Wirklich wichtig sind die Schuhe

Bevor sie sich zum zweiten Mal in die Babypause verabschiedet, legt Star-Mezzosopranistin Elina Garanca ihr erstes Buch vor. Unter dem Titel »Wirklich wichtig sind die Schuhe« erzählt sie ihren rastlosen Lebensweg aus dem lettischen Kuhstall auf die großen Bühnen dieser Welt.

Die erst 37-jährige Opernsängerin startet ihre Erinnerungen mit dem Hinweis auf den Zwiespalt, mit dem viele gefeierte Künstler umgehen müssen, und das macht sie sympathisch. Auf der Bühne sind Sänger umjubelte Rollenstars in einer Welt des Zaubers, der Fantasie und der Emotionen. Schlüpfen sie aber in der Garderobe aus ihren Kostümen, dann sind sie nackt und allein.

»Der Erfolg schützt den Künstler nicht vor der Einsamkeit«, weiß Garanča. Dabei wirkt das einstige »Bauernmädchen«, das in Riga mit der Crème de la Crème der Intellektuellen aufwuchs, alles andere als einsam. Die Mutter war ebenfalls Mezzo, die Großeltern hingegen Bauern, die sie an jedem Wochenende besuchte – unter anderem, um den Kühen auf den Wiesen kleine Dialoge oder Lieder aus dem Theater vorzutragen.

Wie für viele andere Künstler aus osteuropäischen Staaten war auch für Elina Garanča ein Vorteil, aus der Welt des Mangels und der sozialistischen Selbstorganisation zu kommen. Für sie bedeutet es kein Problem, aus wenigen Zutaten ein schmackhaftes Mahl zu bereiten, und auch der Aufbau von IKEA-Möbeln stellt keine Hürde dar. Dafür waren Honorare in Westgeld die Erfüllung eines Märchentraums. Ihr erstes Honorar, ein Scheck über DM 9.000,- vom Staatstheater Meiningen begeisterte sie übrigens so sehr, dass sie ihn einrahmte und an die Wand hing – bis die Intendanz nachfragen ließ, ob sie denn den Betrag nicht gelegentlich einlösen wollte, man würde gern die Buchhaltung abschließen.

Ihren Weg nach oben beschreibt Garanča als Hindernislauf, der ihr alles abverlangte. Nur durch eiserne Disziplin und das Ergreifen jeder sich bietenden Gelegenheit schaffte sie es, ihre Stimme über anfänglich anderthalb Oktaven hinaus zu erweitern und sich auch schauspielerisch für die Hosenrollen zu qualifizieren, in denen sie debütierte. Sie sieht ihren Erfolg als Frucht harter Arbeit, als »eine Art Perlenkette, bei der ich jede Perle mit Sorgsamkeit und viel Ehrgeiz aufgefädelt habe«. Auf diese Weise schaffte sie es scheinbar mühelos über Wien nach Salzburg, Zürich, Aix-en-Provence, London, Paris bis nach New York.

Rangiert üblicherweise im Opernbetrieb die Sopranistin als Primadonna, ist die Mezzospranistin »Seconda Donna«. Elina Garanča stieg jedoch selbst zu einer der Primadonnen auf, ohne bislang in den Geruch einer Diva zu kommen. Den Weg ihrer steilen Karriere beschreibt sie anschaulich und schlicht. Dazu zählen ihre Heirat mit Karel Mark, ihr Vertrag mit der Deutschen Grammophon, die erste Solo-CD, aber auch die Bekanntschaft mit anderen Stars der Opernwelt wie der Sopranistin Anna Netrebko, mit der sie in Bellinis »I Capuletti e i Montecchi« in einer der berühmtesten Liebhaber-Rollen der Weltliteratur brillierte.

Garanča macht der Bühnenzauber, also die Stimmung, das Singen, der Applaus, süchtig. »Er kommt ohne Vorwarnung und vergeht, ohne dass man ihn greifen könnte.« Für sie spielt die Familie eine wesentliche Rolle aus Ausgleich, um eines Tages nicht in Leere und Einsamkeit alt werden zu müssen. Ihr Buch, das die für eine Biografie eigentlich viel zu junge Künstlerin Ida Metzger und Peter Dusek diktierte, beschreibt diesen Balanceakt anschaulich und wird dadurch zu einer interessanten und spannenden Lektüre.


Genre: Oper
Illustrated by Ecowin Salzburg

LINNEN – Das Grabtuch Mysterium

Auf geschickte Weise verknüpft Norman Nekro die umstrittene Geschichte einer der wertvollsten und zugleich umstrittensten Ikonen der katholischen Kirche mit einer ultraspannenden Handlung. Es geht um das Leinentuch, in dem angeblich Jesus von Nazareth nach der Kreuzigung begraben wurde. Dieses Linnen fiel vermutlich im Jahre 1204 bei der Eroberung Konstantinopels in die Hände christlicher Kreuzritter und wurde auf Anordnung des Großmeisters des Tempelordens nachgebildet. Das mysteriöse »Turiner Grabtuch« wird aktuell in einer Seitenkapelle des Turiner Doms aufbewahrt.

In eben diese Kathedrale bricht nun plötzlich ein Trupp Bewaffneter ein und raubt den Schatz. Im Geheimen operierende Nachfahren der Tempelritter versuchen im Wettlauf mit der vatikanischen Geheimpolizei, die Reliquie wieder in die Hände zu bekommen, da sie darauf einen historisch begründeten Rechtsanspruch erheben. In einer wilden Jagd durch halb Europa verfolgen sich die konkurrierenden Parteien, wobei beide auch vor Mord, Raub und Erpressung im Namen Christi nicht zurückschrecken.

Sowohl von der Erzählweise wie auch vom Sujet erinnert der vorliegende Roman an die Werke von Dan Brown. Vor dem geistigen Auge des Lesers läuft sofort ein Kinofilm ab, der diesem Werk quasi auf den Leib geschrieben ist. Anders als bei Brown ist Nekros Protagonist allerdings ein kreuzgefährlicher einzelgängerischer Mörder. Ihm stellt der Autor keine bildhübsche Partnerin zur Seite, die schlanke Blonde mit dem langen Zopf agiert vielmehr auf der anderen Seite und zählt zu seinen zu allem entschlossenen Widersachern.

