erinnert. Im Kampf Gut gegen Böse könnten Freemans wortkarge Helden kaum unterschiedlicher sein. Als Bösewicht ein Stalker, vor dem alle Angst haben, der kräftemäßig und in seiner Brutalität allen weit überlegen ist, als Gegenpart Lillian mit ihren zwei Helfern, «Männer mit Erfahrung» eben, dem alten, humpelnden Lester und Nat the Great, ein großer Bursche mit wenig Hirn. Lester sei einer, wurde Lillian versichert, der immer einen Trick auf Lager habe, und Nat beteuert gebetsmühlenartig: «Ich hab keine Angst vor Blackway». In zwei Erzählsträngen wird abwechselnd über die Suche nach dem Bösewicht in den Wäldern Vermonts berichtet, dem Chor der antiken Tragödie ähnlich schwadronieren derweil in der Stuhlfabrik die dort versammelten kauzigen Männer, kaputte Typen allesamt, über das Geschehen und dessen Vorgeschichte.

Freeman erzählt seine rasante Geschichte mit schnellen Szenenwechseln äußerst pointiert, aber mit kargen sprachlichen Mitteln, wobei sich Vieles aus den schrägen Dialogen seiner einfältigen Figuren entwickelt, womit er seine Story hinterlistig naiv und zielgerichtet voranbringt. Und wie er das tut ist derart amüsant, dass man als Leser aus dem Schmunzeln nicht mehr heraus kommt. «Sein Atem roch wie eine Flasche, in der eine Maus gestorben ist» wäre ein Beispiel dafür, oder: «Das Fort war nicht die Art von Bar, wo ein frommer Mormone oder Moslem ein Glas Wasser bekommen hätte». Das längliche Paket, welches Lester ständig mit sich rumschleppt, wickelt er am Ende schließlich aus: «Onkel Walts alte Flinte. Es war eigentlich ein antikes Stück, Doppelläufe mit einem Kaliber wie Wasserrohre […] Eine Nummer größer war schon Artillerie, wie Walt immer gesagt hat». Eine kurzweilige, schwarze Komödie also, keine große Literatur, aber beste Unterhaltung.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Nagel & Kimche Zürich

Hier bin ich

foer-2Zulassung plus Couch

Wenn eine Karriere als Romancier so fulminant begonnen hat wie die von Jonathan Safran Foer, ist man natürlich neugierig auf Neues aus dessen Feder. Nach elf Jahren ist nun «Hier bin ich» erschienen, sein dritter Roman, zugleich auch sein Opus magnum. Waren die ersten beiden Romane aus einer kindlichen Perspektive erzählt, so ist es hier die eines jüdischen Mannes aus der US-Hauptstadt Washington, der eine Trennung von seiner Frau durchlebt. Die sich ankündigende Scheidung ist eingebettet in ein aufgeklärt liberales, jüdisches Lebensumfeld der Familie, das zwischen Amerika und Israel oszillierend allgegenwärtig ist und die innere Geschichte einer Entfremdung sogar weitgehend überlagert, den Trennungsroman zu einem jüdischen Sittenbild ausweitet. An seine einstigen literarischen Erfolge als junger postmoderner Schriftsteller, soviel sei hier schon gesagt, kann der US-Amerikaner, der vor zwei Jahren selbst geschieden wurde, damit allerdings nicht anknüpfen.

Julia Bloch, Architektin von Beruf, findet zufällig ein zweites Handy ihres Mannes. Nachdem ihr ältester Sohn das Passwort geknackt hat, entdeckt sie darauf dessen abstoßend vulgäre SMS-Korrespondenz mit einer Kollegin. Jakob Bloch, der Scripts für eine Fernsehshow schreibt, initiiert durch diesen drögen Verbalsex mit einer Frau, die er niemals angerührt hat, ungewollt einen Prozess der Entfremdung, welcher für das Ehepaar und die drei heranwachsenden Söhne in einem Auseinanderbrechen ihrer bis dato intakten, unkonventionellen Familie endet. Diese soziale Krise spiegelt sich in einer politischen Katastrophe für den Staat Israel, das Land wird durch ein verheerendes Erdbeben schwer getroffen, was seine feindlichen Nachbarn dazu ermuntert, die Gunst der Stunde zu nutzen und den solcherart angeschlagenen Erzfeind nun auch noch mit Krieg zu überziehen. Als der israelische Premierminister alle waffenfähigen Juden in der Diaspora zur Rückkehr nach Israel auffordert, entschließt sich Jakob spontan, dem Aufruf zu folgen. Er, der noch nie ein Held war, versagt aber auch hier, verharrt letztendlich kleinlaut doch lieber in seiner gutbürgerlichen amerikanischen Existenz. Ihm wird am Ende sogar das Einschläfern seines alten, inkontinenten Hundes zu einer Entscheidung, die ihn fast überfordert.

Ein jüdisches Buch, hat Philip Roth einmal geäußert, erkenne man nicht an dem, wovon die Rede ist, sondern daran, dass es immer weiter redet, ohne Ende. Insoweit ist dieser sprachverliebte Roman jüdisch durch und durch, zudem erschließt sich sein Inhalt größtenteils in seinen geradezu slapstickartigen Dialogen, Geschwätz mit oft pingpongartig wechselnden Kurzsätzen, bei denen die Antwort auf eine Frage oft in der erstaunten Wiederholung der Frage selbst besteht. Besonders die temporeichen Gespräche mit den frühreifen Söhnen sind amüsant, verlieren sich nicht selten aber abschweifend auch völlig ins Leere. Bei alldem erfährt der Leser en passant so einiges vom American Way of Life in der heutigen Zeit, da wird völlig tabulos Gott und die Welt hinterfragt. An einer Stelle antwortet Jakob entnervt, aber schlagfertig auf Vorhaltungen seiner Frau, seinen psychischen Zustand betreffend: «Du solltest dir wirklich eine Zulassung und eine Couch besorgen».

Der Roman einer Midlife-Crisis weist schon durch den Titel auf die verzweifelte Sinnsuche des Helden hin. Und das Judentum wiederum, wie es die aufgeklärte Familie Bloch lebt, sei nicht religiös motiviert, erfahren wir Leser, sondern sei lediglich Brauchtum, man fühle sich einfach als Jude. Gleichwohl lauschen die sonst so vorlauten Blochs andächtig der grandiosen Trauerrede des Rabbis bei der Beerdigung des Urgroßvaters, für mich übrigens die stärkste und zudem geistreichste Passage im ganzen Roman. Flott geschrieben, ironisch Distanz haltend, ist dieser dickleibige Roman zweier Krisen durchaus lesenswert, auch wenn er teilweise allzu geschwätzig erscheint und philosophisch zuweilen schlicht Nonsens verbreitet.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Kompass

enard-1West-östlicher Divan

Als «Anti-Houellebecq» hat der französische Schriftsteller Mathias Énard seinen mit dem Prix Goncourt prämierten Roman «Kompass» bezeichnet. Damit auf Houellebecqs Roman «Unterwerfung» anspielend, stellt er dessen Islamtrauma seine eigene, geradezu ehrfürchtige Perspektive auf Orient und Islam gegenüber. «In diesem Preis steckt eine Botschaft des Friedens» war Énards begeisterter Kommentar zur Preisverleihung. Und tatsächlich ist sein 2015 erschienener Roman geeignet, unser von Horrornachrichten geprägtes Bild vom Orient neu zu justieren, auch ohne dass wir dazu des titelgebenden Scherzartikels bedürfen, jenen Kompass nämlich, der dem Protagonisten von seiner Angebeteten geschenkt wurde und der durch seine trickreiche Konstruktion immer nach Osten weist.

Held des Romans ist der Musikwissenschaftler Franz Ritter aus Wien, den eine noch nicht endgültig bestätigte Diagnose seines Arztes in eine tiefe Krise stürzt. Quasi in Echtzeit erleben wir als Leser eine schlaflose Nacht des Ich-Erzählers, der sinnierend zurückblickt auf sein womöglich bald endendes Leben. Dabei rekapituliert er seine Forschungen über den Einfluss des Orients auf europäische Komponisten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse. Seine obsessiv betriebenen Studien erfahren eine kulturelle Erweiterung in Richtung Literatur, Malerei und Architektur, als er die französische Orientalistin Sarah aus Paris kennen lernt. Immer wieder trifft er sie auf seinen Forschungsreisen, begleitet die geradezu besessene, brillante Forscherin auf Exkursionen an abgelegene historische Stätten, begegnet ihr auf Konferenzen und Kolloquien rund um den Erdball. Obwohl er die schöne Französin begehrt, bleiben seine zaghaften Annäherungsversuche erfolglos, ihre überaus innige Beziehung ist rein freundschaftlich geprägt, sie basiert auf dem gemeinsamen Faible für alles Orientalische. Erst gegen Ende des Romans kommt es in Teheran endlich doch zu einer Liebesnacht, bei diesem einen Mal bleibt es dann allerdings auch. Immer wieder bedauert Ritter bei seiner nächtlichen Grübelei seine Zaghaftigkeit ihr gegenüber, er hat es vermasselt, war nicht beherzt genug. Sarah wendet sich mit ihren Studien dem Buddhismus zu und verschwindet schließlich in ein Lamakloster, er hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen, erkehrt nur noch schriftlich mit ihr.

Diese nur im Hintergrund des Erzählten zuweilen durchscheinende Liebesgeschichte sowie die Ungewissheit über Ritters Krankheit verleihen dem ansonsten fast handlungslosen Roman eine gewisse Spannung. Im Wesentlichen lebt der Roman von einer unglaublichen Fülle von Berichten, Erkenntnissen, Fakten, Anekdoten, Reiseerlebnissen, Inspirationen und Reflexionen über die Beeinflussung westlicher Kultur durch den Orient, wobei die Studierstube des Wissenschaftlers in Wien durchaus symbolträchtig als Tor zum Orient fungiert. Énards Material ist so umfangreich und tiefgründig, dass er viele Leser damit eindeutig überfordern dürfte. Sein Studienobjekt ist zudem derart speziell, dass man seinen fragmentarisch aneinander gereihten Erzählungen unmöglich in all die vielen Verästelungen folgen könnte. Trotz unvermeidlicher Verständnislücken also ist die Lektüre gleichwohl sehr bereichernd, nicht nur weil man, neben kaum bekannten Künstlern und Geistesgrößen des Orients, auch vielen berühmten Europäern aus Kultur und Politik begegnet und dabei unvermutet Querverbindungen entdecken kann, sondern auch, weil man en passant seinen Horizont beträchtlich erweitert, viele neue Einsichten gewinnt.

Dem Autor geht es mit seinem Roman nicht um das aktuelle Trauma im Verhältnis zum Islam, sondern um die verschiedenartigen Kräfte, die vom Okzident aus den Orient beeinflusst haben, sowie vice versa um die Rolle als Inspirationsquelle, die der Orient für den Westen gespielt hat und noch immer spielt. Insoweit ist Wien als kulturelles west-östliches Tor in beide Richtungen offen, der Roman endet denn auch beziehungsreich mit dem Wort «Hoffnung».

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Kraft

luescher-1Skeptische Gelehrtensatire

Nach seinem Anfangserfolg mit der Novelle «Frühling der Barbaren» hat der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher heuer, vier Jahre später, seinen ersten Roman unter dem Titel «Kraft» veröffentlicht. Aus seiner dreijährigen Arbeit an einer Dissertation sei «leider nichts geworden, dafür ist nun der vorliegende Roman entstanden, in den einiges eingeflossen ist, über das ich im Rahmen meiner wissenschaftlichen Tätigkeit nachgedacht habe», heißt es in der Danksagung am Ende des Buches. Bei dieser Vorgeschichte ist es nahe liegend, dass der so entstandene Debütroman als wissenschaftsskeptische Gelehrtensatire angelegt ist, in der Fortschrittsglaube und Kapitalismus ebenso karikiert werden wie überholte Strukturen in Universität und Gesellschaft.

Protagonist des Romans ist Prof. Richard Kraft, Nachfolger von Walter Jens auf dem Lehrstuhl für Rhetorik in Tübingen. Der brillante Wissenschaftler steht vor den Trümmern seiner zweiten Ehe mit Heike, zudem plagen ihn Geldsorgen, denn die großzügige Versorgungsregelung für seine Exfrau Ruth und die beiden Kinder frisst fast sein gesamtes Einkommen als Hochschullehrer auf. Als er von einem Freund an der Stanford Universität zur Teilnahme an einem wissenschaftlichen Wettbewerb im Silicon Valley aufgefordert wird, bei dem ein Preisgeld von einer Million Dollar ausgesetzt ist, sieht er darin die Lösung aller seiner Probleme, auch Heike rät ihm, unbedingt teilzunehmen. Dem Problem der Theodizee von Leibnitz folgend, sollen die Konkurrenten in einem höchstens 18minütigen Vortrag vor einer Jury eine schlüssige Antwort auf die Preisfrage geben: «Warum alles, was ist, gut ist, und wie wir es trotzdem verbessern können».

Während einer dreiwöchigen Vorbereitungsphase, im Lesesaal des Hoover Tower auf dem Campus von Stanford sitzend, sucht Kraft vergeblich nach einer zündenden Idee; ihm fehlt jedwede Inspiration, der von ihm zu begründende Zukunftsoptimismus überfordert ihn als Skeptiker. Immer wieder verliert er sich in Grübeleien über sein Leben, denkt an seine frühen Studententage und seine politischen Jugendsünden als neoliberaler Wirrkopf. Er rekapituliert seine wissenschaftliche Karriere, sinniert über sein permanentes Scheitern bei Frauen, bedauert die fehlende familiäre Bindung. Der Autor wartet mit einem Feuerwerk von Ideen auf, verarbeitet gekonnt die jüngere Zeitgeschichte in klug ausgewählten Episoden, deren interessanteste für mich das konstruktive Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt war. Er spart jedenfalls nicht mit beißender Gesellschaftskritik, die auch den ausufernden Digitalismus unserer Tage einschließt. Der Theodizee stellt er beispielsweise für die Finanzmärkte den von Joseph Vogl geprägten Begriff der Oikodizee gegenüber, die Entzauberung und damit allfällige Bändigung der Finanzmärkte. In einer furiosen Traumsequenz malt er schließlich sehr realistisch das Inferno eines schweren Erdbebens in San Franzisko aus, ein düsteres Szenario, in dem er trickreich das Schicksal seines gescheiterten Helden spiegelt.

Jonas Lüscher ist ein sehr genauer Beobachter, er schreibt hier äußerst leichtfüßig, aber aus kritischer Distanz, im Modus Modestiae, dem Autorenplural, uns Leser damit einbeziehend in seine Betrachtungen. Bei denen dann sein Held, satirischer Inbegriff des intellektuellen Schwaflers, so gar nicht gut wegkommt. Die Fülle an Gedanken, die da vor uns ausgebreitet werden, ist beeindruckend, viele kluge Reflexionen und philosophische Exkurse sind trotz des mokanten Erzähltons, in dem sie vorgetragen werden, zweifellos ernst gemeint und durchaus bereichernd. Mit einem bildungssatten Schreibstil in langen Schachtelsätzen unterstreicht Lüscher süffisant seinen ironischen Duktus. Auch wenn er dabei so manches Klischee bedient, wird er zu Recht als hochaktuelle Stimme gelobt, die ihresgleichen nicht hat in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Auf den Leser wartet ein anregendes, amüsantes und zweifellos auch intellektuelles Lesevergnügen.

Fazit: erfreulich

Meine Website: http://ortaia.de


Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Im Wolfsland

Wolfsland»Wolfsland – erlebe das Abenteuer deines Lebens«, steht auf dem Werbeprospekt des Schullandheims, in das die 14-jährige Lou mit ihrer Klasse fährt. Der Slogan verspricht nicht zu viel, wie sich bald erweist. Im Grenzland zu Polen wird aus einer harmlosen Exkursion zu Bildungszwecken unversehens ein Kampf gegen gewissenlose Machenschaften. Und Lou ist mittendrin. Die Ereignisse überstürzen sich, als die Waise sich gegen Mobbing zur Wehr setzt und vorzeitig nach Hause geschickt werden soll. Lou reißt aus. In den einsamen Wäldern trifft sie nicht nur auf Wölfe, sondern auch auf den rätselhaften Lupo, der sich hier versteckt hält. Plötzlich befinden sie sich beide auf der Flucht – vor den Suchtrupps auf der Spur der vermissten Schülerin und vor den Wilderern, die hinter den Wölfen her sind. Wenige Tage und Nächte stellen Lous Leben auf den Kopf. Am Ende erkennt sie: Ich bin nicht allein.

Zum Inhalt brauche ich gar nicht mehr zu schreiben, da der Klappentext schon ausführlich genug ist.
Die Protagonistin Lou, aus deren Ich-Erzählperspektive die Geschichte erzählt wird, war mir zuerst nicht besonders sympathisch. Eine Außenseiterin die von ihren Mitschülern nicht akzeptiert wird, woran Sie meiner Meinung nach aber auch teilweise selbst schuld ist und die auch zu Ihren neuen Pflegeeltern durchaus netter sein könnte. Auf das Schullandheim und das Erforschen der Wälder hat Lou mal gar keine Lust und auch zu ihrer Zimmergenossin, das einzige Mädchen, das wirklich nett zu ihr ist, ist sie nicht gerade freundlich.

Dann überschlagen sich die Ereignisse und durch mehrere unglückliche Zufälle verschlägt es Lou alleine in den Wald, wo sie sich mit allerlei Gefahren wie Wilderern, Kälte und tagelangem Hunger auseinandersetzen muss.

Diese Tage verändern Lou, sie schließt endlich Freundschaft und zwar mit einem Jungen, der gemeinsam mit den Wölfen in den Wäldern lebt. Lou bekommt durch ihn endlich Verantwortungsbewusstsein und einen Freund.

Das Buch ist ganz nett, hat mich aber nicht umgehauen. Ich lese recht oft Kinder- und Jugendbücher und habe schon Besseres gelesen. Das Buch ist laut Verlag für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren geeignet, aber ich glaube, dass ein 15-jähriger das Buch bestimmt  zu unspektakulär finden würde, obwohl der Klappentext ja durchaus sehr spannend klingt. Aber gerade der Klappentext nimmt der Geschichte auch schon die Spannung denn er verrät eigentlich schon zu viel.

Die Geschichte ist nicht wirklich langweilig und wie gesagt ganz nett. Ich möchte sie nicht unnötig schlecht reden, aber mehr als „nett“ ist das Buch meiner Meinung nach halt nicht. Teilweise ist die Handlung auch recht vorhersehbar und es fehlt einfach das gewisse Etwas.

Uta Reichardt wurde 1970 geboren und hat osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Außerdem absolvierte Sie eine Ausbildung bei der Polizei und schrieb für eine Lokalzeitung. Sie lebte mehrere Monate in Sankt Petersburg. 2013 erschien ihr erstes Kinderbuch „Verflixt und zugeMÄHt“, ein rasanter Schafskrimi mit zwei chaotischen Stoffschafen in den Hauptrollen. Sie arbeitet außerdem als Marketingassistentin und studiert literarisches Schreiben und Kulturjournalismus. Uta Reichardt lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Stuttgart.

 


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Fabulus Verlag

Level (Silo Band 2)

Level2049. Die Erde ist unbewohnbar. Nur wenige haben überlebt. Ihre letzte Hoffnung liegt tief unter der Oberfläche. Im einzigen Ort, an dem sie noch sicher sind. Im Silo. Doch ihre Sicherheit hat einen hohen Preis: In den Silos wird das Leben autoritär organisiert und streng reglementiert. Und es fordert Opfer. Als ein Aufstand ausbricht, muss der Wärter Troy alle Bewohner in den sicheren Tod schicken. Doch Troy weiß mehr über die Silos, als alle vermuten …

Ich konnte es gar nicht erwarten den zweiten Teil der „Silo-Trilogie“ zu lesen und war dann zuerst einmal ein wenig enttäuscht.

Die Personen, die man im ersten Band so liebgewonnen hat und mit denen man so sehr mitfieberte, tauchten gar nicht auf. Der erste Band endete an einer sehr spannenden Stelle, und ich bin fest davon ausgegangen, dass der zweite Band genau dort wieder ansetzen würde. Aber das tut er leider nicht.

Die Geschichte beginnt im Jahr 2049. Das ist das Jahr, in dem alles begann und der Silo geplant und gebaut wurde. Die Hauptfigur ist der Mitte 30-jährige Donald, ein Abgeordneter, der in Washington für den Senator arbeitet. Eher unfreiwillig wird Donald mit der Planung des Silos beauftragt und eine Zeitlang weiß er auch gar nicht so genau, warum er so einen Silo überhaupt bauen soll und was genau er eigentlich tut.

Die Geschichte springt kapitelweise in verschiedenen Zeiten hin und her, denn während viele Kapitel von Donald im Jahr 2049 erzählen, gibt es auch Kapitel über einen Mann namens Troy und sein Leben im Silo im Jahr 2110. Diese Kapitel haben mich zu Anfang etwas genervt, denn sie sind teilweise recht konfus, man versteht vieles nicht und einige Sachen scheinen keinen Sinn zu ergeben. Diese Ungereimtheiten klären sich im Laufe des Buches natürlich wie erwartet auf aber nervig fand ich das schon.

Im Laufe der Geschichte gibt es dann immer mehr Zeitsprünge, und das Buch umfasst insgesamt eine Zeitspanne von 300 Jahren. Da ich kein großer Fan von Science-Fiction bin, fand ich es auch nicht so toll, dass doch einige (für meinen Geschmack zu freakige) Elemente wie z.b das 100-jährige Einfrieren und Wiederauftauen von Menschen vorkommen.

Zwar ist es super, dass man in diesem Band nun endlich erfährt, was überhaupt mit der Welt passiert ist, wie es zu allem gekommen ist und wer die „Hintermänner“ des Silos sind. Aber für meinen Geschmack waren diese ganzen Erläuterungen etwas zu umfangreich. Ich habe bei Endzeitgeschichten selten erlebt,  dass sich ein Autor so umfangreiche Gedanken über die Entstehung seiner Welt gemacht hat und dies so extrem detailliert erläutert und ziehe davor wirklich meinen Hut. Aber manchmal ist weniger halt einfach mehr.

Während ich den ersten Band quasi inhaliert habe, musste ich mich hier teilweise zwingen, weiterzulesen da manche Kapitel einfach zu detailliert und somit langatmig waren. Nicht, dass diese Kapitel uninteressant waren, aber es fehlte einfach der „Pep“ des ersten Bandes.

Bei der Hälfte schlägt die Geschichte dann zum Glück aber um, gewinnt deutlich an Tempo und ich konnte das Buch dann auch wieder kaum aus der Hand legen.

Und gegen Ende passierte dann endlich das, worauf ich die ganze Zeit gewartet (und womit ich gerechnet hatte): Die Figuren aus Band eins und Band zwei treffen aufeinander und man sieht einiges nochmal mit ganz anderen Augen.

Trotz einiger Schwächen ein sehr guter zweiter Band, den man aber nicht mit dem umwerfenden ersten Band vergleichen kann.

Ich freue mich aber jetzt schon sehr auf den dritten und letzten Band.


Genre: Dystopie, Endzeitgeschichten
Illustrated by Piper Verlag München

Der letzte Überlebende

ÜberlebendeSam war gerade mal 13 Jahre alt, als die Wehrmacht in Polen einmarschierte. Mit der Familie lebte er in einem oberschlesischen Städtchen, der Vater war Schneider und stopfte den Leuten die Hosen. Da wurde aus dem Städtchen ein Ghetto, und Sam, der damals noch »Szlamek« hieß, war mittendrin. Er überlebte, auch den Todesmarsch nach Auschwitz, die Selektion durch Mengele, die Zwangsarbeit, den Schiffbruch auf der Cap Arcona. All das erlebte Sam in den kurzen Jahren seiner Kindheit und Jugend. Vierzehn Mal entging er dem Tod. Der Krieg ließ keine Möglichkeit, an ein Morgen zu denken. Und wen interessierte nach dem Krieg das Gestern? Am Ende seines unglaublichen Lebens gelingt es Sam Pivnik, einem der letzten Überlebenden von Auschwitz, darüber zu sprechen.

Sam wuchs in ärmlichen aber glücklichen Verhältnissen im oberschlesischen Städtchen Bedzin auf. Der Vater arbeitete als Schneider, die Mutter war Hausfrau. Sam und seine 5 Geschwister gingen zur Schule und freuten sich jedes Jahr auf den Sommer, den sie im ca. 80 Km entfernten Örtchen beim Onkel verbrachten.

Zwar gab es auch vor dem Krieg schon immer Reibereien mit nicht jüdischen Familien denn Juden waren noch nie besonders gut angesehen aber als am 1. September 1939 die Deutschen in Polen einfielen, änderte sich alles und plötzlich waren die Juden DER „Feind“ schlechthin.

Der Ort Bedzin wurde bombardiert, viele Leute flüchteten aber Sam und seine Familie blieben. Schon sehr bald herrschten Nahrungsmittelknappheit und bittere Armut aber als jüdische Familie brauchten die Pivniks gar nicht erst mit Unterstützung, egal von welcher Seite, zu rechnen. Die Lage wurde immer schlimmer und schon bald musste die Familie ihre Wohnung aufgeben denn auch in Bedzin wurden am Stadtrand die ersten Ghettos errichtet und Juden durften nicht mehr in ihren gewohnten Umgebungen wohnen. Auch in den wenigen Geschäften in denen sie vor kurzem noch Lebensmittel erwerben durften gab es für sie bald nichts mehr zu essen …

Dann wurde eines Tages auch das Ghetto geräumt und die Juden sollten „umgesiedelt“ werden. Es entstanden Tumulte und viele Familien die sich weigerten wurden erschossen. Sam und seine Familie versteckten sich mehrere Tage aber der drohende Hungertod und die Angst vor dem verdursten ließen sie schließlich kapitulieren und so wurde auch die Familie Pivnik in einen überfüllte Zug gepfercht und abtransportiert … Die Reise endete in Auschwitz-Birkenau, dem berühmtesten und grausamsten „Arbeitslager“ der NS Zeit.

Bereits bei der Ankunft an der „Rampe“ wurde Sam von seiner Familie getrennt denn er wurde nach rechts geschickt, seine komplette Familie aber nach links in die Gaskammern. Die nächsten Jahre erlebte Sam eine unvorstellbare Hölle und es ist bis heute noch unglaublich dass er diese überhaupt überlebt hat.

Die Geschichte beginnt mit Sams Erzählungen darüber wie er schwer erkrankt mit „Judenfieber“ (Typhus) auf der Krankenstation in Auschwitz-Birkenau erwacht und nur knapp dem Tode entkommt weil ihn der berüchtigte Dr. Mengele trotz seiner schweren Krankheit doch nicht in die Gaskammer bringen lässt.

Dann macht die Geschichte einen Sprung zurück und in den ersten Kapiteln wird über Sams Kindheit in Bedzin vor dem Krieg, den Sommern auf dem Land und seinem bisherigen Leben erzählt. Dann geht alles rasend schnell und die Geschichte entwickelt ein dramatisches Tempo! Mit unglaublich viel Detailgenauigkeit und einem enormen Erinnerungsvermögen (auch was Namen von Personen und Daten betrifft) durchlebt man quasi gemeinsam mit Sam die unvorstellbar schrecklichen Jahre der Gefangenschaft.

Selbstverständlich wird die Geschichte aus Sams Ich- Erzählperspektive erzählt, so dass man wirklich das Gefühl hat Sam zu begleiten! Man kann es sich eigentlich nicht vorstellen dass überhaupt ein einziger Mensch dieses Grauen und diese Willkür überlebt hat aber Sam hat es geschafft und er ist dem Tod unzählige Male nur ganz knapp entkommen.

Ich konnte das Buch kaum mehr aus der Hand legen, es war extrem spannend, hat mich extrem ergriffen und mehr als einmal sind mir Tränen in die Augen gestiegen. Unfassbar was Sam alles erleben und erdulden musste.

Natürlich haben wir alle schon unzählige Bücher über den Holocaust gelesen (in der Schule wurde man ja jahrelang mit fast nichts anderem überschüttet) aber dieses Buch war das Beste aber auch grausamste das ich je zu diesem Thema gelesen habe.

Jeder kennt mit Sicherheit auch unzählige Reportagen über die Judenvernichtung in den verschiedenen Konzentrationslagern aber es ist doch noch mal etwas ganz anders wenn es um Einzelschicksale geht und man die Figur/Person quasi auf einem jahrelangen Leidensweg begleitet, mit ihr mitfiebert und eine emotionale Bindung zu ihr aufbaut.

Sams Geschichte ist auch etwas ausgewöhnlicher als die anderer Juden, denn Sam hatte zumindest ein wenig Glück im Unglück. Während die meisten Juden nur kurze Zeit in Auschwitz arbeiten „durften“ und dann ins Gas geschickt wurden, kam Sam irgendwann raus aus Auschwitz und musste in einem alten polnischen Kohlebergwerk arbeiten. Auch dort war das Leben die Hölle auf Erden aber dort hat er überlebt.

Sehr interessant fand ich auch dass man durch Sams Erzählungen von vielen SS-Leuten erfährt, von denen man vorher noch nie etwas gehört hat, einfach weil sie nicht so bekannt sind/waren. Sie standen den „hohen Tieren“ an Grausamkeit aber in nichts nach.

Sam überlebte nicht nur Auschwitz, das polnische Bergwerk und den Todesmarsch kurz vor der Befreiung, sondern auch die Bombardierung des Schiffes „Cap Arcona“ auf das er mit unzähligen anderen überlebenden Juden von der SS zusammengepfercht wurde. Es ist wirklich unglaublich wie oft Sam dem Tod entkommen ist, ich glaube es gibt keinen Menschen der mehr Schutzengel auf seiner Seite hat.

Auch von diesen Ereignissen erzählt Sam ausführlich, und ich habe jedes Wort verschlungen.

Sehr gut finde ich auch dass man auch viel über Sams späteres Leben nach dem Krieg erfährt. Man erfährt wie die erste Jahre verlaufen sind, wie es ihm ergangen ist, was aus ihm geworden ist und wie er alles verkraftet hat. Erstaunlich dass man so eine Jugend und solche Erlebnisse überhaupt verkraften kann.

Außerdem erfährt man auch, was aus gewissen SS-Monstern aus Auschwitz geworden ist, denn selbstverständlich haben Sam diese Jahre nie wieder losgelassen, und er hat immer versucht zu verfolgen, was aus seinen Peinigern geworden ist und hat auch einiges unternommen um zumindest ein paar dieser Monster zur Rechenschaft zu ziehen. Auch darüber wird in den letzten Kapiteln ausführlich berichtet und das hat mir ausgesprochen gut gefallen.

In der Mitte des Buches findet man 15 Seiten mit Originalfotos von Sam und seiner Familie, von der Befreiung und auch aus seinem späteren Leben. Diese Fotos haben mich auch sehr berührt und bringen einen das Buch NOCH einmal ein Stück näher.

Ich könnte noch ewig weiterschreiben aber irgendwann muss ja auch mal Schluss sein. Ich hoffe meine Rezension kann diesem Buch irgendwie gerecht werden denn es ist ein absolut großartiges Werk und unbedingt zu empfehlen!!

Allerdings ist es nichts für schwache Nerven, es ist extrem heftig.

Ganz, ganz großes Kino. Ich bin extrem begeistert!!

Sam Pivnik wurde 1926 in Oberschlesien geboren und lebt heute in einem Seniorenheim in London


Genre: Biographien, Erfahrungen
Illustrated by Theiss

Die siebte Sprachfunktion

Binet: Die Siebte SprachfunktionLaurent Binet gelingt mit diesem abgedrehten Wissenschaftskrimi über die siebte Sprachfunktion etwas Einzigartiges: Er führt seinen Leser mit vergnüglicher Leichtigkeit durch die hoch intellektualisierte Welt philosophischer und semantischer Theorien und entfaltet gleichzeitig einen faszinierenden Kriminalroman, in dem er raffiniert Fiktion, berühmte Zeitgenossen, Wissenschaftstheorie und Wirklichkeit vermengt. Wer glaubt, aus diesen Komponenten ließe sich kein schmackhaftes Gericht komponieren, darf sich bei der Lektüre eines Besseren belehren lassen: Der Autor beschert mit seinem witzig-satirischen Krimi ein farbenfrohes Lesevergnügen. Weiterlesen


Genre: Kriminalromane, Romane
Illustrated by Rowohlt

Trash-TV

41bKLwcNI6L»Man darf als Kulturwissenschaftler nicht vor scheinbar niederen Themen und Phänomenen zurückschrecken, weil sich ein Müllmann auch nicht vor dem Müll fürchten darf.«

Von der durchsichtigen Bluse bei »Wünsch Dir was« (für den Rezensenten eine prägende frühpubertäre TV-Erfahrung) bis zu den Kasalla-Eskapaden känguruhodenverzehrender Dschungelcamp-Rabauken: Getreu dem obigen Motto begibt sich Anja Rützel in die Niederungen des Katastrophenfernsehens und sie macht dabei keine Gefangenen. Das tut sie jedoch ohne oberlehrerhaft erhobenen Zeigefinger, dafür mit wunderbarem Wortwitz und Empathie statt Zynismus. Dennoch wird nicht gespart mit Kritik an den z.T. menschenverachtenden Formaten (»Germany’s next Topmodel«), aber eben nicht als elitär verächtlich schnaubende Bildungsbürgerin, sondern als bekennender Trash-TV-Fan; »Es ist Mist, aber ich mag’s.«

Auch wenn bisweilen Zitate vermeintlicher Philosophie- und Medienexperten eingestreut werden: Wirklich notwendig ist das nicht, denn Frau Rützel macht das auch alleine vortrefflich, das Buch ist ein großartiges Lesevergnügen, nicht nur für die Zielgruppe von RTL & Co.

Autorin Anja Rützel hatte bereits eine Stelle beim Landratsamt Main-Spessart sicher, doch sie besann sich (zum Glück für die Leser) eines Besseren und wechselte zur schreibenden Zunft. Einem breiten (sic!) Publikum ist sie bekannt als zuverlässig kompetente Berichterstatterin von Fremdschäm-TV-Events u.a. bei Spiegel Online. In ihrer Freizeit veranstaltet sie gerne Schabenorakel mit Hund Juri als notariellem Beobachter.


Genre: Sachbuch
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach