Gittersee

Verrat und Gegenverrat im Teenager-Milieu

Es ist sicher kein Zufall, dass neben Anne Rabe auch Charlotte Gneuß mit «Gittersee» einen DDR-Roman geschrieben hat, der es als Debüt immerhin auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft hat. Anders als ihre schreibende Kollegin ist Charlotte Gneuß ein Wessi, eine Schwäbin ohne jede DDR-Prägung, ihre Geschichte beruht also auf Erzählungen und Recherchen, nicht auf eigenem Erleben. Ihre Protagonistin schildert als 16jährige Ich-Erzählerin sehr anschaulich ihr Leben in einer zerrissenen Familie mit den «werktätigen» Eltern, einer strengen Oma und der kleinen Schwester. Die zu hüten ist ihre ständige Pflicht, was ihr eigenes Leben als Pubertierende zwar stark einschränkt, was Karin aber gerne tut, sie liebt das Kleinkind inniglich. Schauplatz des Geschehens ist der titelgebende Stadtteil «Gittersee» von Dresden, der durch seinen Bergbau bekannt ist. Erzählzeit ist das Jahr 1976, das von den innerdeutschen Verträgen ebenso geprägt war wie von der KSZE. Das stelle, wie die Autorin im Interview erklärt hat, für Ostdeutschland eine ähnliche Zäsur dar wie das Jahr 1968 für Westdeutschland.

Im Fokus des Romans steht die Stasi, allgewaltige Spitzel-Krake, deren Tentakel überall hin reichen im Arbeiter- und Bauernstaat, auch bis zu Karin hin. Deren älterer Freund Paul, Bergarbeiter in der Wismut, ihre erste Liebe, macht ihr den Vorschlag, sie bei seinem geplanten dreitägigen Kletterausflug in die Tschechoslowakei zu begleiten. Paul hat eine Schwalbe, ein damals in der DDR außerordentlich weitverbreitetes Kleinkraftrad, auf dem er sie mitnehmen könne. Er schärft ihr ein, aber ja niemandem davon zu erzählen. Wegen ihrer Pflichten in der Familie muss Karin jedoch absagen, Paul fährt mit einem Freund allein los. Nach der ersten Nacht im Zelt ist er spurlos verschwunden, und prompt stehen kurz darauf zwei Stasi-Mitarbeiter vor Karins Tür. Sie wollen von ihr wissen, ob sie von Pauls Plänen gewusst habe. Wenn ja, wäre das eine strafbedrohte Beihilfe zur «Republikflucht», – was für ein perverses Staatsverständnis steckt in diesem Wort! Guten Gewissens beteuert Karin, sie habe keine Ahnung gehabt und wisse nicht, wo Paul sei, sie habe auch keinerlei Lebenszeichen von ihm erhalten.

Von nun an ist die Stasi Dauergast bei Karin, ihre fragile Welt bricht zusammen, nichts ist mehr so. wie es war. Denn auch in der Familie rumort es, ihre Mutter verlässt Mann und Kinder und zieht zu einer Freundin in die Stadt. Sie fühlt sich zu Größerem berufen, möchte sich in anderen sozialen Kreisen bewegen als in der drögen Vorstadt-Gesellschaft mit ihren prekären Lebens-Bedingungen. Der Vater ist alkoholkrank und säuft sich gelegentlich ins Koma, kümmert sich aber immerhin mit Hilfe der Großmutter um die zwei Töchter. Einer der Stasi-Männer ist besonders hartnäckig und führt nun beinahe wöchentlich Gespräche mit Karin. Sie müsse doch etwas gespürt haben, wird ihr vorgehalten, ob ihr denn wirklich gar nichts aufgefallen sei! Schließlich hat er Karin so weit, sie verpflichtet sich als IM, als informelle Mitarbeiterin der DDR-Staatssicherheit, von denen es in ‹Blütezeiten› 200.000 gab, etwa jeder achtzigste also. Karins Motive bleiben unklar: Erhofft sie sich Informationen über Paul? Will sie Karriere machen als Geheimdienst-Mitarbeiterin?

Dieser Roman hält sich strikt an das Private, er beleuchtet auf subtile Weise das zerrüttete Familienleben seiner Heldin Karin, die schon so früh eingespannt ist in die alltäglichen Pflichten. Schule und Freundschaften unter Teenagern sind ebenfalls Themen, die Charlotte Gneuß wichtig sind und von ihr, nicht ohne ironischen Unterton, mit einbezogen werden in ihren Debütroman. Stilistisch ist er durch seine sprachliche Verknappung geprägt, die vor allem in den Dialogen zum Ausdruck kommt. Der Plot ist von diversen Einschüben wirrer Träume durchzogen, lebt nicht zuletzt von einem gewissen Spannungsbogen und lässt auch Vieles im Schwebezustand. Wenig überzeugend allerdings ist das kriminalistisch inspirierte Ende dieser Story von Verrat und Gegenverrat im Teenager-Milieu der DDR.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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