Der vorliegende Roman ist Nekros bislang umfangreichste Arbeit. Der Autor hat damit einen Quantensprung in der literarischen Entwicklung vollzogen, indem er einen atemlosen Thriller verfasste, der sich tatsächlich genau so ereignet haben könnte und schon deshalb Öl ins Feuer aller Verschwörungstheoretiker gießt. Denn wer weiß schon so genau, welches geheimnisvolle Linnen in Turin ausgestellt wird …


Genre: Thriller
Illustrated by Kindle Edition

Ziemlich bester Schurke

Auch Rezensenten sind mitunter neugierig. So folge ich der persönlichen Einladung einer Schweizer »Medienstelle« und lasse mir ein Exemplar der Geschichte des ehemaligen Finanzjongleurs Josef Müller samt aufwändiger Hochglanz-Information zusenden.

Offen gestanden: Von diesem Josef Müller hatte ich zuvor weder gehört noch gelesen. Aber der Klappentext macht neugierig, in die Unterwelt der Betrogenen und Betrüger zu steigen. Außerdem kann ich Müllers zentrale Erkenntnis aus eigener unternehmerischer Erfahrung bestätigen: »Wenn ich mich auf etwas verlassen konnte, dann auf die Gier der Menschen«.

Josef Müller wurde 1955 in Fürstenfeldbruck bei München als Sohn eines Kriminalbeamten und einer OP-Schwester geboren. Mit 16 Jahren konnte er mit einer Sondergenehmigung den PKW-Führerschein erwerben und hatte kurz vor seinem 18. Geburtstag einen schweren Verkehrsunfall. Seitdem ist er auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen.

Als der querschnittsgelähmte junge Mann eines Tages einen knallroten Mercedes 300 SL Cabrio Gullwing sieht, aus dessen elegant nach oben geöffnetem Türflügel ein Falt-Rolli herausfliegt und ein körperbehinderter Mann aussteigt, schwört er sich, trotz seines Handicaps ein Vorstadtcasanova zu werden. In seinem Buch beschreibt er nun, wie er zum erfolgreichen Anlage- und Steuerberater der Münchener Schickeria wurde, der schließlich als »11-Millionen-Euro-Betrüger« Eingang in die Schlagzeilen der Boulevardpresse fand. Denn das Interesse seiner Klientel, möglichst viel in die eigenen Taschen zu raffen, begünstigte seine Neigung, gnadenlos mit der Kundenkohle zu zocken, sie zu verprassen und dabei den Löwenanteil eiskalt für sich selbst zu kassieren.

Letztlich aber war der »ziemlich beste Schurke« nicht clever genug. Er ging, im Unterschied zu den zahllosen Schurken aus Wirtschaft, Politik und Verwaltung, die uns auf der Nase herumtanzen, Polizei und Staatsanwaltschaft ins Netz. Und als sei er einem Lehrbuch für Resozialisation entstiegen, läuterten ihn fünfeinhalb Jährchen im Knast angeblich und ließen ihn das vorliegende Buch ersinnen.

Müller möchte dem Leser eine Saulus-Paulus-Verwandlung verkaufen. Danach hat er im Gefängnis eine »starke Umwertung meiner Werte« erfahren. Er will erkannt haben, »dass der Dienst am Geld eine zu anspruchsvolle Religion« sei und plädiert für »Liebe«, die mehr bedeute als Gerechtigkeit.

Auf 320 Seiten schildert das Buch, das offensichtlich von einem Profiautor begleitet wurde, warum Müller nach der Knasterfahrung sein Leben ändern wollte und was ihm weiterhin »für wundersame und aufregende Dinge widerfahren sind«. Der Text arbeitet mit ständigen Wiederholungen, so wird in nahezu jedem Kapitel die Müllersche Bio kurz zusammengefasst und gebetsmühlenartig wiederholt. So fällt dann auch nicht weiter auf, wenn der Autor in einem Kapitel auf drei Millionen Schulden sitzt, um im nächsten Kapitel wieder in Rolls und Bentley durch die bayerischen Lande zu kutschieren.

Josef Müller versucht mit dem Buch, sein Leben als bunten Märchenfilm zu vermarkten und dabei die Geschädigten, Geprellten und Betrogenen zu unfreiwilligen Komparsen seiner »geilen Story« zu machen. Dazu passen Fotos, die ihn mit Heiligenschein auf einer Kirchenbank zeigen, während er sich im Alltagsleben – vollkommen uneitel – gern im rosafarbigen Leinenanzug mit Einstecktuch und gelber Krawatte präsentiert.

Ob nun geprellte Ex-Kunden das Buch in die Hand nehmen und ob des Talents ihres einstigen Beraters schmunzeln? Vielleicht murmeln sie »Passt schon«, denn im Bazi-Land Bayern ist manches denkbar …


Genre: Biographien, Memoiren
Illustrated by Brunnen Verlag Basel

Sturm und Tang

55 Reisegedichte liefern zwei Autoren, die unterschiedlicher nicht sein können und dennoch freundschaftlich verbunden sind. Elsemarie Maletzke ist Journalistin und ausgesprochen reisefreudig. Christian Golusda hingegen bleibt lieber auf dem Boden seiner angestammten Heimat und schaut sich dort um.

Im lyrischen Wechselgesang der beiden Dichter werden verschiedene Gedichtformen angewandt. Vom Haiku über den Limerick bis hin zum Sonett ist alles dabei.

Keine große Literatur, aber ein unterhaltsamer Spaß für jeden, der sich an Gereimtem und Ungereimtem erfreuen kann.


Genre: Lyrik
Illustrated by Weissbooks Frankfurt am Main

Wie man garantiert (fast) einen Bestseller schreibt

Erfolgsautorin Louise Krämer ist die einzige Dame eines Autorenkränzchens, die es – nach eigenen Angaben – geschafft hat, ein Buch in einem Verlag unterzubringen. Deshalb kommen zwei andere Teilnehmerinnen dieses illustren Kreises schreibender Frauen auf die Idee, sie in ein Gemeinschaftsprojekt einzubinden, das den Buchmarkt erstürmen soll. Inspiriert durch eine Überdosis Eierlikör wollen sie ihre »Zielgruppen bündeln«, indem sie ein Gemeinschaftsbuch verfassen.

Insgeheim wird zwar jeder der Damen übel, wenn sie daran denkt, mit einer der anderen Tussen zusammenarbeiten zu müssen, aber da man sich wechselseitig immer wieder Wertschätzung, Hochachtung, ja Liebe, beteuert, kann frau schlecht Nein sagen. Allerdings versuchen Lousies Co-Autorinnen recht schnell, sich selbst in den Vordergrund zu spielen und sie auszubooten. Dass dies nicht ohne Zwischenfälle verläuft, lässt sich denken.

Die Autorinnen leben nach der Bestsellerformel »Sei bieder, aber tu so, als seist du verrucht. Tu so, als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen, aber sei nicht arrogant. Schreib so, dass es alle verstehen, aber nicht so, dass es jemand für banal hält. Setz dich in Talkshows und lass die Titten halb raushängen, auch wenn du fünfzig bist«. Klar ist den Autorinnen dabei, dass das Geheimnis der Bestsellerei darin besteht, »Ansammlungen von Klischees zu schaffen, denn originelle Bücher werden prinzipiell keine Bestseller. Jedenfalls nicht zu Lebzeiten des Autors.« Zuerst schreiben sie jedoch fünfsternige Amazon-Kritiken, dann folgt der Text, auf den sich diese beziehen.

Catrin Alpach legt mit diesem kurzen Text eine vergnügliche Humoreske vor, die auf hinreichende Erfahrungen in Schreibgruppen schließen lässt und ebenso gut in einer der zahllosen Indie- und Self-Publisher-Foren im Internet spielen könnte. Ohne weh zu tun, karikiert sie die Welt der Hobbyschreiberinnen, von der es mehr zu geben scheint als manch eine(r) ahnt. Denn für jede Frau gibt es, so die Verfasserin, drei existentielle Entscheidungen, die sich nach den ersten Stürmen der Pubertät treffen muss: »Welchen Mann heirate ich? Was ziehe ich zur Hochzeit an? Und: Welchem Genre widme ich mich, wenn die Ehe so öde geworden ist, dass nur noch Schreiben Linderung verschafft?«

Für meinen Geschmack hätte das Thema zwar deutlich mehr Biss verdient, das entwertet den Text jedoch weder in Form noch Inhalt.


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Kindle Edition

Der Architekt

Ben Lindenberger, Drehbuchautor von TV-Krimi-Serien, entdeckt Stoff für einen eigenständigen Kriminalroman: Er verfolgt den Prozess gegen einen Familienvater, der angeklagt ist, Frau und Kinder auf bestialische Weise erschlagen zu haben. Der Angeklagte, ein Berliner Stararchitekt, der besessen der Theorie vom Bauwerk als Gesamtkunstwerk anhängt, erweckt allerdings nicht den Eindruck eines brutalen Mörders. Ben nimmt während der Verhandlung Kontakt zu dem Angeklagten auf und steigt in sein Privatleben ein.

Lindenbergers großes Vorbild ist Truman Capote, der mit »Kaltblütig« eine der großartigsten Kriminalreportagen der Literaturgeschichte schrieb. Die Entstehung dieses Meisterwerks wurde dadurch begünstigt, dass Capote ein nahezu intimes Verhältnis zu den beiden später überführten und zum Tode verurteilten Tätern aufbaute, das ihm half, neben der Tat, ihrem Ablauf und der Wirkung auf den Ort des Geschehens das Seelenleben der Mörder zu sezieren. Dies versucht auch der Protagonist des Psychothrillers von Jonas Winner, wobei ihm Scharfsinn, Stilsicherheit und Distanziertheit Capotes fehlen. Dafür kommt er mühelos mit diversen Damen in die Horizontale. Dass sich dies auch gegen ihn wenden kann, erkennt er erst später.

Winners Psychothriller ist flott geschriebene Unterhaltungslektüre. Zahlreiche Dialoge outen den Verfasser als Kenner des Drehbuchgeschäfts. In vielen Punkten schimmert der Held des Romans als Winners Alter Ego durch. Der Autor liebt es, mehrere Handlungsstränge, die später zusammenfließen und sich teilweise erschließen, in Häppchen zu servieren. Der Einstieg in das »Setting«, ein Begriff, den gleich mehrere Romanfiguren verwenden, wird dadurch am Anfang erschwert. Doch dann schreitet die Erzählung geradlinig voran.

Es dauert allerdings rund 200 Seiten, bis sich der eigentliche Plot erschließt und Spannung aufkommt. Einen wirklichen »Thrill«, den der Untertitel verspricht, bleibt der Autor jedoch schuldig. Die Spannung spielt sich mehr im Kopf des Erzählers ab, insofern ist es ein typisch deutscher Krimi, der Spannung, »ein raffiniertes psychologisches Puzzle um Machtgier, Täuschung, Intrigen und dunkle Begierden« laut Klappentext, intellektuell aufbaut, statt sie tatsächlich zu schildern.

Jonas Winner wurde als Self-Publisher mit seinem düsteren Siebenteiler »Berlin Gothic« bekannt, den begeisterte Leser auf Spitzenplätze in den Amazon-Bestsellercharts katapultierten. Amazon entschied sich aufgrund der Popularität der Reihe, das Buch zu übersetzen und in den US-Markt einzuführen. Entsprechenden Erfolg erhofft sich auch Knaur, der den Autor jetzt herausbringt. So wie es Ben Lindenberger erträumt, sei auch dem Verfasser des Krimis gewünscht, aus dem nervenden Job des Serienschreibers aussteigen und seine weitere Karriere als Romanautor fortsetzen zu können. Das Zeug dazu hat der 1966 geborene promovierte Philosoph auf jeden Fall, wie dieser als Erstling anzusehende Kriminalroman beweist, der vom »großen Wurf« allerdings noch ein klein wenig entfernt ist.

Jonas Winner
Der Architekt. Psychothriller
Knaur 2012
ISBN 978-3-426-51275-3


Genre: Thriller
Illustrated by Knaur München

Er ist wieder da

Timur_Vernes_er_ist_wieder_daAdolf Hitler erwacht 2011 und bewegt sich wie Catweazle durch eine Zeit, die ihn erheblich irritiert. Was ist aus seinem Dritten Reich geworden? Die Volksgenossen sprechen teilweise ein ihm unverständliches Idiom, es gibt technische Geräte wie Fernseher und Computer, die er nicht bedienen kann und statt im »Völkischen Beobachter« muss er in der »Frankfurter Allgemeinen« blättern. Zu seinem Glück nimmt sich ein Kioskbesitzer seiner an und vermittelt ihn als originellen Hitler-Darsteller an eine Fernsehproduktion. Dort soll er in eine Satireshow eingebunden werden.

Der wieder auferstandene Schnurbart will »das Heft des Handelns« ergreifen und setzt alles daran, erneut eine Erweckungsbewegung des deutschen Volkes zu starten. Immerhin hat er das bereits einmal erfolgreich geschafft, und da ihn auch damals die Pressezaren unterstützen, fühlt er sich zwischen Privatfernsehsendern und BILD-Zeitung gleich wieder in bester Gesellschaft. Im bizarren Hier und Jetzt will er den Kampf aufnehmen. Dabei versucht er, der neuen Welt, die ihn mit »Meesta« statt mit »Mein Führer« anredet, verständnisvoll zu begegnen. Schließlich waren die Leute in den Jahrzehnten seiner Abwesenheit »unablässig aus der Suppenkelle der Demokratie mit einem verbogenen marxistischen Geschichtsbilde übergossen« worden.

Mit einer Assistentin der Filmbude, die ihn unter ihre Fittiche nimmt, eröffnete er eine neue Reichskanzlei. Er lässt sich mit »Guten Morgen, mein Führer« zackig grüßen und in die Geheimnisse des Computers einweisen. Bald wird er als Witzfigur in die Schau eines türkischstämmigen Comedians eingebaut. Über YouTube erlangt der »irre YouTube-Hitler« mit seinen völkischen Reden bald Berühmtheit, zumal ihn ein Großteil der Zuschauer ernst nimmt. Seine ausländerfeindlichen Tiraden begeistern sogar. Nachdem er mit einem Fernsehteam bei der NPD einmarschiert und dort den verweichlichten Geist derjenigen geißelt, die in seinem Namen agieren, schafft er den medialen Durchbruch.

Überzeugend versteht es der Autor, alles aus der Sicht des »Führers« zu beleuchten. Eines Tages wird »Onkel Wolf« beispielsweise durch das Getöse eines Laubbläsers aus dem Schlaf gerissen wird und schaut aus dem Fenster. Ein Blick auf die umstehenden Bäume verrät ihm, dass es sich um einen ausgesprochenen windigen Tag handelt. Er ist, so viel lässt sich eindeutig erkennen, völlig unsinnig, an jenem Tage Laub gezielt von irgendwo nach irgendwo anders hinblasen zu wollen. Doch er bewundert den Laubbläser, hat dieser doch einen Befehl bekommen, den er in fanatischer Treue ausführt. Er erfüllt tapfer und stoisch seine Pflicht, so sinnlos sein Wirken bei dem Wind auch sein mag. »Wie die treuen Männer der SS«, meint Hitler und eilt hinaus, um den Mann zu danken: »Für Menschen wie Sie führe ich meinen Kampf fort. Denn ich weiß: Aus diesem Laubblasegerät, ja aus jedem Laubblasegerät in diesem Lande strömt der glühende Atem des Nationalsozialismus«. Genau das sei der fanatische Wille, den das Land brauche …

Fraglos ist es ein geschickter Zug, aus der Perspektive des überzeugten Nationalsozialisten Politik und Gesellschaft zu betrachten und entsprechend gnadenlos zu kritisieren. Egal, was der Widerauferstandene sagt, es wird schließlich unter Humor subsumiert und entzieht sich einer über alles wachenden »political correctness«. Doch die Quintessenz des Romans, wonach »damals« nicht alles schlecht war, hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Denn je weiter wir im Buch der Geschichte voranblättern und uns von der Nazi-Zeit entfernen, desto harmloser scheinen die Verbrechen jenes Terrorregimes. Klar, da wurden ein paar tausend Juden ausradiert, aber der Führer war doch eigentlich ein kauzig-schräger Typ, den man in seiner Andersartigkeit sogar lieb gewinnen kann.

Dieses Buch ist gefährlich gut. Es betreibt mit den Mitteln der Komik Verharmlosung. Es hilft, Adolf und seine braunen Schatten als Biedermänner auferstehen zu lassen. Es dient weder der Aufarbeitung der deutschen Geschichte, noch leistet es einen Beitrag, dem Wiedererwachen des Faschismus einen Riegel vorzuschieben. Im Gegenteil: Das Lachen über den »komischen« Hitler, der wieder auf die Bühne steigt (und sein Geist ist ja inzwischen tatsächlich längst wieder da) dient der Bagatellisierung eines Massenmörders und seiner Gesinnung. Deshalb schmeckt mir die Lektüre nicht, wenngleich ich an vielen Stellen laut lachen musste.

Nachtrag


Deutscher Kinostart des Buches aus dem Jahre 2012 war der 8. Oktober 2015.

 


Genre: Romane

Die Elefanten meines Bruders

Billy Hoffmann will mit seiner Familie zu einer Zirkusvorstellung gehen. Unterwegs erlebt er Schreckliches: Sein älterer Bruder Philipp wird von einem tonnenschweren Reisebus erfasst, der ihn durch die Luft schleudert. Er stirbt. Die entsetzte Mutter, so das Bild, das sich unauslöschlich in das Kind einbrennt, steht schreiend an der Böschung, wo der Tote hingeschleudert liegt. Blut befleckt ihren neuen Mantel. Weiterlesen


Genre: Jugendbuch, magischer Realismus, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Joyland

Wer – wie der Rezensent – im Laufe der letzten drei Jahrzehnte einige Dutzend Bücher von Stephen King gelesen hat, der fragt sich bei jedem neuen Roman, den der Meister des subtilen Grauens vorlegt: Wie schafft der King of Horror es diesmal, den Leser zu binden und in den Mahlstrom seiner Erzählung hineinzuziehen?

»Joyland« ist auf der einen Seite eine subtile Geschichte aus dem Amerika der frühen siebziger Jahre, in welcher der Ich-Erzähler Devin Jones aus heute abgeklärter Sicht schildert, wie er als 21-jähriger Student über den Verlust seiner ersten großen Liebe hinwegkam und dennoch seine Unschuld verlor.

In Liebesdingen gänzlich unerfahren, hatte er sich in eine Kommilitonin verknallt, mit der er zwar heiße Liebesschwüre tauschte, doch nie so weit kam, »es« zu tun. Sie hingegen war hinter seinem Rücken längst mit anderen Typen aktiv und wühlte sich als Partygirl durch Kissen und Decken.

Hilfreich war dem jungen Mann bei der Bewältigung seines Schmerzes, das Studium auszusetzen und sich für ein Jahr als Helfer in einem Vergnügungspark zu verdingen. In diesem »Joyland« darf er als Mädchen für alles den Dreck der »Tölpel«, wie die Besucher heimlich im Mitarbeiterjargon genannt werden, wegwischen. Er muss die Attraktionen warten und bedienen: das Riesenrad, die Schießbude, die Whirly Cups, und das Horrorhaus. Seine besten Auftritte aber hat er im Fellkostüm des Parkmaskottchens Howie, eines Hundes mit großen Schlappohren und langem Schwanz, der die jüngsten Besucher mit lustigen Tänzen begeistert.

Doch da gibt es noch eine geheimnisvolle Geisterbahn, die ein Gespenst beherbergen soll. Der Geist einer ermordeten jungen Frau spukt angeblich im stockdunklen Kabinett. Deren Kehle wurde von einem unentdeckt gebliebenen Mörder während der Fahrt mit einem Rasiermesser durchgeschnitten, anschließend wurde das Opfer brutal aus dem Wagen geworfen.

Menschen mit seherischen Kräften können die unheimliche Erscheinung wahrnehmen und reagieren verstört, andere meiden die Geisterbahn und halten sie für verflucht. Devin jedoch will an keinen Spuk glauben. Er ist neugierig und versucht, die wahre Geschichte des Verbrechens zu recherchieren. Mithilfe von Freunden erfährt er, dass auch in anderen Vergnügungsparks junge Frauen auf ähnlich bestialische Weise umgekommen sind. Es agiert offenbar ein Serientäter, auf den es allerdings kaum Hinweise gibt. Der junge Mann fühlt sich diesem geheimnisvollen Kirmesmörder nahe, er möchte das Rätsel gern lösen.

An jedem Morgen, den Devin den Strand entlang zu seiner Arbeitsstätte geht, sieht er in der Ferne einen behinderten Jungen, der dort Sauerstoff tankt, mit seiner Mutter sitzen. Er freundet sich mit dem Sterbenskranken an und versucht, ihm seinen größten Traum zu verwirklichen, einen Tag in dem Vergnügungspark verbringen zu dürfen. Zwischen den beiden wächst eine Freundschaft. Das Kind, das von einem baldigen Tod weiß, ist dankbar für die Zuwendung, die ihm der Ältere schenkt. Der Junge sieht Dinge, die Devin nicht wahrnehmen kann, er scheint über mediale Fähigkeiten zu verfügen. So übermittelt er seinem neuen Freund Informationen, die dieser aber nicht zu deuten versteht. Nach einer kleinen Romanze, bei der Devin endlich seine Unschuld verliert, läuft damit alles auf den großen Showdown im Joyland hinaus, wo Spaß sich blitzschnell in Horror verwandeln kann.

Erstaunlich ist bei diesem Buch, dass Stephen King die unendlich vielen Möglichkeiten, die ein solcher Vergnügungspark der Phantasie bietet, nicht nur nicht ausspielt, sondern sie nahezu ignoriert. Er beschränkt sich vielmehr auf die Schilderung des Studenten, der durch seine Neugierde eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen auslöst. Wer eine blanke Horrorstory erwartet, die den Leser über hunderte Seiten in Atem hält und ihn mit fieberhaften Augen Seite um Seite verschlingen lässt, wird mit diesem Werk weniger gut bedient. Geliefert wird vielmehr eine mit 352 Seiten für Stephen Kings Verhältnisse kurze, aber umso geschmeidigere Erzählung, die sowohl in der Personenführung wie der Dialogregie glänzend gebaut ist und in eine leicht überschaubare Kriminalhandlung mit übersinnlichen Momenten mündet.

Mit »Joyland« beweist der 1947 in Portland, Maine, geborene King die Bandbreite seines Könnens und erweist sich erneut als fantastischer Erzähler. Das eigentliche Thema des Buches ist indes fast philosophisch: Es ist die Konfrontation mit dem uns umgebenden Tod, der als Sensenmann jeden mitnimmt, ob er nun in Geld schwimmt, schreiend komisch oder auffallend gut bestückt ist. So muss sich auch der an Multipler Sklerose erkrankte kleine Junge in sein unvermeidliches Schicksal fügen, und das ist vielleicht sogar grausamer als das, was die Mordopfer erleiden.


Genre: Horror, Kriminalliteratur
Illustrated by Heyne München

Rein GOLD

jelinek rein goldOh, Ihr Schauspieler, die Ihr eines nahen Tages dieses auf Anregung der Bayerischen Staatsoper ausdrücklich für die Bühne geschriebene Zweipersonenstück auswendig lernen müsst, Ihr habt mein tiefstes Mitgefühl, denn schon Brünhilde, die widerborstige Lieblingstochter von Götterpapa Wotan, ergießt sich gleich mit 48 Seiten Text, mit einem Redeschwall in 1.189 Zeilen, in 71.340 Zeichen, bis der gekündigten Walküre erst einmal die Puste ausgeht und der gebrochene Gott, Wotan Wanderer, auf der Suche nach sich selbst und dem eigenen Untergang, zu Wort kommt. Und was antwortet ihr der Olympier, dem eigentlich keiner mehr so recht glauben oder gar folgen mag, da er Verträge nach eigenem Gutdünken interpretiert, sie mit Raubgold erfüllt, und dessen Rechtfertigungen deshalb kaum jemanden wirklich interessieren? »Kind. Soviel hast du ja noch nie gesagt! Ich hör dir jetzt seit Stunden zu, aber was hast du gesagt? Ich weiß es nicht mehr.«

Welch weise Worte, wilder Wotan. Oder ist es die Selbsterkenntnis der Autorin, die denjenigen, der sich an ihren Text wagt, vorwarnen möchte? Denn wer die ersten zwei Stunden des Monologschaums überstanden hat, der hat nur noch gute vier Stunden Wortwahn zu durchschwimmen. Wer Jelinek liest, ahnt wohl, was ihn erwartet, sonst sei er gewarnt. Er wird sich nicht beklagen, sondern vielmehr die philosophische Tiefe in den Texten suchen wie weiland Alberich das tückische Gold im schlammigen Rhein. Er wird vielleicht verstehen, was den rosaroten Panther, das Rheingold und das Jelineksche Verständnis des Marxschen »Kapital« verbindet und daraus ein intellektuelles Rahmenprogramm bestreiten können, das mäandert wie weiland Vater Rhein vor seiner zwanghaften Begradigung, die es den vielen Schatzsuchern unserer Tage so unendlich erschwert, das in den Auenlandschaften wartende Rheingold zu bergen.

Der Text, Elfriede J. mag es mir nachsehen, wirkt wie der innere Monolog einer inmitten des Feuerrings auf ihrem Walkürenfelsen gelangweilt auf die Erlösung durch den einen Helden harrenden Brünhilde mit ihrem Vater, der sie verstieß, nicht mehr mit ihr redet, dem sie jedoch alles nahezu zwanghaft erklären will, ihr Denken, ihr Handeln, ihr Aufbegehren, ihren Verrat. Gemischt mit einem guten Schuss Antikapitalismus macht die Autorin aus Wotan einen Bundespräsident a.D., der einer entwerteten Gesellschaft vorsteht, die sich als Exportweltmeister geriert und glaubt, alle Probleme mit dem Anwerfen der Geldpresse lösen zu können, um auf diesem Wege Erlösung zu spenden. Dies geschieht in einer Kunstsprache, die immer wieder Geld als Meta-Tag einsetzt und als Spiegel der intellektuellen Leere unserer Zeit verstanden werden möchte. Wie Brünhilde schreibt sie fleißig, tippt wütend »Bits und Bytes«, brennt ein Feuerwerk wilder Worte ab und sinniert. Wie heißt es an einer Stelle: »Da regt sich was und vermehrt sich! Wir könnens nicht sein, aber da bewegt sich noch was.»

Jelineks »Rein GOLD« ist, kurz gefasst, eine Suada, die sich über den Leser ergießt und in ihrer Monotonie, von ein paar Kalauern (»Der Wurm, \”ein großer und nicht im Rechner\”, bewacht« … den Nibelungenschatz) abgesehen, wenig Neues oder Erfrischendes zum Thema Wagner bringt. Das »reine Gold«, das die Autorin verspricht, entpuppt sich dabei recht schnell als literarisches Talmi.

Elfriede Jelinek
rein GOLD. Ein Bühnenessay
Rowohlt 2013
ISBN 978-3-498-03339-2



Genre: Oper, Theater
Illustrated by Rowohlt

Back to Blood

Back to Blood von Tom Wolfe

Die Religion stirbt, aber an irgendetwas muss der Mensch glauben, der sich als Atom in einem Superteilchenbeschleuniger namens Universum erkennt. Darum gibt es nur eins: Zurück zum Blut, zurück zum Glauben an die Blutlinien, die durch unsere Körper strömen, meint Tom Wolfe in seinem letzten großen Roman, der den nahezu programmatischen Titel »Back to Blood – Zurück zum Blut« trägt.

Wolfe beweist seine These am Beispiel der Stadt Miami: Die Metropole in Florida besteht zu mehr als 50 Prozent aus Neueinwanderern, von denen angeblich jeder jeden hasst. Hier reiben sich die White-Anglo-Saxon-Protestants (WASP), Mitglieder eines schrumpfenden und bedrohten Stammes, der aber immer noch die wirtschaftlichen Fäden der Macht in Händen hält, mit eingewanderten Latinos – vor allem Kubanern, die gut aussehen, viel Geld haben, die Mehrheit der Bevölkerung stellen und die Stadt politisch kontrollieren.

Den Konflikt zwischen den weißen americanos und den anderen Bewohnern der Stadt illustriert der Autor in dem ihm typisch spitzzüngigen und eloquenten Stil am Beispiel des aus Kuba stammenden Polizeibeamten Nestor Camacho. Dieser »Gibraltar aus Trapez- und Deltamuskeln« ist bei der Harbour Patrol tätig und rettet einem kubanischen Flüchtling in Ausübung seines Dienstes mit einem halsbrecherischen Einsatz das Leben. Er klettert auf einen 20 Meter hohen Vormast eines Freizeitseglers, auf den sich der Asylant kurz vor Erreichen des rettenden Ufers geflüchtet hat, seilt den Mann unter Lebensgefahr ab, um ihn dann festzunehmen und »durch seine Abschiebung ins Verderben zu stürzen«, wie viele seiner Landsleute später sagen.

Durch seinen Einsatz zieht Camacho sich den Zorn seiner Familie und Landsleute zu, die ihn künftig ignorieren, und auch seine heiße Freundin Magdalena verlässt ihn. Lediglich der junge Reporter einer »weißen« Tageszeitung stellt seine mutige Tat objektiv heraus, und so wundert es nicht, dass sich zwischen dem von allen verlassenen Officer und dem WASP eine Freundschaft entwickelt. Gemeinsam gehen sie auf die Jagd nach einem Kunstfälscher, der möglicherweise in Beziehung zu einem russischen Oligarchien steht, in dessen Seidenbett eines Morgens auch die schöne Magdalena erwacht.

Nun ist bei einem Roman von Tom Wolfe eigentlich weniger die Handlung interessant als der Einsatz seiner stilistischen Mittel und die Zeichnung der Figuren. Wer »Fegefeuer der Eitelkeiten« oder andere Bestseller des 1931 geborenen Autors kennt, der weiß, dass der Autor gern in die Haut seiner unterschiedlichen Figuren schlüpft und aus ihrer Perspektive denkt, spricht und erzählt. Dies gelingt dem Mitbegründer des »New Journalism« mit dem vorliegenden Werk großartig. Wolf schildert dabei nicht nur die Gedanken und die materielle Welt seines Personals; er brilliert auch mit der Darstellung des unterschiedlichen, oft unterschwelligen Rassismus der unterschiedlichen Kulturen, die im täglichen Miteinander deutlich werden und sich auch sprachlich ausformen. Besonders reizvoll wird dies, wenn er die (oft schlüpfrigen) Gedanken seiner Akteure in Paranthese mit einblendet, um diese darauf meist wesentlich abgemildert oder diplomatischer aussprechen zu lassen.

Schon der kurze Prolog »Wir sind jetzt in Mii-ah-mii« des mit 765 Seiten durchaus umfangreichen Werkes macht die Meisterschaft des Autors deutlich. Am Beispiel einer dramatischen Parkplatzsuche vor Miamis Jahrhundertnachtclub des Monats schildert er so ziemlich alle Konflikte, die sich zwischen den unterschiedlichen Blutlinien auftürmen, und ich kann nur jedem empfehlen, wenigstens dieses Kapitel des Buches zu lesen, um einen Eindruck von der Sprachgewalt des Ausnahmeautors zu gewinnen.

Tom Wolfe schreibt milieudicht. Er schreckt auch vor drastischen Formulierungen und möglicherweise sexuell anstößig wirkenden Beschreibungen nicht zurück, wenn er den Sex auf goldenen Plexiglasstelzen durch Miami stöckeln lässt. Sein Roman ist eine opulente Gesellschaftssatire, die den so genannten amerikanischen Traum genüsslich seziert. Dabei schreibt der Kultautor derart spritzig, dass man den fast ein Kilo schweren Wälzer (ich beziehe mich auf die Hardcover-Ausgabe), der allein mit dem allerletzten kurzen Aussagesatz der Entwicklung der Geschichte einen unerwarteten und vollkommen neuen Kurs verleiht, keine Minute lang aus der Hand legen mag.

»Back to Blood« ist das sprachliche und stilistische Vermächtnis des am 14. Mai 2018 verstorbenen Wortartisten Tom Wolfe.

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Genre: Romane
Illustrated by Heyne München

Ich bin ein Geschichtenzerstörer

Eins ist klar: Thomas Bernhard ist alles andere als ein Geschichtenzerstörer, mag er sich selbst auch mal in einem seiner gern provozierenden Interviews als ein solcher bezeichnet haben. Der schreibende Sonderling aus Oberösterreich ist vielmehr einer der größten Erzähler, die der deutsche Sprachraum aufzuweisen hat, und das beweist der vorliegende kleine Auswahlband mit dem provozierenden Titel anschaulich.

Bernhard hasste die idyllische Prosa, er schauderte vor belanglosen Erzählungen und wollte, »wenn ich nur in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer Geschichte auftauchen sehe«, diese gleich »abschießen«. Dabei erzählte er selbst gern in dem ihm eigenen giftig-monologisierenden, mit atemlosen Bandwurmsätzen gefüllten Stil Geschichten, die er geschickt in seine Romane einbaute. Einige dieser Geschichten wurden für diesen Band aus ihrem bisherigen Umfeld ausgelöst, sie wurden quasi entbeint und funkeln nun wie Edelsteine im literarischen Raum.

Bernhards Geschichten verstören den Leser, wenn er mit ihm auf Pfaden der Kindheit zur Forchlermühle wandert, wo die Müllersöhne einem halben Hundert exotischer Singvögel, die zuvor Jahrzehnte lang in einer weitläufigen Voliere gehegt und gepflegt wurden, den Hals umgedreht haben, um sie auszustopfen und dann in das Zimmer ihres einstigen Herrn auszustellen. Das Geschrei der Exoten sei ihnen nach dem Tod des Onkels, der die Tiere betreut habe, auf die Nerven gegangen, wird dem Besucher beschieden, jetzt kehre wieder Ruhe ein in das Tal am Ende der düsteren Schlucht. Dem macht es der Geruch der Vogelleichen unmöglich, länger zu bleiben, er geht hinaus.

Großartig ist Bernhards Beschreibung einer Autofahrt, um ein Exemplar der Neuen Zürcher Zeitung mit einem ihn interessierenden Aufsatz zu erwerben. Rund 350 Kilometer fährt er mit zwei Freunden zuerst in die »sogenannte weltberühmte Festspielstadt« Salzburg, wo sie die Zeitung jedoch nicht bekommen, dann in den »weltberühmten Kurort Bad Reichenhall« sowie weitere kulturell hoch notierte Orte, um feststellen zu müssen, dass es dieses von ihm hochgeschätzte Blatt nirgendwo gibt. In einer meisterhaften Suada entzündet sich aufgrund der Nichterhältlichkeit der Zeitung sein Zorn gegen Österreich, »dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig geradezu abstoßend größenwahnsinnige Land«. Er wolle sich nur noch dort aufhalten, wo er wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekomme, tobt der Dichter, und dann bleibe in Österreich in Wirklichkeit nur Wien, denn in allen anderen Städten die vorgeben, das Blatt zu haben, bekomme man sie gerade dann nicht, wenn man sie unbedingt brauche.

Ein erzählerisches Kabinettstückchen liefert der Gmundener Autor, wenn er »Im Aufmachen der Kommode« eine gelbe Papierrose entdeckt und schwallartig erzählt, wie er mit einem Studienfreund ein Musikfest in Altensam besucht habe, wo sie sich »durch rasches Austrinken mehrerer Gläser Bier und Schnaps gleich in die für ein solches Musikfest notwendige gehobene Stimmung gebracht« hätten, dann jedoch von diversen bekannten Gesichtern endlos ausgefragt wurden, warum sie nicht in ihrem Heimatort geblieben, ja, ob sie überhaupt noch Österreicher seien, um sich dann schließlich, als sie es nicht mehr aushielten, einen Weg durch hunderte betrunkene Leute zu einem Schießstand zu bahnen, an dem der Freund, der doch ebenso wie Bernhard den Schießsport ebenso wie die Jagd verachtete, im Grund sogar hasste, eine Reihe Papierrosen abschoss, worauf er von den Umstehenden als der beste Papierrosenschütze, den sie jemals auf einem Musikfest getroffen hätten, bezeichnet wird.

Wer sich dem Bernhardschen Duktus vorsichtig annähern möchte und keine Angst vor meisterhaft gemachten, oft seitenlangen Satzungetümen hat, der wird mit dieser klitzekleinen Auswahl bestens bedient.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Sämtliche 118 SF-Geschichten

Philip K. Dick war ein Maniac. Sein Werk umfasst 108 Geschichten und 43 Romane, von denen diverse verfilmt worden sind. In dieser fünfbändigen Werkausgabe sind sämtliche Geschichten in chronologischer Reihenfolge enthalten. Dies erlaubt es, die Entwicklung des legendären Science-ficition-Autors zu verfolgen. Weiterlesen


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen, Science-fiction
Illustrated by Haffmans bei Zweitausendeins

Die Nibelunge

Von Generation zu Generation überlieferten unsere Vorväter mündlich die historischen Ereignisse um den legendären Drachentöter Siegfried und den Untergang der Burgunden. Vor rund 1000 Jahren wurde die Überlieferung unter dem Titel »Nibelungenlied« dann erstmals aufgeschrieben. Seitdem hat das ursprünglich in mittelhochdeutscher Sprache verfasste Werk eine beispiellose Karriere gemacht: Der Stoff wurde zum Mythos, er floss in zahlreiche Romane und Filme ein. Richard Wagner schuf daraus seine vierteilige Oper »Der Ring des Nibelungen«; Fritz Lang setzte die Geschichte in zwei abendfüllenden Stummfilmen um.

Das Nibelungenlied wurde zum Nationalepos, die ihm beigemessene Bedeutung zeigte sich auch in repräsentativen Prachtausgaben, die heute noch die Herzen bibliophiler Sammler höher schlagen lassen. 1898 erteilte die Reichsdruckerei dem Maler und Grafiker Joseph Sattler den Auftrag, eine besonders prächtige Ausgabe zu gestalten. Diese sollte zu einem Meilenstein in der Geschichte der Buchkunst werden und liegt nun mit ihrem großartigen Vollbildern als verkleinerter, auszugsweiser Reprint vor.

Waren die früheren neuhochdeutschen Übertragungen von Oswald Marbach oder Karl Simrock eng an das Original angelehnt, letztere sogar im gleichen Reimschema gehalten, ist die vorliegende Ausgabe in Auszügen übersetzt und vollständig nacherzählt worden. Joachim Heinzle eröffnet damit die Möglichkeit, die von Mord und Totschlag strotzende Geschichte der Rache Kriemhilds an Hagen, dem Mörder ihres geliebten Siegfried, nachzuvollziehen und gleichzeitig einen ausgezeichneten Eindruck von den zahlreichen Schmuckelementen, Titelleisten, Vignetten, Zierstücke und Initialen, die Sattler schuf, zu bekommen.

Beibehalten wurde vom Herausgeber das Gliederungssystem in 39 kapitelartigen »Aventüren« genannte Abschnitte. So lässt sich die Geschichte der wunderschönen Prinzessin Kriemhild, ihrer Liebe zu dem jugendlichen Recken Siegfried, dessen Ermordung und ihre fürchterliche Rache an Hagen ausgezeichnet nachvollziehen. Ganz wesentlich bestimmt wird der Band aber durch die ganzseitigen farbigen Bilder, die Sattler geschaffen hat. Hier werden weniger Bilderbuchgermanen in historisierenden Kostümen gezeigt als eine von dichter und klarer Bildsprache geprägte künstlerische Nacherzählung, die dem Jugendstil verpflichtet ist.

Ein bildgewaltiger Einstieg für jeden, der sich mit dem Nibelungenlied beschäftigen möchte.


Genre: Sagen und Fabeln
Illustrated by reprint-Verlag Leipzig

Grimms Kochbuch

Die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm, mit deren Namen sich seit 200 Jahren die berühmte Sammlung der »Kinder – und Hausmärchen« verbindet, genossen neben der deutschen Sprache, die sie sammelten, pflegten und untersuchten, auch gern eine gute Küche. Darauf lässt zumindest eine Sammlung von Küchenrezepten schließen, die Wilhelms Ehefrau Dorothea hinterließ. Diesen kleinen Schatz der Kochkunst im Biedermeier hat nun der Reprint-Verlag Leipzig gehoben und in unsere Zeit »übersetzt«.

Über Jahrhunderte hinweg war der offene Kamin die einzige häusliche Kochstelle, in dem ein eiserner oder keramischer Kochkessel hing. Im Feuerschein einer derartigen Kochstelle wuchsen auch die Gebrüder Grimm auf. Wir wissen das von Aquarellen, die Jacob Grimm um 1800 schuf. Abgelöst wurde diese offene Kochstelle von gemauerten, hüfthohen Herden, bei denen die Pfanne auf einem Gestell oder Haken über der Feuerstelle angebracht wurde. Dorothea Grimm nutzte einen derartigen Herd; bei ihren Rezepten aus der Berliner Zeit ab 1841 kann bereits auf den Einsatz eines gemauerten Küchenherds mit eiserner Herdplatte geschlossen werden. Damit war es möglich, gleichzeitig mit mehreren Töpfen zu kochen und eine Backröhre zu nutzen.

Die Grimms führten in ihrer Berliner Zeit, bedingt durch den Bekanntheitsgrad der beiden Professoren, ein großes Haus, das von Besuchern aus nah und fern stark frequentiert wurde. Als internationale Wissenschaftsprominenz konnten sie sich vor Einladungen und Gegeneinladungen zu Mittagstischen und Teegesellschaften kaum wehren. Dies hatte auch Einfluss auf ihre Kochkultur, die französische, italienische, nordische und österreichische Bezüge aufweist. Eine der vielen Vorzüge der vorliegenden Sammlung ist, dass die Rezepte auf vier Personen herunter gerechnet und Schoppen, Quart, Nößel, Lot und andere Maße aktuell übertragen wurden.

Damit lassen sich süße Speisen, Fisch, Fleisch, Suppen und Gebäck bequem nachkochen und -backen. Sei es Brotkruste auf Schweinekeule, eine in Gelee gekocht Ganz, gepflückter Hecht, Karpfen in Gelee, geprügeltes Kalbfleisch oder kleine Pasteten – die märchenhaften Rezepte aus dem Hause Grimm öffnen auch im 21. Jahrhundert ungeahnte Gaumenfreuden.

»Grimms Kochbuch« ist ein Muss für jeden, der gern schlemmt und sich dazu anregen lässt.


Genre: Volkskunde und Brauchtum
Illustrated by reprint-Verlag Leipzig