Vatermal

 

Ich werde eure Töchter vögeln,
bis sie arabisch sprechen

Der als Dramaturg und Essayist bekannte Necati Öziri hat mit seinem Debüt-Roman «Vatermal» auf Anhieb große Beachtung gefunden. Sein Buch stand 2023 auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, die Rezeption war auch im Feuilleton und bei der Leserschaft durchweg positiv. Es handelt sich um einen Familienroman mit Migrations-Hintergrund, aber auch um eine im Jetzt angesiedelte Coming-of-Age-Geschichte eines Jungen, der aufgrund schulischer Leistungen und akademischer Ambitionen beste Aussichten hat, dem migrantischen Prekariat seiner Eltern zu entkommen. Der Protagonist dieses Romans, Arda Kaya, liegt mit der Diagnose Organversagen auf der Intensivstation, sein Immunsystem schädigt durch eine fatale Fehlfunktion die eigene Leber. Alle Therapie-Versuche der Ärzte sind bisher erfolglos geblieben. «Trotzdem würde ich jedem von ihnen die Hand küssen, würden sie es doch noch hinkriegen, dass ich dieses Zimmer nicht mit den Füßen voran verlasse.»

Im Sterben liegend wendet sich der Ich-Erzähler Arda in Briefform an den abwesenden Vater, den er nie kennen gelernt hat. Einzige Verbindung zu ihm ist sein «Vatermal», wie er das Muttermal nennt, das er von seinem Vater geerbt hat, was ein altes Foto beweist. Metin Kaya hat in der Türkei einen politisch motivierten Mord begangen und wird dort in bestimmten Kreisen als Held gefeiert. Nach einem verheerenden Erdbeben emigriert er mit seiner Frau nach Deutschland. Sie lassen ihre Tochter Aylin zunächst in der Obhut der Verwandtschaft und holen sie dann drei Jahre später zu sich ins Ruhrgebiet, wo dann auch ihr Sohn Arda geboren wird. Später geht der Vater, obwohl ihm dort Gefängnis droht, zurück in die Türkei und lässt seine Familie in prekären Verhältnissen zurück. Die Mutter schlägt sich mehr schlecht als recht alleine durch, arbeitet in einem Imbiss und meistert im Kampf mit einer zähen Ausländer-Bürokratie schließlich sogar den für die Familie lebenswichtigen Einbürgerungsakt als Deutsche. Er müsse, erfährt Arda, obwohl hier geboren und aufgewachsen, zur Einbürgerung spontan einen mindestens 300 Zeichen langen Pflichttext in Deutsch schreiben. Wütend über diesen bürokratischen Schwachsinn schreibt der inzwischen Zwanzigjährige und an der Uni für das Fach Literatur eingeschriebene Arda unter anderem: «Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen.» Er bekommt denn auch um Handumdrehen die begehrte Einbürgerungs-Urkunde, die er für seinen deutschen Pass braucht.

Es sind die sozialen und politischen Hürden und Fallstricke, von denen dem abwesenden Vater Metin in diesem Roman berichtet wird. Eine Geschichte vom Scheitern, ausgelöst vom Absturz der Mutter als Alkoholikerin. Die älteste Tochter Aylin, zeitweise Ersatzmutter und engste Vertraute des Ich-Erzählers, verlässt nach endlosen, heftigen Querelen mit der Mutter die gemeinsame Wohnung. Sie spricht fortan kein Wort mehr mit der Mutter und vermeidet jedes Zusammentreffen. Sohn Arda durchlebt die Exzesse der in prekären Verhältnissen aufwachsenden Jugendlichen, die am Bahnhof herumhängen, Joints rauchen und Drogen verticken, sich als Rapper versuchen, ansonsten nur Blödsinn machen oder sich prügeln. Eine kleinkriminelle Szene mithin, zu der auch immer wieder Kontrollen der Polizei gehören, denn junge Männer mit migrantischem Hintergrund sind ja immer verdächtig!

Dieses bedrückende Auseinanderbrechen einer migrantisch türkischen Familie wird in einem gut durchdachten Plot mit einer betont lockeren Sprache in 21 Kapiteln geschildert. Die Briefform des ersten Kapitels wird allerdings nicht durchgehend eingehalten, Vater Metin als Du-Adressat des Erzählten wirkt somit formal nicht gerade überzeugend. Geradezu erfrischend hingegen ist die lockere, durchaus real wirkende Sprache des Romans, die insbesondere in dem krassen Slang der heutigen Underdog-Jugend zum Tragen kommt. Dem unverkennbar lakonischen Erzählton ist stets auch eine ordentliche Prise Humor beigemengt, wobei insbesondere die extrem lässig wirkenden, lockeren Dialoge von einem Zeitgeist zeugen, wie er aktueller kaum sein kann.

Fazit:   lesenswert


Genre: Roman
Illustrated by Claasen München