Laufendes Verfahren

Die Beobachter auf der Empore

Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, um eine Geschichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. In dem wurde vor dem 6. Strafsenat an 438 Verhandlungstagen der NSU-Prozess abgehalten, eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ging, soviel sei angemerkt, um neunfachen Mord an Migranten, dem Mord an einer Polizistin, 43 Mordversuchen, um 2 Sprengstoffanschläge und um 15 Raubüberfälle, verübt von der Terrorgruppe National-Sozialistischer Untergrund. Kann man auf knapp 200 Seiten einen Roman über einen solch monströsen Kriminalprozess schreiben?

Man kann! Wenn man sich, wie die Autorin das tut, dem Verfahren konsequent aus einer ganz bestimmten Sichtweise widmet, der jener Prozess-Beobachter nämlich, die in München auf der Empore sitzen. Erzählt wird aus einer Wir-Perspektive im Futur II, bei der die Autorin eben gerade nicht im Pluralis Majestatis spricht, wie vielfach fälschlich behauptet wurde. Ihr geht es dabei um die Vermutungen ihrer bunt zusammen-gewürfelten Beobachter-Clique über das zu erwartende juristische Prozedere und das bekanntermaßen oft groteske Hickhack zwischen den Prozess-Beteiligten. Ebenso konsequent werden auch keine Namen genannt in diesem Roman, es gibt den «Vorsitzenden», die «Beisitzer», die «Staatsanwälte», die «Verteidiger», die «Anwälte der Nebenanklage», die «Zeugen». Einzig der Opfer ist im Nachspann des Romans ein namentliches Gedenken gewidmet. Auch für ihre Beobachter hat die Autorin übrigens keine Namen. Sie heißen, entsprechend ihrer Rolle in den Gesprächen unter sich und nach dem wenigen, was man von ihnen weiß, immer nur «Gerichtsopa», «Bloggerklaus», «Omagegenrechts», «O-Ton-Jurist», «Vornamenyildiz», «Die Frau von der türkischen Botschaft». Damit gelingt es der Autorin auf eine raffinierte Weise, ganz verschiedene Typisierungen vorzunehmen, ohne jede einzelne ihrer Figuren psychologisch determiniert zu beschreiben. Sie benutzt dazu vielmehr sehr geschickt ihre verbalen Geplänkel, ihre selbstgespräch-artigen Monologe, ihre gegenseitigen Belehrungen. Aus denen sich übrigens das erzählende Ich komplett heraushält, – es berichtet nur.

Natürlich ist es unmöglich, in einem kurzen Roman wie diesem die hanebüchenen Fehler und unverzeihlichen Versäumnisse bei der Aufklärung der Verbrechen gebührend abzuhandeln. Und auch die juristische Aufarbeitung solch terroristischer, fremden-feindlicher Straftaten kann allenfalls angedeutet werden. Die ganze Thematik ist hier komplett auf die Instanz der Beobachter verlagert, die sich auch über das Ungesagte im Prozessverlauf untereinander austauschen. Die da zum Beispiel über das beredte Schweigen der weiblichen Angeklagten diskutieren, was sie denn auch für einen von den Verteidigern ausgeheckten Verfahrenskniff halten. So ganz nebenbei erfährt man durch all diese Erörterungen ein wenig darüber, wie es in derartigen Strafprozessen zugeht. Dass die engagierten Dispute der Empore-Clique oft auch ausgesprochen komische Züge annehmen, das bewahrt den Roman übrigens davor, nur eine staubtrockene Lektüre aus dem Gerichtsmilieu zu sein.

Trotz aller Vereinfachungen steht die Dokumentation des Prozesses in diesem Roman stets im Vordergrund, auch wenn das durch die unkonventionelle Erzähl-Perspektive nicht erkennbar vorgegeben zu seien scheint. Dieser Chor der Erinnyen, verkörpert durch die Beobachter-Clique auf der Empore, die Stimme des Volkes quasi, kommentiert und bewertet teilweise durchaus kompetent, was sich da abspielt in diesem denkwürdigen Mammut-Prozess. Und dass dabei die Gräuel der Taten, die Trauer der Hinterbliebenen, das Versagen der Polizei, die Rolle des Verfassungs-Schutzes weitgehend außen vor bleiben, das kann einem fiktivem, literarischem Werk wie diesem wahrlich nicht angekreidet werden!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Kochen im falschen Jahrhundert

Du bist, was du isst

Ihre Vorliebe für das literarische Experimentieren ist auch in dem neuen Roman «Kochen im falschen Jahrhundert» von Teresa Präauer das stilistisch prägende Element. Schon der kryptische Titel deutet das an, denn das ‹Kochen› ist hier nur Mittel zum erzählerischen Zweck, und das ‹falsche Jahrhundert› weist erkennbar auf einen sozialen Konflikt hin. Im kammerspiel-artigen Setting dieses Romans wird eine Essens-Einladung gleich in drei Anläufen geschildert, womit auch drei mögliche Entwicklungen eines geselligen Abends im gehobenen Mittelstands-Milieu der Stadt Wien vorgezeichnet werden.

Im Mittelpunkt des Abends steht die «Gastgeberin», ein Frau Mitte vierzig, berufstätig und vor zwei Jahren erst in die elegante Wohnung eingezogen. Der «Freund der Gastgeberin», mit dem sie seit zwanzig Jahren zusammen ist, der aber nicht bei ihr wohnt, hilft ihr bei der Vorbereitung der Dinnerparty. Es gibt Quiche Lorraine als Hauptspeise, ein bewusst einfaches Menü für diesen ersten Dinner-Abend, der quasi auch als Einweihungs-Party für ihre Wohnung gedacht ist. Denn sie hat die elegante Wohnung zunächst mit viel Engagement eingerichtet, auch mit Antiquitäten, die sie selbst wieder aufgearbeitet hat. Nach einem Jahr aber ließ ihr Elan merklich nach, es wurde ihr plötzlich alles zuviel mit der stilvollen Einrichterei. Und so stehen auch immer noch Möbelkisten in der Wohnung herum, sie konnte sich nicht aufraffen, das alles mal auszupacken. Pünktlich ‹wie eine Schweizer Uhr› ist der «Schweizer» als erster Gast eingetroffen, ein Universitäts-Professor. Er kommt allein, seine Freundin ist leider verhindert, sie hat unaufschiebbare Arbeiten zu erledigen. Als weiter Gäste sind ein befreundetes Ehepaar eingeladen, und als die Beiden nach dem ‹akademischen Viertel› noch nicht eingetroffen sind, wird mit der ersten Flasche Crémant angestoßen. Die Verspätung beträgt schließlich eine volle Stunde. Das Ehepaar war zwar frühzeitig  aufgebrochen von zuhause, hatte aber unterwegs noch einen Aperitif getrunken und auch einen Happen gegessen. Dort hätten sie die Bekanntschaft mit einem netten amerikanischen Touristen-Paar gemacht und sich dann leider total ‹verplaudert.›

Das namenlos bleibende, ebenso sympathische wie versnobte Figuren-Ensemble, zu dem sich uneingeladen später auch noch die «Amerikaner» hinzugesellen, führt im Verlaufe des Abends endlose Gespräche über ‹Gott und die Welt›, wobei im Hintergrund ständig die von der «Gastgeberin» angelegte Spotify-Playlist mit Frauen-Jazz läuft. Immer wieder werden im Roman Interpretin und, kursiv gesetzt, der Songtitel genannt, letzterer oft mit Bezug zum gerade aktuellen Gesprächs-Gegenstand. Zwischen die vielen kurzen Kapitel des Romans sind jeweils, quasi als Überschrift, Lebensmittel, Gewürze oder Getränke eingeschoben. «Romana, Rucola, Eichblattsalat» sind da zum Beispiel untereinander aufgelistet, meist ohne Bezug allerdings zu dem, was gerade auf den Tisch kommt. Die Runde der arrivierten Mittvierziger spricht über längst vergangene Studienjahre, lästert über «Foodporn», debattiert über regionale Küche, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Politik, soziale Medien und anderes mehr.

Ohne Zweifel ist dieser Roman von einer subversiven Intention der Autorin geprägt, indem sie ironisch eine Gesellschaft beschreibt, die mittels Kulinarik, mit exquisitem Geschmack auf Distinktion bedacht ist. Geradezu zynisch wird diese snobistische Haltung im Verlaufe des Abends Stück für Stück ad absurdum geführt, zerbröckelt die trügerische Fassade hedonistischer Selbsterhöhung. Der beim Essen und Trinken als sinnstiftend hochstilisierte Geschmack wird in dieser soziologischen Milieustudie kritisch hinterfragt. Stilistisch wird überwiegend in der dritten Person erzählt, wobei in den Rückblenden in die Du-Form gewechselt wird. Es passiert nicht viel in diesem akribisch durchgeplanten Plot, die belanglosen Gespräche der Gäste plätschern ohne Höhepunkte dahin, und damit kommt auch beim Leser schnell eine gepflegte Langeweile auf, wirklich bereichernd ist das alles nämlich nicht!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

De Subtilitate. Von der Feinheit der Welt und des Denkens

Wir leben in einer Welt zunehmender Spezialisierung, eine Entwicklung, die dem rasant wachsenden Wissensstand in Wissenschaft und Technik geschuldet ist. Doch während Spezialisten in ihren engen Fachgebieten brillieren, sind die Risiken und Nebenwirkungen dieser Spezialisierung weithin bekannt. In dieser Zeit des Wissens-Turms zu Babel blicken wir mit ehrfürchtigem Staunen auf jene seltenen Persönlichkeiten, die ein umfassendes Weltverständnis verkörpern. Weiterlesen


Genre: Naturwissenschaften, Philosophie
Illustrated by Martin Regenbrecht

Unschärfen der Liebe

Thema verfehlt

Mit ihrem neuen Roman «Unschärfen der Liebe» hat Angelika Overath ihre Geschichte zweier schwuler Männer fortgeführt. Eine dreißigstündige Zugfahrt von Chur nach Istanbul bildet den äußeren Rahmen ihrer Erzählung, deren eigentliche Thematik die titelgebenden «Unschärfen» einer homosexuellen Beziehung sind, deren mentale Seite sich als brüchig erweist. Einerseits deshalb, weil plötzlich eine Frau unerwartet die Beziehung stört, andererseits aber auch, weil Untreue die schwule Liebesidylle stört.

In einer vorgeschalteten Landkarte ist die Reiseroute des Protagonisten Baran abgebildet, die ihn auf den Spuren vom Orient-Express quer durch den Balkan von einem Besuch in der Schweiz zurück nach Istanbul führt, wo er mit seinem Lebensgefährten Cla wohnt. Diese Reise gibt ihm Gelegenheit, Ordnung in seine plötzlich gestörte, schwule Beziehung zu bringen. In Chur hatte er Alva besucht, die ehemalige Freundin von Cla, mit dem sie ein Kind hat. In drei Tagen, die er als Gast bei ihr verbringt, verliebt er sich völlig unerwartet in sie, und ebenso unerwartet haben sie auch Sex miteinander, was ihn total ratlos macht. Mutmaßlich, das wird im Roman aber nicht deutlich, weil es der erste hetero-sexuelle Kontakt für ihn war. Unvermittelt ist er da jedenfalls in ein Liebes-Dilemma hinein geschlittert, eine Schaden anrichtende Amour fou womöglich. Alva weiß natürlich von der homosexuellen Beziehung der Beiden. Ihre Liaison mit Cla, dem Vater ihres Kindes, ist inzwischen aber beendet. Er ist damals zu Baran, seinem schwulen Geliebten, nach Istanbul gezogen. Wie soll Baran ihm das nun erklären, wenn er in Istanbul ankommt? Und wo soll das hinführen?

In eine Mènage à trois, könnte man denken! Aber da geht die schmutzige Phantasie des Lesers weit über das dröge Sinnieren des Zugreisenden hinaus. Der nämlich reflektiert nur, ausgiebig und in Rückblenden, die Geschichte seiner Beziehung mit Cla. Deshalb hat er ja die extrem langsame Eisenbahn gewählt und ist nicht wie Cla in drei Stunden nach Istanbul geflogen, er wollte Zeit haben zum Nachdenken. Seine Gedanken und Erinnerungen wechseln sich permanent ab mit banalen Beobachtungen während der langen Bahnfahrt. Es sind nicht nur die vielen Menschen, die er im Zug beobachtet und zu denen er sich Gedanken macht, ausführlich wird auch die vorbeiziehende Landschaft beschrieben, deren klimatisch bedingte Veränderungen in den dreißig Stunden der Reise augenfällig werden. Ergänzt werden diese Episoden durch historische Ereignisse, berühmte Figuren und bemerkenswerte Bauten in den durchreisten Gebieten. Diese häufigen, fragmentarischen Einschübe ohne jeden inneren und äußeren Zusammenhang reichen von Exkursen über das Bergsteigen, über das Massaker von Vukovar und historisch bis zum römischen Kaiser Konstantin oder zu Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei. Sie sind aber auch philosophisch, zum Beispiel wenn er über den Gottesbegriff bei Cusanus nachdenkt.

Der Roman ist mit derlei Exkursen deutlich überfrachtet, seine ja schon im Titel angedeutete, eigentliche Thematik, die «Unschärfen der Liebe», tritt als roter Faden der Geschichte weit in den Hintergrund. Gleiches gilt für die drei Romanfiguren, zu denen man keine Empathie aufzubauen vermag, sie bleiben ebenso blass wie all die namenlosen Zufallsfiguren, die den Weg des Reisenden kreuzen, oder wie die Menschen, die ihm im Leben begegnet sind. Einzig gelungen, aber eigentlich fehl am Platze, da sie rein gar nichts zum Thema beitragen, sind die unzähligen Beschreibungen der vorbeiziehenden Landschaften und Bahnstrecken. Als Reisebeschreibung «Im Orientexpress unterwegs» wäre das Buch aufgrund seiner gelungenen Schilderungen von Land und Leuten sicherlich eine interessante Lektüre. Die problematisch gewordene Schwulenliebe aber wird nur unzureichend thematisiert, sie geht unter in all den oft langweiligen Nebengeschichten. Zu allem Überfluss lässt die Autorin am kitschigen, völlig deplazierten  Ende auch noch alles offen. «Thema verfehlt» hieß so etwas früher im Deutschunterricht!

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Schaurige Orte in Österreich. Unheimliche Geschichten

In der Anthologie „Schaurige Orte in Österreich“ nimmt Herausgeber Lutz Kreutzer selbst die Feder in die Hand, um eine packende Erzählung aus seiner Zeit als Geologie-Student zum Besten zu geben.

Im Sommer 1984 begibt er sich in die höchsten Berge der Karnischen Alpen, um ungelöste Rätsel der Erdgeschichte zu erforschen und einen weißen Fleck auf der geologischen Karte zu schließen. Mit der Ausdauer eines Pferdes erklimmt der junge Kreutzer den südlichsten Gletscher Österreichs, das Eiskar, um Gesteinsproben aus dem Paläozoikum zu sammeln – einer Zeit, die rund 200 Millionen Jahre vor den Alpen liegt. Weiterlesen


Genre: Anthologie, Gruselgeschichten
Illustrated by Gmeiner

Doppler

Bösartig unterhaltsam

Einer der Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023 ist der Österreicher Thomas Oláh mit seinem Debütroman «Doppler», der vom deutschen Feuilleton, ganz im Gegensatz zu anderen Büchern aus den großen und bekannten Verlagen, völlig ignoriert wurde. Bei Perlentaucher, verlässliche Informations-Quelle über das Echo in den Medien, findet sich einzig eine Buchkritik des Deutschlandfunks. Ganz anders bei den privaten Kritikern im Versand-Buchhandel, aber auch bei Literaturkritik.de, wo der Roman, wie die anderen Nominierten auch, eine durchaus ‹normale› Beachtung und wohlwollende Aufnahme findet. So weit, so (nicht) gut, denn dem Kostümdesigner und Kulturhistoriker ist mit seinem Erstling ein durchaus lesenwerter Roman gelungen, der mehr Beachtung verdient hätte.

In einem turbulenten Plot erzählt ein namenlos bleibender Junge gleich zu Beginn völlig emotionslos, mit einem verstörenden Fokus selbst auf die kleinsten Details, was bei dem Autounfall 1970 passiert ist, den er als Einziger überlebt hat. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder kamen dabei ums Leben, er selbst landete mit Gehirn-Erschütterung im Krankenhaus. Fortan lebt er bei seinen Großeltern auf dem Lande, die in langer Familien-Tradition Weinanbau betreiben. Als nicht-österreichischer Leser lernt man in diesem Roman so einige sprachliche Besonderheiten und viele spezifische Begriffe, zu denen auch der titelgebende «Doppler» gehört. Gemeint ist damit eine Zweiliterflasche, in der landesüblich der Wein abgefüllt wird. Der Autor lässt es sich aber auch nicht entgehen, in einem der Kapitel den von seinem österreichischen Entdecker erstmals theoretisch beschriebenen Doppler-Effekt zu thematisieren und spöttisch, so ganz nebenbei, amüsante Verbindungen zwischen Physik und Wein herzustellen.

Überhaupt spielt der Wein in diesem Roman eine tragende Rolle, es wird hier unglaublich viel getrunken, natürlich auch in der Weinbauern-Familie, wobei dem edlen Getränk ehrfürchtig ‹zugesprochen› wird, es wird goutiert, nicht gesoffen! Die dabei üblichen Rituale permanenter Verkostung werden weitervererbt, sogar der kleine Enkelsohn und Ich-Erzähler bekommt Wein zu kosten und entwickelt nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich eine beachtliche Kennerschaft. Er beobachtet, wie auch der Pfarrer das Weintrinken zum andächtigen Ritual erhebt, nicht weniger innig, wie es scheint, als bei der Andacht in seiner Kirche. Religion und Wein, Katholizismus und Alkoholismus gehen hier wie selbstverständlich eine symbiotische Beziehung ein, spottet der Autor. Die Roman-Figuren sind allesamt archetypisch und leben in einer Zeitblase, die keinen Fortschritt kennt. Allein durch ihre Namen schon werden sie vom Autor stimmig charakterisiert, da gibt es den «grausamen Onkel», der die Prügelstrafe wie eine Messe zelebriert, und dessen Söhne sind die «enthusiastischen Cousins», zwei bösartige Volltrottel. Es gibt den «Onkel mit dem wilden Auge», der schielt, oder die «kindische Tante», eine Epileptikerin, schließlich die «lachende Cousine», die, ein paar Jahre älter schon, sich mit dem jungen Ich-Erzähler zum Petting trifft.

«Doppler» ist, ohne erkennbaren biografischen Bezug, offensichtlich eine Abrechnung des Autors mit seiner Heimat zu jener Zeit. Sein Text ist bissig, durch die distanzierte, geradezu lakonische Erzählhaltung aus der Kinderperspektive aber auf bösartige Weise auch unterhaltsam. Der Plot besteht aus lauter erzählerischen Miniaturen, zu denen vor allem die mit beängstigender Phantasie ausgemalten, gewaltgeprägten und saudummen Jungenstreiche zählen. Eine zweite Erzählebene bildet die geradezu mystisch erhöhte Weinwelt mit dem archaischen Leben dort. Dazu gehören auch Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, dessen Ende hier im Ort in einer Rückblende erzählt wird. Die birgt auch Geheimnisse, welche unerreichbar tief im Gedächtnis der Menschen verankert sind. Dieser oft übertrieben bösartige Roman ist vor allem durch seinen schwarzen Humor gekennzeichnet, sein kreativer Wortwitz trägt einiges dazu bei.

Fazit:  3* lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Müry Salzmann

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen

Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen. Seit 2016 erscheint bei Galiani die liebevoll gestaltete Ausgabe der Illustrierten Lieblingsbücher. Band 1 war damals Franz Kafka’s Landarzt, der – längst vergriffen – nun aus Anlass des 100. Kafka Jubiläums vom Verlag neu aufgelegt wurde. Abgesehen von den zahlreichen Illustrationen von Kat Menschik befinden sich neben dem Landarzt auch viele andere bekannte Kurzgeschichten Kafkas in dieser farbenfrohen Lektüre. Werke der Weltliteratur und andere Lieblingstexte, in Szene gesetzt von Kat Menschik.

Das Bunte aus Kafka herausholen

Odradek, vielleicht von dem tschechischen Verb “odradit” abgeleitet für “abraten” oder “widerraten”. Das hauptwörtliche Odradek wäre dann ein Abrater oder Meckerer, wie Max Brod erläutert. Aber in der Geschichte seines Schützlings, Franz Kafka stellt sich der Erzähler selbst die Frage, was aus dem Odradek einmal werden soll, wenn er nicht mehr ist. “Alles was stirbt, hat vorher eine Art Ziel, eine Art Tätigkeit gehabt und daran hat es sich zerrieben”, klagt der Erzähler, aber ein Odradek? Zumindest is eines sicher: der Odradek wird ihn überleben. Kat Menschik hat natürlich auch diesen Odradek abgebildet, für alle die sich darunter noch nichts vorstellen können. Noch viel bunter wird es in der Geschichte “Elf Söhne”, denn Menschik hat den Ehrgeiz entwickelt gleich alle elf auf einer Doppelseite unterzubringen. Der Vater ist auch drauf, aber der steht abseits, fast deplatziert, an den Rand gedrängt. Der elfte Sohn weiß Bescheid, er ist der letzt dem er vertraut, aber wenigstens der Letzte. Auch das ein Privileg. Denn er wird noch leben, wenn alles gut geht, wenn alle anderen schon das zeitliche gesegnet haben. Um einiges brutale geht es dann schon in der nächsten Geschichte “Ein Brudermord” weiter. Hier blitzt gleich das blanke Messer noch bevor die Erzählung richtig los geht, gruselt es schon.

Franz Kafka modern illustriert

Der Affe weiß es in seinem Bericht an die Akademie am besten: “Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzu oft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten.” Von seinen Lehrern erhofft er nicht diese Erhabenheit, sondern einfach nur, dass sie nicht selbst “äffisch werden, bald den Unterricht aufgeben und in eine Heilanstalt gebrach werden”. Wenn es drauf ankommt, empfiehlt der Affe, “sich einfach in die Büsche zu schlagen”. Am besten mit einer Lektüre aus der Bibliothek der Illustrierten Lieblingsbücher. Bisher sind 18 Exemplare erschienen. “Im übrigen will ich keines Menschen Urteil, ich will nur Kenntnisse verbreiten, ich berichte nur, auch Ihnen, hohe Herren der Akademie, habe ich nur berichtet.” Weitere Geschichten von Kafka in diesem Band sind u.a. “Auf der Galerie”, “Vor dem Gesetz”, “Sorge eines Hausvaters”, “Ein Traum”, insgesamt sind es vierzehn, die alle von Kat Menschik illustriert sind.

Kat Menschik
Franz Kafka: Ein Landarzt. Kleine Erzählungen
Illustrierte Lieblingsbücher, Band 1
2016/2024, Hardcover, 112 Seiten
ISBN: 978-3-86971-132-4
Galiani Berlin
22.-€


Genre: Bildband, Erzählungen, Illustrationen, Literatur

Robert Doisneau. Paris

Robert Doisneau. Paris: Das ikonische Foto am Cover dieser Monographie zum Werk des französischen Fotografen Robert Doisneau “Paris” dürfte vielen bekannt sein, da es gerne auch zitiert wird. Unlängst sah ich es in einer Reprise des Werks des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieślowski. Aber auch in anderen Zusammenhängen taucht es immer wieder gerne auf. Es gilt als ikonisch und episch zugleich, denn das Motiv, der Kuss, ist aus der Kunst nicht wegzudenken. Ebensowenig das andere Werk von Robert Doisneau aus Paris, das dieser Tage die Olympiade beherbergt, wegzudenken ist.

Porträtist des alten Paris

Autor und Herausgeber Jean Claude Gautrand war ein langjähriger Freund Doisneaus und durfte deswegen auf das umfangreiches Bildarchiv des Jahrhundertfotografen zurückgreifen. Der “Poet der Straße“, wie er gerne wegen seiner improvisierten und nicht inszenierten Fotografie genannt wird, hatte auch einen Sinn für die Sorgen und Nöte der Menschen, weswegen er auch als Vertreter der “Photographie humaniste” gefeiert wird. Die große Zeit dieses Genre waren sicherlich die 1950er-Jahre in der Doisneau die meisten seiner beseelten Bilder von Paris aufnahm. Alltägliche Begebenheiten, die ihm in Paris vor die Linse kamen, machen auch seine eigenen Emotionen sichtbar. Das menschliche Leben in all seiner Pracht und Widersprüchlichkeit steht im Zentrum seines fotografischen Schaffens, das in vorliegender Monographie in seiner ganzen Bandbreite präsentiert wird. Abgesehen von diesen Hauptwerken, die es bereits zu einiger Berühmtheit gebracht haben, bemüht sich der Bildband aber auch um eine Retrospektive seines spektakulären Œuvres von weniger bekannten Aufnahmen. „Ganz normale Handlungen ganz normaler Menschen in ganz normalen Situationen“ umschreibt es wohl am besten und entbehrt auch nicht seines Humors, der stets voller Empathie für die Welt und ihre Bewohner war. Zitate entrücken die Fotografien in jenes himmlische Pantheon an dem wir Sterblichen selbst gerne teilnähmen.

Raritäten wie Farbfotos und Archivaufnahmen

Robert Doisneau zeigt uns die tristen Vorstädte seiner Jugend, die Welt der Arbeiter, die er liebte, sein Atelier und die Ateliers vieler Künstler seiner Zeit. Darüber hinaus finden sich auch einige weit weniger bekannte Farbaufnahmen, die uns in die Banlieue von heute führen und in denen uns ein ganz anderer, kritischerer Robert Doisneau begegnet, in vorliegender Publikation des Taschen Verlages zu Leben und Werk Robert Doisneaus ihre Abbildung. TASCHEN Autor und Freund Doinseaus, Jean Claude 8autrand, durfte wie anfangs schon erwähnt auf Doisneaus umfangreiches Bildarchiv zurückgreifen. Er ist Experte für Fotografie, war selbst als Fotograf tätig und veröffentlichte auch als Historiker, Journalist und Kritiker. Für TASCHEN verfasste er die Bücher Brassaï, Paris. Porträt einer Stadt, Robert Doisneau und Eugène Atget. Das Vorwort wurde von Doisneaus Töchtern Francine Deroudille und Annette Doisneau verfasst und zeigt, dass Tradition nicht bedeutet die Asche anzubeten, sondern die Glut zu entfachen…

Jean Claude Gautrand
Robert Doisneau. Paris
2024,Hardcover, XL, 556 Seiten
ISBN 978-3-8365-9948-1
English, French, German
TASCHEN
€ 50


Genre: Fotobuch, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Ein Hund kam in die Küche

Eine fatale Fehlentscheidung

Das Kinderlied «Ein Hund kam in die Küche» hat dem Schriftsteller Sepp Mall als Titel für seinen historischen Roman gedient, in dem der Südtiroler von einer tragischen Periode in der Geschichte seiner Heimat erzählt. Durch das «Hitler-Mussolini-Abkommen» war die deutschsprachige Bevölkerung Südtirols damals vor die Wahl gestellt, sich nach dem Motto «Heim ins Reich» nach Deutschland oder aber nach Süditalien umsiedeln zu lassen. Etwa 75000 Menschen wählten das Deutsche Reich als neue Heimat. So entschied sich 1942 auch die Familie von Ludi, dem anfangs 11jährigen Ich-Erzähler des Romans. Dessen Vater ist ein fanatischer Nazi. der es kaum erwarten kann, sich als Soldat für die deutsche Wehrmacht zu melden.

Ludis Mutter ist eher skeptisch, fügt sich aber der folgenschweren Entscheidung des Vaters. Erste Station der Umsiedlung ist Innsbruck, wo die Familie für die Einbürgerung einige Formalitäten erledigen muss, zu denen auch eine ärztliche Untersuchung gehört. Ludis innig geliebter, fünfjähriger Bruder Hanno ist geistig und körperlich behindert, die Ärzte ordnen deshalb seine Einweisung in eine Spezialklinik an. Ohne ihn zieht die Familie weiter in den Reichsgau Oberdonau im heutigen Oberösterreich, wo ihnen in einem kleinen Ort eine Wohnung zugewiesen wurde. Zwei Wochen später werden dort auch ihre Unzugsmöbel angeliefert, kurz darauf muss der Vater seinen Dienst in der Wehrmacht antreten. Ludi, der alle seine Freunde und Schulkameraden aus dem Bergdorf in Südtirol verloren hat, findet sich nun in einer fremden Umgebung wieder, wo er niemanden kennt. Statt in den Bergen wohnt er nun im Flachland an der Donau, aber er findet dort bald schon einen Freund, mit dem er durch die Gegend streunt. Irgendwann kommt dann ein Brief aus der Heil- und Pflegeanstalt, in dem der Tod von Hanno angezeigt wird, er sei an einer Lungenentzündung gestorben.

Man weiß als Leser von Anfang an, dass Hanno der Euthanasie zum Opfer fallen wird, es war einfach heuchlerisch von den Ärzten, von Heilung in einer Spezialklinik zu sprechen. Sepp Mall versteht es, durch die kindliche Perspektive des Ich-Erzählers selbst dieses Grauen ganz naiv zu schildern, die Wahrheit wird hier nicht mal angedeutet. Und auch der Mutter bleibt nichts anderes übrig, als zu glauben, was ihr amtlich mitgeteilt wird, Zweifel kommen ihr nicht. Nach dem Krieg kehren Ludi und seine Mutter illegal über die grüne Grenze in ihr Heimatdorf nach Südtirol zurück. Sie haben sich an der Donau nie wohlgefühlt und sind dort immer nur Fremde geblieben. So geschieht es ihnen nun auch in Südtirol, man betrachtet sie misstrauisch, sie sind ja Deutsche geworden. Die ehemaligen Freunde aber sind durch die Umsiedlungen in alle Winde zerstreut, daran können sie nicht wieder anknüpfen, sie sind nun auch hier in ihrer alten Heimat Fremde geworden. Das ändert sich auch nicht, als der Vater als seelischer Krüppel aus Kriegs-Gefangenschaft zur Familie heimkehrt. Er kann die Schrecken des Krieges und der Lagerhaft nicht verarbeiten und ertränkt sie im Alkohol. Die Folgen all dieser unheilvollen Veränderungen wirken bis heute nach in nicht wenigen Südtiroler Familien.

Neben der äußerst behutsamen Schilderung dieser familiären Katastrophe gibt es auch rohe Szenen, beim Metzger nebenan beispielweise werden immer wieder Tiere geschlachtet, es fließt ständig Blut im Hof. In einer Szene findet Ludi mit seiner Freundin einen toten Hirsch im Wald. Das Tier ist schon eine Weile in Verwesung, sein Anblick aber wird hier in allen ekligen Details geradezu masochistisch beschrieben. Man ist schockiert, aber auch das ist der kindlichen Erzähl-Perspektive geschuldet, deren Empfindungen noch weitgehend unbelastet sind. Im Gegensatz dazu steht die berührende Schilderung der innigen Bruderliebe von Ludi, der noch jahrelang nicht nur im Traum mit Hanno spricht. Der Bruder ist als Geist geradezu körperlich präsent, er kann dann richtig sprechen und sich auch normal bewegen. Betroffen stellt man als Leser fest, dass hier nicht der Hund aus dem titelgebenden Kinderlied erschlagen wird, sondern auch das ganze Lebensglück dieser unschuldigen Familie.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Leykam Buchverlag Wien

Vorbeigehuscht

 

KURZREZENSION

Um es gleich zu sagen: Es ist immer wieder geradezu erfrischend, Geschichten zu lesen, die einen realen und persönlichen Hintergrund besitzen. Sie sind nicht irgendwie aufgesetzt, sondern man spürt deren Authentizität.

Wie es Hans Peter Götze in seinem Vorwort beschreibt, besteht das Buch aus Fundsachen, Erinnerungen, Begegnungen, auf Reisen Gesammeltes, Erlebnissen und Alltagsbeobachtungen. Sie führen uns beispielweise auf seine vielfältigen Reisen, in seine Familie oder zu seiner Liebe zur Musik. Bei Hans Peter Götze ist es damit aber nicht getan. In fast jeder Geschichte findet sich ganz schnell ein Bezug zu gesellschaftskritischen Themen, zur Politik oder zur Kunstkritik. Bei aller Ernsthaftigkeit werden diese teilweise satirisch, humorvoll und witzig oder gar sarkastisch verhandelt. Genau das macht dieses Buch so lesenswert. Seine Lektorin Linde Gerster bezeichnet dies als Fabulierkunst des Autors, der von Einfällen übersprudelt und diese gewandt in Worte zu fassen weiß.

Niemand würde etwa erwarten, dass man sich bei der Lektüre der Episode über den Aufenthalt im Frauenkloster Frauenwörth auf Frauenchiemsee mit den Fragen befassen muss, ob Spinnen depressiv werden können oder gar suizidfähig sein könnten. Ähnlich verhält es sich bei der Frage, wie Götze es schafft, bei der Beschreibung seiner Malreise nach Andalusien den Schlenker zu den pannenbehafteten Bauprojekten Berliner Flughafen und Stuttgart 21 hinzukriegen.

Und schon sind wir beim begnadeten Maler und Fotografen Götze. Einige seiner Anekdoten sind mit seinen Aquarellen und Fotografien illustriert und mehrere seiner Werke sind im Anhang zu bestaunen.

Alles in allem ein sehr gelungenes Werk, das insbesondere Freunden der Kurzgeschichte eine amüsante Lektüre bereiten wird.

Format: 17 x 24 cm, 136 Seiten
ISBN: 948-3-00-078563-4
Erschienen 2024

Preis: 18,50 € + 3,50 € Versand

Bücher


Illustrated by Verlag Vor dem Weiher

Atlas eines ängstlichen Mannes

Schicken Sie Ihre Phantasie auf Reisen oder testen Sie einfach nur Ihre Geografiekenntnisse, indem Sie Nadeln in eine imaginäre Weltkarte stecken. Osterinsel, China, Brasilien, Kalifornien, Marokko, Andalusien, Island, Griechenland, Wien, Neuseeland, Neu Delhi, Nepal, Bolivien, Mexiko, Juan Fernandez Archipel, Irland, Laos, Nordpol, Ontario, Kambodscha, Yokohama, Valparaiso, Pitcairn, Jemen, Sydney, Irland. Stopp! Das sind nur etwa die Hälfte der Orte und Ziele, die Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes wie auf einer geografischen Perlenkette auffädelt. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Memoiren, Reisen
Illustrated by Fischer Verlag

Zeitzuflucht

Amnesie statt Anästhesie

Der kryptische Titel «Zeitzuflucht» des neuen Romans von Georgi Gospodinov steht für eine kreative Thematik. Der Ich-Erzähler, ein bulgarischer Schriftsteller, hat sich einen Psychiater als Protagonisten erschaffen, den er Gaustin nennt, ein Zeitreisender, der durch die Jahrzehnte des 20ten Jahrhunderts flaniert. Mit seiner amüsanten Dekonstruktion nostalgischer Sehnsüchte desavouiert der Autor gekonnt den aktuellen politischen Rechtsruck in Europa, der alles andere als lustig ist. Nicht zuletzt deshalb, und für die literarisch exzellente Umsetzung des Stoffes, erhielt der Autor 2023 den International Booker Prize für fremdsprachige Erzählungen.

Die Figur des Gaustin hat sich im Roman quasi verselbständigt, der Autor und er arbeiten eng zusammen, diskutieren miteinander und vertreten sich gegenseitig. Bei der Behandlung von Demenzkranken ist Gaustin auf die Idee gekommen, den Patienten durch einen Rückgriff auf die Vergangenheit zu helfen. Und zwar durch eine vertraute Umgebung, an die sie sich erinnern können und wo sie sich dann auch wieder zurechtfinden im Leben, immer nach dem Motto: «Amnesie statt Anästhesie!» Er baut in Zürich eine Klinik auf, in der in jedem Stockwerk ein anderes Jahrzehnt des 20ten Jahrhunderts detailgetreu wie im Museum rekonstruiert ist. Ein therapeutischer Ansatz, der sich als äußerst erfolgreich erweist und andernorts viele Nachahmer findet. Alle haben die Hoffnung, durch diesen Zeitenwechsel den Schrecken der Gegenwart entfliehen zu können, und schon bald verwandelt sich die Therapie in ein politisches Programm. In kürzester Zeit werden ganze Stadtviertel in ein vergangenes Jahrzehnt zurückversetzt, bald auch ganze Städte. Schließlich ist die Sehnsucht nach Vergangenheit so groß, dass einzelne Staaten und dann auch die gesamte EU sich in die Vergangenheit zurückversetzen wollen. In verschiedenen Ländern werden Referenden abgehalten, bei denen die Bevölkerung das vergangene Jahrzehnt wählen kann, in dem die Menschen künftig wieder leben wollen.

Mit nicht zu übersehendem Spott berichtet der Schriftsteller von den Diskussionen mit seinem Protagonisten Gaustin, der ziemlich entrückt das Geschehen aus der Ferne verfolgt und dann immer wieder mal für Jahre spurlos verschwunden ist. Genüsslich schildert Georgi Gospodinov das von ihm erdachte, aberwitzige Szenario, berichtet von seinen Erlebnissen in den verschiedenen Jahrzehnten, die er besucht. – Wohlgemerkt, man besucht nicht mehr Orte, sondern Zeiten! Und geschickt nutzt der Autor auch das entstandene Chaos zu vielfältigen Reflexionen über politische und historische Gegebenheiten, so wenn er gegen Schluss ausführlich über die Referenden in den einzelnen Staaten Europas berichtet. Dabei lässt er sich kenntnisreich und amüsant über dortige Animositäten, Befindlichkeiten und Sehnsüchte aus. All das ist eine kontemplative Tour d’Horizont auf nostalgischen Pfaden der europäischen Geschichte, prall gefüllt mit Anekdoten, Ereignissen, Wegmarken und Irrwegen. Konsequent lässt er die Menschen in diesem speziellen Setting alle historischen Stationen durchlaufen, auch Erster und Zweiter Weltkrieg nicht ausgeschlossen, er thematisiert die Balkankriege ebenso wie den Brexit oder Donald Trump. Besonders aber die ehemaligen Ostblockstaaten werden kritisch durchleuchtet in ihren Befindlichkeiten. Viel Raum nimmt dabei natürlich Bulgarien ein, das zwar mit Spott und Häme überzogen wird, letztendlich aber immer die Heimat des Autors bleibt, soviel Patriotismus sei ihm erlaubt!

Diesen Roman zu schreiben ist ein wahrhaft schwieriges Unterfangen mit vorhersehbaren Problemen gewesen, die der Autor aber souverän zu unterlaufen versteht mit allerlei literarischen Tricks. Zu denen gehört insbesondere die scheinbar eigenmächtig handelnde Figur des Gaustin, Spießgeselle des Autors. Es gibt dermaßen viele historische Verweise, literarische Bezüge und philosophische Thesen, dass der Leser über so manche surreale Konstellation hinweg liest oder das Fehlen von Realität partout nicht empfindet. Er schwebt vielmehr gedanklich in anderen Jahrzehnten, zumal wenn er zu den «älteren Semestern» zählt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Taschenbuch Berlin

Knife- Gedanken nach einem Mordversuch

Salman Rushdie sollte im Rahmen eines Projektes für in ihren Ländern verfolgte Autoren eine Rede halten, darüber „wie wichtig es ist, sich für die Sicherheit von Schriftstellerinnen und Schriftstellern einzusetzen.“ Er sieht den Mann aus dem Publikum im Staat New York aufstehen und auf ihn losrennen—ein Sicherheitsdienst war nicht vorgesehen.

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Genre: Literatur
Illustrated by Penguin

Weil da war etwas im Wasser

Alles ist letztendlich Nichts

Der Debütroman «Weil da war etwas im Wasser» von Luca Kieser wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Damit gehörte er also zu den zwanzig Neuerscheinungen des Jahres 2023, die als Vorauswahl aus 196 eingereichten Titeln für die werbe- und verkaufsträchtige Longlist ausgewählt wurden. Betrachtet man im Nachhinein anhand von Feuilleton-Rezensionen und Leser-Kommentaren die Rezeption dieses Buches, so ist das Ergebnis auffallend negativ. Denn die Rezeptions-Ästhetik geht nun mal davon aus, «dass nicht die Intention des Autors im Vordergrund steht, sondern dass der Leser selbst maßgeblich an der Erzeugung des Textsinns beteiligt ist.» Genau das aber gelingt mit diesem Roman nicht! Neben dem Diktum der Literatur-Wissenschaft ist aber auch die demonstrative Nichtbeachtung des Feuilletons ein deutlich ablehnendes Signal, von den überregionalen Zeitungen gibt es nur eine einzige Rezension. und in den Kommentaren der Leserschaft herrscht weitgehend Unverständnis. Man scheitert nicht an der postmodernen Erzählweise, sondern schlicht und ergreifend am kaum zu entschlüsselnden und schon gar nicht nachvollziehbaren Textsinn!

Der Autor hat für sein Roman-Experiment ein eigenwilliges Setting gewählt, in dem Tier- und Menschenwelt eng ineinander verflochten sind, wobei ein Riesenkalmar, einem aktuellem Trend folgend, im Mittelpunkt steht. Er ist einem Frosttrawler in der Antarktis beim Krillfang ins Netz geraten und liegt nun auf dem Oberdeck, das Netz ist zerrissen. Seine riesigen Tentakel führen ein ungewöhnliches Eigenleben, denn zu den vielerlei Perspektiven, aus denen in diesem Roman erzählt wird, gehören eben auch seine sprechenden Fangarme, die Namen tragen wie beispielsweise «Der Blendende», «Der Süße», «Der Halbe», «Der Schüchterne», «Der Müde» und ähnliche mehr. Als ein monströser, weiblicher Tintenfisch ein Tiefseekabel berührt, erwacht sein sexueller Trieb, und von einem zufällig vorbei schwimmenden Männchen wird es dann geschwängert.

Berichtet wird ferner von einem Seemann namens Sanz, der 1861 beim Anblick eines Riesenkraken derart entsetzt war, das er schockiert seinen Beruf aufgeben musste und in Luxemburg eine Familie gegründet hat, deren Stammbaum im Anhang des Romans abgebildet ist. Alle dort verzeichneten Nachkommen verdanken ihr Leben letztendlich also einem angriffslustigen Riesen-Tintenfisch. Diese Genealogie wird im Roman immer wieder mit dem Kalmar in Verbindung gebrach, die Familien-Mitglieder tauchen regelmäßig in jeweils einem der Kapitel dieses Romans auf und bilden so einen losen Rahmen für die unkonventionelle Erzählung. Die Studentin Sanja Sanz, im Jahr 2000 geboren und jüngstes Mitglied der Familie, absolviert auf dem Frosttrawler in der Antarktis ein Praktikum. Sie muss damit klar kommen, dass dort ein halbes Jahr lang Dunkelheit herrscht. Sanja ist es auch, die ein Herz hat für den Riesenkalmar, der den Krillfängern ins Netz geraten ist und nun am Oberdeck liegt, sie versucht alles, um ihn am Leben zu erhalten. Ihr Tagebuch bildet das Ende des Romans. Es gibt auch literarische Verweise, zum Beispiel auf Jules Verne, der in «20.000 Meilen unter dem Meer» eine solche Riesenkrake publikums-wirksam zum Monster hochstilisiert hat,

Luca Kieser verwendet eine angenehm lesbare Diktion, bei der immer auch ein gewisses Pathos mitschwingt. Von einem Plot allerdings kann man nicht sprechen bei dieser chaotischen Erzählung, die vor allem durch wilde Zeitsprünge und geradezu irre Perspektiv-Wechsel gekennzeichnet ist. Der Text wird häufig durch längere Fußnoten ergänzt, wie sie zwar in Sachbüchern üblich sind, in der Belletristik aber den Lesefluss nur stören, ebenso wie es auch die gelegentlichen Verweise des Autors zu anderen Kapiteln seines Buches tun. Kaum gelungen erscheinen auch die philosophischen Exkurse, zum Verhältnis zwischen Leib und Seele beispielsweise oder zur Evolutionstheorie mit der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Die Intention des Autors, seine gigantische Themenfülle zudem, überfordert (fast) alle Leser, denn: ‹Alles ist letztendlich Nichts› !

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag Wien

Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort

Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort. “Sie erinnerte mich an alles, was ich nie zu vergessen hoffte.” Zum 100. Geburtstag von James Baldwin erscheint bei dtv eine Neuauflage seiner Werke. Sein vierter Roman, der hier in gebundener Ausgabe vorliegt, erschien 1968, ein Jahr, das auch große politisch Bedeutung erhielt. Der Protagonist, Leo Proudhammer, wächst in den Straßen Harlems auf und schafft es als Schauspieler auf die Bühnen der Welt.

Erschütternder Realismus als Ausweg

Der Schauspieler überlebt einen Herzinfarkt und kommt dank seiner Freunde gleich ins Spital. Aus dieser Perspektive erzählt er dem Leser sein Leben, das an Aufregungen nicht arm war. Als Sohn eines Lagerarbeiters und einer Heimarbeiterin in Harlem, New York gehört seine Familie nicht gerade zu den Privilegierten. Sein Vater stammt von einer Insel, aber nicht Manhattan. Sie sind schwarz und Leo zudem noch bisexuell oder homosexuell, das wird ihm selbst erst im Laufe des Romans klar. Vorerst kann er es gemeinsam mit Hilfe der weißen Schauspielerin Barbara King und ihren Kontakten zu den besseren Kreisen zu einem Engagement in der “Werkstatt” schaffen, die von zwei reichen Weißen geführt wird. Wir lernten gerade wie Pirandello es ausdrückt “unser Spiel zu leben und unser Leben zu spielen”, als der unvermeidbare Bruch mit seinem älteren Bruder Caleb und seinen Eltern Leo den notwendigen Freiraum verschafft, sein eigenes Leben zu leben. In einer fesselnden Sprache und dramaturgisch klug konstruiert erfahren wir in Rückblenden immer mehr über die Genese des Leo Proudhammer, der als Schauspieler von allen bewundert wird, als Mensch aber immer etwas vermisst. Einerseits geht es um die Beziehung zu seinem älteren Bruder, den er liebt und verehrt, andererseits auch um den alltäglichen Rassismus im Amerika der 1940er Jahre. Mit viel Einfühlungsvermögen beschreibt Baldwin, wie sich Leo fühlt, wenn er in dem weißen Viertle von Barbara angestarrt wird und wenig später als Einbrecher verhaftet wird. Ein “Spaziergang” mit Barbara wird zu einem Hürdenlauf, da sie auf der Straße nicht nur von Augen fixiert, sondern auch von Mündern bespuckt und beschimpft werden.

Identifikationsfigur der Intersektionellen

“Eigentlich wollte ich aber sagen, egal wie dramatisch die erwähnten Grenzen auch sind, die dramatischste, abstoßendste bleibt jene unsichtbare Grenze, die amerikanische Städte teilt, Weiß von Schwarz.” Treffende Worte und tolle sprachliche Bilder machen den vorliegenden Roman zu einem Lesehighlight, der nicht nur Shakespeare’s Othello zitiert, sondern auch in die innersten Winkel einer Seele blicken lässt, die auf der Suche nach Wahrhaftigkeit sogar bereit ist, sich selbst zu opfern. “Meine Ehre, mein Verstand und meine Erfahrung sagten mir allesamt, dass Freiheit, nicht Glück, der Edelstein war.” James Baldwin lotet alle Möglichkeiten der Liebe aus und beschreibt anhand der Biographie Leo Proudhammers auch seinen eigenen Leidensweg. Als “Son of a Preacher Man” gehörte auch er zu den schwarzen Predigern, die sich nicht auf den kirchlichen Raum beschränkten, sondern auch jene miteinschlossen, die sich außerhalb in ihren eigenen Räumen versperrten. Zwischen Malcolm X und Martin Luther King oszillierend befanden sich damals viele schwarze Amerikaner, denen die Black Panther zu radikal waren. Schwarze Virilität galt damals als die Antwort auf einen sozialen Inferioritätskomplex. Vielleicht ist gerade deswegen die Lektüre von Baldwin so spannend, da er in der Zärtlichkeit des eigenen Geschlechts die Radikalität findet, die das gesellschaftliche Ganze wirklich umzuwälzen vermochte. “Schwarz, bisexuell, Künstler und glaubenslos”, zitiert Elmar Kraushaar eine zeitgenössische Spiegel-Rezension im lesenswerten Nachwort, hätten ihn zum vierfachen Außenseiter gemacht, als “Martin Luther Queen” sei er verspottet worden, aber niemand konnte seinen Stolz brechen. Heute, ein halbes Jahrhundert später ist James Baldwin längst Kult und sein Konterfei auf vielen Black Lives Matter T-Shirts zu sehen.

James Baldwin
Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort. Roman
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell und Miriam Mandelkow
Mit einem Nachwort von Elmar Kraushaar
2024/1965, Hardcover, 672 Seiten
ISBN : 978-3-423-28402-8
dtv
EUR 28,00 [DE] – EUR 28,80 [AT]

 

 

 


Genre: Homosexualität, Rassismus, Roman
Illustrated by dtv München