Der Zementgarten

mcewan-1Sex sells

Der englische Schriftsteller Ian McEwan hat 1978 mit seinem vielgerühmten Romandebüt «Der Zementgarten» den Einstieg zu einer Weltkarriere geschafft, er gilt heute als der erfolgreichste Autor seines Landes. Zur Popularität beigetragen haben sicherlich diverse Verfilmungen seiner Romane, die ausgeklügelte Konstruktion seiner Plots wie auch die von ihm favorisierten, psychologisch ergiebigen Thematiken Liebe, Selbstfindung, Verlust, Verrat, Vergänglichkeit, sind schließlich in ihrer Kombination ideale Vorlagen für filmische Adaptionen. Hinzu kommt, im vorliegenden Roman unübersehbar, die wie festzementiert ewig gültige Marketing-Erkenntnis: Sex sells!

«Der Zementgarten» beginnt mit einem Paukenschlag, sein erster Satz lautet: «Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich ihm nachgeholfen.» In einer trostlosen Umgebung, im letzten noch nicht abgerissenen Haus einer Siedlung, die einer Straße weichen musste, lebt eine sechsköpfige Familie. Der Vater erleidet einen Herzinfarkt und fällt in ein frisch angelegtes Zementbett, mit dem er seinen Garten pflegeleichter machen wollte. Sein 13jähriger Sohn Jack, der dazukommt, wartet bewusst viel zu lange, bis er Hilfe holt. Als zwei Jahre später die Mutter zuhause stirbt, nach langer Krankheit und auf eigenen Wunsch ohne ärztliche Betreuung, melden die Kinder ihren Tod den Behörden nicht, weil sie dann als Waisen auseinandergerissen in irgendwelchen Heimen landen würden. Sie benutzen Sand und Zement des Vaters und lassen die Leiche der Mutter in einer Kiste im Keller verschwinden, die sie bis obenhin mit Mörtel auffüllen. Die älteste Tochter, die inzwischen achtzehnjährige Julie, nimmt die Stelle der Mutter ein, niemand merkt etwas, die kontaktarme Familie bekommt so gut wie nie Besuch. Der Haushalt verkommt allmählich, es ist ein heißer Sommer, die Jugendlichen haben Schulferien und lassen sich ziellos treiben, haben zu nichts Lust. Als Julie dann Derek kennenlernt, einen eitlen professionellen Billardspieler, und ihn nach Hause mitbringt, wird der schon bald misstrauisch. Er stellt einen merkwürdigen Geruch im Haus fest, der aus dem Keller kommt, und entdeckt die Kiste. Jacks Hund wäre dort begraben, sagen ihm die Teenager. Eines Tages albert Julie mit Jack herum, sie raufen miteinander, ziehen sich nackt aus, beginnen mit Petting. Derek, den Julie immer keusch auf Abstand gehalten hat, erwischt sie dabei. Er läuft empört aus dem Zimmer, Julie riegelt die Tür zu, es kommt zum Inzest; für Julie die Entjungferung, auch für Jack ist es das erste Mal. Wütend zertrümmert derweil Derek im Keller mit einem Vorschlaghammer den Zement und alarmiert die Polizei. Buch und Beischlaf enden mit Blaulicht.

Nicht nur die äußeren Kontakte fehlen dieser Familie, auch innerhalb herrscht eine bedrückende Verständnislosigkeit füreinander. Julie, die Älteste, sucht Bestätigung im Sport. Jacks Pubertät äußert sich im ständigen Onanieren, der Autor erspart uns nichts davon. Überhaupt ist Sexualität ein wichtiges Thema, in Doktorspielen ist die jüngere Schwester Sue Untersuchungsobjekt für Julie und Jack. Als sie dafür dann zu alt ist, nicht mehr mitspielt, verschanzt sie sich hinter ihren Büchern. Der fünfjährige Nachzügler Tom schließlich reagiert mit einem Rückfall ins Babyalter.

Es sollte wohl ein Lehrstück der Psychoanalyse werden, was McEwan da, in uninspiriert einfacher Sprache, aus der unbekümmert naiven Perspektive seines Ich-Erzählers Jack berichtet. Die Geschichte einer Verwilderung, deren Ursachen in der völligen sozialen Isolation ebenso liegen wie im Fehlen der elterlichen Autorität. Den Nachweis allerdings, dass zwischen chaotischer familiärer Situation und sexuellem Tabubruch ein Zusammenhang besteht, eindeutig ja Intention des Autors, bleibt er dem Leser schuldig. Das wäre auch kaum plausibel, inzestuöse Triebe gibt es schließlich in allen gesellschaftlichen Schichten. Es ist in jeder Hinsicht wenig überzeugend, was man da liest!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Rot ist mein Name

pamuk-1Gipfel literarischer Ambivalenz

Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk nutzt seine Reputation als hochgeachteter Schriftsteller gern zu politischer Einflussnahme. Er ist als Mahner unbequem in seiner vom Selbstverständnis her zwischen Orient und Okzident zerrissenen, türkischen Heimat, in der man ihn als besonnenen Vermittler denn auch heftig anfeindet. Von diesen spezifisch nationalen Identitätsproblemen handelt auch sein Roman «Rot ist mein Name», der die Konflikte historisch am Buchmalerstreit Ende des 16ten Jahrhunderts spiegelt. Die zunächst nur auf prachtvoller Kalligrafie und üppiger Ornamentik beruhende orientalische Buchkunst wurde damals zunehmend ergänzt durch eine figurale Malerei, die im Widerspruch stand zum streng orthodoxen Islam. Einige Maler jener kunstvollen Miniaturen in den wertvollen Büchersammlungen der osmanischen Herrscher sind Protagonisten des vorliegenden Romans.

Die zeitlich neun Tage im schneereichen Winter des Jahres 1591 umfassende, in 59 Kapiteln multiperspektivisch erzählte Geschichte beginnt furios: «Ein Toter bin ich nun, eine Leiche auf dem Grund eines Brunnens.» Fein Efendi, ein Ornamentierer und Vergolder aus einer Malertruppe in Istanbul, die im Auftrag des Padischahs an einem geheimen Buch arbeitet, wurde erschlagen und in einen Brunnen geworfen, er spricht nun aus dem Zwischenreich, jener Zeit zwischen Tod und Jüngstem Gericht, direkt zum Leser und fordert ihn auf, seinen Mörder zu finden. Im nächsten Kapitel «Mein Name ist Kara» berichtet der Meister-Illustrator von seiner Ankunft in Istanbul nach zwölfjährigem Aufenthalt in fernen Ländern. Sein Oheim, der ihm damals die Hand seiner Tochter Şeküre verweigert hatte, braucht ihn zur Fertigstellung des geheimen Buches. Außer dem Oheim, Kara und Şeküre kommt ein Hund zu Wort, ein Baum, der Altmeister Osman, die Straßenhändlerin Esther, der Mörder, die drei Maler aus der Werkstatt des Oheims Schmetterling, Storch und Olive, eine Münze, der Tod, die Farbe Rot natürlich, die dem Roman seinen Titel gab, Satan, eine Frau und zwei Gottesnarren. Die Liebe zwischen Kara und Şeküre bildet den einen, die Suche nach dem Mörder, der später auch den Oheim umbringt, den zweiten Handlungsstrang in dem chronologisch erzählten Plot. Im letzten Kapitel, ganz am Ende, überrascht uns Şeküre: «Weil es unmöglich sein wird, diese Geschichte zu malen, habe ich sie meinem Sohn Orhan erzählt, damit er sie vielleicht aufschreibt.» Sic!

Neben der kurz skizzierten eigentlichen Handlung nehmen endlos scheinende Gespräche der Buchmaler den weitaus breitesten Raum ein, historische Einschübe und ausufernd detaillierte Erörterungen der orientalischen Maltechniken, bis zum letzten Pinselstrich sozusagen. Die aus Venedig stammende Neuerung perspektivischer Malerei und die «fränkischen» Art der realistischen, nicht idealisierten Darstellung, zu der zum Beispiel auch das Hinzufügen von Schatten gehört, die das vorher flächige Bild erstmals plastisch wirken lässt, erregt die Gemüter ebenso wie ganz neuartige Bildmotive. Diese im Islam als Revolution, ja als Ketzerei empfundene neue Malweise ist denn auch der Anlass für die beiden Morde.

Wem, fragte ich mich am Ende bestürzt, könnte man diesen Roman zur Lektüre empfehlen? Nur hartgesottenen Lesern, die auch noch unendliche Geduld mitbringen! Geduld mit einer verschnörkelten, überbordend arabesken Erzählweise, mit in epischer Breite abgehandelten, kulturhistorischen Details, mit einer auch für Orientalisten wohl kaum verifizierbaren, inflationären Schar von Herrschern, Kriegern, Malern, deren eigentlich völlig irrelevante Namen die Verwirrung des Lesers vollends auf die Spitze treiben. Zudem stehen dem beim Lesen zuweilen wohltuenden Humor schockartig brutalste Grausamkeiten gegenüber, viel abstoßender noch wirkt die omnipräsente, häufig thematisierte Päderastie. Ich habe selten einen so ambivalenten Roman gelesen – und mich auch noch nie so schwer getan, ihn für mich stimmig zu bewerten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Der Cembalospieler

morsbach-1Weniger wäre mehr gewesen

Man kann der Schriftstellerin Petra Morsbach nicht vorwerfen, dass sie sich auf ein Lieblingssujet konzentriert in ihren Romanen, ihr Interesse richtet sich auf unterschiedlichste Stoffe. Mit «Der Cembalospieler» hat sie sich der Alten Musik zugewandt, wobei sie zu gedanklichen Höhenflügen abhebt, die dem in der Musiktheorie und –geschichte weniger bewanderten Normalleser deutlich seine Grenzen aufzeigt, ihn häufig kaum noch folgen lässt bei feinsinnigen Analysen hochkomplexer Kompositionen, – für fachlich kompetentere Leser andererseits sicherlich ein willkommener Streifzug durch ein elitäres Spezialgebiet klassischer Musik.

Felix Bauer, der Ich-Erzähler, entdeckt mit fünf Jahren seine Liebe zum Klavier, spielt schon nach wenigen Tagen erstaunlich gut, ein typisches Wunderkind. Er stammt aus prekären Verhältnissen, der Vater ist Trinker und verlässt die Familie, die Mutter zermürbt die beiden Söhne mit permanenten Anschuldigungen, sie ist der personifizierte Vorwurf, eine im Dauerfrust lebende Frau, die sich durch die Söhne ein Ventil zum Frustabbau verschafft. Das Dauerfeuer an Vorhaltungen treibt Felix von frühester Jugend an, – neben seinem sowieso grenzenlos scheinenden Enthusiasmus -, ebenfalls in die Gefilde der Musik. Er durchläuft die übliche Wunderkindkarriere mit Höchstleistungen auf allen Gebieten, findet durch glücklichen Zufall zum Cembalo, seiner großen Liebe, die sein ganzes Leben dominieren wird bis zum Ende der Karriere. Bald gibt er die ersten Konzerte, wird zum gefeierten Star an seinem Instrument, arbeitet am Konservatorium in Salzburg, erfreut sich der Gunst vieler Mäzene, die ihn nach Kräften fördern. Schnell wird er in prominente Künstlerkreise aufgenommen, kann sich sein sündteures Traum-Cembalo bauen lassen.

Als er zehn Jahre alt war, wurde bei ihm eine unheilbare Netzhauterkrankung diagnostiziert, die die Sehfähigkeit bald auf wenige Prozent herabsetzen wird. Als junger Mann schließlich bemerkte er seine homosexuelle Orientierung, die ihm neben seiner einseitig der Musik gewidmeten Lebensplanung und dem Versinken in die dunkle Welt des weitgehend Blinden auch noch eine geschlechtliche Außenseiterrolle zudiktiert. Sein System sozialer Beziehungen ist deshalb mehr als kümmerlich entwickelt, er lebt zumeist allein in einer winzigen Wohnung in München, sein Privatleben besteht zu großen Teilen aus Üben für das nächste Konzert, aus Cembalounterricht oder der Vorbereitung von Fachvorträgen. Als er jenseits der Vierzig ist, erlischt allmählich das Interesse des Publikums an Alter Musik und am Cembalo als Instrument, die Mäzene ziehen sich zurück; der Absturz in prekäre finanzielle Verhältnisse steht ihm bevor, darüber ist er sich illusionslos im Klaren.

In fünf Kapitel unterteilt erzählt die Autorin in zwei alternierenden Zeitebenen, durch normale und kursive Schrift leicht unterscheidbar, abwechselnd von Vorbereitungen des Superstars auf lukrative Privatkonzerte und vom Lebensweg ihres Protagonisten. Beide Handlungsebenen münden in eine fatale Zukunftsperspektive für das einstige Wunderkind. Die schlichte, humorlos ernste Sprache bietet keine literarischen Höhenflüge, sie vermittelt zweckgerichtet und schnörkellos die Lebensgeschichte eines Hochbegabten, damit einerseits an den «Doktor Faustus» von Thomas Mann erinnernd, vor allem aber an «Der Untergeher» von Thomas Bernhard. Die Tragik des Genies, seine Zwanghaftigkeit, die Defizite im Menschlichen, der zerstörerische Kunstbetrieb, all dies erscheint mir hier sehr klischeehaft erzählt, die so selbstsicher demonstrierte Fachkompetenz ist mir verdächtig, zumindest aber hinterfragbar, ein Adorno wie beim «Doktor Faustus» wird jedenfalls nicht benannt. Weniger wäre mehr gewesen, meine ich, der Plot mit seinem blinden, schwulen Wunderkind trägt deutlich zu dick auf, er verprellt zudem mit seinem musiktheoretischen Fachchinesisch eher, als dass er unterhält oder den Leser wirklich bereichert.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Piper München, Zürich, Piper Verlag München

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter

handke-1Eine literarische Anamnese

Auffallend oft werden Schriftsteller aus Österreich der Kategorie «Enfant terrible» zugerechnet, man denke nur an Elfriede Jelinek oder Thomas Bernhard, und auch Peter Handke gehört zu dieser aufmüpfigen Spezies. Wusste doch der noch nicht Dreißigjährige mit seinem deutlich auf Konfrontation weisenden Sprechstück «Publikumbeschimpfung», 1966 unter Claus Peymann erstmals aufgeführt, früh zu schockieren, und auch seine Erzählung «Die Angst der Tormanns beim Elfmeter» von 1970, bereits ein Jahr später von Wim Wenders verfilmt, machte ihn plötzlich einem breiten Publikum bekannt, – woran die beiden ungewöhnlichen Titel einen nicht zu unterschätzenden Anteil haben dürften. Lohnt es sich also, diese frühe Erzählung des Avantgardisten zu lesen, auch wenn sie, das sei hier gleich vorweggeschickt, mit so eindeutig Realem wie Fußball herzlich wenig zu tun hat?

Zwar ist Handkes Held ein ehemaliger Torwart, in dieser Eigenschaft allerdings tritt er nicht auf, nur sein entsprechendes Insiderwissen wird auf der letzten Seite des Buches thematisiert. Denn da erklärt Josef Bloch als Zuschauer einem anderen Mann die Finten, mit denen Tormann und Elfmeterschütze sich gegenseitig auszutricksen versuchen, um die richtige Schussrichtung vorauszuahnen. Wir lernen Bloch kennen als Monteur, der eine Geste seines Poliers bei der Jause in der Bauhütte als Entlassung missdeutet. Er streift rastlos durch Wien, besucht Restaurants und Cafés, mietet sich in einem Hotel ein, geht öfter ins Kino, sucht Kontakt zu Frauen und landet schließlich ganz unvermutet mit der Kassiererin eines Kinos im Bett. Am Morgen sieht er statt der Teeblätter Ameisen in der Teekanne. «Ich heiße Gerda, sagte sie. Bloch hatte es gar nicht wissen wollen.» Das stockende Gespräch zwischen ihnen irritiert ihn zunehmend. «Aber dann störte ihn alles immer mehr. Er wollte ihr antworten, brach aber ab, weil er das, was er vorhatte zu sagen, als bekannt annahm». Plötzlich, ganz unvermittelt, erwürgt er die Frau. Von der ersten Zeile an deutet Handke durch seine lakonisch knappe Erzählweise in einfach strukturierten Sätzen auf die Schizophrenie seiner Figur hin.

Blochs Wahrnehmung ist sichtlich gestört, Gegenstände und deren Bezeichnungen scheinen ihm nicht mehr zusammenzupassen, er kann Wesentliches nicht mehr von Unwichtigem trennen, sucht Streit, kann kaum noch eine sinnvolle Unterhaltung führen, ist getrieben von seinem haltlosen Bewegungsdrang. Handke schildert strikt aus der Sicht seines Helden, was dazu führt, dass der Leser gefordert ist, aus dem Erzählten jeweils das herauszudestillieren, was signifikant ist für die Geschichte. Und andererseits zu erkennen, was überhaupt nicht relevant ist, was nur die psychotisch bedingten Wahrnehmungen des Protagonisten verdeutlichen soll. Ein solcher Text ist natürlich nicht gerade leicht zu lesen, will man seinen Hintersinn erfassen, auch wenn die anspruchslos klare Sprache, ein Stilmittel, mit dem der Autor die Wirklichkeit zu reflektieren sucht, dies dem Leser suggerieren könnte. Allerdings wäre das Ganze dann völlig sinnfrei, es ist nämlich kein Krimi, was wir da lesen trotz des Mordes, es gleicht eher einer Anamnese.

In seiner verstörenden Erzählung beschreibt Peter Handke den Wirklichkeitszerfall seines Protagonisten Josef Bloch, ein ambitionierter Versuch, sich in den Kopf eines Geisteskranken hinein zu versetzen, strikt aus der verqueren Perspektive seiner von der Realität überforderten Figur zu berichten, auch wenn das Geschilderte vordergründig keinen Sinn macht. Oder doch? Nicht immer ist ja die Wirklichkeit genau das, was wir glauben, in ihr zu sehen. Die Erzählung endet jedenfalls mit den Sätzen: «Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoss ihm den Ball in die Hände». Ob da der Schlüssel für das Verständnis dieses Buches liegt, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Verfolger

cortazar-1Phantasmagorien eines Jazz-Idols

Drei Jahre nach dem Tode von Charly Parker erschien die Erzählung «Der Verfolger» von Julio Cortázar, dem argentinischen Schriftsteller, der die zweite Hälfte seines Lebens in Frankreich gelebt hat. Er war als Meister der kleinen epischen Form vor allem bekannt für seine Kurzgeschichten und Erzählungen. In seiner Prosa treibt er die Fiktion bis an den Rand des Phantastischen, ohne je vollends ins Surreale abzugleiten. Auch für «Der Verfolger» gilt, was er ganz allgemein dazu geäußert hat: «…meine Erzählungen sind niemals fröhlich. Sie sind eher tragisch oder dramatisch. Sie sind der Nacht näher als dem Tag».

Gleichwohl schimmert da zuweilen auch Humor durch, dem Lächeln ähnlich, das selbst auf einer Beerdigung manchmal unvermeidlich ist. Womit das Ende vorab schon angesprochen ist. Denn der Held der Erzählung, der begnadete Saxophonist Jonny Carter, für dessen Figur bereits durch die Widmung «In memoriam Ch. P.» deutlich auf die Jazzlegende Charly Parker als Vorlage hingewiesen wird, stirbt zum Schluss. Wir erleben den Niedergang des großen Musikers aus der Sicht des Ich-Erzählers Bruno, eines Jazzkritikers, der zu seinen glühenden Bewunderern gehört, eng mit ihm befreundet ist und eine Biografie über ihn geschrieben hat, die «sich verkauft wie Coca Cola». Die handlungsarme Geschichte kommt einem bekannt vor, vom Absturz berühmter Musiker hat man so oder ähnlich schon dutzend Male gehört, und die Ingredienzien sind auch immer die selben, Alkohol und Rauschgift. Cortázar aber unternimmt hier den Versuch, hinter das Geheimnis einer solch tragischen Entwicklung zu kommen, die Ursachen der nicht kurierbaren Schizophrenie seines Helden herauszuarbeiten.

Dem Besessenen, der Figur seines Saxophonisten auf der Suche nach dem Absoluten in seiner Musik – und nach einem Sinn darüber hinaus -, stellt er den Getreuen gegenüber, den besten Freund, «sei getreu bis in den Tod» lautet das entsprechende Bibelzitat im Buchvorspann. Bruno, Freund und Helfer, aber auch Journalist und Buchautor, lebt in bürgerlichen Verhältnissen, hat Frau und Kinder und repräsentiert damit die Normalität der Außenwelt. In den Dialogen zwischen diesen ungleichen Freunden, die einen großen Teil des Textes ausmachen, offenbart sich das Wirre in den Gedankengängen des Jazz-Idols, verblüfft er seinen Biografen durch eine nur ihm eigene Sicht auf die Welt, die für ihn fast ausschließlich aus Musik besteht. In den Gesprächen ist Bruno überwiegend Zuhörer, ihm fehlt jegliches Verständnis für Jonnys geistige Eskapaden, und er ist auch entsetzt über dessen erschreckende Lebensuntüchtigkeit, aber er profitiert auch nicht gerade wenig von seiner intimen Nähe zu der Musikerlegende. Resignierend merkt er an: «Ich weiß wirklich nicht, wie all das schreiben, auch wenn es mir Frieden bringt, mir die Professur einbringt, diese Autorität, die einem die unangefochtenen Thesen und die gut organisierten Begräbnisse verschaffen».

Letztendlich sind es zwei, die da scheitern, der Musiker an seinen Idealen, der Sucht nach höchster Vollendung, die ihn in den Wahnsinn treibt, und der ihn bewundernde Biograf, der außen vor bleibt bei Jonnys Phantasmagorien, sie weder begreifen kann noch gar nachvollziehen, und der auch keine Worte findet, sie treffend zu beschreiben. In einer präzisen Sprache entwirft Cortázar das Psychogramm eines Getriebenen, den er «Der Verfolger» nennt in Hinblick auf dessen Jagd nach dem Absoluten in seiner Musik. Dem, was der Autor sich vorgenommen hat, die Innenwelt eines künstlerisch Besessenen in Worte zu fassen nämlich, ist er erstaunlich nahe bekommen mit seiner ambitionierten Erzählung. Niemand kann ja berichten, was dem Tode folgt, und auch beim Wahn gibt es keine Berichterstatter mehr, ist die Schwelle erst mal überschritten. Diese ungemein schwierige Thematik glaubwürdig umzusetzen in einen angenehm zu lesenden Plot, das scheint mir hier gelungen, ich empfand die Lektüre genau deshalb als bereichernd.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Soutines letzte Fahrt

dutli-1Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Nicht jeder Bücherfreund wird mit dem Namen Chaim Soutine etwas anfangen können, es sei denn, er kennt sich gut aus in der Welt der Malerei. Spätestens mit der Lektüre des Romans «Soutines letzte Fahrt» von Ralph Dutli, dem Erstling dieses als Lyriker bekannten Schweizer Autors, dürfte sich das entscheidend ändern. Schon das vollformatige, bunte Titelbild wirkt ja erhellend, zeigt es doch des Malers wohl berühmtestes und in seiner speziellen Malweise für ihn typisches Gemälde, «Der Konditorjunge von Céret». In einer geschickt zwischen historischen Fakten und phantasievoller Fiktion hin und her pendelnden Erzählung schildert der Autor das turbulente Leben dieses weißrussischen Malers jüdischer Konfession in seinen Höhen und Tiefen, und sein Ende natürlich auch, auf das ja der Romantitel schon hinweist, seine «letzte Fahrt» nämlich.

«Die Welthauptstadt der Malerei» ist in dieser Biografie der eigentliche Schauplatz des Geschehens, das Paris der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Metropole des Expressionismus und Surrealismus. In den Cafés von Montmartre tummelt sich eine illustre Gesellschaft von Schriftstellern und Malern, viele bekannt Namen sind darunter, und Soutine ist einer von ihnen, erlebt in seinem Atelier die Höhen und Tiefen des Künstlertums jener Zeit. Bis dann der zweite Weltkrieg und die Besetzung der Stadt durch die Deutschen ihn als Juden in die Illegalität zwingt, er muss sich verstecken, schließlich aufs Land fliehen. Ein Magengeschwür, an dem er schon jahrelang leidet, zwingt ihn zur heimlichen Rückkehr, nur eine sofortige Operation in Paris könnte ihn eventuell noch retten. Und so wird er auf Nebenwegen, ständig den allgegenwärtigen Kontrollen der Besatzer ausweichend, in einem Leichenwagen versteckt nach Paris gebracht, begleitet von Marie-Berthe Aurenche, von ihm «Ma-Be» genannt, die ehemalige Frau von Max Ernst, die sich seiner wie ein Schutzengel angenommen hat.

Im Delirium ziehen während dieser beschwerlichen Fahrt die Stationen seines Lebens an dem unter Morphium stehende Maler vorbei, ein endloser innerer Monolog, von der frühesten Jugend in Smilowitschi bei Minsk über Wilna bis ins Mekka der Malerei, in die Stadt an der Seine. Halluzinierend durchlebt er noch mal die bitteren Hungerjahre seiner erbärmlichen Existenz, er erinnert sich an seine enge Freundschaft mit Amedeo Modigliani, an seinen langjährigen Kunsthändler Zborowski, an die glückhafte Entdeckung schließlich durch den amerikanischen Kunstsammler Barnes, der Dutzende seiner Werke kauft und ihm damit erstmals ein weniger bedrückendes Leben ermöglicht. In dieser an bizarren Details reichen Biografie kommt sogar das wegen der Gurlitt-Affäre hochaktuelle Thema Raubkunst zur Sprache, auch in Paris werden natürlich viele Kunstwerke für Görings «Carinhall» und für das geplante Linzer Führermuseum konfisziert. Bei Soutines Beisetzung schließlich auf dem Montparnasse stehen Max Jakob, Jean Cocteau und Pablo Picasso an seinem Grabe, und auch seine beiden letzten Frauen, «Mademoiselle Garde», mit der er eine uneheliche Tochter hat, und «Ma-Be» natürlich.

Ralph Dutli ist es gelungen, den Schreibstil seines Romans perfekt dem Sujet anzupassen, der expressiven Malkunst von Chaim Soutine. Beides jedoch dürfte nicht jedermanns Sache sein, die Malkunst wie die Sprachkunst. Letztere, und nur davon soll hier die Rede sein, leistet sich viele Längen, nervt zuweilen sogar mit den ausufernden Morphium-Fantasien. Und so ist denn auch das letzte Kapitel des Romans für mich das erfreulichste, denn überraschend tritt da plötzlich der Autor als Ich-Erzähler auf und erläutert seine Motive, seine Faszination für diesen Stoff, trifft dann auch noch auf einen mysteriösen, ehemaligen Geheimagenten, der einst bei der Beerdigung Soutines anwesend war und ihm einiges Denkwürdige sagt, sogar zum Thema innerer Monolog übrigens. Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

Der Fall Deruga

huch-1Ein Brot-und-Butter Werk

«Die erste Frau Deutschlands» nannte Thomas Mann 1924 seine Schriftsteller-Kollegin Ricarda Huch anlässlich ihres 60ten Geburtstages. Im riesigen Œuvre der damals überaus angesehenen und vielfach geehrten Autorin nimmt der 1917 erschienene Roman «Der Fall Deruga» als Kriminalroman eine besondere Rolle auch deshalb ein, weil sie selbst in einem Brief an eine Freundin von einer «Schundgeschichte» sprach, die sie nur des Geldes wegen geschrieben habe. Der Stoff wurde zweimal verfilmt und entspricht so gar nicht den Erwartungen eines Krimilesers, die typischen Ingredienzien dieses literarischen Genres fehlen hier jedenfalls völlig. Wesentlich treffender erscheint mir der Begriff «Gesellschaftsroman» für diese Erzählung, die zwar einen vor dem Schwurgericht München verhandelten Mordfall zum Gegenstand hat, in der jedoch die auftretenden Figuren selbst im Fokus stehen, beispielhaft als typische Vertreter der vor dem Untergang stehenden Gesellschaft jener Zeit.

Und so sind denn auch die lebendigen und häufig auch bewertenden Personenschilderungen in diesem Roman das Wesentliche. Der Plot entwickelt sich nämlich aus der weitgehend in Dialogform erzählten Geschichte einer Mordanklage heraus, der sich der italienischstämmige Arzt Deruga gegenübersieht. Er soll seine seit 17 Jahren von ihm geschiedene Ehefrau Mingo aus Habsucht mit dem in Südamerika als Pfeilgift genutzten Curare ermordet haben, um in den Besitz einer beträchtlichen Erbschaft zu kommen. Die wohlhabende Exfrau hatte ihn testamentarisch zum Alleinerben bestimmt, die gemeinsame Tochter war viel zu früh verstorben. Weiteres zu erzählen verbietet sich natürlich bei einem Roman wie diesem, der von seiner Spannung lebt, die sich hier tatsächlich auch idealtypisch zum Ende hin stetig steigert und in einem vorab vom Leser kaum vorhersehbaren Schluss endet. Gleichwohl versteht es die Autorin, dem Leser ein angenehmes Gefühl der Überlegenheit zu vermitteln, weil er immer ein wenig mehr weiß als die meisten Beteiligten der Gerichtsverhandlung, denen sich die komplizierten Zusammenhänge erst allmählich erschließen.

Das Figurenensemble, welches wir hauptsächlich vor Gericht in Aktion erleben, repräsentiert die verschiedenen Gesellschaftsschichten des Fin de Siècle vom Bettler und Straßenhändler über die Dienstboten, Handwerker und kleinen Händler bis zur Bourgeoisie und dem niederen Adel. In einer feinfühligen Sprache, in wohl formulierten Dialogen zumeist, entlarvt die Autorin scharfsichtig Standesdünkel, Marotten, Vorurteile und Gesinnungen ihrer Zeitgenossen, die ihr hier als Protagonisten dienen und deren Fehler und Schwächen sie uns verdeutlicht, ohne das man ihr dabei einen ironischen Unterton nachsagen könnte. Zwiespältigste und weitaus interessanteste Figur ist dabei Deruga selbst, ein idealtypischer Gutmensch auf der einen Seite, der aber depressiv veranlagt ist und häufig total aus der Rolle fällt, seine Mitmenschen damit über die Maßen düpierend in seinem Furor auf die Gesellschaft.

Ricarda Huch gilt als bedeutende Vertreterin der deutschen Neoromantik mit einer ausgesprochen Vorliebe für Wunderbares und Geheimnisvolles, das sie in einer kunstvoll verfeinerten Sprache erzählt. Die Psyche der Personen ist ihr im vorliegenden Roman wichtiger als die kriminologischen Details ihrer Geschichte oder die juristische Seite eines Prozesses, dessen Verhandlungsführung nicht immer stimmig zu sein scheint, zumindest aus heutiger Sicht. Als Zeitzeugnis konnte ich dem Melodram jedenfalls wenig abgewinnen. Das Ganze wirkt erzählerisch altväterlich, es ist zuweilen maßlos überhöht und regelrecht trivial. Insoweit scheint die selbstkritische Einstufung der Autorin für ihr Werk als «Schundroman» auch nicht ganz unbegründet. Zugutehalten muss man ihr jedoch, dass sie ein auch heute noch ganz aktuell und heftig diskutiertes Grundproblem menschlichen Daseins thematisiert hat, mit einer allzu kitschig ausgefallenen Geschichte allerdings.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Frankfurt am Main

Der Virtuose

moor-1Ein Trockenstoß

Mit Caravaggios Gemälde I Musici auf dem Frontdeckel und dem Titel «Der Virtuose» ist die Thematik des Romans von Margriet de Moor gekonnt verdeutlicht, auch die Zeit des Barock ist damit bereits benannt. Aber es geht um mehr als nur Musik, zu den Genüssen dieser als sinnenfroh beschriebenen Epoche gesellt sich hier als weiterer Aspekt die Liebe, in der reduzierten Spielart einer bedenkenlos ausgelebten und virtuos praktizierten Sexualität allerdings, beides bedingt sich geradezu. Den besonderen Kick aber erhält diese thematische Gemengelage noch dadurch, dass ausgerechnet ein Kastrat als Protagonist hier Virtuose und Liebhaber in Personalunion ist.

Der Erlös aus dem Verkauf seines Sohnes Gasparo ist der Einsatz in einem Spiel, welches sein spielsüchtiger Vater verliert. Der Sohn, mit einer wunderschönen Stimme gesegnet und von Carlotta maßlos bewundert, verschwindet daraufhin für immer aus dem Dorf, er landet in einem der einschlägig bekannten Internate für Kastraten. Jahre später trifft ihn Carlotta, lebenshungrige Tochter des damaligen Spielgewinners und inzwischen mit dem wesentlich älteren und wohlhabenden Berto verheiratet, in Neapel wieder, er ist ein gefeierter Sänger geworden. Binnen kurzem macht sie den unerfahrenen Jüngling zu ihrem Geliebten, ihr heißes Begehren ist unverkennbar auch musikalisch inspiriert. Denn sein betörendes Äußere als unmännlich schön erscheinender Adonis wirkt ebenso anziehend auf sie wie die himmlische Stimme, mit der er sein ihm zu Füßen liegendes Publikum verzaubert.

Mit viel Sachverstand schildert de Moor den Opernbetrieb jener Zeit, in der das Geschehen auf der Bühne zuweilen skurrile Formen annahm, bis hin zu – auf offener Bühne ausgetragen – Rivalitäten zwischen den Sängern. Allzu häufige Exkursionen in die tiefsten Geheimnisse der Phonetik und in die Besonderheiten zeitgenössischer Partituren, samt deren diverser Varianten der Interpretation, überfordern musiktheoretische Laien wie mich allerdings hoffnungslos, sie tragen daher auch rein gar nichts zum Lesegenuss bei. Eher kommen Voyeure auf ihre Kosten, sie erfahren immerhin, dass Sex mit Kastraten sehr wohl möglich ist, was auch ich nicht wusste, und was ein «Trockenstoß» ist. Carlotta lebt ihre hedonistische Maxime erfrischend offen aus, Musik und Sex, und zwar in Kombination miteinander, bilden nun mal ihr ganzes Lebensglück. Diese Hymne auf die Wollust ist eine Bejahung des menschlichen Daseins ohne Wenn und Aber. Emotional allerdings ist ihr Lover eine herbe Enttäuschung, mehr als freundschaftliche Zuneigung empfindet er nicht für sie, die Musik steht an erster Stelle in seinem Leben, und Frauen als solche sind ihm ebenfalls nicht so wichtig, ein schöner Gesangsschüler lockt ihn nicht weniger, ist am Ende sogar wichtiger für ihn als Carlotta. Sexuelle Anziehungskraft, eine Binsenweisheit ja eigentlich, hat eine kurze Halbwertszeit, sie taugt auf Dauer nicht als Bindemittel.

Der Roman ist in einer lebhaften, kurzweiligen Art geschrieben, sprachlich gekonnt und leicht lesbar mit gedanklichen Sprüngen, die den Leser zuweilen fordern, ohne ihn allerdings je den Faden verlieren zu lassen. Das Lokalkolorit ist plastisch eingefangen, bis auf ein kurzes Intermezzo über das Leben von Carlottas Zofe bildet der Kleinadel Neapels den gesellschaftlichen Hintergrund und die barocke Oper dessen alles beherrschende Projektionsfläche. Dabei wird dann auch klar, warum die Frauenrollen damals mit Kastraten besetzt waren, die man heute bei der Aufführung Alter Musik nur unzureichend durch Countertenöre zu ersetzen sucht. Was jedoch den Sex anbelangt, hätte der musikalischen Kunst eher die Erotik als Liebeskunst entsprochen, mit vergleichbaren emotionalen Empfindungen. Der Roman hingegen fokussiert das Geschehen einseitig auf den fleischlichen Akt, von dem wir ja wissen, dass er im vorliegenden Fall stets mit einem Trockenstoß endet, ein mit der fehlenden Erotik in dieser Geschichte durchaus vergleichbares Manko.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Wunsiedel

buselmeier-1Metamorphose eines Miesepeters

Das Theater in der kleinen, fränkischen Stadt, nach der dieser Roman benannt ist, eine saisonale Sommerbühne im Luisenburg-Felsenlabyrinth, auf der man im Rahmen jährlich stattfindender Festspiele den »Götz von Berlichingen« und ähnlich Volkstümliches spielt, nennt Michael Buselmeier »abstoßend, heruntergekommen, eine subventionierte Abgeschmacktheit«. Starker Tobak also, was der Autor da so schreibt in seinem als Theaterroman deklarierten Werk mit unverkennbar autobiografischem Hintergrund, kaum camoufliert jedenfalls. Bisher nur von Wenigen hauptsächlich als neoromantischer Lyriker wahrgenommen, ist er durch seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2011 nun auch einem breiteren, zur Prosa hin orientierten Publikum bekannt geworden, zu dem ich mich ausdrücklich auch selber zähle.

In diesem Roman wird die Geschichte eines jungen Theatermenschen geschildert. Der Ich-Erzähler Moritz Schoppe, Schauspieler und Regieassistent, scheitert grandios – unpragmatisch wie er ist – bei seinem ersten Engagement, teils an den selbstgesetzten Ansprüchen, aber auch an seiner Unbelehrbarkeit. Als Misanthrop schimpft er nicht nur auf fast alles, was mit Theater zu tun hat, auch an der Stadt Wunsiedel und an seinen Bewohnern lässt er kaum ein gutes Haar. Nur die fränkische Natur und einige wenige Lichtgestalten des Theaters wie Gustav Gründgens lässt der Außenseiter gelten, bewundert außerdem fast grenzenlos Wunsiedels Dichtersohn Jean Paul. Bei einer Aufführung von Goethes »Torquato Tasso« fühlt er inniglich mit Will Quadflieg, «da litt ein Dichter, ein Fremder genauso wie ich, an der Welt und an den Menschen«.

Nach 44 Jahren kehrt der Gescheiterte, inzwischen als Schriftsteller (sic!) tätig, an die Stätte seiner Niederlagen zurück. Und findet wieder nur Negatives, die Verödung des Bahnhofs in Wunsiedel, die Trübsal des Kurortes Alexandersbad mit Konzerten im Musikpavillon vor einem größtenteils debilen Publikum. Alles ist ein einziges Scheitern, ein Desaster in diesem Roman, der Frust ist riesengroß. Sogar Ulla, ehemalige Freundin, »notorisch erfolglos, so gut wie nichts gelang ihr«, wie er anmerkt, die Frau also, die ihn damals verlassen hatte, stirbt einsam einen schlimmen Krebstod und wird, obwohl aus begütertem Hause, in einem anonymen Grab beigesetzt. Ich dachte an dieser Stelle, da fehlt jetzt eigentlich nur noch eine schadenfrohe Anmerkung im Sinne von »selber schuld, wäre sie damals mal lieber bei unserem Romanhelden geblieben«!

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier ein ausgewiesener Solipsist vorgeführt werden soll, das literarische Alter Ego des Autors vermutlich, der fast gar nichts gelten lässt neben sich. Benutzt man den Begriff Kritik im kantschen Sinne für Analyse und Prüfung, schlägt die Rundum-Schelte voll auf den Autor zurück. In einer holperigen, unbeholfen wirkenden Sprache, ja im Stile eines Schüleraufsatzes wird die belanglose Geschichte eines unsympathischen Außenseiters erzählt, ohne irgendwelche Höhepunkte, ohne jede sprachliche Finesse, ohne einen Funken von Humor, üppig angereichert nur mit kitschiger Naturromantik. Das alles ist wegen seiner miesepetrigen Stimmung sehr unerfreulich zu lesen, es ist auch nicht wirklich bereichernd, man erfährt kaum Neues in diesem langweiligen Plot. Positiv ist eigentlich nur, dass man nach lediglich 158 Seiten das Buch erleichtert zuklappen kann.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Wunderhorn

Der Verrückte des Zaren

kross-1Wahrheit als Menetekel

Aus dem estnischen Sprachraum sind nur wenige Schriftsteller einer breiteren Leserschaft bekannt, Jaan Kross nimmt dabei zweifellos den Spitzenplatz ein. Er gilt als führender Nationaldichter seines Landes und wurde zeitweise sogar als Nobelpreis-Kandidat angesehen. Sein Roman «Der Verrückte des Zaren» ist sein erfolgreichstes Werk, es wurde in viele Sprachen übersetzt und behandelt, wie die meisten seiner Werke, einen historischen Stoff. Was auch hier die ewige Frage aufwirft, wie viel von dem Erzählten denn nun authentisch ist und wie viel fiktional. Kroos hat seinem Buch nicht nur ein mehrseitiges Nachwort beigefügt, wo diese Fragen geklärt werden, sondern auch zwei umfangreiche Verzeichnisse mit Orten und weiterführenden Anmerkungen.

Ich-Erzähler des Romans ist die fiktive Figur Jakob Mättik, ein aus einfachen Verhältnissen stammender Bauernjunge, der aber auf Druck des Vaters mit seiner Schwester Eeva früh lesen und schreiben gelernt hat. Was wir lesen als Roman ist Jakobs Tagebuch, beginnend am 26. Mai 1827. Er hat es begonnen, als der – historisch belegte – Gutsbesitzer Timotheus von Bock zum Entsetzen des Adels Eeva zur Frau nimmt. Timo hat als Offizier in Sankt Petersburg Karriere gemacht und wurde als Oberst Flügeladjutant des Zaren Alexander I, der ihn aufforderte, ihm stets die Wahrheit zu sagen. In einer vielseitigen Denkschrift, die beinahe dem Entwurf einer neuen Verfassung gleich kommt, benennt Timo nun gravierende Missstände und innere Widersprüche im russischen Reich und weist auf die Mitschuld des Zaren hin. Prompt wird er verhaftet und an einem unbekannten Ort interniert. Unter Zar Nikolaus I wird er schließlich acht Jahre später für verrückt erklärt und unter strengen Auflagen auf sein Gut verbannt. Bald hält Timo es in dieser bedrückenden Situation nicht mehr aus und beschießt, ins Ausland zu flüchten, was sich aber als ein recht schwieriges Unterfangen erweist, das mehrmals widriger Umstände wegen abgebrochen werden muss. Als schließlich dann irgendwann alles günstig steht für eine Flucht, beschließt Timo im letzten Moment, doch in seiner Heimat zu bleiben, nicht feige zu flüchten. Sieben Jahre später stirbt er unter mysteriösen Umständen.

Der Ich-Erzähler zitiert in dieser zentralen Geschichte zahlreiche Dokumente und ergänzt sein Tagebuch mit einem Geflecht aus Rückblenden, historischen Begebenheiten und Ereignissen in seinem eigenen Leben, wobei das Leben des Adels im russischen Feudalismus ebenso anschaulich geschildert wird wie das Alltagsleben auf einem estnischen Gutshof. Das im Roman behandelte Problem der absoluten Wahrhaftigkeit, an dem der ebenso naive wie unberechenbare Held scheitert, ist ein – jeden einzelnen Menschen betreffendes – moralisches Dilemma, ohne Notlüge zumindest wäre unser Leben ja schlichtweg nicht vorstellbar. Kross schreibt in einer klaren, komprimierten Sprache ohne Schnörkel, wobei insbesondere die vielen Dialoge sehr lebensecht wirken, man fühlt sich dadurch regelrecht hineingezogen in diese Geschichte, so als wäre man dabei. Die Figuren sind glaubwürdig beschrieben und wirken allesamt sympathisch, ihr Seelenleben jedoch bleibt ausgeklammert, ihre Emotionen werden nicht thematisiert. Das gilt insbesondere auch für den «Verrückten», dessen Geisteszustand bis zuletzt nicht ganz zweifelsfrei geklärt ist. In seinem Sohn, der ein linientreuer Offizier des Zaren geworden ist, erkennt Timo am Ende resignierend seine Ohnmacht, der Wahrhaftigkeit zum Sieg verhelfen zu können.

Kann die kritiklose Befolgung gesellschaftlicher Normen kompromisslose Idealisten zu vermeintlichen Irren machen, die schließlich sogar selber glauben, verrückt zu sein? Kross wirft hier eine philosophische Frage auf, die nicht nur in totalitären Systemen wie dem feudalistischen Russland relevant ist und allen Anlass zum vertiefenden Weiterdenken gibt. Auch deshalb ist dieser bis hin zum Nachwort spannend bleibende Roman eine bereichernde, überaus lohnende Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Das periodische System

levi-1Belletristik vs. Populärwissenschaft

Chemie war im Gymnasium, lang ist’s her, eines der unerfreulichsten Fächer für mich, und so habe ich «Das periodische System» von Primo Levi denn auch einigermaßen skeptisch zur Hand genommen. Zum Teil mag es an meiner inzwischen gewachsenen Aufnahmebereitschaft liegen, ohne Zweifel jedoch ist es dem italienischen Chemiker und Schriftsteller vor allem gelungen, mit seinem diesbezüglichen Erzähltalent mein Interesse für den einst verschmähten Unterrichtsstoff zu wecken, mir die damals vergällte Lehre von den Stoffen – mangels Fachkenntnissen natürlich nur rudimentär – verständlich und damit auch einigermaßen zugänglich zu machen. Denn in den 21 Kapiteln seines autobiografischen Buches, deren jedes nach einem chemischen Element benannt ist, finden sich wahrhaft spannende Geschichten, – insoweit sollte das Buch Pflichtlektüre sein für Chemielehrer, deren Schüler einzuschlafen drohen.

Es sind nicht nur spannende Geschichten, die der jüdische Autor und Auschwitz-Überlebende zu erzählen weiß, es sind auch sehr bewegende Episoden aus seinem Leben, chronologisch lose aneinandergereiht, meist ohne direkten Zusammenhang. Beginnend mit einem Rückblick auf seine Vorfahren, dem er das träge Gas «Argon» als Kapitelüberschrift vorangestellt hat. «Das Wenige, was ich von meinen Vorfahren weiß, lässt sie diesen Gasen ähnlich erscheinen» schreibt er im ersten Kapitel, bei dem die Überlieferung innerhalb der Familie oder die Fantasie des Autors, vermutlich jedoch beides zusammen, in Anekdoten verpackt wahrhaft skurrile Ahnen aufzeigt, die eher Karikaturen sind als reale Figuren. Schon im zweiten Kapitel «Wasserstoff» geht es dann aber um Chemie, ein missglückter Laborversuch bei seinem Schulfreund, der mit einem Knall endete und bei dem Wasserstoff eine Rolle spielte, wie Levi richtig vorausgesagt hatte. Im Laufe seines Lebens als Chemiker wird er immer wieder mit Phänomenen konfrontiert, für die es zunächst keine logische Erklärung gibt, oder mit Problemen in der Produktion, die schwer in den Griff zu bekommen sind. Es ist tatsächlich auch für Laien interessant, wenn der Autor beschreibt, wie er sich dem Thema genähert, welche Erklärungen, welche Lösungen sich ergeben haben. Das erinnert sehr stark an kriminaltechnische Untersuchungen, man verfolgt viele Spuren, die alle nichts ergeben, bis dann endlich die richtige Fährte gefunden ist, die zum Erfolg führt.

Sicherlich das am meisten berührende Kapitel unter der Überschrift «Cer» handelt von seiner Zeit in Auschwitz, wo er als Häftling für die IG-Farben in einem Labor beschäftigt war. Unter Lebensgefahr hat er sich dort mit einem Freund zusammen durch Diebstahl von Cereisen und Umarbeitung zu runden Feuersteinen, wie sie für Feuerzeuge gebraucht werden, ein für ihr Überleben wichtiges Tauschgut geschaffen, mit dem sie genug Brot eintauschen konnten, bis schließlich die Rote Armee im Januar 1945 das KZ befreit hat. In einem ebenfalls beklemmenden Kapitel schildert er seinen geschäftlichen Kontakt zu einem ehemaligen Angestellten der IG-Farben, der ihn damals in Auschwitz fachlich überwacht hatte und nun, allerdings vergeblich, mit dem schweren Erbe seiner Vergangenheit umzugehen versucht.

Levi schreibt so begeistert von seinem Beruf, «der eigentlich ein Sonderfall, eine besonders wagemutige Form von Lebenskunst sei», dass auch der Leser unwillkürlich mitgerissen wird. Weniger beeindruckend ist allerdings die sprachliche Umsetzung seiner Geschichten, sein Schreibstil ist sachlich und schlicht, die Handlung geradlinig simpel, seine blutleeren Figuren bleiben unkonturiert, sie vermögen kaum Empathie zu wecken, und alles Private ist weitgehend ausgeblendet. Zwei deutlich früher entstandene, nicht autobiografische Kapitel hätte der Autor besser ganz weggelassen, sie wirken literarisch fast peinlich. Populärwissenschaft also, oder doch Belletristik? Ich bin mir da nicht so ganz sicher bei diesem zwiespältigen Buch!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Das Konzert

lange-1Unerhörtes aus dem Totenreich

Als «Geheimtipp» hat Hartmut Lange sich selbst mal ironisch in einem Interview bezeichnet und ein zwischen kurzfristigem Hochjubeln und totalem Vergessen polarisierendes Feuilleton beklagt: «In so einer Atmosphäre können Sie Literatur nur aus Triebtäterschaft machen.» Sein Œuvre besteht seit Anfang der achtziger Jahre zum überwiegenden Teil aus Novellen, jene literarische Gattung, zu der Goethe angemerkt hat, sie berichte typischer Weise über eine «unerhörte Begebenheit.» Insoweit ist «Das Konzert» ganz klassisch konzipiert, mit einer konzisen Darstellung des uralten Themas von Schuld und Vergebung, hier exemplarisch an einem surrealen Aufeinandertreffen von Tätern und Opfern im Totenreich dargestellt. «Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden, und da man wusste, wie sehr die elegante, zierliche, den Dingen des schönen Scheins zugetane Jüdin dem berühmten Max Liebermann verbunden war, schrieb man an die Adresse jener Villa am Wannsee, in der man die Anwesenheit des Malers vermutete.» Mit diesem Satz beginnt die Exposition dieser 1986 erschienenen Novelle.

Hauptfigur der Geschichte ist der 28jährige, hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski, der während der Naziherrschaft in Litzmannstadt durch Genickschuss getötet wurde. Die Salondame alter Schule mit dem beziehungsreichen Namen wurde ebenfalls ermordet und nackt, mit verrenkten Gliedern, in eine Grube geworfen. Ihr ganzes Streben als Tote richtet sich nun darauf, ein Konzert in der Philharmonie zu veranstalten, in dem Lewanski die E-Dur-Sonate op. 109 von Ludwig van Beethoven spielen soll. Ein für ihn schwieriges Stück, für das er sich nicht reif genug fühlt als ewig 28Jähriger, er scheitert immer wieder an einer bestimmten Stelle. Als er nach intensivem Üben sich dem Konzert dann doch gewachsen fühlt, landet er auf dem Weg zur Philharmonie im zugeschütteten Bunker der ehemaligen Reichskanzlei. «Mein Mann und ich sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.» Die da spricht ist die frisch verheiratete Eva Braun, und so spielt Lewanski nach einigem Zögern vor den versammelten toten Nazigrößen. Wieder scheitert er an der kritischen Stelle. «Litzmannstadt … Litzmannstadt » platzt es aus ihm heraus, «Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.»

Der ermordete Schriftsteller Schulze-Bethmann, der ebenfalls in jenem Salon verkehrt, sieht keinen Grund, den Kontakt mit seinem eigenen Mörder, einem schwarz uniformierten SS-Mann, zu meiden. Und zum Konzert erklärt er: «Ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinander zu sitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind.»

Der Autor versteht es, uns Lesern ohne aufdringliche Moral ein fürwahr schwieriges Thema nahe zu bringen, über das es sich weiterzudenken lohnt. Nur der Blick aus dem Totenreich vermag dabei hilfreich sein, nur so wird deutlich, dass die Untaten den Tätern ja letztendlich gar nichts nützen. Nur ewiges Bereuen und ewiges Verzeihen ist die Folge. Dieses surreale erzählerische Konstrukt erweist sich als wunderbar stimmig in Hinblick auf die hochgradig emotionsgeladene Holocaust-Thematik, die mit Sühne und Vergebung als ewigem Menetekel belastet ist. Ein, wie die Liebe und anderes mehr, nur dem Menschen eigenes, in der Natur, im Universum, nicht vorhandenes transzendentales Kriterium. Schade, dass es nur so wenige Leser gibt für eine derart tiefgründige Thematik.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Diogenes Zürich

Mitsou

colette-1Comment l’esprit vient aux filles

Der Roman «Mitsou», 1919 erschienen, ist einer der größten literarischen Erfolge der französischen Schriftstellerin Sidonie Gabrielle Colette, die später nur unter dem Autorennamen «Colette» veröffentlicht hat. Eine schillernde Persönlichkeit, dreimal verheiratet, Männern und Frauen gleichermaßen zugetan, skandalumwitterte Tänzerin und  Schauspielerin, als Journalistin und vielseitige Autorin mit Geistesgrößen ihrer Zeit verkehrend, hochgeehrt als Präsidentin der Académie Goncourt und Mitglied der von Napoleon gestifteten Ehrenlegion. Über die «Grande Dame» der französischen Literatur äußerte sich Jean Cocteau: «Colettes Leben. Skandal auf Skandal. Und dann nimmt alles eine neue Wendung, und sie wird zum Idol.» Dem dann, so möchte ich hinzufügen, ein ehrendes Staatsbegräbnis zuteil wurde.

Marcel Proust schrieb nach der Lektüre dieses kleinen Liebesromans: «Ich, der ich durch viele Jahre hindurch nicht geweint habe, brach in Tränen aus, als ich die Briefe Mitsous an ihren Leutnant las». Und in der Tat ist Mitsou, Heldin des melancholischen Kurzromans, als Figur derart berührend, geradezu bezaubernd angelegt, dass man als Leser ein literarisches Pendant kaum wird finden können. Die Geschichte ist in einem Milieu angesiedelt, welches der Autorin bestens vertraut war, hat sie doch auch, wie ihre Protagonistin, als Revuegirl in Paris gearbeitet. Vor dem prekären Dasein als kleine Modistin war die brave und naive Mitsou einst in die bunte Welt des Theaters geflüchtet, um dort bescheidenen Erfolg auf der Bühne zu haben. Ein mit fünfzig Jahren doppelt so alter Liebhaber sorgt für ein wenig Luxus, stellt ihr sogar ein Auto zur Verfügung, ein wohlfeiles Klischee, das scheinbar unverzichtbar zu diesem etwas anrüchigen Milieu dazugehört, auch bei Colette.

Im Mai 1917 nun, mitten im Ersten Weltkrieg, begegnet Mitsou in ihrer Garderobe einem 24jährigen Leutnant in blauer Uniform, der auf Fronturlaub ist. Aus der flüchtigen Begegnung ergibt sich ein Briefwechsel, in dem die Beiden einander näher kommen, sich am Ende sogar ihre Zuneigung gestehen. Als der «blaue Leutnant», wie sie ihn in ihren Briefen nennt, nach zwei Monaten wieder für kurze Zeit in Paris ist, kommt es zu einer beglückenden Liebesnacht. Noch vor dem Morgengrauen aber wird ihm klar, dass er Mitsous naive Liebesträume nicht wird erfüllen können, zu sehr hat der Krieg den jungen Mann geprägt, er gehört der «Verlorenen Generation» an. Aber auch sie wird seinen Erwartungen nicht gerecht werden können, ist ihm zu naiv, ungebildet, oberflächlich. Als er ihr brieflich seine unter nichtigem Vorwand erfolgte, sofortige Abreise mitteilt, sind die schönen Illusionen von Mitsou zerstört, hat die harte Realität sie eingeholt. «Comment l’esprit vient aux filles», schon der Untertitel in der französischen Originalausgabe deutet sinngemäß darauf hin: Aus einem Mädchen ist eine Frau geworden. Sie weiß das auch, aber sie gibt ihre Hoffnung nicht auf: «Mein Liebster, ich will versuchen, dein Traum zu werden» schreibt sie ihm in ihrem letzten Brief, mit dem der Roman endet.

Wie eine Textvorlage in einem Boulevardstück beginnend, als berührender Briefroman gekonnt weitergeführt und durch konventionelle Erzählweise sinnvoll ergänzt, ist «Mitsou» ein geschickt angelegter, zwischen den Erzählstilen virtuos pendelnder, geradezu federleichter Roman. Die an sich ja nicht gerade neue Thematik der problematischen ersten Verliebtheit wird durch eine klug durchdachte und stilistisch ausgefeilte Prosa erschlossen, die selbst Verächter von Liebesromanen literarisch überzeugen kann. Besonders berührend war es für mich, die sich behutsam entwickelnde Liebe zwischen den Beiden anhand ihrer Briefe unmittelbar miterleben und nachvollziehen zu können, literarisches wahrhaftig ein Kabinettstück. Die mit ihren Frauenthemen bekannt gewordene Autorin verfügt über ein beachtliches psychologisches Feingefühl, das sie in diesem lesenswerten Roman gekonnt eingesetzt hat.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Süddeutsche Zeitung München

Niemand, der mit mir geht

gordimer-1Nichts Halbes und nichts Ganzes

Der Grande Dame der südafrikanischen Literatur wurde 1991 der Nobelpreis verliehen, «für ihre epische Dichtung, die der Menschheit einen großen Nutzen erwiesen hat und durch die tiefen Einblicke in das historische Geschehen dazu beiträgt, dieses Geschehen zu formen.» Nadine Gordimer und ihr umfangreiches Œuvre sind geradezu ein Synonym für den Kampf gegen die Apartheid, als liberale Weiße hat sie ihr Leben lang gegen die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung angeschrieben, ohne sich jedoch als Propagandistin politisch vereinnahmen zu lassen. Insoweit ist auch der Roman «Niemand, der mit mir geht» für ihre Art zu schreiben typisch, wobei sich mir nach der Lektüre die Frage aufdrängt, ob hier Gordimers spezielle Thematik – ihre Heimat und deren politisches Unrechtssystem – geehrt wurde oder ihre literarische Kunst. Letztere nämlich fand ich vor Jahren schon, in dem Erzählband «Clowns im Glück», bereits wenig überzeugend, und daran hat dieser Roman leider auch nichts ändern können.

Vera Stark, nomen est omen, ist die toughe Protagonistin in diesem Plot, der in den privaten Konflikten seiner Figuren die brutale Rassentrennung Südafrikas und ihre verheerenden Folgen spiegelt. Sie ist als weiße Juristin erfolgreich in einer Stiftung tätig, wo sie im Streit zwischen den besitzlosen Schwarzen und den burischen Farmern engagiert vermittelt und dabei ihr Privatleben völlig hintanstellt. Ihr Mann Ben scheitert beruflich, sie trennt sich am Ende von ihm. Eine weitere starke Frau ist die Schwarze Sibongile, deren Mann als Held des Widerstands im neuen System nicht mehr gebraucht wird, während seine Frau politisch schnell aufsteigt. Beide Frauen erleben den allgegenwärtigen Terror dieser politischen Übergangszeit hautnah, Vera wird bei einem Überfall angeschossen, Sibongile steht auf einer Todesliste und fühlt sich ihres Lebens nicht mehr sicher. Veras private Probleme, die Scheidung ihres Sohnes, das Coming-out ihrer lesbischen Tochter, die Entfremdung von ihrem einstigen Liebhaber und zweiten Mann münden in einer Einsamkeit, die sie letztendlich als Preis für ihr unbeirrtes Engagement akzeptiert, das ihr andererseits aber auch zur ersehnten persönlichen Freiheit verhilft. Gleichwohl ist dies ein Roman des Scheiterns, beide Paare kommen mit den weitreichenden politischen Umbrüchen nicht zurecht.

Ihrer selbst gewählten Rolle als Seismograph der Apartheid kommt die Autorin im vorliegenden Roman also dadurch nach, dass sie aufmerksam deren Erschütterungen registriert und literarisch weiterverarbeitet im Schicksal ihrer diversen Figuren. Der handlungsarmen Geschichte jedoch, die da erzählt wird, mangelt es an Spannung selbst in den wenigen dramatischeren Szenen. Einen weiten Raum nehmen demgegenüber endlos scheinende, langweilige Schilderungen der diversen Komitees, Ausschüsse und Kongresse ein. Die allesamt auch noch sehr oberflächlich bleiben, uns Leser also nicht wirklich hinter die Kulissen der Macht blicken lassen, – immerhin rangieren ja beide Heldinnen weit oben in der politischen Hierarchie, Vera am Ende sogar im verfassungsgebenden Komitee. Ich vermute hier mal, dafür fehlte der Autorin ganz einfach das nötige Insiderwissen.

Der komplexe Roman ist im Stil des psychologischen Realismus geschrieben, seine in verschiedenen Zeitebenen erzählte Geschichte eines politischen Umbruchs ist flüssig zu lesen und gewährt Einblicke nicht nur in die Lebenswirklichkeit der Weißen, sondern – in bescheidenerem Maße – auch die der farbigen Bevölkerung. Empathie zu ihren Figuren vermag die Autorin mit ihrem nüchternen und zuweilen leicht ironischen Schreibstil allerdings kaum zu wecken, was nicht zuletzt wohl auch auf deren zauderndes Verhalten zurückzuführen ist, man bleibt jedenfalls auf Distanz als Leser. Und die sprachliche Realisierung vermag fürwahr nicht auszugleichen, was dem Plot substantiell fehlt und die Lektüre über das rein Informative hinaus auch erfreulich machen könnte.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der Schmerz

duras-1Das auf ewig Unfassbare

Die französische Autorin Marguerite Duras ist als prägende Vertreterin des «Nouveau Roman» bekannt, ein Begriff, den Roland Barthes für eine neue Gattung in der Literaturwelt etabliert hat. Mit dem Band «Der Schmerz» hat sie 1985, wie sie im Vorwort schreibt, alte Texte veröffentlicht, die sie vier Jahrzehnte nach der Niederschrift in ihrem Landhaus wiedergefunden hatte, an deren Existenz und erst recht an deren Entstehung sie sich absolut nicht mehr erinnern konnte. «Ich stand vor einer phänomenalen Unordnung des Denkens und des Fühlens, an die ich nicht zu rühren wagte und der gegenüber ich die Literatur als beschämend empfand». Der Stil, in dem sie verfasst sind, weist allerdings schon deutlich auf ihre später erschienene Prosa einer distanziert beschriebenen, eigengesetzlichen Welt hin.

Im ersten, fast die Hälfte des gesamten Buches umfassenden Teil mit dem Titel «Der Schmerz» schreibt die Autorin in chronologischer, tagebuchartiger Form über die albtraumhafte Trennung von ihrem Mann, der kurz vor Kriegsende als Mitglied der Résistance von den Nazis nach Deutschland deportiert wurde. Nach der Befreiung des KZs Buchenwald im April 1945 wartet sie verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm, sie klammert sich wie eine Ertrinkende an jeden Strohhalm, verfolgt unbeirrt jede Spur, geht jedem Gerücht nach. Ein Auf und Ab der Gefühle, sie will wenigstens Gewissheit, und wenn es nur die im höchsten Grade wahrscheinliche Bestätigung seines Todes ist. Eines Tages kommt dann ein Anruf von Morland, einem Mitstreiter aus der Résistance, der in Wirklichkeit François Mitterand heißt, der spätere Staatspräsident Frankreichs: Ihr Mann lebe, man habe ihn im KZ Dachau aufgespürt. Halbtot wird er nach Paris gebracht, er ist nur noch ein menschliches Wrack, sterbenskrank, ohne realistische Überlebenschancen. Das Unwahrscheinliche geschieht gleichwohl, er überlebt und kommt ganz allmählich wieder zu Kräften, schreibt schließlich sogar ein Buch über seine Erlebnisse in Deutschland. Nach langen Monaten der Rekonvaleszenz kann sie ihm dann schließlich sagen, dass sie sich scheiden lassen müssen, dass sie ein Kind wolle, von einem anderen Mann. Trotzdem sitzt das Trauma ihrer durchlittenen Ängste auch nach mehr als einem Jahr immer noch so tief, dass sie schon zu weinen anfängt, sobald sie nur seinen Namen hört. Das Schreiben über diese Rückkehr, ihr Versuch, etwas über diese erloschene Liebe zu sagen, löst allmählich ihre ungeheuren inneren Spannungen. Und so schreibt sie, geradezu erleichtert, als Schlusssatz: «Ich wusste, dass er es wusste – dass er wusste, dass ich zu jeder Stunde eines jeden Tages dachte: Er ist nicht im Konzentrationslager gestorben.»

Der zweite Teil beginnen mit der Geschichte eines Gestapomannes, der am 1. Juni 1944 ihren Mann verhaftet hat, «eine bis in die Einzelheiten wahre Geschichte», wie sie im Vorwort schreibt. Durch den Kontakt mit ihm erhofft sie sich Informationen über ihren Mann, aber auch die Résistance profitiert davon. Beide belauern sich gegenseitig, es ist ein permanentes Katz-und-Maus-Spiel – bis zur Befreiung von Paris durch die Alliierten. Es folgen zwei Geschichten, im Vorwort als «heilige Texte» bezeichnet, über die sie dort schreibt: «Thérèse, das bin ich. Die, die den Denunzianten foltert, das bin ich. Die, die gern mit Ter, dem Milizionär, schlafen möchte, ebenfalls ich». Es folgen zum Schluss zwei weitere kleine, fiktionale Texte.

Mit der für sie charakteristischen schlichten, geradezu kargen Sprache und den besonders im Tagebuchteil vorherrschenden, stakkatoartigen Kurzsätzen wahrt Marguerite Duras die Distanz zu dem Grauen, über das sie schreibt und das den Leser, vermutlich gerade dadurch, besonders tief berührt. Ein lesenswerter Beitrag zum unmöglich erscheinenden Verständnis des auf ewig Unfassbaren!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München