Das Geschirr neu sortiert
Auf raffinierte Weise steuert «Drifter» von einem rasanten Gegenwartsroman zu einer ziemlich durchgeknallten Erzählung hin, steigert also das Irreale dieser amüsanten Gegenwarts-Geschichte von Ulrike Sterblich genüsslich bis zu einem Feuerwerk der Absurditäten. Der Ich-Erzähler Wenzel und sein Freund Marco Killmann, von allen nur Killer genannt, sind seit frühster Jugend ein unverbrüchliches Freundespaar. Sie leben am Rand einer Großstadt in einem dafür typischen Hochhaus-Viertel. Gegensätze ziehen sich an, glaubt man einer alten Volksweisheit, vielleicht ergänzen sich die unterschiedlichen jungen Männer ja gerade deshalb so gut. Vom ersten Moment an jedenfalls sind einem die beiden Figuren überaus sympathisch, ihre Geschichte bildet stimmig die Jetztzeit ab, mit dem dazugehörigen Wording der Yougsters.
Es ist vordergründig die Geschichte einer Freundschaft, die da erzählt wird. Wenzel arbeitet nach abgebrochenem Publizistik-Studium im Community-Team eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders, dessen Social-Media-Kanäle er betreut. Ein wahrlich frustrierender Job angesichts der oft banalen, zuweilen aber auch wütenden bis bösartigen Äußerungen der Zuschauer. Der belesene Wenzel verkörpert den melancholischen Verlierer-Typ, er hat resigniert und seine hehren Träume vom Journalismus aufgegeben. Bei den Frauen ist er gleichermaßen erfolglos, ein kurzes Techtelmechtel mit seiner Kollegin endet abrupt, als die sich in den glamourösen Sieger des Hahnenkamm-Skirennens verliebt. Sein Freund Killer, ein eloquenter und sympathischer Draufgänger, ist hingegen ein äußerst geselliger Typ. Er ist PR-Chef eines großen Lebensmittel-Konzerns, ein lukrativer Job. Nur hadert er, insgeheim natürlich, mit der seiner Ansicht nach fragwürdigen Compliance seines Arbeitgebers, die er ja nach außen hin überzeugend vertreten muss.
Der eigentliche Plot des Romans ist eine mysteriöse Geschichte, die damit anfängt, dass Wenzel in der S-Bahn eine Frau im goldenen Kleid sieht, die ein Buch des Schriftstellers «Drifter» in Händen hält. Als glühender Anhänger kennt Wenzel alle Bücher dieses Autors, nicht jedoch «Elektrokröte», wie der Titel des ihm unbekannten Buches der Frau heißt. Sein Buchhändler kennt das Buch auch nicht, will es bestellen, findet es aber nicht in den Computer-Listen. Durch Zufall trifft er die mysteriöse Frau wieder, die sich als die erfolgreiche Social-Media-Entertainerin Ludovica Malabene entpuppt, kurz Vica genannt. Sie kann zaubern, gibt Geldanlage-Tipps, will in die Buchbranche investieren. Was folgt ist ein turbulenter, sich zunehmend ins Absurde hinein steigernder Plot. Wenzel schreibt eine immer länger werdende Liste der Fragen, die er an Vica hat, die er ihr aber noch nicht stellen konnte mangels Gelegenheit. Killer wird beim Besuch der Pferde-Rennbahn von einem in unmittelbarer Nähe einschlagenden Blitz getroffen. Er trägt nur äußerliche Blessuren davon, hat sich aber mental verändert, hört plötzlich «A-cappella-Gesang aus Pustgeräuschen», wo nichts zu hören ist, riecht überall Orangen, ‑ und fängt dann auch noch an zu philosophieren. Er ist nicht mehr der alte ‹Killer›, schmeißt schließlich sogar seinen Job hin. «Es ist nicht so», heißt es im Roman, «als hätte er nicht mehr alle Tassen im Schrank. Aber er hat das Geschirr neu sortiert.»
Dem magischen Realismus verpflichtet, streut Ulrike Sterblich ideenreich und lässig neben vielen skurrilen Figuren auch tanzende Hunde ein in ihre Geschichte, psychoaktive Pilze und wundersam variable Gebäude jenseits aller Statik, immer nach dem Motto: ‹Nichts ist unmöglich›! Damit verbunden ist auch eine deutliche Gesellschaftskritik, die ironisch und fein dosiert daherkommt, realisiert oft durch angesagte Nerd-Diskurse ihrer Figuren, beispielweise über die Frage, ob es eigentlich auch Horror-Opern gibt. Was dann natürlich zu der erwartbaren Antwort führt: «Du, alle Opern sind Horror!» Mit der Zeit nehmen die immer verwegeneren Winkelzüge und bewussten Irritationen allerdings überhand, verwirren als Albernheiten zunehmend den Leser, mäandern ziellos ins Sinnfreie. Seinen Spaß hat man trotzdem!
Fazit: lesenswert
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