Meine geniale Freundin

Meine geniale Freundin von Elena Ferrante

Elena Ferrante: Neapolitanisches Epos Band 1

 

“Meine geniale Freundin” ist die Geschichte der Kindheit zweier Freundinnen, die in Neapel aufwachsen und sie wird von Elena Ferrante im Original teilweise in dem Dialekt erzählt, aus dem sie geboren wurde. „L’ammore nun te fa mangia’/te fa suffri’ te fa’ pensa“, heißt es zum Beispiel in einem neapolitanischen Volkslied namens „Lazzarella“, das auch in dem vorliegenden Roman eine große Rolle spielt: die Liebe füttert dich nicht, sie macht dich nur leiden und nachdenken.  Als „Lazzaroni“ wiederum werden die armen Bewohner Neapels bezeichnet und auch die Maestra Oliviero (Lehrerin) der Ich-Erzählerin des Romans verwendet eine ähnliche Bezeichnung für die Bewohner des Viertels in dem sie aufwächst: Plebs. „Was der Plebs war,“ – sinniert Lenuccia am Ende des aufsehenerregenden ersten Teils der neapolitanischen Familiensaga – „der Pöbel, erkannte ich in jenem Augenblick und viel klarer als damals, vor Jahren, als die Oliviero mich danach gefragt hatte. Der Pöbel, das wir waren wir.“ Aber die Lazzaroni Neapels waren es auch, die den Aufstand gegen die Obrigkeit während der Parthenopäischen Republik anzettelten. Später entwickelte sich aus ihren Reihen allerdings auch die Camorra, von der in vorliegender Erzählung immer nur indirekt gesprochen wird.

Elena Ferrante: „piano, pianissimo, intimo, dolce“

Der erste Teil der Familiensaga über die Cerullos und Grecos schildert die Kindheit der beiden „besten Freundinnen“ Raffaella genannt Lina und Elena genannt Lenuccia oder Lenú. Das Aufwachsen in einem eher popularen Viertel Neapels ist voller Hingabe zu Details geschildert und zeigt auch die Brüche auf, die die italienische Gesellschaft auch heute noch durchziehen: ein Mangel an Vergangenheitsbewältigung. Eigentlich spielt der Roman nach dem Krieg, aber er ist wohl ebenso zeitlos wie allgemeingültig, wenn man an die schweren Hürden denkt, die junge Frauen in Italien auch heute noch zu nehmen haben: Bildung ist in diesem volkstümlichen Rione (ital.: für Viertel) der Stadt am Vesuv verpönt, besonders für Mädchen, die ohnehin nur zum Heiraten geboren werden, so die allgemeine Ansicht und auch die der Eltern der beiden Freundinnen. So muss Lina Cerullo alsbald ihrem Bruder und Vater in der Schusterwerkstatt helfen, obwohl sie für die Schule eigentlich viel talentierter als Lenuccia (ein vezzeggiativo für Elena) wäre. Aber mit viel Fleiß schafft letztere es beinahe bis zum Abitur, bis der erste Teil der Neapolitanischen Familiensaga mit der Hochzeit von Lina jäh abbricht. Denn auch Heirat ist eine Möglichkeit der Armut zu entkommen und wie es aussieht, die viel einträglichere Methode, um zu Reichtum und einem besseren Leben für sich und die ganze Familie zu kommen. Aber für Lenuccia sieht es weniger rosig aus: „Bei ihnen (die Bewohner des Viertels, JW) konnte ich nichts von dem anwenden, was ich Tag für Tag lernte, ich musste mich zurücknehmen, mich gewissermaßen herabsetzen.“

An Ferragosto wird alles anders

Lenuccia muss nicht nur gegen ihre Mutter ankämpfen, die sie lieber arbeiten sehen würde, sondern auch gegen die Verlogenheit der Nachkriegsgesellschaft und die Bewohner ihres Viertels, die nichts von Bildung halten. Auch nach dem Krieg geht es vor allem jenen besser, die sich während des Krieges auf Seiten der Schwarzhemden hielten. Ein solcher ist Don Achille Carracci, der von dem Tischler Alfredo Peluso wohl aufgrund einer alten Fehde getötet wird und Lenuccia verliebt sich ausgerechnet in seinen Sohn Pasquale. Aber noch schlimmer ist, dass Lina den Sohn von Don Achille, Stefano, heiraten wird. Und auch wenn er sehr reich ist, klebt ein stinkender Geruch an seinem Geld. Doch auch Nino Sarratore, der Sohn des dichtenden Eisenbahners, wirkt sehr anziehend auf Lenuccia. Von beiden Jungs – Pasquale und Nino – lernt sie ein politisches Bewusstsein, das alsbald den ganzen Rione durcheinanderwirbelt. Ein groß angelegtes Epos über zwei Freundinnen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und das gut inszeniert und pointiert zu einer spannenden Kulmination auf einer Hochzeit führt. Gekonnt geschrieben und spannend erzählt von der Schauspielerin Eva Mattes. Wer von den beiden – Lina oder Lenuccia – nun die geniale Freundin des Titels ist, wird aber hier aber nicht verraten.

Meine geniale Freundin
Band 1 der Neapolitanischen Saga: Kindheit und frühe Jugend
Die Neapolitanische Saga (1)
Ungekürzte Lesung mit Eva Mattes
Hörverlag Buch erschienen bei Suhrkamp
€ 22,99 [D]* inkl. MwSt.
Hörbuch MP3-CD
ISBN: 978-3-8445-2352-2
Der Hörverlag/Random House


Genre: Belletristik, Biographien, Dokumentation, Erinnerungen, Frauenliteratur, Kulturgeschichte, Liebesroman, Memoiren, Roman
Illustrated by Hoerverlag, Random House UK

Köstlicher Orient

peter-heineDer kulinarische Orient ist in jedem Fall einen Besuch wert und mit vorliegendem Kochbuch “Köstlicher Orient. Eine Geschichte der Esskultur. Mit über 100 Rezepten” noch dazu ein Kinderspiel. Und außerdem: Essen verbindet! Im Sinne einer invented tradition wurde für den Hummus und das Falafel als typisch jüdisches – oder israelisches – Gericht sogar die Thora bemüht, in der von Kichererbsengerichten die Rede sein soll. Der Zionismus hatte nämlich bei der Gründung des Staates Israel die beiden Gerichte als Nationalgerichte definiert, um auch durch diese Speisen Identität für den neuen Staat zu schaffen. Sicherlich hängt das auch damit zusammen, dass es sich um rein vegetarische Gerichte handelt, die keinerlei religionsbedingte Probleme für die beiden größten Bevölkerungsgruppen Israels befürchten ließen. Aber die Reaktionen der nicht-jüdischen Bewohner Israels ließ nicht lange auf sich warten: „Sie haben uns nicht allein unser Land genommen. Nun nehmen sie auch noch unsere Küche.“, soll der syrische Soziologe und Kenner der arabischen Küche Sadiq al-Azm beklagt haben, schreibt Peter Heine in seiner Geschichte der orientalischen Esskultur und veranschaulicht damit deutlich, dass selbst das Essen ideologisch benutzt werden kann – von beiden Seiten!

Khmar oder nabidh?

Das arabische Dorf Abu Gosh soll daraufhin einen Humus in einer Satellitenschüssel von sechs Metern angerichtet haben, in dem 10 452 kg von dem Aufstrich angerührt wurden. Der Libanon wollte damit Israel den Titel des Nationalgerichtes wieder abjagen, aber immerhin kam es auf diese Weise zu keinem Krieg, denn auch dafür sind Kochrezepte gut: sich der gemeinsamen Ursprünge bewusst werden und die Unterschiede zu pflegen. Darauf legt auch der Verfasser des vorliegenden Kochbuches mit vielen Rezepten sehr viel Wert, wenn er schon im Eingangskapitel erklärt, warum auf „Schwein und Wein“ verzichtet wird. Auch das rituelle Schlachten auch als Schächten bekannt wird erklärt und darauf hingewiesen, dass es in manchen europäischen Ländern immer noch verboten ist und die Muslime mancher Länder das halal-Fleisch deswegen importieren müssen. Weniger Einigkeit gibt es da schon beim Wein, denn im Koran steht zwar vom Verbot des Traubenweins (khamr) nichts aber vom Verbot des Dattelweins (nabidh). Außerdem existieren neben diesen beiden Weinen noch 148 weitere Worte resp. Bezeichnungen für Wein, was natürlich automatisch zu religiösen Spitzfindigkeiten führen kann. Aber eigentlich verbiete der Koran ohnehin nur den Rausch und nicht den Alkohol an sich, so Peter Heine. Also auf, auf einen halib al-asad!

Köstlicher Orient: Freundschaft mit Nachbarn

Fastenregeln und Fastenbrechen (Iftar) sowie das muslimische Paradies werden ebenso erklärt wie andere Regeln der orientalischen Küche. So wird im Westen der Ramadan oft falsch verstanden: eigentlich gehe es dabei nämlich darum, „in dem Familienbeziehungen, Nachbarschaften und Freundschaften intensiver gepflegt werden“. Im Verlaufe des vorangegangenen Jahres entstandene Konflikte werden in dieser Zeit durch Besuche beigelegt und mit dem gemeinsamen nächtlichen Fastenbrechen Iftar besiegelt. Eigentlich eine schöne Tradition, oder? Die vorliegende Publikation des Wagenbach Verlages ist in einem besonders schönen Umschlag auf Leinen gedruckt verpackt, damit etwaige Kochflecken auch schnell wieder abgewischt werden können. 1500 Jahre orientalische Küche und Essgewohnheiten mit über 100 Rezepten zum Nachkochen, genießen Sie mit Peter Heines Anleitung Falafel, Hummus und Döner, Couscous, Dolma und Marzipan und viele andere Köstlichkeiten des Orients.

Peter Heine

Köstlicher Orient

Eine Geschichte der Esskultur. Mit über 100 Rezepten

Sachbuch. 2016

240 Seiten. 16 x 24 cm. Bedrucktes Leinen

Zweifarbig gedruckt und mit sehr vielen Abbildungen

29,90 €

ISBN 978-3-8031-3661-9

Verlag Klaus Wagenbach


Genre: Kulturgeschichte, Ratgeber, Volkskunde und Brauchtum
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Twin Peaks 3.0.: Das langersehnte Wiedersehen

reclamMit dem Ausspruch „If you miss it tonight, you won’t know what everyone’s talking about tomorrow“ warb der amerikanische Sender ABC für die zweite Staffel der wohl besten Serie über einen der „wunderbarsten und zugleich seltsamsten Orte“ des Nordwestens der USA und wenn 2017 das Twin Peaks Fieber anlässlich der dritten Staffel wieder ausbrechen wird und alle Münder nach einem „Damn Good Coffee“ und Kirschkuchen verlangen werden kann man sich jetzt schon sicher sein, dass die TV-Landschaft danach wieder nicht mehr dieselbe sein wird. Schon vor 25 Jahren revolutionierte Twin Peaks nämlich das Genre indem es das Zeitalter der „Autorenserien“ eröffnete und das Ende des Mediums zweiter Wahl einläutete. Twin Peaks 3.0 wird von Showtime ausgestrahlt werden und wahrscheinlich wieder in 30 Episoden aufgeteilt sein. Mit dabei sind natürlich wieder die Gründer der Serie allen voran David Lynch und Mark Frost sowie Kyle MacLachlan als Special Agent Dale Cooper.

Twin Peaks: Hommage an den Cliffhanger

„I will see you again in 25 years“, sagte Laura Palmer in der surrealen Traumsequenz der finalen Episode vom 10. Juni 1991 und tatsächlich wird es nun beinahe auf den Tag genau zu einem Wiedersehen kommen. Grund genug dafür, das bisher Geschehene nochmals auf 100 Seiten zusammenzufassen und in die nunmehr ein Vierteljahrhundert zurückliegenden Ereignisse erneut einzutauchen. Dabei hilft nun besonders der hier vorliegende kleine Reclam-Führer der nicht nur mit genauen Personenbeschreibungen, sondern auch schönen Grafiken zu Twin Peaks aufwartet. Zudem erfährt man natürlich auch, was in der Dritten Staffel geschehen wird und wer alles wieder mit dabei sein wird, aber auch was in den vergangenen 30 Episoden alles geschehen ist. Mit dem Satz: „Und da gibt es diesen Wind, der durch die Bäume streift“ soll David Lynch damals den ABC-Programmverantwortlichen davon überzeugt haben, sich an die Serie zu wagen, die damals alles bisher in der TV-Geschichte Dagewesene in den Schatten stellte. Leider war es dann auch ABC, die für den Einbruch der Einschaltquoten verantwortlich war, als der Mörder von Laura Palmer schon in der 18. Episode gestellt wurde. Natürlich war für den Einbruch auch die Sendeplatzverlegung auf den „graveyard slot“ verantwortlich, aber sicher nicht die Serie selbst, die man auch als Hommage an den Cliffhanger bezeichnen könnte.

2017: Give Peaks a chance!

Die vorliegende liebevoll zusammengestellte Publikation erzählt auch vom COOP (Citizens Outraged at the Offing of Peaks), die 1991 schon „All we are saying is give Peaks a chance“ skandierten. Auch Kritik an der zweiten Staffel ist zu vernehmen, die cinematographischen Vorbilder der Serie werden genannt sowie die Twin Peaks eigene Magie erklärt, etwa schon beim Vorspann: „mit seinen sanften Überblendungen steht für die Entdeckung der Langsamkeit, Entschleunigung, Kontemplation, für eine Traumreise, er erzeugt eine hypnotische Wirkung, lässt einen eintauchen in eine fremde Welt, entführt einen an einen idyllischen Meditationsort“. Wenn der Vorspann dann verklungen ist, sei man in einer Traumwelt angekommen, in der immer wieder die Gesetze der Wirklichkeit außer Kraft gesetzt würden.

Die Reihe “100 Seiten” erscheint bei Reclam als Taschenbuch im Format 11,4 x 17 cm auf 100 Seiten und enthält auch einige Abbildungen. Weitere Themen der Reihe sind: Asterix, Superhelden, David Bowie, Reformation, JOhn F. Kennedy, Resilienz u.v.a. Themen mehr.

 

Gunther Reinhardt

Twin Peaks. 100 Seiten

Broschiert. Format 11,4 x 17 cm

100 S. 7 Abb. Reclam Verlag

ISBN: 978-3-15-020421-4


Genre: Agentenroman, Biographien, Biographien, Kriminalromane, Kult, Kulturgeschichte
Illustrated by Reclam Stuttgart/Dietzenbach

Die Anatomie der Melancholie

Robert_Burton»Jeder Mensch hält seine Bürde für die schwerste«, schreibt der römische Philosoph Seneca, und »ein Melancholiker jammert mehr als alle anderen«, ergänzt Robert Burton (1577–1640) im Vorspruch seines Buches.

Der Autor, selbst hoch depressiv, kannte den Gegenstand seines Werkes nur allzu genau. 1621 erschien die erste Fassung des Werkes des englischen Exzentrikers, der als mönchischer Bücherwurm sein ganzes Leben in den Mauern des Oxforder Christ Church College verbrachte und dort nach der Erstveröffentlichung weitere dreißig Jahre an Erweiterungen und Vervollkommnungen des Werkes arbeitete. Schon seine klaustrophile Lebensweise wird seine Neigung zur Melancholie verstärkt haben.

Melancholie als Universalmetapher

Bei Burtons Lebenswerk handelt es sich um die erste grundsätzliche Behandlung der »englischen Krankheit« Melancholie, die wir heute im Krankheitsbild gern als Depression bezeichnen. Der Autor weitet den Melancholiebegriff zur Universalmetapher aus und seziert mit seinem Text eine in sich kranke Welt, die er als »domicilium insanorum«, als Irrenhaus, apostrophiert.

Frontispiz von 1638

Frontispiz von 1638

Vor rund 400 Jahren erschienen wirkt dieses Buch der Bücher vom Range der »Essais« eines Michel de Montaigne – abgesehen von manchen medizinischen Schlußfolgerungen – wie ein Text, der in unseren Tagen geboren wurde: frisch, sprudelnd, satirisch, blumenreich.

Übersetzer Werner von Koppenfels hat für die in der »Handbibliothek Dietrich« erschienene Ausgabe Texte aus der insgesamt dreibändigen »Everyman Edition« ausgewählt und stellt nach eigenen Angaben etwa ein Sechstel des voluminösen Originals vor. Gegliedert ist das Opus in eine Vorrede des unter dem Pseudonym des »lachenden Philosophen« Democritus als »Democritus Junior« schreibenden Burton, die allein als wortgewaltige Suada auf den Zeitgeist gelten darf. Schon in dieser Vorrede wird deutlich, dass es dem Verfasser bei aller wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit um eine gewaltige Satire geht, die er wortreich zu Papier bringt. »Turbine raptus ingenii«, wie Scaliger sagt, getrieben vom Wirbelsturm des eigenen Witzes, buschiert Burton wie ein Jagdhund durchs Gelände und bellt dabei jedes Thema an, das er am Wegesrand erblickt.

Schreiben als Gegenmittel zur Melancholie

Über Melancholie zu schreiben ist Burtons Art, die ihn plagende Melancholie zu vermeiden. Aus innerstem Antrieb versucht er, schreibenderweise den eigenen Geist zu besänftigen. Dabei ärgert ihn besonders das »Zeitalter der Kritzelei«, in dem er lebt. Er konstatiert, dass viele eine »unheilbare Schreibsucht« plage und die Zahl der Bücher ins Zahllose gewachsen sei: »Und dies nur, weil es jeden juckt und gelüstet, sich groß zu zeigen, weil er nach Ehre und Ansehen giert – und so schreibt man eben, was immer es sei, und kratzt es zusammen, woher auch immer – von Ruhmsucht verhext«. Angesichts der Wirklichkeit falle es schwer, darüber keine Satire zu verfassen.

Im Mittelpunkt seiner Schrift beschreibt Burton den Gegenstand seiner Untersuchung und schildert Ursachen und Symptome der Melancholie. Den Gegenstand seiner Abhandlung sieht er entweder als Veranlagung oder angenommene Gewohnheit. Von melancholischen Stimmungen sei kein Mensch verschont, jeder verspüre gelegentlich ihren Stich, Schwermut sei in diesem Sinne Merkmal der Sterblichkeit. »Auf einen Tropfen Honig komt in dieser Welt leicht ein Becher voll Galle«, schreibt er und verweist damit auf den Namen der Krankheit »melancholia«, was so viel wie »mélaina cholé« oder »schwarze Galle« bedeute.

Burtons Sicht der Ursachen von Melancholie

Robert Burton

Robert Burton

Ausführlich befasst Burton sich mit den Ursachen der Melancholie und kommt von den Eltern, die sie vererben können über die Ernährung zu Eigenschaften wie Ehrgeiz, Eigenliebe, Ruhmsucht, Prahlerei, den Drang zur Selbstvergrößerung und die Gewalt der Einbildung, die sie begünstigen.

Aus der Sicht des Verfassers der »Anatomie der Melancholie« sind all das vollkommen sinnlose Eigenschaften: »Unter all den Myriaden von Dichtern, Rhetorikern, Phoilosophen und Sophisten der früheren Zeiten hat kaum ein Werk von tausend überlebt«. – »Nomina et libri cum coribus interierunt«, ihre Namen und Bücher seien miteinander verwest. Und denoch »wollen und müssen Hinz und Kunz unsterblich werden (wie sie meinen), müssen ihren Ruhm bis zu unseren Antipoden ausbreiten, wo sie doch von der Hälfte, ja drei Vierteln ihrer Heimatprovinz weder wahrgenommen noch beachtet werden«.

Wege zur Heilung der Melancholie

Burton beschreibt die körperlichen und geistigen Zeichen, in denen sich depressives Verhalten ausdrückt. Gleichzeitig macht er Mut, es bestehe gute Aussicht auf Heilung, es sei denn, und dies sei die schwerste Kalamität, die Erkrankten legten selbst Hand an sich und suchten »inmitten dieser grauen, scheußlichen, verödeten Tage, da sich kein anderer Trost und Ausweg zeigt, die Erlösung aller Leiden im Tod«. Unterstützt würden sie dabei von Sokrates, der im »Phaidon« zitiert wird: »Leidet einer an einer unheilbaren Krankheit, so mag er sich selbst töten, wenn es zu seinem Wohl geschieht«. Dagegen stehe indes die christliche Auffassung, »wer sich selbst erdolcht, tötet die eigene Seele«.

Im weiteren Teil des Buches beschreibt Robert Burton die Wege zur Heilung der Melancholie. Übersetzer Koppenfeld hat hier die Stellen ausgewählt, die auch aus aktueller Erkenntnis noch medizinische Bedeutung haben könnten. Zum Schluß wendet sich Burton schließlich den Komplexen »Schwermut der Liebe« und »Religiöse Melancholie« zu.

Stilistisches Meisterwerk

Burtons »Melancholie« ist ein wundervoll geistreiches und trotz seines beinahe biblischen Alters aktuelles Werk, das sich geradezu anbietet, wieder entdeckt zu werden. In stilistischer Hinsicht schäumt das Buch über von sprachlichen Kaskaden und bunten Begriffen. Der Autor arbeitet verstärkend mit Tautologien, sprachlichen Spiralen und Schleifen, die das Vergnügen der Lektüre trotz des an sich ernsten Themas enorm steigert.

Der ohne Frage hoch gebildete Verfasser versucht immer wieder, seinen Leser mit eben dieser Bildung aufs Glatteis zu führen, indem er ihn schwallartig mit lateinischen Zitaten großer Geister überschwemmt, die zum Glück samt und sonders kongenial übertragen wurden. Allein diese stilistische Brillanz macht die Lektüre unabhängig vom Gegenstand, mit dem sich manche kreative Geister quälen, zu einem Hochgenuss.

Wer sich in Gesellschaft eines geistvollen Mannes in Gestalt seines Buches wohler fühlt als im Alltagstrubel des Banalen, wird mit Robert Burtons «Anatomie der Melancholie« bestens bedient.


Genre: Klassiker, Kulturgeschichte
Illustrated by Dietrich´sche Verlagsbuchhandlung

Weltberühmt durch Self-Publishing

weltberuehmt_cover_400pxDas Buch beginnt mit einer Kulturgeschichte von Sprache und Schrift und beschreibt eindrucksvoll, wie gerade das geschriebene Wort von den Herrschenden systematisch als Machtinstrument missbraucht wurde; ein Umstand, der erst mit der Erfindung des Buchdrucks korrigiert wurde.

Aber auch danach war das Leben der Literaten kein Ponyhof, nur die wenigsten konnten sich mit ihrer Kunst auch versorgen, damals wie heute. Um überhaupt einen Fuß in die Tür des Literaturbetriebs zu bekommen, investierten etliche Autoren der Geschichte in die Publikation der eigenen Werke. Und das waren nicht die Unbegabtesten, zum Beweis ruft der Verfasser nicht weniger als elf Nobelpreisträger in den Zeugenstand.

Ruprecht Frieling verfügt selbst über jahrzehntelange Erfahrung im Verlagswesen und Self-Publishing und ist natürlich prädestiniert, dieses lehrreiche und auch stets unterhaltsame Werk vorzulegen. Er macht darin all den Schreibenden Mut, die bisher noch nicht »entdeckt« sind, nicht aufzugeben, getreu dem Motto »Folge Deinem Stern!«


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Englische Exzentriker

Das Buch der schon selbst zu den Exzentrikern der britischen Literaturszene zählenden Dame Edith Sitwell sammelt Charakterbilder ungewöhnlicher Männer und Frauen, die sich auf die eine oder andere Weise in ihrer Exzentrizität hervorgetan haben. Dabei legt die exakte Beobachterin kein »humoriges« Werk vor, sie analysiert vielmehr scharfzüngig die verschiedenen Spezies britischer Exzentriker.

Exzentrik, so die Überzeugung Sitwells, kommt vor allem in England vor, weil dort eine spezifische Einsicht in die eigene Unfehlbarkeit Kennzeichen und Geburtsrecht der Eingeborenen ist. Dabei nimmt diese Entschiedenheit, ein Leben auszuformen und auf die Spitze zu treiben, vielfältigste Formen an und kann sich durchaus zur malerischen Vollkommenheit ausbilden.

Die »Bank-Nonne« Sarah Whitehead, die dreißig Jahre lang in einem Bankgebäude herumzulungerte, um ihren längst verstorbenen Bruder abzuholen, der dort tätig war und die sich bald dazu verstieg, öffentlich die Bank zu beschimpfen, weil sie vermeintlich um ein gewaltiges Vermögen gebracht werde, ist einer dieser sonderbaren Charaktere. Sitwell erzählt aber auch die Geschichte britischer Landadeliger, die – der Ruinenmode ihrer Zeit gemäß – Refugien in ihren Parks errichteten ließen, um sich dort Eremiten zur Zierde zu halten, die dort gegen entsprechendes Entgeld in schweigsamer Einsamkeit hausen sollten. Sie schildert einen komischen Kauz namens Jimmy Hirst, deer sich vorausschauend einen Sarg nach eigenem Gusto bauen ließ, der vorerst im Speisezimmer als Tisch, Büffet und Bar diente. Statt zu Pferde ritt Hirst auf einem Bullen zur Jagd, stolzierte in einer schimmernden Weste aus Federn eines Enterichs auf der Rennbahn umher und bezahlte seine Wettschulden mit selbstgefertigten Banknoten.

Sitwells großer historischer Rückblick auf die verschiedenen Spezies britischer Sonderlinge bedient sich einer entsprechend angemessenen exzentrischen Sprache, die äusserst ausgefeilt fast pfauengleich paradiert und nicht ganz leicht zu lesen ist. Wer lediglich ein lustiges Büchlein erwartet, der wird schlecht bedient; wer hingegen die ganz eigene Handschrift einer hochgebildeten Autorin, die sich mit dem Thema identifiziert – sie selbst wurde als höchst eigenwillig gekleideter Vogel mit dem Schnabel einer Harpyie beschrieben –, der wird diesem schlanken Band viel Freude abgewinnen.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange

index Bereits vor Jahren hat die Stiftung Buchkunst den Titel »Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange« als eines der schönsten Bücher des Landes ausgezeichnet. Ansonsten würde ich jetzt unverzüglich einen weiteren Pokal aus dem Ärmel zaubern und dem Potsdamer Vacat Verlag überreichen. Denn er hat mit der Veröffentlichung einen bibliophilen Sonnenschein vorgelegt, der in jeder Hinsicht ein leuchtender Stern am Bücherhimmel ist.

negrovitaminoDas federleichte 50-Gramm-Papier des Innenteils ist nur von einer Seite bedruckt und in der Mitte in der Tradition der Japanbindung gefaltet. So entsteht einerseits Volumen, andererseits wird das Durchscheinen der rund 500 farbigen Abbildungen verhindert. Der Buchblock wurde darauf in einen orangefarben-marmorierten festen Deckel gehängt und mit gelbem Kaptalband verziert. Ein hauchzarter Schutzumschlag nimmt die Marmorierung des harten Deckels auf und erweckt den Eindruck, als sei das Werk mit leicht angeknittertem Orangenpapier umhüllt. Kurz: Dieses Buch wirkt optisch wie haptisch bereits derart ansprechend, als sei sein Inhalt nur umhüllt, um zu verführen.

sirenaGeht der Rezensent eines Buches üblicherweise auf dessen Inhalt ein und befasst sich damit, ob und wie der jeweilige Autor sein Thema bezwungen hat, so sei dies ein Lobgesang auf den Geschmack und die Kunstsinnigkeit, mit der die Buchmacher dieses Kleinod ausstatteten und fertigten. Selten ist mir in der jüngeren Geschichte der Buchkunst ein Druckwerk in die Hände gefallen, bei dem Form und Inhalt derart punktgenau übereinstimmen. Denn auch inhaltlich geht es um etwas ausserordentlich Zartes, nämlich um die Vielfalt der bedruckten Papierchen, mit denen früher die Äpfel der Götter umhüllt wurden.

brigantinaApfelsinen, wörtlich »Äpfel aus China/Sina« sind jene oft zitierten »goldenen Äpfel«, die bereits im Altertum eine Hauptrolle spielten. Im Mythos wuchsen sie im Garten der Hesperiden, den Töchtern der Nacht. Bewacht wurden die Orangen von der drachenköpfigen Schlange Ladon. Der Olympier Herakles wurde von König Eurystheus von Mykene ausgesandt, um diese wertvollen Äpfel zu rauben. Der Held erschlug das Wächtertier, brachte die Früchte seinem Auftraggeber und bewältigte damit eine der zwölf »Herkulesaufgaben«. Und auch in dem vom mir verehrten »Ring des Nibelungen« spielt die Götterfrucht eine wichtige Rolle, da Wotan den Erbauern der Burg Walhall die den Obsthain hütende Göttin der Jugend als Lohn versprach und dafür künftig auf »das jüngende Obst« verzichten wollte …

majoliErst seit rund hundert Jahren ist es aufgrund schnellerer Verbindungen möglich, die Götterfrucht auch ohne Hilfe von Göttern und Helden in unsere Gefilde zu expedieren. Dazu wurden die am Baum ausgereiften empfindlichen Orangen manuell gepflückt und liebevoll in mit sonnigen Motiven farbenfroh bedruckte Papiere gehüllt. Diese Einwickelpapiere sind derart ansprechend, dass sie leicht zum Objekt der Begierde von Sammlern werden können.

sunnygirlDirik von Oettingen, Autor des Buches, hortet wohl eine der weltweit umfassendsten Sammlungen von Orangenpapier in Kisten und Kasten. Neben der permanenten Präsentation in seinem virtuellen Orangenpapiermuseum, breitet er rund 500 dieser farbenfrohen Verpackungspapiere vor dem Leser des vorliegenden Buches aus. Er zeigt dabei die Unterschiede hinsichtlich der Provenienzen und Motive, erstellt eine Systematik und gibt nüzliche Tipps zur Aufbereitung und Sammlung der dünnen Papiere.

Dirik von Oettingen

Verhüllt um zu verführen – Die Welt auf der Orange

Vacat Verlag 2007 ISBN 978-3-930752-47-8

€ 28,00 • Erhältlich bei Amazon


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Vacat Potsdam

Tausche Zement gegen Hemingway

In den frühen 80er Jahren war es für unabhängige westdeutsche Journalisten nicht einfach, Einreisegenehmigungen für die DDR zu erhalten und über dort Erlebtes zu berichten. Einer der wenigen, dem dies gelang ist Rupi Frieling, der nun seine damaligen Reportagen in einem hochinteressanten Band veröffentlicht.

Im Vorwort erzählt er über die damaligen Arbeitsbedingungen, die sicherlich nicht einfach waren für den Freigeist Frieling, aber er machte das Beste daraus und nahm trotzdem kein Blatt vor den Mund.

Es folgt ein fundiert wertvoller Überblick über die Geschichte der DDR-Literatur; dabei lassen sich so manche Perlen finden oder erneut entdecken.

Die Reisereportagen schildern eindrucksvoll ein Land der Leselust, in dem die Einwohner Schwierigkeiten haben, ihren literarischen Hunger zu stillen, besonders natürlich den nach exotischen Köstlichkeiten, die nicht unbedingt im Kulturkaufhaus des sozialistischen Realismus zu finden sind.

Mitunter amüsant fand ich die beschriebenen Bemühungen der DDR-Oberen, bei den von ihnen vereinnahmten großen Denkern wie Goethe, Luther oder Karl May möglichst nur das herauszupicken, was ins sozialistische Weltbild passt; mich erinnert das frappierend an die politische Korrektheit unserer Tage, in denen Klassiker und Schulbücher umgeschrieben werden müssen, um vermeintliche Diskriminierungen zu vermeiden.

Trotz solch aberwitziger Versuche war die DDR wahrlich kein Volk von Literaturbanausen, sondern im Gegenteil ein Land der Leselust, wie Frieling auch im Vorwort resümiert. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Besuch in Ostberlin, als ich keinerlei Schwierigkeiten hatte, das unfreiwillig erhaltene Begrüßungsgeld in Literatur zu investieren; beeindruckend dort die Vielzahl anspruchsvoller politischer Bücher (auch aus der BRD), die im Westen ein Schattendasein fristeten, wenn sie denn überhaupt erhältlich waren.

Frieling legt mit diesem Buch ein wichtiges Stück Zeit- und Kulturgeschichte aus einem Land vor, von dem man heute leider immer weniger weiß und das ist schade.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Tausche Zement gegen Hemingway

Lust auf DDR-Leselust?

Ich muss gestehn: Zu DDR-Zeiten hat mich der Literaturbetrieb „drüben“ überhaupt nicht interessiert. Sicher, Namen wie Johannes R. Becher, Anna Seghers, Stephan Hermlin, Christa Wolf hab’ ich als westdeutscher Literaturbeflissener schon zur Kenntnis genommen und das eine oder andere davon auch gelesen. Doch dass sich die DDR-Bürger auch beim Buch in einer Mangelsituation befanden – ich hätte es mir denken können, hab’ darauf aber keinen Gedanken verschwendet. Waren mir und meiner Frau, die mit ihren Eltern der CSSR republikflüchtig den Rücken gekehrt hatte, ja ohnehin der ganze Ostblock verschlossen. Sollten die in der DDR doch, wie gewollt, ihren eigenen Staat aufmachen – und lesen, was ihnen die marxistisch-leninistische Ideologie erlaubte …

Doch stopp! Fast hätte ich’s vergessen. Ich muss noch etwas gestehn: dass ich als Schüler und Student nur zu gerne die Möglichkeit wahrgenommen habe, günstig an die Brecht-Ausgabe und die Romane der großen Russen Dostojewski und Tolstoi aus dem Aufbau-Verlag ranzukommen. Ja, da gab’s nämlich auch bei mir so was wie „Tausche Zement gegen Hemingway“ – allerdings anders gewichtet, gerichtet und grenzüberschreitend im Sinne von „Tausche Hemingway gegen Zement“ – eine Freundin (Ost) meiner Großmutter (West) besorgte mir die begehrte Literatur und bekam dafür die benötigten Naturalien-Pakete …

Fast mit schlechtem Gewissen nehme ich also das Büchlein von Ruprecht Frieling in die Hände. Ich sag mir: „Nun befass dich doch nach 25 Jahren endlich mal mit dem Literaturbetrieb ‚drüben’! Wie war das denn?“ Ich hätt’s nicht gedacht, aber ich lege das Büchlein nicht eher aus der Hand, bis ich’s durchgelesen habe! Schon der zweite Untertitel macht mich neugierig: „Berichte aus dem untergegangenen Land der Leselust“. Die ehemalige DDR ein „Land der Leselust“? Wie denn das?

Schon bald kriege ich Lust zu lesen, was der Autor in einer Reihe von einzelnen Studien vor mir ausbreitet, übrigens, wie schon angedeutet, mit z.T. meine Neugier weckenden Überschriften wie bereits dem Cover-Titel („Kurze Geschichte der DDR-Literatur“), „Stumpfe Klingen, scharfe Pfeile“ (u.a. „Was ist ein politisches Buch?“, „Politische Ladenhüter, heimliche Bestseller“), „Wer ist der wahre Erbe? Diskussionen um Herrn Goethe …“, „Straßen nach Weimar sind Straßen zu Goethe“, „Am Lagerfeuer in Radebeul. Auf den Spuren Karl Mays in der DDR“, „Zu Gast bei Martin Luther“, „Der Verleger und das schöne Buch“ etc. etc.

Es sind in diesem Sammelbändchen übrigens lauter Artikel vereint, die Frieling in den Jahren 1982/83 an verschiedenen Orten veröffentlicht hat, wie z.B. bei dtv, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, Westermanns Monatshefte, Börsenblatt des deutschen Buchhandels. Er hatte als einer von ganz wenigen West-Journalisten die Chance, in dieser Zeit die DDR bereisen und dort recherchieren zu dürfen, wenngleich unter scharfen Auflagen. Seine Karriere als DDR-Reisekorrespondent endete allerdings mit einem Einreiseverbot, als sich der Staat durch Frielings Hotel- und Gaststättenführer und eine Bemerkung über wenig schmackhafte Pommes frites beleidigt fühlte!

Ich will hier nicht en detail auf Frielings Beobachtungen im „Land der Leselust“ eingehen. Ich will die Spannung eigener Lektüre nicht nehmen, sondern dazu anstacheln, das Büchlein selbst in die Hand zu nehmen. Es hält nämlich ein Lesevergnügen bereit, wenn man „vergnüglich“ findet zu lesen, welch seltsame Blüten der DDR-Literatur-, Lektüre- und Kulturbetrieb aus westlicher Sicht trieb. Deshalb nur ein paar Andeutungen, zugegebenermaßen willkürlich-subjektiv und von einem Leser, der nicht die Gelegenheit hatte, die sozialistisch geprägte Lesekultur selbst in Augenschein zu nehmen:
• Man lächle: Plaste-Körbe als Zugangsberechtigung beim Besuch einer mäßig bestückten Buchhandlung, in der selbst (ost-)inländisch Interessantes nur mit viel Glück unter dem Ladentisch und West-Lektüre bloß mit guten Beziehungen oder einer Ware (eben: „Zement gegen Hemingway“) zu bekommen ist.
• Man bedenke: Bücher als Mangelware als Folge von Papierkontingentierung und die DDR bezüglich Titelvielfalt als Schlusslicht in Europa.
• Man staune: Goethe als Vorreiter der Arbeiter- und Bauernmacht in einem touristisch höchst langweiligen, aber klassisch verschnörkelten Weimar.
• Man frage sich: Ein geschäftstüchtig vermarkteter Karl May, aber ganz ohne seine Romane, ohne Winnetou und Old Shatterhand?
• Man stelle sich vor: Das Großreinemachen in Halle, Eisleben, Wittenberg und Eisenach auf dem Weg zum 500. Geburtstag Martin Luthers, dem vom DDR-Staat vereinnahmten, auf marxistisch-leninistischen Forschungsstand getrimmten Reformator und Rebell.

All dies und noch viel mehr bekommen wir präsentiert in Form von Studien, Zeitschriftenartikeln und Interviews von einem Autor, der, wie wir längst wissen, so leserfreundlich, so klar, so prägnant zu formulieren versteht, dass man, ohne stecken zu bleiben, auch dieses Büchlein in einer Rutsche durchliest.

Eberhard Kleinschmidt


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Wie die Germanen den Tanga erfanden

Der Autor verpackt furztrockene Geschichte in knallbunte Geschichten, die sich spannend wie ein Krimi lesen.

Persönlich gefiel mir Kulturgeschichte des Teetrinkens in Deutschland am besten. Jetzt weiß ich, dass der 1610 aus Asien importiere Aufguss aus schwarzen Blattspitzen nur unter großen Schwierigkeiten zum Salongetränk wurde und verstehe die konkreten Auswirkungen des “praktischen” Kolonialismus besser.

Aber auch die spannende Geschichte der Freimaurerei und die Titelgeschichte, die der Entwicklung der Bademode gewidmet ist, habe ich in dieser Form noch nirgendwo gelesen.

Frieling schenkt dem Leser großes Kino!


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Andre Zeiten, andre Drachen

Als treuer Harry-Potter-Leser ist mir das spannende Thema Drachen ebenso geläufig wie durch Richard Wagners Oper „Der Ring des Nibelungen“, in dem sich ein allzu gieriger Riese in einen zänkischen Drachen verwandelt, der schließlich getötet wird. Dass es auch eine wissenschaftliche Drachenforschung gibt, habe ich erst durch die Lektüre dieses faszinierenden Führers durch die Kulturgeschichte der Drachen erfahren. Autor Wolfgang Schwerdt ist ein solcher Forscher, ein Dracologe, der es versteht, seinen Leser auf den Rücken eines feuerspeienden Ungeheuers zu locken und mit ihm die Jahrtausende zu durchbrausen.

Die Reise beginnt bei uralten Mythen und Legenden, die Drachen furchterregend darstellen und von ihrem besonderen Appetit auf Jungfrauen erzählen. Sie führt von den Babylonieren über die Welt der Griechen, die Drachen als Abkömmlinge der Götter verehrten, hin zu den mittelalterlichen Heldensagen vom Drachen Fafnir (vom dem Richard Wagner musikalisch erzählt) und vom Leviathan. Die Entdeckung der Erde und das damit verbundene Interesse an exotischen Tieren (erwähnt sei nur der Komodo-Waran, dem Douglas Adams seine Reportage „Die Letzten ihrer Art“ widmete) bescherte den Drachen auch in der Neuzeit ein starkes Interesse des Publikums, das durch die zeitgenössische Fantasyliteratur phantasievoll beflügelt wird.

„Andre Zeiten – Andre Drachen“ ist alles andere als eine staubtrockene Abhandlung versunkener Kulturgeschichte. Es handelt sich um ein leicht geschriebenes Werk, das auf eine erfrischend unakademische Art rund zehntausend Jahre Kulturgeschichte Europas und Vorderasiens klammert.


Genre: Kulturgeschichte
Illustrated by Vergangenheitsverlag Berlin