Die kurze Geschichte der deutschen Literatur

schlaffer-1Erstaunliche Lesefrüchte

Dem Volk der Dichter und Denker stehe eine eher bescheidene Stellung zu im Kosmos der Weltliteratur, konstatiert Heinz Schlaffer in seinem Essay «Die kurze Geschichte der deutschen Literatur». Er tut dies unbekümmert um die voraussehbaren Irritationen in der Fachwelt, allein der Titel ist ja schon provokant. Als «deutscher» Germanist und Literaturprofessor hat der klarsichtige Autor seiner elitären Zunft einige unbequeme Wahrheiten ins Stammbuch geschrieben. Das «kurz» im Buchtitel begründet er damit, dass «die Abschnitte, in denen eine im literarischen Gedächtnis der Nachwelt aufbewahrte Dichtung gelungen ist, in der deutschen Geschichte selten sind und zudem kurz». Als Blütezeiten nennt er eine klassisch-romantische Epoche um 1770 bis 1830, gefolgt von einer Art Zwischenhoch, sowie die erste Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts.

Auf lediglich 150 Buchseiten gewährt Schlaffer auch Nichtphilologen, auch dem lesenden Otto Normalverbraucher also, einen faktenreichen Einblick in seine wissenschaftliche Disziplin. Die von Germanisten massenhaft ausgegrabenen, vermodernden Handschriften landeten «unter Umgehung der Leser» nach Analyse, Kommentierung und Neuedition in der ewigen Ruhe der Bibliotheken. «Viel wird geforscht, wenig gelesen», stellt er resigniert fest. Im steten Vergleich mit fremdsprachigen Literaturen und deren anders verlaufender Entwicklung arbeitet Schlaffer scharfsinnig den speziellen Weg der deutschen Literatur heraus, zeigt in brillant formulierten, äußerst komprimierten Gedankengängen eine Fülle von Faktoren auf, die ursächlich waren für deren Genese. Genannt werden da unter anderem die späte Abkehr von der lateinischen Sprache, die auffallende Häufung evangelischer Pfarrerssöhne unter den Dichtern, die einseitige und viel zu lang anhaltende Fixierung auf antike Vorbilder, mangelnde Rücksichtnahme zudem «auf die psychischen Bedürfnisse solcher Leser, die lieber phantasieren als denken».

Kaum einer der heutigen Leser gehe in seiner Lektüre weiter zurück als bis zu Fontane, andererseits endet für Schlaffer die letzte der beiden Blütezeiten deutscher Literatur um 1950, nur Grass, Böll und eine Handvoll anderer gelten von den späteren Autoren noch als Kandidaten dafür, einmal literarische Klassiker zu werden. Eine kühne Prognose, deren Wahrheitsgehalt nur die Nachwelt wird verifizieren können, denn er definiert: «Klassisch ist ein literarisches Werk, wenn es gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig ist». Auch bei enthusiastischen Lesern heutiger Autoren dürften, bei derart rigiden Maßstäben, leise Zweifel aufkommen, was die zeitbeständige Qualität ihrer Lieblingslektüre, aber auch der allermeisten anderen aktuellen Werke anbelangt, selbst über die historisch kurze Zeitspanne von lediglich einer einzigen Generation hinweg. Wer auch nur einmal in seinem Leben eine private Bibliothek aufgelöst hat, wird da wohl zustimmen müssen.

Unsere gegenwärtige Belletristik teilt, war meine ganz persönliche Schlussfolgerung, insoweit das Schicksal von Eintagsfliegen, und daran ändern die inflationäre Flut an wohlmeinenden Literaturpreisen ebenso wenig wie die häufigen Jubelrezensionen des Feuilletons. Insoweit leistet Schlaffers Buch einen wichtigen Beitrag zur Erdung einer nach Buchneuheiten süchtigen Leserschaft, die mit ihren Lieblingsautoren im siebten Literaturhimmel schwebt. Voraussetzung für Dichtung sei «die artistische Beherrschung der Sprache und Toleranz dem Spiel mit Fiktionen gegenüber». Dauerhaft, möchte ich hinzufügen, wird gute Literatur ausschließlich als zeitloses Kunstwerk, dem ein individueller Genius innewohnt. Dem aufnahmebereiten Leser, auch einem ohne entsprechende Vorbildung, vermag das schmale Buch in dieser Hinsicht eine erstaunliche Fülle von Lesefrüchten zu bieten.

Fazit: erfreulich

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Anaconda

F

kehlmann-1How Fiction Works

Auf «signifikant insignifikante» Einzelheiten komme es an, war Daniel Kehlmann überzeugt, nachdem er im Herbst 2008 in New York «How Fiction Works» von James Wood entdeckt hatte, laut Klappentext der deutschem Ausgabe ein Buch, das die Frage klären will: «Was unterscheidet einen guten Roman von einem schlechten». Der Originaltitel hat eine unübersetzbare Doppelbedeutung, lässt Kehlmann uns in seinem kurzen Vorwort zu diesem empfehlenswerten Sachbuch wissen, er bedeute nämlich auch «was eine Geschichte mit uns anstellt». Mit mir, das sei vorweg gesagt, hat «F» nichts angestellt, da ist kein Funke übergesprungen, was mich im Nachhinein selbst am meisten überrascht.

All das nämlich, was Wood an Tipps und Tricks für Schriftsteller herausarbeitet in seinem Buch, hat der vielfach als Poetik-Dozent tätige Kehlmann geradezu exemplarisch umgesetzt in seinem neuen Roman. Und so krabbelt bei ihm denn auch prompt eine Ameise die Fuge des Straßenpflasters entlang, signifikant insignifikant eben, ein Detail, das mit der geschilderten Szene rein gar nichts zu tun hat, aber auf wundersame Weise für Atmosphäre sorgt. Sprachlich kann ihm kaum jemand das Wasser reichen von den deutschsprachigen Romanautoren unserer Tage, würde ich behaupten, er schreibt jedenfalls auf sehr hohem Niveau. Und kreativ ist er obendrein, in «F» finden sich diverse äußerst originelle Ideen, sowohl was seine Figuren anbelangt als auch den Plot und dessen dramaturgischen Aufbau.

Klerus, Kapital, Kunst – man hätte den Roman auch «K» nennen können statt «F», was sich übrigens von «Fatum» ableitet, wie gegen Ende erläutert wird, Schicksal also. Der an Thomas Manns «Mario und der Zauberer» erinnernden Einleitung folgen drei umfangreiche Kapitel, in denen jeweils einer von drei Brüdern als Protagonist im Mittelpunkt steht. Ein Pfarrer, welcher «der Vernunft nicht entkommen kann» und folgerichtig den Glauben verloren hat, ein betrügerischer Anlageberater unmittelbar vor dem Konkurs, den ausgerechnet die Finanzkrise dann vor dem Schlimmsten bewahrt, und ein schwuler Maler und Kunstkritiker, der mit Einverständnis seines Lebenspartners Bilder mit dessen Signatur malt und durch geschickte Manipulationen teuer verkauft. Alles Lug und Trug also, ein wahrlich pessimistisches Weltbild, vor dessen Hintergrund diese ungewöhnlich kunstvoll ineinander verschachtelten Geschichten erzählt werden. Die Klammer bildet dabei ein einziger Tag, dessen Geschehnisse aus den drei Perspektiven geschildert werden, es ist der 08.08.08. Bei solcherart Zahlenspielerei bleibt Kehlmanns Vorliebe für Effekte unübersehbar, es wimmelt übrigens geradezu von Derartigem in seinem Roman, so mancher begeisterter Leser hat das Buch deshalb mehrmals gelesen, um allen diesen Feinheiten und Anspielungen auf die Spur zu kommen. Lesespaß pur also, da hatte auch ich meine helle Freude dran.

Aber ist das alles nicht zuviel des Guten, frage ich mich trotzdem. «F» ist als Roman wie am Reißbrett konstruiert, perfekt durchdacht, sprachmächtig erzählt, mit witzigen Details angereichert, auch die Thematik ist interessant und hochaktuell obendrein. Bei aller literarischen Perfektion bleibt dieses Konstrukt aber seelenlos, es ist emotional tot, keinen Nachhall hinterlassend und schon gar keine Funken erzeugend. Ganz ähnlich ging es mir bei «Die Vermessung der Welt», auch dieser Bestseller war solch eine Kopfgeburt, aus der eigentlich genialen Idee hätte man deutlich mehr machen können. Und bei «F» nun wartet man nach den drei mitreißenden Hauptkapiteln gespannt auf das letzte – und wird wieder enttäuscht. Kein Unheil, kein gespenstischer Albtraum, wie der Klappentext ankündigt, die Geschichte läuft stiekum und ganz unspektakulär aus mit der Trauerfeier für den tot erklärten Kunstfälscher, dessen Schicksal im Dunkeln bleibt. Man hat den Eindruck, der Autor hatte einfach keine Zeit mehr oder keine Lust, einen adäquaten Schluss zu ersinnen für seinen ansonsten erfreulichen Roman.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Heller Zauber

kolbe-1Advocatus Diaboli einer städtischen Kultur

Als sechstes Thema einer München gewidmeten Buch- und Ausstellungsreihe unter dem Namen «Erkundungen» hat die Bayerische Rück 1987 ein lesenswertes Buch über Thomas Manns Münchner Jahre herausgegeben, die Zeit von 1894 bis 1933 behandelnd. Mit profundem literarischen Sachverstand werden jene knapp vierzig Jahre beschrieben, die der Nobelpreisträger in seiner bayerischen Wahlheimat zugebracht hat, die Hälfte seines Lebens immerhin. Wobei der Autor Jürgen Kolbe kritisch und distanziert zur Auseinandersetzung mit seinem Thema herausfordert, indem er alle Stimmen zu Worte kommen lässt, dadurch liebgewonnene Vorurteile über Thomas Mann und Klischees über München in Frage stellend und nicht selten auch entlarvend. Bei der Lektüre dieses informativen Buches wird einem schnell klar, dass der berühmte Schriftsteller als Nordlicht, in Lübeck geboren und aufgewachsen, in einer ausgesprochenen Hassliebe mit der bayerischen Metropole verbunden war, von der er sich am Ende jedoch nur unter dem Druck der politischen Umwälzungen, in letzter Minute gewissermaßen, loslösen konnte und musste.

Auf 425 Seiten werden in diesem großformatigen Sachbuch alle Aspekte der Münchner Jahre von Thomas Mann beleuchtet. Außerdem ergänzen hunderte von prächtigen Fotos, sowohl aus dem Umfeld des Dichters und vieler seiner Zeitgenossen als auch von München, ferner diverse Reproduktionen von Dokumenten aus dieser Zeit, in idealer Weise den Text. Sehr häufig lässt Jürgen Kolbe den Schriftsteller der berühmtesten deutschen Romane persönlich zu Wort kommen, zitiert häufig aus den reichlich vorhandenen Quellen dieses wie kaum ein Zweiter seiner Zunft in allen seinen Äußerungen und Schriften archivarisch verewigten Literaten. Durch wahrlich glückliche Umstände war es Thomas Mann nämlich gelungen, Tagebücher, Werknotizen, Entwürfe und anderes mehr noch aus München herauszuholen, als ihm die Rückkehr aus dem Ausland praktisch schon verwehrt war, ihm drohte damals, politisch nicht opportun wie er war, als erklärter Gegner der Nazis ganz konkret das Konzentrationslager Dachau.

Bei allen Verdiensten hatte dieser Mensch auch seine dunklen Seiten, war ein Sonderling in der Münchner Kulturszene, ein «Bürgerprinzchen» mit bourgeoisem Habitus, früh zu Ruhm gekommen durch die «Buddenbrooks», die Boheme Münchens vehement ablehnend, er hatte kaum richtige Freunde. Und so verbarg er, seine homosexuellen Neigungen strikt verleugnend, unter der Camouflage einer bürgerlichen Existenz mit Familie und sechs Kindern sein wahres Ich, dem er verschämt im «Tonio Kröger» und im «Tod in Venedig» dann literarisch eine Stimme gab. Ein vom deutschen Zoll abgefangenes Paket mit Tagebüchern und anderen intimen Notizen wäre ihm beinahe zum Verhängnis geworden, hätten die Nazis es in die Hände bekommen. Er war in heller Aufregung deswegen und hat diese brisanten Unterlagen später im amerikanischen Exil höchstpersönlich verbrannt. Fontanes Protagonistin «Effi Briest» hatte dies nicht getan, die Folgen sind bekannt!

Es wird noch vieles beleuchtet in diesem gelungenen Werk über Thomas Mann, seine politische Wandelung, sein Konflikt mit dem so ganz anders gearteten Bruder Heinrich, seine oft ins Penetrante gehende Lebensweise als Familienvater ebenso wie als Literat. Berthold Brecht hat ihn hämisch als Großschriftsteller tituliert, Bruder Heinrich sagte, er sei ein «Genie nur innerhalb der Geschäftszeiten», damit auf seine unumstößliche, büromäßig ablaufende, pedantische Arbeitsweise anspielend, die in der Literatenszene, jedenfalls soweit mir bekannt, ohne Beispiel ist. Aber sei’s drum, was dieser Autor geschaffen hat als Werk, ist allenfalls mit dem Goethes zu vergleichen, und so hat er sich auch selbst gesehen, auf Augenhöhe mit dem Dichtergenie. Für kleine Münze wird dieses prächtige Buch heute antiquarisch angeboten, der Gewinn für den aufnahmefähigen Leser ist demgegenüber nur als immens zu bezeichnen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Sachbuch
Illustrated by Siedler München

Die Liebe in groben Zügen

kirchhoff-1Nichts für faule Leser

Ein schwieriges Unterfangen, auf das sich Bodo Kirchhoff mit seinem gewichtigen Roman eingelassen hat, der Titel schon eine Untertreibung. Denn nicht in groben Zügen wird hier über die Liebe erzählt, das ewige Thema wird vielmehr in vielen Facetten sehr detailliert beschrieben, in unserer Zeit spielend, alles hochaktuell. Aber nicht nur die Liebe ist ein Thema, auch unsere Nöte mit dem Altwerden sind scharfsichtig geschildert, und das Sterben einer noch jungen, krebskranken Frau schließlich ist hier so eindringlich dargestellt, wie ich es noch nie erlebt habe in einem Buch. Der Autor ist ein sprachgewaltiger Erzähler, der manch Autobiografisches verarbeitet hat und dem man gerne folgt durch seine lange, ausführlich geschilderte Geschichte, denn der Weg ist das Ziel, und dieser Weg ist einfach immer wieder schön.

Protagonisten sind ein Ehepaar mittleren Alters mit erwachsener Tochter, beide beim Fernsehen tätig, durchaus wohl situiert mit großer Altbauwohnung in Frankfurt am Main, Haus am Gardasee, mit eigenem Boot natürlich, und auch der Jaguar V8 darf nicht fehlen. Man lebt also gut, immer nach dem Motto: Was lacostet die Welt, Geld spielt keine Rolex. Renz, einige Jahre älter als seine Frau, hat öfter Affären, und Vila ist auch kein Kind von Traurigkeit. Aber man findet sich immer wieder, hat sich fugenlos angepasst an den Partner, lebt fast schon symbiotisch miteinander. Bis beide einen Jüngeren kennenlernen, er eine agile Kollegin vom Fernsehen, sie einen vergeistigten ehemaligen Lehrer, der ein Buch über Franz von Assisi schreibt.

Der historische Stoff über Franz, ganz aktuell durch den neugewählten Papst, der bekanntlich dessen Namen angenommen hat, und die heilige Klara, 1958 von Papst Pius XII zur Schutzpatronin des Fernsehens (sic!) erklärt, dieser Stoff also bildet einen zweiten Handlungsstrang, der einen unüberbietbaren Gegensatz darstellt zu den Helden unseres Alltags. Köstlich zu lesen ist dazu Kirchhoffs beißende Gesellschaftskritik, Talkshow-Politiker, die gegen ihr fieses Gesicht anreden, ein Ministerpräsident und späterer Bundespräsident mit Schulsprecherhabitus, das absurde Völkchen der Fitnessstudios mit Porsche und Pulsmesser, und vieles andere mehr.

Das alles aber nur am Rande. Dieser Roman beleuchtet nüchtern, sachlich, klug und detailreich, aber auch feinfühlig und unterhaltsam die Liebe von den frühen Stadien der prickelnden Verliebtheit bis zur abgeklärten, wohligen Gemeinsamkeit zweier Partner, deren verborgene Bindungskräfte immer wieder obsiegen, allen Versuchungen zum Trotz. Die ewige Jagd nach dem berauschenden Liebesglück mit dem dazugehörigen tollen Sex, in unserer nimmersatten Gesellschaft kräftig angeheizt von den Medien, wird behutsam zwar, aber unerbittlich und zwingend als letztendlich unhaltbare Illusion vorgeführt. Jüngere werden das womöglich nicht akzeptieren wollen, Ältere werden eher verständnisvoll nicken, sich tatsächlich wiederfinden in dieser Beschreibung. Allen aber sei gesagt, dieser ausschweifende Gegenwartsroman ist nichts für faule Leser, eher für geschichtensüchtige Genießer.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Die 27ste Stadt

franzen-2Die uninteressante Natur war uninteressant

«Es stürmt zum Obdachlosenverrecken» – und ich bin froh, ein Buch aus der Hand legen zu können, das solche hirnrissigen Sätze enthält. Für diesen und manchen anderen sprachlichen Lapsus mag der Übersetzer verantwortlich sein, für den miserablen, total misslungenen Roman ist Jonathan Franzen allein verantwortlich. Sein Erstling von 1988 ist das Schlechteste zwischen zwei Buchdeckeln, was mir seit vielen Jahren in die Hände gekommen ist, und das war nicht wenig!

Interessant ist genau genommen eigentlich nur die Frage, warum dieser Roman fast unisono so verrissen wird! Sind wir alle, die wir dieses Buch als grottenschlecht bezeichnen, dem Autor auf den Leim gegangen? Ist das Ganze einfach nur surrealistisch? Oder ist es etwa ironisch gemeint, eine Satire, und wir haben es nicht gemerkt, haben Hinweise darauf übersehen? – Natürlich nicht! Er meint es ernst, der Autor!

Für mich das größte Ärgernis ist der absolut unglaubwürdige Plot, eine wahrlich aberwitzige Konstruktion. Eine junge Inderin wird Polizeichefin in St. Louis (sic!) und zettelt eine Verschwörung an, deren letztendliches Ziel ebenso rätselhaft wie ominös bleibt. Ihren hartnäckigsten Widersacher bekämpft sie, indem sie sein Familienglück komplett zerstört und ihn damit zermürbt. Sie scheitert aber am Ende, weil das Referendum über die von ihr betriebene Fusion von Stadt und Landkreis grandios misslingt. Was soll das alles, fragt man sich erstaunt, denn man wird derartig mit erzählerischen Details zugemüllt, dass man schnell jeden Überblick und erst recht jedes Interesse verliert. Franzen spinnt in seiner naiven Gut-Böse-Sicht immer wieder neue Erzählfäden, die irrationale Handlung mäandert noch üppiger als das Mississippi-Delta, und als Krönung baut er auch noch unlogische und völlig überzogene Thrillerelemente mit ein. Seine in Regimentsstärke aufmarschierenden, meist unsympathischen Protagonisten sind widersprüchliche Figuren, deren Absichten undurchschaubar bleiben.

Auch sprachlich ist der mit 670 Seiten recht dickleibige, geschwätzige US-Roman ein einziges Fiasko. «Die uninteressante Natur war uninteressant» erfahren wir verdutzten Leser vom tiefsinnigen Autor, wie gut, dass fünf Seiten später Franzen endlich fertig war mit seiner unsäglichen Geschichte!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Fänger im Roggen

salinger-1Null Bock

Es gibt nicht viele Schriftsteller, deren Ruhm sich praktisch auf einen einzigen Roman gründet wie bei Jerome David Salinger mit seinem 1954 erschienenen Klassiker «Der Fänger im Roggen». Nicht nur dass unzählige Schüler und Studenten sich damals mit dem Buch als Pflichtlektüre befasst haben, das Jahrzehnt des Erscheinens seines einzigen Romans wurde in der US-amerikanischen Literaturgeschichte sogar häufig als «Ära Salinger» bezeichnet. Der ungemein erfolgreiche Roman hat die Leserschaft damals schon polarisiert, und er tut es heute immer noch. Was keineswegs gegen ihn spricht, wie ich meine.

Holden gehört nicht zu den Romanhelden, die man sympathisch finden oder mit denen man sich identifizieren könnte als Leser. Als 16-Jähriger hat er Probleme mit dem Erwachsenwerden, verweigert jegliche Leistung, die unabdingbar scheint auf dem Weg ins Leben. Und damit in eine Welt; die er zutiefst verachtet, weil er sie als verlogen durchschaut hat. Wegen seiner Null-Bock-Haltung fliegt er aus dem College und durchlebt eine traumatische Odyssee auf dem Weg nach Hause. Anders als Goethes Werther verzweifelt er an der Gesellschaft, sucht den alternativen Lebensentwurf. Erst spät wird ihm klar, dass er vom einfachen Leben träumt, in einer einsamen Blockhütte mit Frau und Kindern.

In diesem Szenario bewegt sich der nur drei Tage umfassende, einsträngig erzählte Plot, dessen Ich-Erzähler einerseits merkwürdig reif und altklug wirkt, der aber durchaus auch noch kindlich erscheint, insbesondere was seine Sprache anbelangt. An der scheiden sich nämlich die Geister, besser gesagt die Leser, es ist ein unflätiger Slang, der gleich mehrere Probleme aufwirft. Erstens ist so etwas immer schwer zu übersetzen, auch ist der Jugendjargon vor sechzig Jahren ein anderer gewesen als heute, und außerdem besteht generell eine Krux darin, dass die Generationen sich zuweilen auch sprachlich fremd sind. Eine im aktuellen Argot geschriebene Geschichte dürfte auf viele Leser genau so abstoßend wirken, mir fällt da als Beispiel spontan «Axolotl Roadkill» von Helene Hegemann ein. In vielen Rückblenden, oft als Bewusstseinsstrom erzählt, breitet Salinger das Leben seines Helden vor uns aus, er beginnt mit dem Satz: «Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr’s genau wissen wollt». Zu diesem sprachlichen Duktus gesellt sich ein köstlicher, unterschwelliger Humor, so wenn Holden zum Beispiel von seiner Großmutter schreibt: «… sie schickt mir ungefähr viermal im Jahr Geld zum Geburtstag». Oder er sinniert darüber, dass er sich eine Lungenentzündung holen könnte und daran stirbt. «Dann überlegte ich, wie diese ganze Blase mich in einen verfluchten Friedhof steckte und so, mit meinen Namen auf dem Grabstein und so. Um mich rum lauter tote Typen. […] Und dann kommen am Sonntag Leute und legen einem einen Strauß Blumen auf den Bauch und den ganzen Mist. Wer will schon Blumen, wenn er tot ist? Keiner». Er spricht häufig den Leser auch direkt an, so wenn er von seinem früh verstorbenen Bruder erzählt: «Ihr habt ihn ja nicht gekannt».

Die Gedichtzeile von Robert Burns «Wenn einer einen trifft, der durch den Roggen kommt» hat Holden falsch verstanden und «trifft» durch «fängt» ersetzt, in seiner Phantasie sieht er sich nämlich, wie er kleine Kinder fängt, die im Roggenfeld herumlaufen und eine Klippe hinunter zu stürzen drohen. Und auch er fällt letztendlich nicht, er ist geläutert durch seine kleine Schwester, die er innig liebt, die er beschützen will. Genau dies ist das Motiv, das im kryptischen Titel dieses berühmten, aber auch schwierigen Romans anklingt, der zu vielfältigen Interpretationen einlädt über Generationen- und Gesellschaftskonflikte wie auch über sexuelle, moralische und psychologische Aspekte.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Essais

montaigne-1Que sais-je?

Die skeptische Devise «Was weiß ich?» verdeutlicht den offenen Denkstil des französischen Schriftstellers und Philosophen Michel de Montaigne, der niemand anderen als sich selbst in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt in seinen berühmten «Essais», die 1580 zum ersten Mal herausgegeben wurden. Als Vierzigjähriger hatte er sich von allen seinen Ämtern zurückgezogen, um völlig unbelastet von Alltagsdingen und in Muße in seiner Bibliothek im Turmzimmer des Schlosses Montaigne mit der Niederschrift seiner Gedanken zu beginnen. Er hat damit eine neue literarische Gattung begründet, wobei er als philosophischer Laie seine Essays thematisch ohne erkennbare Ordnung in drei Büchern einfach aneinandergereiht hat. Lohnt sich diese Lektüre für den heutigen Leser?

Montaigne selbst befürchtet für sein Buch, «dass ganz ungebildete und interesselose Menschen keinen rechten Geschmack daran finden würden, ebenso wenig aber auch hervorragend und ganz fein gebildete Geister». Nur wer zur Mitte gehöre, der könne Nutzen aus der Lektüre ziehen, und genau das möchte ich als Leser ihm gerne bestätigen. Durch seine moralphilosophischen Erkenntnisse hat der recht liberal denkende Montaigne die Aufklärung wesentlich mit beeinflusst und ist zum Begründer der Moralistik geworden. Wenn diese Gedanken nach so langer Zeit für den heutigen Menschen noch immer relevant sind und nur Weniges davon überholt ist, spricht das für die Größe dieses hochgeachteten Mannes.

Die «Essais» sind gespickt mit Zitaten verschiedenster Autoren wie Seneca, Horaz, Plutarch, Sokrates und Lukrez, die Montaigne bewusst im Original nicht kenntlich gemacht hat, weil er, wie er verschmitzt schreibt, damit seinen Kritikern jede Menge Fallen stellen wollte. Denn nun wisse keiner mehr so genau, wen er bei einer bestimmten Textstelle kritisiere, es könnten ja auch Worte der großen Denker des Altertums sein und nicht die des Herrn de Montaigne. In der von Arthur Franz in ein hervorragendes Deutsch übertragenen und mustergültig gestalteten und eingeleiteten Reclam-Ausgabe ist nur etwa ein Fünftel des Originals enthalten, insgesamt sechzig Essays, und diese Reduzierung auf das Wesentliche erweist sich für den Normalleser ohne wissenschaftliches Interesse als äußerst segensreich.

Das daraus resultierende Lesevergnügen speist sich auch durch den Humor und die immer wieder sehr kritischen Selbstbetrachtungen von Montaigne. «Ich kann den Beischlaf nur vor der Nachtruhe und nicht im Stehen ausüben» erklärt er unverblümt in einer umfangreichen Aufzählung aller Dinge, die er nicht tun kann. Den deutschen Kachelofen, den er in Augsburg zum ersten Mal sieht, vergleicht er erstaunt und bewundernd mit den offenen Feuerstellen, wie sie in Frankreich üblich waren. Ein sympathischer Alltagsphilosoph, könnte man sagen, der durch die unglaubliche Fülle seiner aus immer wieder neuen Blickwinkeln behandelten Themen jede Menge Baumaterial liefert, ohne jedoch ein eigenes Gedankengebäude daraus zu errichten.

Der Tod und das Sterben nehmen einen sehr breiten Raum ein in Montaignes Betrachtungen, weshalb man ihn zuweilen dem Skeptizismus zurechnet. Heilserwartungen hatte er allerdings keine, Körper und Geist sind für ihn untrennbar, das heißt der Geist stirbt mit dem Körper. Seine Gedanken aber, – und damit sein Geist? – sind mehr als vierhundert Jahre nach seinem Tode immer noch sehr lebendig.

Fazit: erfreulich

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Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Die Uhrwerk-Orange

burgess-1Eine fragwürdige Konditionierung

Der Roman mit dem kryptischen Titel «Die Uhrwerk-Orange» von Anthony Burgess ist der große Wurf im umfangreichen Œuvre des englischen Autors, sehr zu dessen Bedauern. Er wolle nicht auf dieses eine Werk reduziert werden, erklärte der Schriftsteller. An dieser Dominanz hat allerdings auch Stanley Kubricks gleichnamige Verfilmung einen nicht unerheblichen Anteil. Ähnlich, nicht ganz so ausgeprägt, ist es übrigens auch Thomas Mann mit seinen «Buddenbrooks» ergangen, in beiden Fällen hat das entscheidende große Werk seinen Autoren allerdings einen ansehnlichen Wohlstand beschert, vom Ruhm ganz abgesehen. So what! Im Original 1962 erschienen, ist dieser Roman zeitlich in einer nahen Zukunft angesiedelt, in einer unguten allerdings, muss man hinzufügen. Sein Thema ist die Frage nach dem Guten und dem Bösen, eine rein moralisches Problem, nur den Menschen betreffend, die Natur kennt derartige Kategorien bekanntlich nicht. Kann man den im tiefsten Inneren einschlägig vorgeprägten Menschen ändern?

Burgess erzählt in seinem dreiteilig aufgebauten Roman von einer Jugendbande, deren ungebremste kriminelle Energie sich in brutalen Raubüberfällen, Vergewaltigungen und blinder Zerstörungswut entlädt. Als Alex, sechzehnjähriger Anführer der vierköpfigen Gang, beim Überfall auf eine alte Frau, die er dabei tötet, von der Polizei gefasst wird, landet er für vierzehn Jahre im Gefängnis. Zwei Jahre später nimmt er dort als Versuchsperson an einem neuartigen Programm zur Resozialisierung teil. Man spritzt ihm ein Medikament, schließt ihn an diverse Sonden an und führt ihm vierzehn Tage lang täglich mehrere Stunden Film mit schlimmen Gewaltexzessen vor. Dabei ist er auf einem Stuhl fixiert und kann auch die Augen nicht schließen, wird also unerbittlich gezwungen, zuzusehen bei all den Gräueln. Sehr bald schon wird ihm schlecht, ohne dass er sich erbrechen kann, wenn er auch nur an Gewalt denkt, man entlässt ihn deshalb als nicht mehr gefährlich in die Freiheit. Dort wird er selbst Opfer von Gewalt, wird für politische Auseinandersetzungen instrumentiert, begeht einen Selbstmordversuch und liebäugelt am Ende gar, endgültig domestiziert, mit einer bürgerlichen Existenz, denkt an Frau und Kinder.

Als Ich-Erzähler benutzt Alex, der begeisterter Hörer von Klassik ist, besonders von Beethovens Sinfonien, einen Jugendslang, die von Burgess speziell für diesen Roman konstruierte Sprache Nadsat, die auf dem Russischen basiert. Mit diesem Jargon soll einerseits die futuristische Szenerie verdeutlicht, andererseits aber auch eine gewisse Distanz zum diabolischen Geschehen hergestellt werden. Und so sieht man sich denn mit Kunstwörtern wie Droog, Tollschock, Slowo, Velozet, Sabok, Petieze, Tschelljuffjek; Nosch; Britwa; Spatschka; Mesto, Dewotschka, Maltschick und vielen anderen konfrontiert, – mit unterschiedlichen Auswirkungen auf das Lesevergnügen allerdings, abhängig vom Naturell des verblüfften Lesers. Die Zukunftsperspektive, die uns Burgess 1962 ausmalte, ist aus heutiger Sicht nicht ganz abwegig, sinnlose Gewalt in Form des Terrorismus ist ja Thema Nummer Eins in den Medien. Und führt wie im Roman zu No-go-Areas in bestimmten städtischen Quartieren, verschämt soziale Brennpunkte genannt, in die sich selbst die Polizei nicht mehr hineintraut.

Die Stärke dieses Romans ist zweifellos seine philosophische Thematik, die Frage nämlich, ob laut dem Dogma von der Erbsünde der Mensch von Natur aus schlecht sei, das Gute also eine Konditionierung ist, oder aber, dem Mönch Pelagius folgend, ob der Mensch als Gottes Geschöpf selbstverständlich gut sein müsse, sonst wäre ja ein Teil der Schöpfung böse. Der intelligente Alex jedenfalls ist zu keiner Empathie fähig, ist seelisch allenfalls über seine Musik erreichbar, ihm fehlt jedes Unrechtsbewusstsein. Die Konditionierung, die er erfährt im Roman, ist fragwürdig, gleichwohl wird man diese Figur lange im Kopf behalten als Leser, und die aufgeworfenen Fragen ebenfalls.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Der talentierte Mr. Ripley

highsmith-1Wenn das Böse obsiegt

«Ich schreibe keine Kriminalromane» hat Patricia Highsmith kurz vor ihrem Tode gesagt, und so ist denn auch der 1955 erschienene Roman «Der talentierte Mr. Ripley» eher eine psychologische Studie. Der in nur sechs Monaten «wie von selbst» geschriebene Roman wurde 1960 erstmals verfilmt und 1961 unter dem Titel «Nur die Sonne war Zeuge» auch auf Deutsch herausgebracht, sein Erfolg führte später in größeren Abständen zu vier weiteren Romanen um den Helden Tom Ripley. Der letzte erschien 1991, in diesem Jahr stand Highsmith dann auch auf der Vorschlagsliste für den Nobelpreis. Die zweite Hälfte ihres Lebens in verschiedenen Ländern Europas lebend, war die amerikanische Autorin mit ihren insgesamt 22 Romanen und einer großen Anzahl anderer Werke in den USA weniger erfolgreich als in ihrer Wahlheimat. Ein wesentlicher Einfluss auf ihr Werk ist einem populärwissenschaftlichen Buch über Psychiatrie zuzuschreiben, das sie unter den Büchern der Eltern fand: « Es waren Fallgeschichten – Kleptomanen, Pyromanen, Serienmörder – praktisch alles, was mental falsch laufen konnte. […] Ich merkte, dass diese Leute äußerlich völlig normal aussahen und realisierte, dass ich von solchen Menschen umgeben sein könnte.» Das erklärt, warum im Mittelpunkt ihrer Romane nicht die Frage nach dem Täter steht, sondern nach seinem Motiv, nach versteckten Beweggründen für seine Tat und den äußeren Begleitumständen.

Tom Ripley, ein in prekären Verhältnissen lebender 25jähriger Mann, befreit sich durch zwei Morde und viel Talent aus seinem drögen Dasein. Er steht als Täter von vornherein fest, der Roman ist komplett aus seiner Perspektive erzählt, das Warum also steht im Vordergrund. Die Autorin befasst sich vornehmlich mit der Frage, was in ihm vorgeht, welche kriminelle Energie da offensichtlich ungebremst wirksam wird, allen Moralgesetzen, dem Freudschen Über-Ich, zum Trotz. Was macht einen bisher allenfalls kleinkriminellen Durchschnittsmenschen zum zweifachen Mörder, und wie gelingt es ihm innerlich, damit umzugehen?

Die Handlung ist in wenigen Worten erzählt: Tom reist im Auftrag des reichen Vaters seines ehemaligen Schulfreundes Richard Greenleave nach Italien. Der einzige Sohn des Werftbesitzers, mit monatlichen Schecks aus eigenem Vermögen bestens versorgt, dilettiert dort als Maler und führt ein bohemeartiges Leben. Tom soll ihn zu Rückkehr in die USA bewegen. Als das zu scheitern droht, bringt Tom kurz entschlossen Richard um, lässt die Leiche verschwinden, nimmt chamäleonartig dessen Identität an und beschließt, ab sofort ein schönes Leben zu führen, sich in anderen Kreisen zu bewegen. Als ein Freund ihm auf die Schliche zu kommen droht, wird auch der umgebracht. Was folgt ist ein trickreiches Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei, mit Richards Freundin Marge, dem Vater und Freunden von Richard.

Highsmith hat einen aberwitzigen, aber jederzeit nachvollziehbaren Plot konstruiert, der zu erheblichen Teilen als Bewusstseinsstrom erzählt wird, ein Stilmittel, mit dem sie Toms psychologisch interessante Beweggründe, samt Rechtfertigung jenseits aller Moral, meisterhaft herausarbeitet. Äußerst kunstvoll ist hier ein kriminalistisches Labyrinth angelegt, in dem der ebenso talentierte wie reuelose Held sich scheinbar mühelos bewegt, den Verfolgern immer einen entscheidenden Schritt voraus. Die Geschichte ist in einfacher, flüssig lesbarer Sprache geschrieben und entwickelt einen Sog, der den Leser mitreißt bis zum unkonventionellen Ende. En passant wird das Lesen auch zu einer Reise durch Italien, das Lokalkolorit ist jedenfalls treffend eingefangen, wahrlich geeignet mithin, Sehnsucht nach Bella Italia zu erzeugen. Der Mut der Autorin, sich auf die Seite des Bösen zu stellen, zumindest dessen Perspektive einzunehmen, ist lobenswert, weil unüblich. Und verblüffend ist, wie die Autorin es sogar fertig bringt, den braven Leser auf die Seite des amoralischen Protagonisten zu ziehen. Steckt ein wenig von ihm in uns allen?

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Das Geheimnis des Luca

silone-1Vierzig Jahre Schweigen

Unter dem Pseudonym Ignazio Silone hat der italienische Politiker und Autor Secondino Tranquilli ein relativ kleines Œeuvre geschaffen, wobei einige seiner Werke eine liebevolle Hommage an seine Heimat in der Provinz L’Aquila der Region Abruzzen darstellen. Und dazu gehört zweifellos auch der Roman «Das Geheimnis des Luca», ein bedeutendes Werk der italienischen Literatur, das im Jahre 1956 im Original erstmals erschien, ein Jahr später dann schon in deutscher Übersetzung vorlag und den Autor auch hier bekannt machte.

Silone hatte ein bewegtes politisches Leben in verschiedensten Funktionen, er war für die Sozialisten und eine Zeit lang auch für die Kommunisten Italiens vor allem journalistisch tätig. Wegen seiner politischen Gesinnung wurde er mehrmals interniert und musste während der Zeit des Faschismus dann ins Schweizer Exil gehen. Als Mitglied des Komintern für die Kommunistische Partei Italiens erlebte er aus nächster Nähe den Aufstieg Stalins zum verabscheuungswürdigen Diktator, eine Erfahrung, die ihn mit dem Kommunismus brechen ließ, er trat aus der Partei aus und wandte sich wieder den Sozialisten zu. Seine politische Orientierung ist Ergebnis seiner Erfahrungen in der Jugend, das Leben in einer kargen, rauen Bergregion, die ihre Bewohner in besonderer Weise prägt. Schon als Fünfzehnjähriger verlor er seine Mutter und fünf Geschwister bei einem schweren Erdbeben, kämpfte mit den Landarbeitern gegen die feudalen Großgrundbesitzer und engagierte sich beim Protest gegen die Tatenlosigkeit der Politiker bei der Aufarbeitung der Erdbebenschäden. Ein Unvermögen übrigens, an dem sich auch Jahrzehnte später rein gar nichts geändert hat, wie jeder erstaunt feststellen wird, der nach dem Erdbeben vor fünf Jahren die besonders stark betroffene Stadt L’Aquila heute mal besucht.

Der vorliegende Roman erinnert mit seiner scheinbar zeitlosen, ebenso weltentrückten wie unbeirrbaren Liebesbindung an Gabriel Garcia Marquez, nur dass Florentino dort nach fast lebenslanger Wartezeit am Ende seine Hermina doch noch bekommen hat in dem berühmten Roman «Die Liebe in den Zeiten der Cholera». Solch ein spätes Happyend ist Luca aber nicht beschieden, so viel kann hier gesagt werden, ohne der Geschichte, die allein mit dem Wort «Geheimnis» im Titel ja schon neugierig macht, ihre Spannung zu nehmen. Denn man ahnt gleich zu Beginn, als ein alter Mann nach vierzig Jahren, die er unschuldig im Zuchthaus verbracht hat, in sein Heimatdorf in den Abruzzen zurückkehrt, dass hinter den vielen Rätseln eine Frau stecken dürfte. Luca wird von fast allen Dorfbewohnern argwöhnisch beäugt und gemieden, nur der alte Pfarrer Don Serafino und der ehemalige Dorflehrer Andrea Cipriani, der vom Schuldienst in die Politik übergewechselt ist, halten zu ihm. Letzterer ist es dann auch, dem das Geheimnis keine Ruhe lässt, ganz besonders nämlich treibt ihn die Frage um, warum Luca sich im Prozess einst nicht verteidigt hat und ihm auch jetzt, nach seiner Begnadigung, immer noch kein Sterbenswörtchen zu entlocken ist. Denn dass er den ihm zur Last gelegten Raubmord nicht begangen hat, ist inzwischen längst belegt, mehr will ich aber hier nicht verraten.

Der Reiz dieses Romans liegt in der klug erdachten, spannenden Geschichte, die der Autor ruhig und gelassen erzählt, ohne jede dramatische Effekthascherei, die karge Landschaft gibt also auch sprachlich die Richtung vor. Alle Figuren sind sehr liebevoll gezeichnet, sie wirken glaubwürdig und oft auch sympathisch, besonders in den vielen, durchweg lebensechten Dialogen, die den Leser häufig mal schmunzeln lassen. Eine solch angenehme, in schnörkelloser Sprache verfasste Lektüre legt man ungern zur Seite, ehe man nicht den letzten Satz gelesen hat, ehe nicht alles geklärt ist in dieser emotional anrührenden Geschichte.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Carambole

steiner-1Ein Roman mit Zugabe

«Die Idee eines Textes, der ästhetisch innovativ ist und ein kleines Stück Menschheitsgeschichte darstellt» ist für den Schweizer Autor Jens Steiner Grund des literarischen Schreibens, wie man auf seiner Homepage nachlesen kann. Beides findet sich in diesem neuen, seinem zweiten Roman, der soeben in seiner Heimat den Buchpreis 2013 gewonnen hat, von der Jury in der Laudatio als ein Werk « von großer poetischer Kraft« gewürdigt. Mich hat der artifizielle Sprachstil dieses eigenwilligen Romans, der aus zwölf nur vage ineinander verwobenen, episodenhaften Erzählungen besteht, unwillkürlich an Franz Kafka erinnert, weniger unheilschwanger und bedrückend zwar, aber ähnlich absurd und unergründlich.

Das in Indien und umgebenden Ländern als Volkssport betriebene Brettspiel Carrom wird in der Schweiz Carambole genannt, eine Art Fingerbillard für zwei oder vier Personen, das für diesen Roman nicht nur als bedeutungsschwerer Titel dient, sondern auch im Untertitel seine Spuren hinterlassen hat, «Ein Roman in zwölf Runden». Eigentliche Hauptfigur ist die in Lethargie versunkene Dorfgemeinschaft eines namenlos bleibenden Ortes, dessen Seele zu ergründen Ziel dieser Geschichte ist. Aus der Einwohnerschaft rekrutiert sich eine Vielzahl von Protagonisten, jeder für sich Teil eines Puzzles, dessen Lösung sich als nicht gerade einfach erweist. Mitdenken ist also angesagt bei dieser insoweit schwierigen Lektüre, die in einer allerdings klaren und unkomplizierten Sprache geschrieben ist, nicht unbedingt selbstverständlich ja bei jungen und kreativen Romanciers. Wir erfahren von teils tragischen Lebensgeschichten, von schuld- und schamvoll verborgenen Geheimnissen, von wichtigen und nichtigen Erlebnissen der Figuren, das alles berichtet in personaler Erzählform und aus ständig wechselnden Perspektiven. Verzweiflung und Verlorenheit allenthalben, die Figuren sind äußeren Kräften ausgeliefert, werden herumgeschubst wie die runden Steine bei titelgebenden Brettspiel, einem unergründlichen Plan folgend, der innerhalb weniger Tage vor einem nicht näher definierten zeitlichen Hintergrund abläuft, in dem Handy und Computer noch nicht vorkommen.

Die zwölf mit kurzen Titeln versehenen Kapitel, jedes eine separate Story, in der gelegentlich schon bekannte Protagonisten erneut auftauchen, haben ihre eigene Thematik, sie reihen sich zunächst ohne erkennbare Bezüge aneinander. Man begegnet darin Figuren wie den drei Schülern, auf die die Leere der Sommerferien zukommt. Da ist der Außenseiter Schorsch, nach dessen Tod festgestellt wird, dass er sich von Katzenfutter ernährt hat, da ist der Rollstuhlfahrer am Fenster, der mit gleich drei Fernrohren und zwei Spiegeln das Dorfleben beobachtet, zwei Söhne sind sich spinnefeind wegen des Streits um das Erbe des Vaters, es gibt viele andere skurrile Typen mehr. Die Stimmung bei allen Geschichten ist melancholisch, regelrecht düster, lähmend und deprimierend, es ist wahrlich unerfreulich, was man da liest.

«Er suchte im Gedächtnis nach einem frohen Gedanken» heißt es mal im Text. Ich fand den frohen Gedanken in diesem Roman nur im siebten Kapitel. Da trifft sich eine Troika aus drei Männern zum Carambole, jeder genießt seinen ganz speziellen Lieblingsdrink, man spricht über Antonio Gramsci und Epiktet. «Freut euch eurer Torheit, denn dahinter wartet das Unglück. Und hinter dem Unglück kommt nichts mehr», heißt es an einer Stelle. Hinter den zwölf Kapiteln kommt für den interessierten Leser dann doch noch was, eine erfreuliche Zugabe nämlich. Er findet, so er sucht, auf der Homepage des Autors ein nettes dreizehntes Kapitel, das geeignet ist, zumindest auf elektronischem Wege die Lektüre als weniger bedrückend ausklingen zu lassen. Man muss allerdings das Passwort kennen, also aufmerksam die zwölf papiernen Kapitel gelesen haben!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Bugatti taucht auf

loher-1Lektüre mit Bonus

Wer je die herrlichen Oldtimer der Collection Schlumpf in Mühlhausen gesehen hat, dürfte die Erregung nachvollziehen können, die der Name Bugatti bei mir auslöst als geradezu idealtypische Verkörperung anekdotenreicher Automobilgeschichte. Die aufsehenerregende Bergung des mysteriösen Autowracks im Lago Maggiore vor Ascona, die diesem Buch seinen Titel gab, ging seinerzeit durch alle Medien. Nachdem die erfolgreiche Dramatikerin Dea Loher mit ihrem Debütroman gleich auf der Longlist des Deutschen Buchpreises aufgetaucht ist, ähnlich spektakulär wie das 75 Jahre alte Bugattiwrack auf dem Umschlagbild, war die Lektüre vollends unaufschiebbar geworden für mich.

Realer Hintergrund des Romans ist neben der Bergung der sinnlose Totschlag eines jungen Mannes während der Fasnacht in Ascona. Die Autorin erzählt ihre klar gegliederte Geschichte chronologisch korrekt in drei Abschnitten, die sich sowohl vom Umfang als auch vom Schreibstil her deutlich unterscheiden. In dem für mich schwächsten und Gott sei Dank kurzen ersten Abschnitt gewährt sie in tagebuchartiger Form einen Einblick in die depressiven Nöte des Bruders von Ettore Bugatti, die im Selbstmord enden. Dem Roman würde nichts fehlen, hätte die Autorin diese 25 Buchseiten einfach weggelassen, sie tragen rein gar nichts bei zu ihrer ansonsten klug geformten Geschichte.

Der zweite Abschnitt ist mit „Der Mord“ betitelt. In neun Kapiteln sauber gegliedert ist der Autorin die minutiöse Schilderung der Vorgeschichte und der unfassbaren Umstände einer verhängnisvollen tödlichen Prügelei meisterhaft gelungen, das ist spannend zu lesen wie ein Krimi. Besonders die im Futur abgefassten, die Gerichtsverhandlung vorwegnehmenden Aussagen der reuelosen Schläger sind beklemmend, man ist entsetzt und völlig sprachlos. Nicht minder gut gelungen ist der dritte Abschnitt über die Bergung des Bugatti, und hier nun laufen die Fäden zusammen, die Hebung des Wracks erfolgt zum Gedenken an das Opfer. Jordi, der unerschütterliche Protagonist dieses mehr als die Hälfte des Romans umfassenden Abschnittes, will mit seiner zunächst aussichtslos erscheinenden Aktion dem geschehenen Bösen das Gute entgegensetzen als Signal, will der Tragödie wenigstens nachträglich etwas nehmen von ihrer Sinnlosigkeit.

Auch wenn ich meinen ganz persönlichen Bugatti-Bonus abziehe ist der klug aufgebaute Roman eine lesenswerte, anschaulich geschriebene und mit ihren vielen sorgfältig recherchierten Details durchaus bereichernde Lektüre, die seine Leser angenehm unterhält.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

Das Treffen in Telgte

grass-2Gestern wird sein, was morgen gewesen ist.

Mit diesem Satz beginnt die Erzählung, ein vergnüglicher Beitrag zur Schlüsselliteratur, obwohl der Klappentext das strikt verneint. Auch wenn «Das Treffen in Telgte» nicht gerade zu den erfolgreichen Büchern von Günter Grass gehört, sagt das ja bekanntlich nichts über literarische Qualitäten aus. Schon das von ihm selbst gezeichnete Titelbild einer Hand, die eine Schreibfeder hält, weist treffend auf die Thematik hin, es geht um die Dichtkunst in Zeiten, als man dazu noch Federkiel und Tinte brauchte. Ein Jahr vor den sehnlich herbei gewünschten Friedensschlüssen von Münster und Osnabrück, die den Dreißigjährigen Krieg beenden werden, im Jahre 1647 also, lädt Simon Dach, ein Königsberger Dichter, eine Reihe von Kollegen zu einem Treffen ein, an dem auch einiger ihrer Verleger teilnehmen. Das Buch ist erklärtermaßen eine Hommage an Hans Werner Richter, Grass hat es dem Gründer und Spiritus Rector der Gruppe 47 gewidmet. Er selbst war ja ein prominentes Mitglied und hat mit einer Lesung aus «Die Blechtrommel» in diesem Kreis seinen künstlerischen Durchbruch erlebt, ihm wurde der «Preis der Gruppe 47» verliehen, ein literarischer Ritterschlag zu jener Zeit.

Kurzerhand lässt Grass in seiner humorigen Erzählung eine ähnliche Zusammenkunft einfach dreihundert Jahre früher stattfinden, als Vorläufer quasi, bei der sich eine erlauchte Schar von barocken Wortsetzern in Telgte trifft, ganz in der Nähe vom Ort der Friedensverhandlungen im westfälischen Münster. Ein Ausweichquartier, nachdem der ursprünglich geplante Tagungsort von den Schweden in Beschlag genommen ist. Christoffel Gelnhausen, rotbärtiger und blattergesichtiger Führer eines Kommandos kaiserlicher Reiter und Musketiere, bietet uneigennützig seine Dienste an und vertreibt mit einer frechen Lüge in einer Nacht- und Nebelaktion sämtliche im Gasthaus einquartierten Gäste.

Die folgenden Tage sind nun ausgefüllt mit Lesungen der mehr als zwanzig anwesenden Poeten, die ganz im Stil der Gruppe 47 in anschließenden Diskussionen die Texte bewerten. Erzählt wird all das von einem namenlos bleibenden Ich-Erzähler, der selbst nicht in das Geschehen eingreift, sich lediglich als Chronist eines wichtigen Ereignisses sieht. Ausgiebig wird von den besorgten Dichtern auch das politische Chaos jener Zeit diskutiert und die Verwüstungen ganzer Landstriche als Folge der jahrzehntelangen Kampfhandlungen beklagt. Trotzig sieht man Sprache und Literatur als über den weltlichen Niederungen stehende, autonome Instanz von bleibendem Wert, erhaben in ihrer geistigen Fülle, dem Zeitlauf im besten Fall auf ewig entrückt. Von dieser Warte aus will man einen gemeinsamen Friedensaufruf formulieren, was erst nach langwierigen redaktionellen Überarbeitungen gelingt.

Günter Grass hat seine herrliche Geschichte in einer geradezu barocken Sprache verfasst, die einerseits seine fundierten Kenntnisse der Literatur aus jener Zeit belegt, andererseits aber auch unübersehbar ironisch wirkt durch einen ausgeprägt rhetorischen Stil, der ohne direkte Rede auskommt. Insoweit ist diese Erzählung keine leichte Lektüre, vor allem dann, wenn zitiert wird in einem damals noch keinen Duden-Regeln unterworfenem «Teutsch». Im umfangreichen Anhang sind weitere Texte der versammelten Poeten abgedruckt, die ihrerseits Zeugnis davon abgeben, in welchen mundartlichen Färbungen die gedruckte deutsche Sprache zu jener Zeit verbreitet wurde. Wer auch nur ein bisschen Geduld aufbringt, sich da einzulesen, wird zusätzlich belohnt, kommt vielleicht sogar auf den Geschmack und liest der «Simplicissimus» von Grimmelshausen, den Grass als Christoffel Gelnhausen listenreich ebenfalls in seine sehr wohl verschlüsselte Geschichte eingebaut hat, in der man auch so manchen seiner Weggenossen wiedererkennen kann.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Betrug

karasek-1Così fan tutte

Was sich hinter dem Buchtitel «Betrug» verbirgt ist ein uraltes Menschheitsthema, nichts Kriminelles, dem sich Autor Hellmuth Karasek da mutig stellt, wohl weil er als Literaturkenner über die Probleme zwischen Mann und Frau bestens Bescheid zu wissen glaubt. Liebe sei, erfährt man in seinem Roman, schließlich das Thema Nummer eins in der Literatur. Hier nun steht das gestörte Liebesverhältnis im Mittelpunkt, es ist der Betrug des Partners und seine Folgen, denen er sich widmet. Der Autor wendet sich dabei auch den wirtschaftlichen Folgen des Betrugs zu, bezieht den finanziellen Niedergang seines Protagonisten und die letztendlich materiellen Motive seiner Geliebten mit in seine Handlung ein.

Robert, der Held der Geschichte, Prototyp des Schürzenjägers, freischaffender Drehbuchautor, Essayist und gelegentlicher Rezensent in Hamburg, ist beruflich wenig erfolgreich, seinen gleichwohl hohen Lebensstandard verdankt er seiner wohlhabenden Ehefrau. Katta, zweite Frau des früh verwitweten Bankers Harald, mit dem Robert befreundet ist, macht ihm plötzlich Avancen, die Beiden beginnen ohne Zögern eine heiße Affäre. «Robert liebte seine Frau, und sie liebte ihn – bestimmt. Er hatte wahrlich keinen Grund, sie zu betrügen, aber er betrog sie bei jeder Gelegenheit. Danach peinigten ihn jedes Mal unbequeme Schuldgefühle». Ein guter Freund hatte ihm vor Jahren «kategorisch erklärt, so als handele es sich um ein naturwissenschaftliches Gesetz, dass man eine Frau maximal sieben Jahre sexuell begehren könne», Seitensprünge also etwas ganz Normales seien. Die nun folgenden heimlicher Treffen der beiden Untreuen sind von der ständigen Gefahr der Entdeckung bestimmt, wobei Robert eine panische Angst davor hat, die Katta geradezu lächerlich findet. Man streitet sich deswegen, trennt sich sogar, findet aber immer wieder zueinander, der tolle Sex zwischen ihnen ist gar zu verlockend. Bald aber stellt der gehörnte Freund ihn doch zur Rede, wenig später zieht Harald mit seiner Frau Katta nach München, die ehebrecherische Beziehung ist damit beendet.

Aber Robert kommt nicht von Katta nicht los, kann nicht verwinden, dass ihm seine Beute abhanden gekommen ist. In seiner Frau sieht er nur noch den Hemmschuh für sein Glück, sie ist es, die alles kompliziert gemacht hat für ihn, die wie ein Racheengel allem im Wege stand. Er verlässt sie ohne Abschied und geht auch nach München, sucht Katta und stellt fest, dass die inzwischen einen anderen Geliebten hat. Schließlich finden die Beiden aber doch wieder zusammen, wobei Robert sie über seine prekäre finanzielle Lage im Unklaren lässt, er schlägt sich mit Gelegenheitsarbeiten durch und lebt in ärmlichsten Verhältnissen, deren er sich schämt. Katta trennt sich von ihrem Mann, der neue Geliebte aber denkt nicht daran, Frau und Kind zu verlassen und mit ihr zusammen zu ziehen. «Komm, lass uns fort, nur für ein paar Tage», überredet sie Robert und fährt mit ihm in ein sündhaft teures Hotel am Starnberger See, nichtsahnend, dass er sich das eigentlich gar nicht leisten kann. «Jetzt haben wir es endlich geschafft» sagt sie am Morgen, aber Robert ist alles andere als glücklich. Er würde am liebsten alles ungeschehen machen und in den Schoß der Familie zurückkehren – und damit zu den finanziellen Quellen für sein sorgloses Leben. Und auf Katta wartet ein böses Erwachen.

Von Thornton Wilder stammt die Erkenntnis, im Leben der allermeisten Menschen gäbe es nichts anderes als «Geldverdienen, Genüsse und Gequatsche». Und genau dem entspricht auch dieser Roman, er ist nämlich Trivialliteratur durch und durch. Literarische Qualitäten sind keine auszumachen in dieser banalen Erzählung, weder die Thematik ist originell noch der Plot, und sprachlich hat der Autor einfach dem oben erwähnten Volk aufs Maul geschaut und darauf geachtet, es intellektuell nicht zu überfordern, gedankliche Tiefe findet sich nirgends im Roman, – der Auflage wegen, vermute ich mal.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Der bunte Schleier

maugham-1In der ersten Reihe zweitklassiger Autoren?

Dieser 1925 erschienene Roman des britischen Schriftstellers folgte zehn Jahre nach seinem oft als sein bestes Werk bezeichneten Buch «Der Menschen Hörigkeit». Mit vielen Millionen verkauften Büchern war der auch als Theaterautor bekannte William Somerset Maugham einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Zeit, seinem ja auch nicht gerade erfolglosen Zeitgenossen Thomas Mann einiges voraus damit. Dass er sich selbst als zweitklassig sah, «in the very first row of second class writers», wie er das ziemlich sarkastisch, very british eben, selbst ausdrückte, steht nicht im Widerspruch zum Erfolg, denn hohe Auflagen sind und waren noch nie ein echtes Qualitätsmerkmal der Literatur. Dieser Selbsteinschätzung des Autors kann ich für «Der bunte Schleier» nur zustimmen, der Roman gehört wirklich nicht in die Kategorie literarisch hochstehender Werke. Was mich doch einigermaßen überrascht hat, denn die Lektüre des dem Alterswerk zuzurechnenden Romans «Auf Messers Schneide» habe ich als recht erfreulich in Erinnerung. Das als Titel für meine Rezension herangezogene generalisierende Zitat des Autors über seinen literarischen Rang habe ich deshalb vorsorglich mal mit einem Fragezeichen versehen.

Doch nun zu «Der bunte Schleier», eine Erzählung, die, wen wundert’s bei einem so weitgereisten Autor, nicht nur im Mutterland, sondern auch im kolonialen Außenbereich des britischen Empire spielt, in China. Erzählt wird die Geschichte einer schönen jungen Frau, die abweisend und hochmütig beinahe den richtigen Zeitpunkt zum Heiraten verpasst und dann in Panik kurz entschlossen dem Nächstbesten ihr Jawort gibt. Dabei gerät Kitty ausgerechnet an einen sterbenslangweiligen, merkwürdig gehemmten Bakteriologen, der sie vergöttert, für den sie aber rein gar nichts empfindet. Und es kommt, wie es kommen muss, sie hat eine leidenschaftliche Affäre, die nicht unentdeckt bleibt. Ihr Mann zwingt sie zur Entscheidung, der Liebhaber jedoch erweist sich als Feigling, und so folgt sie todunglücklich ihrem Mann, der in der chinesischen Provinz bei der Bekämpfung einer Cholera-Epidemie helfen will. In dieser fremden Welt reift die oberflächliche Frau, und ihre Wandelung bringt sie erstmals auch ihrem Mann näher. Ein klassischer Entwicklungsroman mithin, in dem Maugham als studierter Arzt seine medizinischen Kenntnisse ebenso einbringt wie seine Erfahrungen als viel gereister Geheimagent des britischen MI6 im Ersten Weltkrieg.

Es geht um die Liebe, den Sinn des Lebens und den Tod, um emotionale Konflikte und essentielle Lebenskrisen in diesem Roman, der, wie viele andere dieses Autors auch, schon mehrfach verfilmt wurde. Man kann ihn als interessante Charakterstudie sehen, in der die Heldin zusehends reift und als Mensch an innerer Stärke gewinnt, Profil bekommt. Sprachlich gehört der Roman zu den sehr flüssig zu lesenden Büchern, ohne deshalb seicht zu sein, leider wird er allerdings auch nicht gerade amüsant und leichtfüßig erzählt. Die Dialoge sind stimmig und oft überraschend prägnant, was ich als eine sehr erfreuliche Facette dieses Romans empfunden habe, und auch der Plot ist immer nachvollziehbar, mit seinen unerwarteten Wendungen zuweilen sogar spannend.

Die klug konstruierte Geschichte erweist sich im Rückblick aber nicht gerade als anregend, wird sie doch so umfassend und in allen ihren Aspekten abgehandelt, dass der Fantasie des Lesers kaum noch Spielraum bleibt zum Sinnieren und Weiterdenken. Und so wirkt die Lektüre auch nicht nach, wenn man das Buch ausgelesen hat, man kann sofort ein neues beginnen. Was ja eigentlich schade ist! Denn wie beim Wein den sogenannten Abgang, die Gaumenfreude am Nachgeschmack also, wenn die Flüssigkeit bereits die Kehle passiert hat, so schätze ich bei der Lektüre die Gedanken, die sich einem unwillkürlich aufdrängen und das Hirn noch lange beschäftigen, wenn man ein Buch längst weggelegt hat.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich