Böse Schafe

Brief an einen Toten

Als einer ihrer wichtigsten Romane wurde «Böse Schafe» von Katja Lange-Müller vom Feuilleton einhellig positiv aufgenommen, sein Thema ist das komplizierte Beziehungsgeflecht von gesellschaftlichen Außenseitern. Die in der Vorwendezeit in West-Berlin angesiedelte Liebesgeschichte zweier kaputter Typen überzeugt nicht nur durch die völlig unsentimentale, sprachlich nüchterne Umsetzung des Stoffs, sondern auch durch die intime Nähe zu den Figuren. Diese besonders intensive Wirkung wird vor allem durch die sehr spezielle Erzählform als fiktiver Brief an einen Toten erzeugt.

Die vierzigjährige Schriftsetzerin Soja, Republikflüchtling aus der DDR, die sich in Berlin mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, trifft 1987 am U-Bahnhof Nollendorfplatz auf Harry, der als schöner Mann, «blauäugig, bleich, aschblond», eine geradezu unwiderstehliche, spontane Anziehungskraft auf sie ausübt. In dem posthumen Brief, den sie ihm vier Jahre später schreibt und den wir als Roman lesen, sieht sie einen Film ablaufen und fragt selbstkritisch: «Hätte ich mich, als unser Film in Echtzeit lief, als wir zu fotografieren gewesen wären, nach deinen Empfindungen erkundigen sollen?» Denn wie sie merkt, gibt der schweigsame Traummann wenig preis von sich und bleibt ihr gegenüber sogar als Liebhaber merkwürdig zurückhaltend. Trotzdem ignoriert sie zunächst alle Indizien, bis dann nach und nach aber heraus kommt, dass er auf Bewährung aus dem Gefängnis entlassen wurde, wo er eine zehnjährige Strafe wegen Raubüberfalls abzubüßen hat. Außerdem hat er auch gegen Bewährungs-Auflagen verstoßen, weil er seine Drogentherapie abgebrochen hat. Soja kämpft um eine neue Therapie für ihn, setzt sich selbstlos für ihn ein und unterstützt ihn sogar finanziell, obwohl sie selbst in eher prekären Verhältnissen lebt. Es dauert nicht lange, bis die nächste, bisher verschwiegene Hiobsbotschaft sie erreicht, die sie dann sehr direkt plötzlich auch selbst betrifft.

«Mein Lebensthema sind, glaube ich, die Widersprüche» hat die Autorin im Interview bekannt. Das wird hier verkörpert durch die große Liebe einer unbeirrbaren, starken Frau aus dem Osten zu dem kriminellen Junkie aus dem Westen, der ihre Gefühle in keiner Weise erwidert hat, wie sie ihm in ihrem Brief posthum vorwirft. Die Autorin lotet nüchtern aus, wie weit Hingabe tatsächlich gehen kann, ohne jedoch pathetisch zu werden, was in diesem Genre ja eher selten anzutreffen ist. In ihrem Rückblick auf den vierjährigen Abschnitt ihres Lebens mit Harry stellt Soja ihm existentielle Fragen, um zu verstehen, was für ein Mensch er wirklich war. Und trotz der durch sein Verhalten ihr gegenüber ausgedrückten, emotionalen Defizite wirkt dieser schräge Vogel nie unsympathisch, er strahlt auch in verstörenden Momenten immer noch einen gewissen Charme aus, und zwar nicht nur auf Soja, sondern erstaunlicher Weise auch auf den Leser. Der lange, quälende Sterbeprozess von Harry schließlich, der am Ende einsam stirbt und Soja mit seinen Habseligkeiten auch ein Schulheft mit Aufzeichnungen hinterlässt, ruft Mitgefühl beim Lesen hervor, er ist im Grunde eigentlich nur ‹ein armer Hund›. Harrys undatierte Notizen über seine Zeit mit ihr sind, kursiv abgesetzt und in kurzen Abschnitten über den gesamten Text verteilt, in den fiktiven Brief eingefügt. Es sind geradezu schreckliche Aufzeichnungen, die Soja da ahnungslos liest, denn in seinen insgesamt neunundachtzig Sätzen kommt sie mit keinem einzigen Wort vor, so als hätte es sie nie gegeben.

Eine derartige, nicht auf Gegenseitigkeit beruhende Amour fou wirft natürlich allerlei interessante Fragen auf. Kann man Sojas demütige Hingabe überhaupt noch Liebe nennen? Kann denn die nicht wiedergeliebte Liebende jemals glücklich gewesen sein? Neben seiner Liebesthematik ist «Böse Schafe» auch ein typischer Berlin-Roman mit stimmigen Milieu-Schilderungen. Dieser stilistisch ungewöhnliche, komplexe Roman ist eine unterhaltsame, bereichernde Lektüre.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Drehtür

Ein Augenblick des Verharrens auf einem Flughafen wird zum Blick zurück. Eine Krankenschwester kehrt nach ihrem letzten Auslandseinsatz aus Lateinamerika heim nach Deutschland. Aber es ist eigentlich keine Heimkehr, sondern eine Strandung. Ihre letzten Kollegen in einer Klinik in Nicaragua haben ihre fehlende Eignung für die dortigen Anforderungen erkannt und Geld für das Rückflugticket gesammelt. Inspiriert vom Vielerlei der dem Ab- und Anschlussflug harrenden Menschen und Gesichter lässt sie ihr eigenes Berufsleben in fernen Landen und  Kulturen noch einmal Revue passieren. Dabei schöpft sie aus viel Selbst- aber auch aus Fremderlebten, indem sie Erinnerungen derer mit ein flechtet, die ihr in all den Höhen und Tiefen, die dieser Beruf ganz besonders im Ausland nun einmal mit sich bringt, begegnet sind. Und führwahr, als Krankenschwester gibt es in der großen weiten Welt viel zu erleben, sei es nun die Frauen verachtende Kastenkultur in Indien, jener kräftige Grauschleier der nur noch wenig Lust auf sonstige spirituelle Erleuchtungen übrig lässt, oder auf den Pfaden von Che Guevara und Guerilla-Ikone Tamara Bunke im bolivianischen Dschungel. Dazwischen eingestreut sind private Reisehumoresken und ihre Auswirkungen auf die Paardynamik im Endstadium.

Das Ganze ist gut geschrieben, mit einem wachen Blick für die großen und kleinen Dramen der Unwägbarkeit des Lebens. Gerade ihr Sarkasmus, der zudem von originellen Bildern gut unterstützt wird, schafft über die Ehrlichkeit die Empathie. Alle, sogar bis hin zur jammernden Katze vor der Appartement-Tür im Ferienparadies bekommen den ihnen gebührenden Anteil davon ab.

Indes ahnt man während der Lektüre zunehmend weniger, worauf das Ganze hinaus laufen soll und auch nach dem Schluss bleibt Ratlosigkeit zurück, denn zu sehr stehen die Geschichten in ihrer Episodenhaftigkeit im Vordergrund und damit für sich alleine da. Sie weisen keinen tieferen Zusammenhang auf, als von ein und derselben Person zum Besten gegeben zu werden. Sie entfalten im Verhältnis zueinander keine Wechselwirkung und münden auch in keinem erkennbaren Entwicklungsstrang ein. Das Ende besteht in der Vorenthaltung von Weiterem. Es ist  eine Begrenzung der Erzählmenge aber kein erzählerischer Abschluss. So gesehen ist das Werk von vornherein dazu verurteilt, nicht mehr sein zu können als die Summe der erzählten Teile, aber die sind durchweg lesenswert und gut.

 

 


Genre: Erzählungen
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln