Tagebuch II

Eine Rezension über Tagebücher zu schreiben mutet heute höchst bizarr an. Ich verfasse seit 3o Jahren Rezensionen, und noch niemals kamen mir Tagebücher unter. Welcher Verleger würde das Risiko eingehen, Gedanken, Spinnereien, Schwärmereien eines Autors zu veröffentlichen, wo die Romanform die Mindestanforderung an den jungen Dichter ist, jemals publiziert zu werden. (Besser wäre natürlich gleich ein Krimi). Und Wald? Ha – dass wir nicht lachen. Der eignet sich bestenfalls als Fundstätte für eine Leiche…
Matthes & Seitz gebührt Lob für die Veröffentlichung der Tagebücher II mit Abschriften aus den Jahren 184o -185o anlässlich des 2oo jährigen Geburtstag Thoreaus im Juli 2o17. (Tagebuch I erschien 2o16; geplant ist die Herausgabe von insgesamt 12 Bänden).
Wahrlich: welch großes Vergnügen bereitete es mir, diese Tagebücher durchzublättern. Manches zu überfliegen, einiges zweimal, anderes öfter zu lesen – speziell wo Stellen zu finden waren, die mit dem späteren Hauptwerk von Thoreau „Walden – Leben in den Wäldern“ ident waren. Da las ich nach, achtete auf Unterschiede zum später herausgegeben „Walden“ und freute mich, manches in breiterer, ungeschliffenerer, oft wilder, wäldischer Form anzufinden als im bekanntesten Buch des Dichters.
Ich möchte Thoreau einen Dichter nennen. Seine Naturschilderungen reichen an Poesie, seine Vergleiche mit der Antike an hohe stilistische Fertigkeit, gepaart mit aus Interesse erworben Wissen: deutsche, englische Romantik, Goethe, Kant, die Klassiker von Marlow über Shakespeare hin zu den Lake Poets – alles kennt er sehr genau. Und weiß es vortrefflich miteinander zu verbinden. Wie ein Wald stehen die Buchstaben, die Werke jener Großen, grün stark, oft dicht und undurchlässig – aber Thoreau kennt Pfade, Wildsteige durch Geäst und Gestrüpp – und findet genau dorthin, wo er anzukommen gedenkt. In der Mitte der Natur.
„Ich denke gern an Siebenschläfer…“ lautet ein rührender Beginn einer Notiz. Oder: „Mein Tagebuch soll die Aufzeichnung meiner Liebe sein.“ Oder man liest. „Der Liebende ist der einzige Wissenschaftler – der den Wert von Großherzigkeit und Wahrheit kennt.“ Thoreaus Wahrheit und Liebe ist die Natur: „Alle Teile der Natur gehören zu einem Kopf wie die Locken zu einem Mädchenschopf. Wie schön fließen die Jahreszeiten, als wären sie ein einziges Jahr, und alle Flüsse ein einziger Ozean. In all ihren verschiedenen Erzeugnissen entwickelt sie nur ihre eigenen Keime – der Habicht, der jetzt über die Wipfel der Bäume fliegt, war vielleicht zuerst nur ein Blatt, das zu ihren Füßen flatterte. Aus den raschelnden Blättern wurden im Lauf der Jahrhunderte der stolze Flug und der helle Jubelgesang des Vogels.“ Wer sonst nimmt sich die Zeit, hat die Gelegenheit ausführliche Gedanken über die Natur anzustellen, bzw. sie gar höchst akribisch zu beschreiben, wie er es mit einigen Fischarten der Concord umgebenden Flüsse und Seen macht. Zu Erzählen ist insofern eine Zumutung. Die Handlung einer Geschichte, eines Romans treibt den Leser vorwärts. Kann günstigenfalls einige Naturabschnitte zeigen, in der das wesentliche: die Story sich abspielt. Meist verkommt die Natur als Kulisse für die Menschenbekümmernisse, aber ja selbst die Welt der Menschen wird als Kulisse missbraucht für die Entwicklung eines Spannungsbogens. Solche findet man naturgemäß in Tagebüchern nicht. Dafür Thoreuas Aufforderung: „Anstatt die ohne hin trägen Bauern an ihrem Ruhetag am Wochenende … mit einer weiteren schlurfigen, ellenlangen Predigt zu verdrießen, sollte der Prediger mit Donnerstimme sie Innehalten und Einfachheit lehren. Macht halt! Warum die Hast!“
Thoreau predigt, wie in Walden die Einfachheit, doch auch die Übertreibung. Dabei jedoch unterliegt er keinem Widerspruch. Denn in der Übertreibung versteht er ein ästhetisches Mittel auf die Schönheit, auf die Liebe aufmerksam zu machen. Er fürchtet nicht als Romantiker belächelt zu werden. Er ist einer. Dementsprechend lieber noch mehr Übertreibung. „Der Wert dessen, was wirklich wertvoll ist, kann nie übertrieben werden. Dem Schwerhörigen gegenüber muss man laut sprechen. Um irgendeinen, selbst den einfachsten Menschen schätzen zu können, muss man ihn nicht nur verstehen, sondern muss ihn zuerst lieben; und nie gab es eine größere Übertreibung als die Liebe.“
Thoreau verführt mit einfacher Beschreibung der Natur. Wenn ich in Thoreaus Tagebüchern blättere, erlebe ich es wie Wörtersammeln, schöne, natürlich gebaute Sätze, die ich ins Album einer Rezension kleben mag, – analog dazu, wie er die Dichtung versteht. Dichtung ist das was Natur ist. Alles andere, darüber hinaus sei Eitelkeit, Unvermögen oder bestenfalls Pfad zum Wahren. Man darf Thoreaus Weisheit mitnichten unterschätzen, wo er mit Yogameistern auf einer Baumwurzel inmitten eines Kiefernwaldes sitzen könnte. „Einen schönen Nachmittag, einen himmlischen Nachmittag, kann es nur geben, wenn wir unser Vergnügen dadurch mindern, dass wir nicht all unsere Tage verschönern. Der Gedanke an das, was ich bin, an mein beklagenswertes Verhalten, hindert mich daran, mich über die herrlichen Tage zu freuen, die mich besuchen. … Ich denke oft, ich könnte meine Tage zufrieden in einem abgelegenen Landhaus, das ich gerade sehe, verbringen; denn ich sehe es jetzt als eine günstige Gelegenheit und nicht als Belastung: ich habe meine öden Gedanken, meine prosaischen Gewohnheiten noch nicht hineingeschleppt, die mir die Landschaft vergällen. Was ist diese Schönheit in der Landschaft denn anderes als eine gewisse Fruchtbarkeit in mir selbst? Ich erwarte vergeblich, sie anderswo als in meinem eigenen Leben verwirklicht zu sehen. Wenn ich ganz aufhören könnte, über mich beschämt zu sein, dann wären alle meine Tage schön.“
Wenn unsere Gesellschaft endlich bereit ist, intelligente Selbstbeschränkung zu üben, nur das zu begehren, was sie unbedingt braucht, wie Thoreau in Walden bemerkenswert aktuell schildert, wenn diese Selbstbescheidung die Naturzerstörung, den Klimawandel, und die Ausbeutung dritter für unseren überflüssigen Wohlstandsglauben zu kappen beginnt, dann wird man Thoreau als den Prediger der Wälder ehren, und seine Schriften wie edle Gewürze und getrocknete Heilkräuter behandeln.
Manfred Stangl
Henry D. Thoreau: „Tagebuch II (Wasser und Feuer)“, Matthes & Seitz, Berlin, 2o17, geb., 378 S


Genre: Tagebücher
Illustrated by Matthes & Seitz

Krähen

Riechelmann_Umschlag_03.inddAus einer ursprünglich im tropischen Regenwald lebenden „Urkrähe“ hätten sich die Krähenvögel in der Zeit vom späten Oligozän bis zum Miozän herausentwickelt und über die ganze Erde verbreitet. Die Kulturgeschichte des Menschen habe sich quasi unter der Beobachtung der Krähen vollzogen, denn beide haben sich entwicklungsgeschichtlich aus dem dichten Dschungel in offene Landschaften bewegt. Auf der Flucht vor Jägern hat sich diese Entwicklung allerdings einige tausend Jahre später wieder umgedreht, denn die Krähen sind vom Land in das Stadtgebiet geflüchtet, wo sie Schutz vor Freiwild-Erklärung des Menschen finden und so ihre Populationen wieder ansteigen konnten. Es gab nämlich eine Zeit da wurde tatsächlich Jagd auf die armen Vögel gemacht, weil diverse Vorurteile über sie kursierten. Diese zu bekämpfen, dazu trägt auch diese wunderschön illustrierte Krähenschau des Matthes & Seitz Verlages aus Berlin bei.

Raben die Singvögel unter den Paradiesvögeln

Es gab aber durchaus auch Völker bei denen die Raben oder Krähen, beide Ausdrücke werden oft synonym verwendet, positiv besetzt waren. So habe etwa Wilhelm der Eroberer, der Wikinger, eine Rabenfahne vorangetragen, was wiederum die Eroberten wohl mit Hass auf diesen Vogel erfüllte. Auch die Tatsache, dass Raben Aasfresser sind trug nicht unbedingt zu ihrer Reputation bei, denn das Aasgeier und eben Raben eine wichtige Rolle in der Natur als Gesundheitspolizei spielen, war noch nicht in alle Köpfe durchgedrungen. Krähenvögel gehören zur Gruppe der Singvögel und als Corvidae sind sie eine Familie in der Ordnung der Sperlingsvögel (Passeriformes) in der Klasse der Vögel (Aves). Von den Corvidae gibt es 123 Arten in 24 Gattungen, schreibt Riechelmann, wozu auch Elstern, Häher und südamerikanische Blauraben gehören. Zu der eigentlichen Gattung Corvus gehören wiederum 23, darunter Nebel-, Raben- und Saatkrähen, sowie Dohlen und der Kolkrabe. Ihre engsten Verwandten sind übrigens die Paradiesvögel.

„Trainspotting“ auf Rabenart

„Du bist in Alaska, am Ende der Welt, nirgendwo ein Zeichen von Leben – und auf einmal ist da der Rabe.“ Noch in der Höhe von 7000 Metern am Himalaya würde man sie antreffen, berichten etwa britische Forscher, wo sie auch gerne Steinlawinen auslösen würden, denn die Kolkraben etwa sind sehr verspielt, und lieben es, mit Steinen zu werfen. Es wurden aber auch schon Krähen in Tokio beobachtet, die Steine auf die Bahngleise legten und dann mit schräggelegtem Kopf auf das Klickgeräsuch warteten, das die Züge erzeugten, wenn sie die Steine zerquetschten. „Trainspotting“ auf Rabenart eben. Es sei auch schon beobachtet worden, dass sie Autos, die bei Rot an Ampeln halten, zum Nüsseknacken benutzten oder verstecken ihre Nahrung unter Dachziegeln, wie etwa die Elstern, die ebenfalls zur Corvidae Gruppe gehören. Kolkraben können übrigens als einzige der Gruppe auch am Rücken liegend fliegen. Kiefernhäher wiederum versteckten zu Vorratszwecken im Herbst bis zu 30000 Samen an bis zu 6000 verschiedenen Orten und graben die jeweilige Sorte auch noch rechtzeitig vor dem Aufkeimen aus. Gedächtnisfähigkeiten, die man sich als Mensch nur wünschen kann.

Im Anhang befinden sich noch Portraits der einzelnen Vögel. Auch der Fleißtext ist reichlich illustriert und erzählt von der unterschiedlichen Wahrnehmung der „Galgenvögel“ in unterschiedlichen Teilen der Welt und ihrer langen Geschichte mit dem Menschen.

Cord Riechelmann/Judith Schalansky (Hg.)

Krähen. Ein Portrait

Reihe: Naturkunden

155 Seiten, Gebunden

Illustration: Falk

Preis: 18,00 €

Matthes & Seitz VerlagKrähen


Genre: Naturkunde, Porträt
Illustrated by Matthes & Seitz

Philosophia von Iliazd

Philosophia: aus Liebe zur Hagia Sophia

Philosophia: aus Liebe zur Hagia Sophia

Philosophia oder Philo Sophia: Die Handlung des vorliegenden Romans spielt in Konstantinopel in den Jahren 1920/21 als der Verfasser selbst dort lebte. Vom russischen Bürgerkrieg vertriebene Flüchtlinge überschwemmten die Stadt und es wurde sogar ein weiteres Vordringen der Roten Armee befürchtet. Aber auch Vertreter Aserbaidschans, Georgiens und die armenische Regierung tagten in jenen Tagen in Konstaninopel, ganz zu schweigen von den Griechen. Iliazd ist im Roman nicht nur der außenstehende, allwissende Erzähler, der mehr weiß als die Person Iliazd selbst, sondern auch der Protagonist Iliazd, der in die Wirren dieser Zeit eingebettet wird. Die „Verdoppelung gebrochener Persönlichkeiten“ ist ein Stilmittel der Erzählung, denn auch Alemdar wird plötzlich zu Sinejchina, dem Blauerblauen und man weiß bis zuletzt nicht, ob er ein reaktionärer Würdenträger des Istanbuler Islams oder ein Agent des Leninismus ist, wie auch Régis Gayraud im Nachwort schreibt. Den jahrhundertalten Traum, Großrussland wieder aufleben zu lassen, gab es übrigens tatsächlich, die Stadt sollte sogar in „Zargrad“ umbenannt werden, sobald der neue Kaiser wieder das Kreuz auf der Hagia Sophia errichtet und das christliche Byzanz wieder aufgebaut hätte.

Konstantinopel 1921: Kak s rusju oder kak srusju?

Tatsächlich hatte nämlich nicht nur England als Schutzmacht Interesse an Konstantinopel, sondern auch die Sowjetunion und in der Person Suwarows des Romans auch die USA: „Das Bild von Suwarow entsprach so genau den orthodoxen, einstudierten Formeln über die Persönlichkeit von am Krieg verdiendenen und deshalb in den Krieg treibenden Geschäftsleuten, dass man sich keine Gedanken über einen etwaigen Denkfehler machen musste.“ Aber Suwarow war Iliazd von Anfang an suspekt, weil er ihn mit Almosen kaufen wollte. Dabei wollte er ihn sich nur für seine schmutzigen Pläne nützlich und gefügsam machen. Doch Iliazd durchschaut bald, dass das angezettelte Komplott zur Eroberung der Hagia Sophia allein dazu dient, die russischen Flüchtlinge noch mehr in ihr unverschuldetes Elend zu stoßen. Auch wenn Iliazd seine Heimat eigentlich genauso hasst wie die Weisheit, will er doch helfen und man darf gespannt sein, was dem spitzfindigen Philosophen einfällt, um die Verschwörung der Kriegstreiber zu verhindern. „Philosophia“ ist nämlich nicht nur ein Roman, der die Philosophie und das damit verbundene Philosophieren liebt, sondern drückt auch seine Liebe zur Sophia aus, also zur Hagia Sophie, der größten christlichen Kirche nach dem Petersdom in Rom. Iliazd bedient sich dabei einer oft deftigen Sprache, etwa wenn er den Zuammenhang zwischen Onanie und Orthodoxie oder semantische Unterschiede zwischen geschriebenem und gesprochenem Russisch zum Besten gibt.

Iliazd, der futuristische Georgier bei Chanel

Ilja Sdanetwisch alias Iliazd alias Eli Eganbjuri lebte zwischen Oktober 1920 und November 1921 in Konstantinopel. In seiner Geburtsstadt Tbilisi/Georgien hatte er 1917 die Gruppe „41°“ gegründet, die sich lose mit den Dadaisten in Zürich oder den Futuristen vergleichen lässt. Sein Bruder Kirill war kubistisch-futuristischer Maler, der in Paris auch mit Picasso verkehrte, was auch für Iliazd Bedeutung hatte. Iliazd organisert ausschweifende Bälle inm Bohème-Viertel Montparnasse und entwirft Stoffdesigns für Chanel, die nicht unähnlich dem Grundriss der Hagia Sophia sind, denn diese hatte er selbst bei seinem Aufenthalt in Konstatninopel öfter gezeichnet. Gemeinsam mit Picasso gestaltete er aber auch bibliophile Bände, die von Matisse, Chagall, Max Ernst, Giacometti oder Miro gestaltet wurden. Von den 341 Seiten des Manuskripts fehlen etwa zwanzig Seiten aus dem Mittelteil und auch das 15. Kapitel, das aber auch einfach auf eine falsche Durchnummerierung durch den Autor selbst zurückzuführen sein könnte. Der Roman wurde nämlich auf die Rückseiten der großen grauen Kartons mit Schnittmustern für Chanelkleider geschrieben.

Iliazd aka Ilja Sdanetwisch
Philosophia
Aus dem Russischen von Regine Kühn
Mit einem Nachwort von Régis Gayraud und Anmerkungen von Sergej Kudracev, Régis Gayraud und Regine Kühn
Matthes & Seitz Berlin
ISBN: 978-3-95757-475-6


Genre: Historischer Roman, Humor und Satire
Illustrated by Matthes & Seitz