Die Elefanten meines Bruders

Billy Hoffmann will mit seiner Familie zu einer Zirkusvorstellung gehen. Unterwegs erlebt er Schreckliches: Sein älterer Bruder Philipp wird von einem tonnenschweren Reisebus erfasst, der ihn durch die Luft schleudert. Er stirbt. Die entsetzte Mutter, so das Bild, das sich unauslöschlich in das Kind einbrennt, steht schreiend an der Böschung, wo der Tote hingeschleudert liegt. Blut befleckt ihren neuen Mantel.

Die quälende Erinnerung an diesen grauenvollen Moment, der inzwischen sechs Jahre zurückliegt, belastet den Elfjährigen unentwegt. Die ungenutzten Eintrittskarten für die Veranstaltung erinnern ihn permanent an den Verlust. Die Tickets versteckt er vor dem Zugriff der Erwachsenenwelt. Es handelt sich um wertvolle Reliquien.

Eines Tages meint Billy zu sehen, dass ihm der Verstorbene als trauriger Engel aus dem Waggon einer U-Bahn winkt. Laut rufend stürzt er dem Zug in den dunklen Schacht hinterher, um ihn aufzuhalten. Er glaubt, erst Frieden finden zu können, wenn er Philipp den Besuch der Zirkusshow ermöglicht, zumal die Karten noch gültig sind. Dort könnte er die von beiden Geschwistern geliebten Elefanten erleben.

Behutsam erzählt der Autor, wie es dem Jungen dank der Hilfe verständnisvoller Erwachsener gelingt, dem Verstorbenen das Erlebnis des Zirkus zu ermöglichen.

Die Rüssler spielen im Leben des Elfjährigen eine erhebliche Rolle. Seine Lieblingstiere schaffen es mühelos, apathisch im Zirkusrund zu laufen. Sie fühlen sich dabei offenbar prächtig. Auch Billy muss nämlich zwanghaft um Säulen kreisen, bevor er beispielsweise in ein Auto einsteigt: Er leidet an ADHS.

Hinter diesen vier Buchstaben verbirgt sich das Wortungetüm »Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung«. Diese Krankheit äußert sich bei dem Jungen in einer fotografisch bis ins Detail präzisen Aufnahme bestimmter Situationen und Informationen. Ansonsten weigert sich sein Festplattenspeicher, Daten, die ihn im Moment langweilen, aufzunehmen. Hypersensibilität auf der einen, Blockaden auf der anderen Seite bilden Wesensmerkmale seines sowohl ihn wie seine Mitmenschen extrem belastenden Leidens.

In den meisten Fällen wird ein ADHS-Kind mit einem Drogensudel auf der Basis von Ritalin ruhiggestellt. Der als »therapiewürdig« eingestufte Zappelkopf erhält indes eine regelmäßige Gesprächstherapie. Seine geplagten Eltern behalten die Nerven. Selbst wenn sie bemerken, dass der Junge ausflippt, abschaltet oder bewusstlos zu Boden geht, bleiben sie beherrscht.

Billy spürt, sobald sein« »Fusionsreaktor« in den roten Bereich gerät. Steht sein Rechensystem kurz vor dem Ausstieg, holt er seinen »Todesstern« vom Schrank. Mit dieser Superwaffe aus der Raumschiffsaga »Krieg der Sterne« patrouilliert er auf endlosen Runden durch die Wohnung. Der Pilot lebt in Filmwelten mit Sternenkriegern, Yedi-Rittern, Indiana Jones und Paul Atreides vom »Wüstenplanet«. Vorzugsweise sieht er jedoch Schwarzweiß-Filme, weil ihn das Rauschen betagter Filmkopien beruhigt. Deshalb möchte er auch gern Filmanseher werden, da seine Eltern seinen ursprünglichen Berufswunsch – Spaziergänger – als Schnapsidee ablehnen.

Billy vermutet, dass es sich bei den meisten Mitmenschen in Wirklichkeit um Androiden handelt. Zur Absicherung versucht er, mit jedermann einen Replikantentest aus »Blade Runner« zu machen, um herauszufinden, ob sie menschlich sind. Als wandelndes Filmlexikon reagiert er auf Fragen bevorzugt mit Filmzitaten, die seine Gesprächspartner verblüffen. Flippt er indes völlig aus, stößt er wie Dustin Hoffman im gleichnamigen Spielfilm den »Rainman«-Schrei aus. Anschließend betätigt er seinen inneren Notausschalter.

Entsprechend schwer fällt er seiner Therapeutin, die er als langhalsiges Iguanodon-Saurierweibchen aus »Jurassic Park« wahrnimmt, ihn zu verstehen. Die Iguanodondame wird abgelöst durch eine Wissenschaftlerin aus »Andromeda, tödlicher Staub aus dem All«. Sie findet trotz Alienatem-Mundgeruch Zugang zu dem Jungen, weil sie den Replikantentest besteht und von ihrem schläfrigen Kater unterstützt wird. Billy vertritt dabei die Überzeugung, statt der Kinder sollten besser Erwachsene in Therapie geschickt werden, denn sie seien in Wahrheit völlig irre.

Es könnte en détail berichtet werden von Billys Freundin Mona, die seine Gedanken teilt. Mit ihr kann er abhängen, wenn einem alles scheißegal erscheint und die Jugendlichen sich »carlish« fühlen. Eine entscheidende Rolle spielt auch Herr Serrano, dem Billy nachspioniert, weil er ihn für einen gefährlichen Bombenbauer hält. Später erkennt er in ihm den weisen Yoda, der einen ähnlich herben Verlust erlitt wie er selbst. Die Verbindung der beiden führt letztlich zu einer Lösung des Elefanten-Traumas, mit der diese brillante Story ausklingt.

Mit »Die Elefanten meines Bruders« schwemmt ein literarisches Kleinod aus der Self-Publishing-Szene an die Oberfläche. Helmut Pöll veröffentlichte den Text als E-Book, das sich über soziale Netzwerke verbreitete. Aus der Perspektive eines Elfjährigen schafft es der Autor, bruchfrei die Geschichte der Bewältigung der Deprivation eines Geschwisterkindes zu erzählen. Er setzt darüber hinaus kongenial die Gedankenwelt und Sprache eines von ADHS betroffenen Kindes um. Diese zwei Stränge, von denen jeder für ein Buch reicht, verknüpft er meisterhaft miteinander.

In literarischer Hinsicht zählen die »Elefanten« zu den Kleinodien des magischen Realismus. Das Werk erinnert genretechnisch an die fantasievollen Schilderungen des jungen Inders Pi in Yann Martels »Schiffbruch mit Tiger«.


Genre: Jugendbuch, magischer Realismus, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert