Triceratops

Beklemmende Lektüre

Mit «Triceratops» von Stephan Roiss scheint sich eine Tradition österreichischer Psychiatrie-Romane zu verstetigen, denn prompt landete heuer auch dieses Debüt auf der Longlist des Frankfurter Buchpreises, so wie im Vorjahr schon «Vater unser» von Angela Lehner. Aber damit enden auch schon alle Gemeinsamkeiten der beiden Romane, denn was wir hier zu lesen bekommen, das ist vergleichsweise schwere Kost. Er habe fünf Jahre an seinem autobiografisch inspirierten Roman geschrieben, hat der Autor erklärt, zum einen wegen der extrem komprimierten Erzählweise, andererseits aber auch wegen der schwierig durchzuhaltenden, ungewöhnlichen Wir-Perspektive, aus der heraus erzählt wird. Und es handelt sich beileibe nicht um den Pluralis Majestatis dabei, diese spezielle Erzählform verdeutlicht als Selbstschutz des Protagonisten vielmehr seine hoffnungslose Einsamkeit. Der titelgebende Dinosaurier wiederum, ein wehrhaftes Urzeit-Nashorn mit einem mächtigen Nackenschild und drei Hörnern, ist ein beredter Hinweis auf seine Sehnsucht nach Geborgenheit.

Erzählt wird die traumatische Geschichte eines namenlos bleibenden Jungen, der in einer psychisch gestörten Familie aufwächst. Die Mutter war schon fünfmal in der geschlossenen Psychiatrie, sie sei gemütskrank, seit sie ihren Vater aufgefunden habe, der sich in der Scheune erhängt hat. Die psychisch labile, ältere Schwester wiederum glaubt, ihre Verhaltensstörung von der Mutter geerbt zu haben. Gebetsmühlenartig wiederholt sie den Satz «Alles wird gut», der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Dem frömmelnden, eher weichlichen Vater gelingt es trotz aller Bemühungen nicht, Normalität herzustellen in seiner Familie, auf der ein Fluch zu liegen scheint, er flüchtet sich resigniert in den Alkohol. Und der Sohn schließlich, der in solch trostloser Umgebung aufwächst und all dem nicht gewachsen ist, weicht in die Sprachlosigkeit aus. Er bleibt meist stumm und rettet sich in Traumwelten hinein. Und zu denen gehören eben auch die Dinosaurier, um deren Stärke und Unverwundbarkeit er sie beneidet, sie sind immer wieder Motive seiner kindlichen Malereien. Trotz aller psychischen Probleme jedoch gibt es auch ein ‹normales› Familienleben, zu dem die altersbedingt zeitweise demente Großmutter beiträgt.

Sprunghaft und in kleinste Abschnitte unterteilt wird mit «Triceratops» eine bedrückende Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die in den 1980/90er Jahren angesiedelt ist. Angefangen vom achtjährigen Schulkind bis in die späte Adoleszenz hinein reiht sich da, geradezu lakonisch, ein Erinnerungssplitter an den anderen. Das reicht vom plötzlichen Versagen in der dörflichen Schule, diversen Streichen und Missgeschicken, dem Ausbrechen auch aus familiären Pflichten bis hin zur Initiation durch ein Punk-Mädchen und dem Abtauchen in den städtischen Untergrund. Zu einer Zäsur kommt es, als die seelisch gestörte Schwester ihr wenige Monate altes Baby erstickt, weil sie ihm ein Schicksal wie das ihre nicht zumuten will.

Stephan Roiss hat mit seinem Roman nicht nur eine eindringliche Darstellung der Verzweiflung geschaffen, er hat cool und emotionslos das Psychogramm einer Familie beschrieben, mit allen ihren seelischen Vorbedingungen und Abhängigkeiten. Die seltsame Wir-Perspektive, die immer wieder die Frage aufkommen lässt, von wo aus da erzählt wird, trägt mit ihrer ungewohnten Tonalität einiges bei zur düsteren Stimmung dieser Erzählung, sie wirkt geradezu beschwörend auf den Leser ein. Erst auf der letzten Seite wechselt die Perspektive, plötzlich ist von dem ‹Jungen› die Rede, der da seine Schwester in der geschlossenen Anstalt besuchen kommt. «Ich heiße Konrad. Wie heißen Sie?» lautet der letzte Satz, mit dem ein seit Jahrzehnten weg gesperrter Insasse, den er aber schon jahrelang kennt, sich ihm vorstellt. «Triceratops» ist eine gekonnt erzählte, beklemmende Lektüre, narrativ durchaus bereichernd, aber inhaltlich völlig inkonsistent, und recht unerfreulich obendrein!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kremayr und Scheriau

Ein Tag wird kommen

Mit persönlichem Bonus

«Ein Tag wird kommen», der erste auf Deutsch erschienene Roman der jungen italienischen Schriftstellerin Giulia Caminito, ist von der eigenen Familiengeschichte inspiriert. Ihr Urgroßvater war Anarchist und liefert damit die Vorlage für einen der beiden Protagonisten dieses politisch geprägten Romans. Den religiösen Widerpart dazu bildet als ebenfalls historische Figur die aus dem Sudan verschleppte Zeinab Alif, sie hatte als Nonne den Namen Maria Giuseppina Benvenuti angenommen, das Volk nannte sie nur La Moretta. Die Erzählung mit dem neugierig machenden Titel ist in der italienischen Region ‹Marken› angesiedelt und schildert das Leben der vom Unglück verfolgten Familie des Bäckers Luigi Ceresa in der kleinen Ortschaft Serra de’ Conti. Den historischen Hintergrund bilden Anfang des 20ten Jahrhunderts Ereignisse wie der Erste Weltkrieg, die anarchistische Bewegung von Errico Malatesta und das Aufkeimen des Faschismus unter Mussolini.

Ein Roman über zwei ungleiche Männer, zum einen der kämpferische Anarchist Lupo, dem die Autorin allegorisch gleich zu Beginn den auf dem Titel abgebildeten Wolf zugesellt. Der von ihm verletzt aufgefundene und großgezogene Welpe wird, symbolisch leider deutlich überzogen, ‹Cane› genannt, künftig sein treuer Begleiter. Zweiter Protagonist ist sein schwächlicher und ängstlicher Bruder Nicola, der zum Arbeiten absolut nicht taugt. Die ungleichen Brüder lieben sich inniglich, sie bilden ein unzertrennliches Paar mit dem Kraftprotz Lupo als unermüdlichem Beschützer, der seinerseits von der Bildung des introvertierten jüngeren Bruders profitiert. Im Prolog legt Nicola das Gewehr auf Lupo an und schießt, ein gekonnt Spannung erzeugender Beginn, dem allerdings eine anfangs ziemlich verwirrende Geschichte folgt, die erst ab der zweiten Buchhälfte geläufiger lesbar wird. In getrennten Handlungsfäden wird, mit diversen Rückblenden und Vorgriffen, die Geschichte der Familie Ceresa erzählt, die in ärmlichsten Verhältnissen lebt. Nach vielen Totgeburten sind dann auch noch zwei ihrer überlebenden fünf Kinder früh gestorben, außer den beiden Söhnen gibt es nur noch die rebellische Nella, die aber als junges Mädchen ins örtliche Kloster gehen musste. Hinter all dem verbirgt sich, das wird dem Leser schon bald klar, ein düsteres Familiengeheimnis, auf das ja schon der Buchtitel hindeutet.

In dieser elegischen Geschichte der Hungerleider geht es sehr rau zu, alle fristen ihr karges Dasein in dem zutiefst ungerechten Halbpächter-System Italiens. Der Widerstand gegen dieses verhasste Relikt aus feudalen Zeiten eskaliert in der «Settimana Rossa», den Unruhen und Streiks in Ancona im Juni 1914, an denen auch Lupo in vorderster Front beteiligt ist. Sein Bruder Nicola wird als 1899-Geborener blutjung in den sinnlosen Krieg geschickt, dessen Grauen die Autorin eindrucksvoll schildert. Ebenso eindrücklich sind die Beschreibungen des Klarissinnen-Klosters, in dem die unglückliche Nella wie eine Gefangene lebt. La Moretta hat dort als Äbtissin unerbittlich ein strenges Reglement etabliert, zu dem besonders das unbedingte Schweigegelübde gehört, aber auch die ausnahmslose Klausur. Was der Krieg nicht geschafft hat, das vollendet die Spanische Grippe, die weite Teile der Bevölkerung dahinrafft und ganze Landstriche entvölkert, weitaus schlimmer als das, was wir zur Zeit mit Corona erleben.

Diese in dreizehn Kapitel sowie Prolog und Epilog gegliederte Geschichte wird in einer dem freudlosen Geschehen angepassten, schlichten Sprache erzählt, wobei die verwendeten Metaphern manchmal alles andere als überzeugend sind. Vom Plot her reizvoll ist der gut herausgearbeitete Gegensatz zwischen politischer Anarchie und naivster Religiosität. Der Roman erscheint thematisch jedoch ziemlich überfrachtet, Giulia Caminito hat sich regelrecht verzettelt mit ihrem multi-thematischen Sujet. Wer lange in den ‹Marken› gelebt hat wie ich, wird ihr das aber, als persönlicher Bonus quasi, gerne nachsehen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Wagenbach

Was Nina wusste

Der Whisky bringt’s

Der neue Roman «Was Nina wusste» von David Grossmann basiert auf der Lebensgeschichte der kroatischen Kommunistin Eva Panic-Nahir, die als jüdische Partisanin zusammen mit ihrem serbischen Mann gegen die Nazis gekämpft hat. Als das Tito-Regime sie später als Stalinisten verfolgte, beging ihr Mann im Gefängnis Selbstmord, sie selbst wurde zur Umerziehung auf die berüchtigte Insel Goli Otok gebracht. Im Roman ergänzt der Autor diese Fakten vor allem durch psychologische Tiefenlotungen seiner Figuren, er entwickelt in seinen fiktionalen Ergänzungen detaillierte Psychogramme von ihnen, Freudianer dürften begeistert sein.

Vera, zentrale Figur des Romans, feiert im Kibbuz ihren 90ten Geburtstag. Ihre Tochter Nina, die ihr geradezu feindlich gegenübersteht und mit der sie seit vielen Jahren kaum Kontakt hatte, kommt von einer Insel am Polarkreis angereist, auf die sie sich in ihrer Weltflucht zurückgezogen hat. Die 39jährige Enkeltochter Gili, die wie ihr Vater Rafi beim Film arbeitet, hat beschlossen, die Feier filmisch zu dokumentieren, anschließend sollen alle gemeinsam nach Kroatien reisen, zu den Stätten von Veras Geschichte. Es geht dabei um die Leerstellen in deren Vita, vieles ist rätselhaft geblieben. Denn sie hatte sich, als sie von der Geheimpolizei verhört wurde, strikt geweigert, ihren toten Mann als stalinistischen Verräter zu denunzieren, was ihr die Freiheit gebracht hätte. Man hatte ihr angedroht, dass ihre sechseinhalbjährige Tochter Nina unbetreut auf der Strasse landen würde, wenn sie nicht unterschreibt. Aber Vera blieb stur, ihr verstorbener Mann war die große Liebe ihres Lebens, ihn zu verraten wäre für sie gleichbedeutend damit, ihr eigenes Leben auszulöschen, er war nun mal ihr Ein und Alles. Nina hat diese Entscheidung niemals akzeptiert, sie wurde zu einer schwierigen Einzelgängerin, hat sich von ihrer Familie gelöst und ist entwurzelt in der Welt herumvagabundiert, jahrelang war sie unauffindbar. Auf der Feier offenbart die total verbitterte Nina plötzlich, dass sie seit einigen Monaten unheilbar an Demenz erkrankt ist. Sie bittet, die Dokumentation über Veras Leben perspektivisch in einen Film für die ‹Demente Nina› abzuändern, so als würde man alles nur der erzählen. Später könne man der Patientin immer wieder mal diese Aufnahmen vorspielen, um sie in die reale Welt zurückzuholen.

Es ist ein weites Feld, das David Grossmann da bearbeitet, mit der Liebe in den verschiedensten Intensitätsgraden als zentralem Thema vor dem Hintergrund der Verwerfungen des 20ten Jahrhunderts. Krieg, Nationalismus, Völkermord, Kommunismus, Diktatur, Verbannung, Holocaust und Zionismus sind Themen, die in den Plot hineinwirken und die Schicksale seiner Figuren bestimmen. In all dem schrecklichen Geschehen sind es die Frauen dreier Generationen aus dieser Familie, die beherzt gegen die politischen Pressionen ankämpfen, allen voran Vera. Mit viel Empathie gelingt es dem israelischen Autor, seine Protagonisten menschlich überzeugend zu beschreiben, eine beinahe vorbehaltlose Nähe des Lesers zu ihnen herzustellen. Vieles erschließt sich in dieser Geschichte aus den Dialogen, bei denen besonders Veras kroatisch/jüdisch gefärbtes Idiom ebenso zum Schmunzeln reizt wie ihre eigensinnige, manchmal verblüffende Sicht der Dinge. Was Vera im Roman nur zögernd preisgibt, ihr vermeintliches Geheimnis, ist genau das, «Was Nina wusste», wie ja schon der Titel verrät.

Es ist nicht weniger als eine zutiefst moralische Frage, die dieser Roman aufwirft. Ist Veras Entscheidung vertretbar, die Ehre ihres – ja bereits toten – Mannes höher zu bewerten als die schlimme Zukunft, die ihre alleingelassene Tochter in einem mörderischen System zu erwarten hat? Leider gelingt es dem Autor nicht, sein schwieriges Thema ohne Pathos zu behandeln, was erheblich stört beim Lesen. Und wirklich peinlich wird es, wenn am Ende das Trauma einer jahrzehntelangen Entfremdung einfach mit einer Flasche Whisky hinweg gespült wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Minnie&Daisy: Spy Power – Doppeltes Dilemma

 

Minnie freut sich: Endlich ist sie, wie ihre Freundin Daisy, an der begehrten Emil-Erpel-Universität angenommen worden! Schöne Zeiten stehen bevor, denn jetzt heißt es neben Studieren auch Partys feiern und neue Freunde finden. Aber Daisy wirkt überraschend distanziert, redet mit ihr nicht mehr über sich selbst und scheint stattdessen immer mehr Geheimnisse vor Minnie zu haben. Minnie beschließt herauszufinden, was mit ihrer Freundin los ist. Und gerät mitten hinein in einen Spionagefall. Weiterlesen


Genre: Comic, Roman
Illustrated by Egmont Ehapa

Kokoschkins Reise

Solitäre lakonische Diktion

Mit «Kokoschkins Reise» hat Hans Joachim Schädlich einen Jahrhundertroman geschrieben, nicht der Bedeutung nach, sondern inhaltlich. Der in breiten Leserkreisen kaum bekannte Schriftsteller schlägt darin zeitlich einen weiten Bogen, der die politischen Umbrüche und Katastrophen des Jahrhunderts in Europa abhandelt und schließlich sogar 9/11 mit einbezieht. In Anlehnung an die reale Figur des 1918 von Bolschewisten ermordeten, der Demokratischen Partei angehörenden Ministers Kokoschkin ist dessen fiktionaler Sohn Fjodor der Protagonist dieser Geschichte. Seine historische Tour d’Horizon sei quasi ein Nebeneffekt seines narrativen Vorhabens, hat er im Interview erläutert. «Ich wollte wirklich nur eine Geschichte erzählen, in deren Mittelpunkt die Konfrontation eines Einzelnen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts steht».

Dieser ‹Einzelne› ist der 95jährige Exilrusse Fjodor Kokoschkin, der sich am 8. September 2005 in Southampton auf den Luxusliner ‹Queen Mary II› einschifft. Der rüstige Pensionär, ein emeritierter Professor aus Boston, kehrt nach einer Europareise zu den Stätten seiner Kindheit und Studentenzeit nach Hause zurück. Die wechselvollen politischen Verhältnisse und materielle Nöte hatten ihn früh von seiner Mutter getrennt. Nach dem Internat ging er nach Berlin, begann ein Biologie-Studium und flüchtete dann vor den Nazis nach Prag. Glückliche Umstände verhalfen dem mittellosen jungen Studenten durch Vermittlung der dortigen Botschaft 1933 schließlich zu einem Stipendium in den USA, er durfte dorthin auswandern. In Boston schloss er sein Studium ab und gelangte als Spezialist für Gräser und Halme zu akademischen Ehren. 1968 lernte er dann bei einem ersten Europa-Besuch in Prag den deutlich jüngeren Jakub Hlaváček kennen. Dieser Freund hatte Kokoschkin nun auf auch seiner mutmaßlich letzten Europareise begleitet.

Der Roman ist, in der nur wenige Tage dauernden Erzählebene der Gegenwart, neben der Prozedur zur Einschiffung in fünf nach Tagen auf See gegliederte Kapitel unterteilt und endet mit der Ankunft in New York. In Tischgesprächen mit anderen Passagieren, Begegnungen bei den verschiedensten Veranstaltungen an Bord und so manchem Barbesuch erzählt Kokoschkin in der zweiten Erzählebene aus seiner bewegten Vergangenheit. Dabei fungieren seine verschiedenen Gesprächspartner zumeist als reine Zuhörer oder Stichwortgeber, er berichtet in langen Passagen aus seinem Leben. Diese in direkter Rede erzählten Rückblicke enthalten neben den politischen Themen einiges an Intertextualität, vor allem Iwan Bunin wird häufig genannt und in längeren Passagen auch zitiert. Wladislaw Chodassewitsch und seine Frau Nina Berberowa gehören ebenfalls mit zu den engen Freunden von Kokoschins Mutter, sie folgt ihnen schließlich sogar nach Paris. Häufig geht der Protagonist in seinen Erzählungen auf besonders schöne Bauwerke ein, bewundert Kunstwerke und genießt ganz bewusst den Luxus, den er sich als renommierter Wissenschaftler im Alter leisten kann.

Auffallend ist die große Gelassenheit, mit der Kokoschkin aus seinem durchaus nicht immer erfreulich verlaufenen Leben berichtet, ein derartiger Gleichmut den politischen Zumutungen gegenüber ist allenfalls durch die Milde des Alters zu erklären. Hans Joachim Schädlich erzählt seine Geschichte in einer für ihn typischen, hoch verdichteten Sprache, die von der schnörkellosen Verkürzung auf das Nötigste lebt, die bei allem, was sie sagt, vermeidet, es direkt auszusprechen. Der Text wirkt dadurch natürlich eher als nüchterner Bericht denn als mitreißende, angenehm unterhaltende Erzählung. Diese lakonische Diktion, im Feuilleton und in Kollegenkreisen als solitär bewundert, versteckt ihre Botschaft quasi zwischen den Zeilen. Sie erfordert damit einen stets aufmerksam mitdenkenden und sensiblen Leser.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Unschärfe der Welt

In ihrem vierten Roman «Die Unschärfe der Welt» erzählt die aus Siebenbürgen stammende Schriftstellerin Iris Wolff auf gerade mal zweihundert Seiten die vier Generationen umfassende Geschichte einer Familie, deren starke Bindungskräfte die Zeiten überdauern. Bereits der Buchtitel kündet ein narratives Verfahren an, das vieles nur andeutet und in ‹Unschärfe› belässt, während ‹Welt› andererseits auf ein breit gestreutes Themenspektrum verweist. Mit einer wunderbar bilderstarken Sprache gelingt dieser literarische Spagat auf beeindruckende Weise, der Autorin verleiht ihrem Text damit etwas geradezu poetisch Schwebendes. Erinnerung sei «ein Raum mit wandernden Türen», heißt es im Roman dazu.

Es beginnt gleich dramatisch. Die schwangere Frau des Pfarrers einer dörflichen Gemeinde im rumänischen Banat, die beinahe ihr Kind verliert, wird mit der Kutsche eiligst ins nächste Krankenhaus gefahren. Dort verdächtigt man sie zunächst mal, eine in Rumänien strafbare Abtreibung eingeleitet zu haben, nichts jedoch liegt ihr ferner als das. Wochen später bringt sie schließlich dann Samuel zur Welt, der auch die folgenden sechs Episoden als rätselhafte Figur lose miteinander verbindet. Samuels Großmutter gehört als Tochter aus reichem Hause zu den ewiggestrigen Monarchisten, die sich sehnlich den rumänischen König zurückwünschen, sie wird sich mit dem verhassten Sozialismus niemals abfinden können. Hannes, der glückliche Vater, als evangelischer Seelsorger dazu verdonnert, die Gastfreiheit katholischer Klöster in seinem Pfarrhaus weiterzuführen, muss sich nach der Beherbergung zweier schwuler Lehrer aus der DDR bei der verhassten Securitate verpflichten, künftig Berichte über seine jeweiligen Gäste abzuliefern. Es ist ein bunter Reigen von Figuren aus der Familie und ihrem Umfeld, über die da, vor dem Hintergrund sich wandelnder politischer Verhältnisse, von den sechziger Jahren an bis in die Umbruchjahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs berichtet wird. Die Liebe spielt dabei eine wichtige Rolle, auch die zwischen Männern, Freundschaften zerbrechen, tragische Unfälle ereignen sich. Religion, Krankheit und Tod sind ebenfalls Themen, die die Menschen permanent beschäftigen. Aber auch ein Husarenstück wie die Flucht nach Österreich in einem gestohlenen Agrarflugzeug wird erzählt.

Immer wieder sind stimmig die verschiedensten Symbole in diese Geschichte eingebaut, wird mit Metaphern verdeutlicht und komprimiert zugleich. Von der Suche nach Glück wird berichtet, welches oft in der Natur zu finden sei, aber auch im friedlichen Miteinander bescheidener, genügsamer Menschen und im unverdrossenen Neubeginn nach Enttäuschungen und Verlusten. Die ethnische Vielfalt und Vielsprachigkeit bildet dabei kein Hindernis, selbst bei Familienfeiern unterhält man sich oft wie selbstverständlich in drei verschiedenen Sprachen. Auf die Frage, wer denn in dem kleinen Dorf, in dem es «mehr Schafe als Einwohner gibt», heute noch eine einheimischer Suppe zu kochen vermag, fragt die Pfarrersfrau schnippisch zurück: «Was meinst du mit einheimisch? Schwäbisch, slowakisch, ungarisch, rumänisch, tschechisch, jüdisch oder vielleicht serbisch»? Amüsant ist auch ein Intermezzo in einer Buchhandlung, in der ein dort beschäftigter, ehemaliger Lehrer nur das Lesen von gekauften Büchern statthaft findet: «Geliehene Bücher zu lesen war wie Sex mit angelassenen Klamotten» lautete seine Erkenntnis.

Vieles wird nur angedeutet in diesem komplexen Plot, dessen Prinzip die extreme Komprimierung ist, Iris Wolff vermeidet konsequent jede Vertiefung des historischen Geschehens, Stichworte dazu müssen reichen. Ein sprachliches Kennzeichen dafür sind unter anderem die kurzen Sätze, die den Text flüssig lesbar machen und ihn zuweilen geradezu musikalisch schwingend erscheinen lassen. Bei alldem muss der Leser ständig wachsam sein, um nachvollziehen zu können, wie die einzelnen Episoden zusammenhängen, worauf das alles denn hinausläuft in diesem leisen Roman.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Bis wieder einer weint

Ein schreckliches Kind

Eine der frühen Neuerscheinungen dieses Jahres, der zweite Roman von Eva Sichelschmidt, spielt mit seinem Titel «Bis wieder einer weint» auf die Warnung der Erwachsenen an, wenn Kinder übermütig herumalbern. Weil ja, wer kennt das nicht, oft das Kichern und Getobe plötzlich umschlägt. Die nach Bekunden der Autorin autobiografisch gefärbte Geschichte, beginnend in der Adenauerzeit und bis in die frühen neunziger Jahre hineinreichend, schildert Aufstieg und Fall einer westdeutschen Unternehmerfamilie am Rande des Ruhrgebiets.

«Am 29. Juni 1971 hat niemand fotografiert» heißt es zu Beginn des Romans, es war der Tag, an dem die Mutter der damals knapp zehn Monate alten Ich-Erzählerin beerdigt wurde. An diesen Tag glaubt Suse sich später erinnern zu können, sie hatte eine Blumenvase umgerissen und ihren Laufstall damit unter Wasser gesetzt. Diese nonverbale Erinnerung bezeichnet ein Kinderpsychologe, dem sie am Ende privat von ihrem verkorksten Leben erzählt, als das bekannte Phänomen ‹emotionaler Erinnerung› in Bildern. In permanentem Wechsel zwischen personalem und auktorialem Erzähler wird zunächst die Geschichte von Inga und Wilhelm erzählt, dem glamourösen Elternpaar von Suse. Schönheit und Reichtum kamen da zusammen, die siebzehnjährige Tochter eines praktizierenden Augenarztes eine geradezu strahlende Erscheinung, der zwölf Jahre ältere Bräutigam glamouröser Dressurreiter und erfolgreicher Geschäftsmann. Inga stirbt bald nach Suses Geburt an Leukämie, das Baby wird zu den mütterlichen Großeltern gegeben, ihre sechs Jahre ältere Schwester bleibt beim Vater. Der holt dann aber auch die inzwischen achtjährige Suse wieder zu sich, sie kommt damit unter die Fuchtel der pietistischen Großmutter und leidet sehr darunter. Was sich dann in einer permanenten Widerborstigkeit im familiären Umgang ausdrückt und ebenso in einem eklatanten schulischen Versagen. Sie entwickelt sich zu einer allerseits gemiedenen Außenseiterin und weist keinerlei erkennbare Talente auf, ihre Zukunft bleibt bis zum Ende ungewiss.

Das chronologisch erzählte Geschehen nimmt seinen Anfang in den Jahren der zunehmend prosperierenden BRD, deren wirtschaftlicher Aufschwung auch Wilhelms mittelständische Maschinenfabrik mitreißt. Ein Erfolg, den er in vollen Zügen genießt, er wirft geradezu um sich mit dem reichlich vorhandenen Geld, verwöhnt seine junge Frau und nach deren Tod auch die beiden Töchter. Mit einer überbordenden Fülle an Details, vor allem aus der schillernden Konsumwelt, erzählt die Autorin, den Leser damit auf Dauer ermüdend, Alltägliches aus jener Zeit, – vieles davon ist unübersehbar klischeehaft. Diese materielle Dominanz beeinträchtigt narrativ leider allzu sehr das Seelenleben ihrer Figuren. Deren Psyche bleibt auffallend blass, es wird auch nicht angemessen differenziert beim Blick auf die verschiedenen Charaktere. Denn auch Wilhelm hat seine dunklen Seiten. Vor allem hat er eine heimlich ausgelebte homosexuelle Prägung, er ist mit der ahnungslosen Inga einmal sogar als Gast geladen zu einem Empfang von Arndt von Bohlen und Halbach in der Essener Villa Hügel.

In der zweiten Hälfte kommt endlich ein wenig Schwung in die bis dahin eher langweilige, deutlich zu breit ausgewalzte Geschichte, die Lebenslügen werden entlarvt, die glamouröse Fassade bekommt zunehmend Risse. Denn irgendwann endet auch Wilhelms Firma im Konkurs, die Zeiten haben sich geändert, für ihn eine harte Landung nach den Höhenflügen der glorreichen Vergangenheit. Wilhelm ist zum Alkoholiker geworden, leidet an verschiedenen Krankheiten, er lässt sich nahezu willenlos von seinem Liebhaber finanziell ausnehmen. Den Töchtern bleibt nur die Flucht aus dieser Misere in ein selbstbestimmtes Leben, das für sie ganz bei Null anfängt. Dieser Gesellschaftsroman endet mit dem an Suse gerichteten, resignierenden Satz ihrer Tante: «Du warst wirklich ein schreckliches Kind». Und das ist es auch schon, was sich dem Leser eingeprägt hat am Ende, mehr ist da nicht.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Heliogabal oder der gekrönte Anarchist

Heliogabal oder der gekrönte Anarchist: „Wer von der Liebe nur die Flamme kennt, die Flamme ohne Ausstrahlung, ohne die Vielheit des Herdes, wird weniger haben als jener andere neben ihm, dessen Hirn wieder zur Schöpfung als Ganzem zurückkehrt und für den die Liebe eine gründliche, grauenhafte Ablösung ist.“ Eine an „eine Feuersbrunst gemahnende Sprache“ unterstellt Jean-Paul Curnier dem Text von Artaud, die zu einer allgemeinen Asphyxie (Atemnot) führen würde, so dicht und überwältigend ist sie. Diesem Erstickungsgefühl habe Artaud einmal selbst im Theatre du Vieux-Colombier durch einen Schrei Luft verschafft und rechtfertigte sich in einem Brief an André Breton, den Diktator der Surrealisten, mit den Worten: „(…) denn tatsächlich war mir klar geworden, dass es genug der Worte war, sogar genug des Brüllens, dass es Bomben brauchte, aber ich hatte keine zur Hand, nicht einmal in meinen Hostentaschen“. Jean-Paul Curnier stellt die – berechtigte – Frage, ob es heute denn keinen Anlass mehr gebe, vor Atemnot und Empörung zu schreien. Die Antwort kennt wohl jeder von uns.

Heliogabal: Vom Thron in die Kloake

Die Romanbiografie des spätrömischen Kaisers Heliogabal von Antonin Artaud ist ein Buch der Exzesse voller Eros und Blut. Der „syrische Fürst“, dessen unterschiedliche Namen offenbar die glücklich grammatische Verschmelzung der ältesten Bezeichnungen für die Sonne ist, wie Artaud bemerkt, wurde mit 14 Jahren zum Gottkaiser des Imperiums und mit 18 umgebracht und in eine Kloake geworfen. Antonin Artaud schreibt mit dem Wahnsinn um die Wette und gibt zu Beginn der Dreißigerjahre alles an Wut und Verzweiflung hinein, die er selbst gegen die Welt seiner Zeit hegt. Seine Spiegelung des Heliogabal ist in einer wuchtigen Sprache verfasst, voller Gewalt und Übertreibung. Artaud revoltiert damit gegen die Gesellschaft seiner Zeit und verschreibt sich schon in seiner Wohnung vor dem Text ganz der Anarchie.

Matthes & Seitz: Von und über Artaud

Im Anhang befinden sich drei Briefe zu Heliogabal, ein Text zum Schisma des Irshu, den Sonnenreligionen in Syrien und dem Tierkreis des Ram. Im Matthes & Seitz Verlag sind auch viele andere Werke von und über Artaud erschienen, zuletzt auch „Die Metaphysik Antonin Artauds“ von Merab Mamardaschili.

 

Antonin Artaud

Heliogabal

Reihe: Matthes & Seitz Berlin Paperback

2020, 197 Seiten, Broschur

Nachwort: Jean-Paul Curnier

Originaltitel: Héliogabale (Französisch)

Übersetzung: Brigitte Weidmann

Verlag: Matthes & Seitz Berlin

ISBN: 978-3-95757-811-2

Preis: 10,00 €


Genre: Biographie, Roman, Surrealismus

Herzfaden

Weil Puppen ehrlicher sind

Es ist mehr als ein Blick hinter die Kulissen eines berühmten Theaters, den uns Thomas Hettche mit «Herzfaden» beschert, seinem «Roman der Augsburger Puppenkiste». Geschickt verknüpft er in seinem neuesten Werk, mit dem er dem Theatergründer ein wohlverdientes Denkmal setzt, durch zwei auch typografisch getrennte Erzählebenen Realität und Märchen miteinander. Blau gedruckt ist die fiktional ausgeschmückte Geschichte der Theatermacher, in roter Farbe wird abwechselnd immer wieder aus dem Schattenreich von Hatü erzählt, der 2003 verstorbenen Hannelore Marschall. Deren Vater Walter Oehmichen gründete während des Zweiten Weltkriegs ein Marionettentheater, das 1944 im Bombenhagel zerstört wurde. Nach dem Krieg baute er es als Reisebühne neu auf, dabei diente eine umgebaute Transportkiste der Deutschen Reichsbahn als provisorische erste Spielstätte und gab dem Puppentheater dann auch seinen Namen.

Im Foyer der Augsburger Puppenkiste stößt ein kleines Mädchen nach der Vorstellung auf eine versteckte Tür, die sie neugierig öffnet. Plötzlich befindet sie sich in einer Schattenwelt, auf einem geheimnisvollen, ewig dunklen Dachboden. Dort trifft sie eine illustre Schar von Marionetten, allesamt wohlbekannte Figuren aus dem Märchen, die sie freudig begrüßen, einzig der ‹Böse Kasper› verhält sich ihr gegenüber feindlich. Und plötzlich steht dann auch noch eine schöne Frau vor ihr, die genießerisch ihre Zigarette raucht und sich als Hatü vorstellt, jene schon vor siebzehn Jahren verstorbene Puppenschnitzerin und langjährige Theaterleiterin. Sie selbst hatte die meisten dieser Figuren geschaffen und erzählt, in der ‹blauen› Ebene des Buches, ihrer kleinen Besucherin nun die eng mit ihrer Familie verknüpfte Geschichte dieses besonderen Theaters. Und dessen dramatische Anfänge waren nicht nur äußerlich vom Dritten Reich geprägt. Als die kleine Hatü nämlich ihre erste Puppe, einen Kasper, geschnitzt hatte, wirkte sein Gesicht seltsam böse, sie hatte regelrecht Angst vor ihm. «Mir war peinlich», erklärt sie nun dem Mädchen, «dass ich als Kind einen Kopf geschnitzt hatte, der genau so aussah wie die furchtbaren Gesichter der Juden, die die Nazis überall zeigten».

Es ist berührend zu lesen, wie Thomas Hettche den Zauber beschreibt, den Marionetten auch auf Erwachsene ausüben, selbst auf völlig desillusionierte Frontsoldaten. Er betont dabei das Schwerelose, den schwebenden Gang der Holzpuppen oder deren blitzschnelles Verlöschen und Wiederbeleben einzig durch die Fäden. Das Besondere aber sei die innige Beziehung zwischen den Figuren und dem Herzen des Zuschauers, und dieser «Herzfaden» sei eben nicht sichtbar wie die Fäden zur Steuerung der Bewegungen. Er verbinde vielmehr unsichtbar die Figuren und ihr Publikum zu einer seelischen Einheit, die mühelos Zeit und Raum überwindet.

Es sind aber nicht die Puppen, die im Mittelpunkt dieses Romans stehen, sondern die Menschen, die diese wunderbare Spielstätte geschaffen und weltberühmt gemacht haben, nicht zuletzt durch die von ihnen produzierte erste deutsche Fernsehserie im Hessischen Rundfunk. «Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten» erklärt der Theatergründer seine Motive. Der Roman bietet gerade auch durch die Märchen vielfältige Deutungsmöglichkeiten, die allegorischen Verweise auf die Schuld eines ganzen Volkes sind unübersehbar. Einmal kommt da sogar Thomas Mann zu Wort, der in einer von der Familie heimlich abgehörten BBC-Sendung aus dem Exil zu den Deutschen spricht und sie auf die in ihrem Namen verübten Verbrechen hinweist. Im Interview hat Thomas Hettche den ehemaligen Schauspieler und Theatergründer Walter Oehmichen wie folgt zitiert: «Er wolle nicht mehr mit Menschen spielen, sondern mit Puppen, weil die ehrlicher seien». Treffender kann man kaum ausdrücken, um was es letztendlich geht in diesem Roman.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Serpentinen

Der Schwarze Gott

Mit seinem neuen Roman «Serpentinen» hat der Schriftsteller Bov Bjerg eine düstere Thematik aufgegriffen, es geht um scheinbar schicksalhaft von Generation zu Generation weitervererbte Depressionen, die im Suizid enden. Kein Wohlfühlroman also, sondern eine bedrückende Schilderung des verzweifelten Versuchs eines Vaters, der unheilvollen familiären Prägung durch einen intensiven Prozess des Erinnerns zu entgehen und damit auch seinen Sohn aus dieser vermeintlichen Teufelsspirale zu befreien.

Der Ich-Erzähler Höppner ist ein auf Statistik spezialisierter, hoch angesehener Soziologie-Professor aus Berlin, der mit der deutlich jüngeren Rechtsanwältin M verheiratet ist und mit ihr einen namenlos bleibenden, siebenjährigen Sohn hat. In seiner Familie haben die väterlichen Ahnen allesamt Suizid begangen. «Urgroßvater, Großvater, Vater. Ertränkt, erschossen, erhängt. Pioniere zu Wasser, zu Land und in der Luft» heißt es im Roman. Er leidet selbst unter schweren Depressionen, hat seine Therapie aber als nutzlos abgebrochen. Stattdessen reist er mit seinem Sohn nun auf die Schwäbische Alb, zu den Schauplätzen seiner Kindheit. Diese Reise in die Vergangenheit, deren Sinn «der Junge», in der Geschichte ebenso unpersönlich wie die Mutter benannt, einfach nicht begreift. «Um was geht es?» lautet denn auch seine häufig wiederholte Frage. Was für Höppner als Rettungsanker aus seiner Psychose dienen soll, um diese fatale Schicksalskette zu durchbrechen, ist für den Sohn als so gar nicht kindgerechte Reise eher eine Zumutung, die er jedoch geduldig erträgt.

Bei Churchill und Chaplin, prominente Leidensgenossen des Ich Erzählers, der ‹schwarze Hund› genannt, das anfallartige Auftreten schwerer Depressionen nämlich, wird hier im Roman als «Schwarzer Gott» bezeichnet. Die Autotour mit dem Sohn soll dazu dienen, sich von diesem Familienfluch zu befreien, seine dadurch geweckten Erinnerungen sind jedoch eher dazu geeignet, ihn herunter zu ziehen als aufzurichten. Es kommt so weit, dass er völlig verzweifelt nach abrahamschem Vorbild sogar zur Opferung seines Sohnes bereit ist, ihn mit einem Kissen ersticken will. In 45 manchmal nur aus wenigen Zeilen bestehenden Kapiteln berichtet Bov Bjerg anekdotisch von vielen prägenden und zumeist unerfreulichen Ereignissen im Leben Höppners. Dabei wird oft unvermittelt zwischen verschiedenen Zeitebenen hin und her gependelt, der Buchtitel scheint sich damit eher auf den kurvenreichen Plot zu beziehen als auf die psychischen Verwerfungen bei der verzweifelten Identitätssuche, über die da berichtet wird. «Diese Scheißwut der Scheißväter, gegen sich, gegen alle. Die Kinder mussten für die Kindheit ihrer Väter büßen. Ich war auch nur ein Scheißvater» sinniert der selbstzweiflerische Ich-Erzähler in seinem permanenten Lebensschmerz. Seine ergebnislosen Grübeleien münden in den Satz: «Als ob ein Suizid das Ergebnis einer logischen Operation wäre», man kann ihn als Beweis für das ständige Ringen des Erzählers mit den Dämonen deuten, die ihn im Traum heimsuchen.

Die schonungslose Offenheit, mit der hier eine Familientragödie beschrieben wird, offenbart auf eindrucksvolle Weise die Bodenlosigkeit einer tückischen Psychose, die zur Obsession des Ich-Erzählers geworden ist und all sein Denken bestimmt. All das wird jedoch stilistisch unterkühlt in einer sperrigen Prosa ziemlich schleppend erzählt. Man muss sich als Leser besonders am Anfang geradezu quälen, um irgendwie hinein zu kommen in diese von weitgehender Emotionslosigkeit dominierte, melancholische Geschichte. Als beste Momente beim Lesen erweisen sich die giftigen Kommentare über die Nazivergangenheit des Vaters sowie die vehementen Ausfälle gegen eine zeitgenössische, akademische Bourgeoisie, die sich zum Stehempfang trifft und der Höppner als Professor ebenfalls angehört. Wenn da nur nicht immer auch der Schwarze Gott im Hintergrund lauern würde, den er mit viel Alkohol vergebens zu bekämpfen sucht, – wie schon seine Väter!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein Berlin

Die Infantin trägt den Scheitel links

Man wird doch noch träumen dürfen

In Zeiten, in denen der Dorfroman fröhliche Urständ feiert, hat Helena Adler mit «Die Infantin trägt den Scheitel links» eine autobiografisch inspirierte Anti-Idylle thematisiert, die Geschichte «eines Aschenputtels, das anstatt gläserner Schuhe dreckige Stallstiefel trägt», wie sie erklärt hat. Die Figur der Infantin, hinter der sie sich versteckt und deren Leben sie in ihrem zweiten Roman erzählt, charakterisiert sie als «eine kratzbürstige Alice im Hinterland, die gelernt hat, sich zu wehren». In 21 Kapiteln, die quasi als narrativer Sidekick jeweils Bilder aus Museen rund um den Globus zitieren, entwickelt die Autorin ein wahres Erzählfeuerwerk um Kindheit und Adoleszenz ihrer wehrhaften Infantin und demaskiert ironisch die verlogene Idylle vom Landleben als erstrebenswertem Ideal.

Die namenlose Heldin, die sich selbst als Infantin bezeichnet, wächst als jüngstes Kind auf einem österreichischen Bauernhof in der Nähe von Salzburg auf. Man solle, so heißt es gleich im ersten Satz, ein Gemälde von Pieter Bruegel nehmen, – gemeint ist der Ältere, der Bauernbruegel. «Nun animieren Sie es», fordert Helena Adler dann den Leser auf, denn was sie nachfolgend beschreibt gleicht in der Tat dem kruden Geschehen auf den bäuerlichen Gemälden des Niederländers, ein deftiges, literarisches Wimmelbild sozusagen. Die Großfamilie, in der die Infantin heranwächst, besteht aus den Urgroßeltern, denen der Hof gehört, der dementen Großmutter, dem trinksüchtigen Vater, der frömmelnden Mutter und den bösartigen, älteren Zwillingsschwestern, von denen sie unentwegt gepiesackt wird. Aber sie weiß sich zu wehren, wovon schon der Romantitel zeugt, sie trägt den Scheitel links! Und so ist sie es denn auch, die den Hof abfackelt, ohne dass ihr daraus wirklich Ungemach entsteht, die Erwachsenen sehen es mit einem weinenden und einem lachenden Auge, die Versicherung zahlt ja. Standhaft weigert sie sich, in den Kindergarten zu gehen, gehört in der Schule zu den auffälligen Schülern, feiert in der Adoleszenz wilde Partys mit der Dorfjugend und ist plötzlich unversehens erwachsen.

Die schweißtreibende, dreckigen Stallarbeit, das Schlachten der Tiere, die unsäglichen hygienischen Bedingungen auf dem heruntergekommenen, überschuldeten Hof begleiten sie ebenso wie die ständigen, rüden Anfeindungen ihrer Schwestern, denen sie wenig entgegenzusetzen hat. Trotz all dieser Zumutungen behält sie den Kopf oben, sucht ihnen durch ihre Träume zu entkommen oder stemmt sich ihnen beherzt entgegen so gut sie kann. Dabei ist es insbesondere der Vater, der in allen Lagen zu ihr hält, auch gegen die wüsten Gewaltexzesse der bigotten Mutter. In diesem ungewöhnlichen Roman wird ein fast archaisches Landleben in einer Diktion beschrieben, die weitgehend allein steht als narrativer Benefit. Der Plot selbst nämlich vermag niemanden wirklich mitzureißen, zu profan ist das Geschehen. Aber wenn die Infantin zum Beispiel erzählt, «zum Abendessen servieren sie mir Rindermilch mit Rindenmulch», dann bekommt man eine Vorstellung von der überschäumenden Sprachwucht der Autorin, denn so tönt es immerfort in dieser Geschichte. Sie würzt den Zorn der aufrührerischen Infantin Pointe für Pointe mit einem köstlichen, stets ironischen Humor und verwandelt ihn mit permanenten Zuspitzungen zuweilen in beißende Satire um.

«Lass mich ein Kind sein, sei es mit!» lautet ein dem Roman vorangestelltes Motto aus Schillers ‹Maria Stuart›. Was da aus kindlicher Perspektive so zynisch, vulgär, brutal, böse, eklig und stets aggressiv beschrieben wird, ist eine surrealistische Coming-of-Age-Geschichte ohnegleichen. Im Jaguar XK, «mein neuer Roman, der gerade zum Weltkulturerbe ernannt wurde, auf dem Beifahrersitz» brause ich «auf dem «Weg zu meiner Nobelpreisrede» durch New York, hat Helena Adler träumerisch auf die Frage geantwortet, was sie so treibe, wenn sie gerade nicht schreibe. Na und, man wird doch noch träumen dürfen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Jung und Jung

100 Jahre Bukowski: Pulp. Ausgeträumt.

100 Jahre Bukowski: sein letzter Roman

Pulp. Ausgeträumt. Wenn man sich das Personal dieses (letzten) Romans von Charles Bukowski, Pulp, ansieht, denkt man doch, dass es ein trauriges Adieu geworden ist: Lady Death, eine gefährliche Schöne, der lange verstorbene Schriftsteller Louis-Ferdinand Céline, ein Beerdigungsunternehmer namens Grovers und Nick Belane, Privatdetektiv in Los Angeles, der einen VW Käfer fährt und Stammgast in L.A.s Spelunken ist.

Pulp, Bukowskis letzter Roman

Pulp, der erste (und letzte) Krimi aus der Feder Bukowskis, ist stark an Noir Autoren der Blütezeit der Stadt der Engel angelehnt. So erinnert die Suche nach dem „Red Sparrow“ an den „Malteser Falken“, einen Roman von Dashiell Hammett aus dem Jahr 1930. Aber auch der Name des Protagonisten Nick Belane klingt verdächtig nach Mickey Spillane, der 1947 den Großstadtschnüffler Mike Hammer erfunden hatte. „Pulp“ wurde im Todesjahr Bukowskis, 1994, veröffentlicht und kann als selbstironischer Abschied des Dirty Old Man gewertet werden, der Los Angeles, seiner Stadt, damit zusätzlich noch ein Denkmal setzen wollte. Aber Charles Bukowski selbst hatte das Los Angeles der Achtziger und Neunziger Jahre wohl ebenso gut porträtiert, wie die zuvor genannten Autoren jenes der Vierziger. Oder zumindest das Leben in einer der brutalsten Städte der Welt…

Pulp: Hommage an das Schreiben und L.A.

Erst Dante, dann Fante. Bukowskis letzter Roman ist eine Huldigung an seine bewunderten Schriftsteller, aber auch an die Bewohner seines geliebten L.A.: „Sie lassen sich Haut vom Arsch ins Gesicht verpflanzen. Die Haut am Arsch braucht am längsten, bis sie runzelt. Im reiferen Alter laufen sie dann alle mit Arschgesichtern rum.“ Der beißende Humor und die markigen Sprüche Bukowskis waren schon Zeit seines Lebens Legende und besonders bei den sog. Dichterlesungen strömten die Massen, die das enfant terrible so fürchtete, herbei. „Früher war das Leben der Autoren interessanter als ihre Bücher“, schreibt Buk an einer Stelle seines Krimis, „Heutzutage ist beides uninteressant“. Das trifft beides auf Bukowski definitiv nicht zu. Seine Hommage an das Noir Genre, „Pulp“, ist ein liebevoller Abschied voll treffender Ironie und Hingabe an ein Leben als Schriftsteller in der wohl gefährlichsten Stadt der Welt. Weitere Mitwirkende: Jeannie Nitro, die bezaubernde Außerirdische, Barton, Jack Bass, Spike Jenkins, Planet Zoros, drei Flaschen chinesisches Bier, Dante und Fante.

 

Charles Bukowski

Pulp. Ausgeträumt. Roman

Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Carl Weissner

2020, KiWi-Taschenbuch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-462-04313-6

Kiepenheuer & Witsch

 


Genre: Crime noir, Krimi, Roman

Der Mann mit der Ledertasche

Der Mann mit der Ledertasche: „Post Office“ – so der amerikanische Originaltitel von 1971 – war Bukowski’s erster Roman, der den Grundstein für seine spätere Schriftstellerkarriere legte. Denn nach dem „Mann mit der Ledertasche“ quittierte er seinen Dienst und lebte von seinen Gedichten, Stories und Romanen. Insgesamt erschienen mehr als 40 Bücher, die meisten davon auch bei verschiedenen deutschsprachigen Verlagen.

Resümee des Postdienstes

Anstelle eines Vorworts zitiert Bukowski den Text der US-Postverwaltung Los Angeles zum Berufsethos des Personals. „Vom Personal der Post wird erwartet, dass es nach den höchsten sittlichen Grundsätzen handelt“, heißt es da etwa und der Leser kann sich selbst ein Bild machen, wie sehr der Briefträger Henry Chinaski alias Charles Bukowski diesem entspricht. Aber wie so vieles im Leben von Charles Bukowski beginnt auch die eigentliche Geschichte mit einem Missverständnis: „Mit einem Fehler fing es an“, so der erste Satz. Denn der anfangs für leicht gehaltene Job entpuppt sich als fatal für Bukowskis körperlichen Zustand. Nicht nur, dass er zum Säufer (das war er wohl schon vorher) wird, nein, nach insgesamt mehr als elf Dienstjahren klagt er über mehrere Verschleißerscheinungen. „So weit war ich nun also, Schwindelanfälle und Schmerzen in den Armen, im Nacken, in der Brust, überall. Ich schlief den ganzen Tag, um mich für den Job auszuruhen. Am Wochenende musste ich trinken um alles zu vergessen. Damals wog ich 84 Kilo. Jetzt wog ich 101 Kilo. Das einzige, was man bewegte war der rechte Arm.“

Post, Pferderennen und Frauen

Bukowski war 51 als er sich für ein freies Leben als Schriftsteller entschloss. Natürlich hatte er schon früher begonnen zu schreiben, mit 35, aber dennoch erforderte es großen Mut, sich in diesem Alter noch auf eine unsichere Existenz als Zeilenschinder einzulassen. In seinem Debütroman finden sich alle Ingredienzien, die einem Bukowski so vertraut machen. Pferderennen, Boxkämpfe und eine Menge Frauen: Betty, Joyce, Vi, Mary-Lou, Fay und auch seine kleine Tochter Marina, die am 7. September 2020 auch schon 56 Jahre alt geworden ist. Bukowski wäre dieses Jahres übrigens schon 100 Jahre alt. Ein weiterer guter Grund für eine Re-Lektüre seines Erstlings, in dem er sein ganzes Können zeigt: Dialoge, Wortwitz, Sarkasmus und Ironie.

Charles Bukowski

Der Mann mit der Ledertasche

2019, KiWi-Taschenbuch, 208 Seiten

ISBN: 978-3-462-03430-1

Kiepenheuer & Witsch

 

 


Genre: Biographie, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Elenden

Sozialkritisches Epos

Einer der wichtigsten Romane der französischen Literatur ist «Die Elenden» von Victor Hugo, ein 1862 erschienenes Werk der Romantik, das inzwischen ein Klassiker der Weltliteratur wurde, es gibt nicht weniger als 48 Verfilmungen und dutzende andere Adaptionen des Stoffes. Vordergründig handelt es sich um einen Abenteuerroman, in dessen Mittelpunkt ein ehemaliger Zuchthäusler steht, der seinen Weg zurück in die Gesellschaft sucht. Vom Anliegen des Autors her aber ist dies ein sozialkritischer Gesellschaftsroman aus der Epoche nach Napoleon bis zum Juni-Aufstand in Paris, also von 1815 bis 1832.

Der ursprünglich nur wegen Mundraub verurteilte Jean Valjean hat, nach seiner Entlassung aus 19 Jahren Haft, als Gast eines selbstlosen Bischofs ein beglückendes Erweckungserlebnis, er wandelt sich zu einem moralisch vorbildlichen Menschen. Wegen seiner Vergangenheit nimmt er eine neue Identität an und wird schließlich mit einer genialen Erfindung zum erfolgreichen Fabrikanten. Seinen neuen Reichtum nutzt er selbstlos als hochgeachteter Wohltäter, hilft den Armen wo er kann, man ernennt ihn sogar zum Bürgermeister. Seine Lebensaufgabe findet er schließlich, als er ein kleines Mädchen aus den Fängen seiner bösartigen Pflegefamilie befreit, zu sich nimmt und aufzieht. In dem sturen Polizeiinspektor Javert findet er jedoch einen hartnäckigen Gegenspieler, der ihn unerbittlich weiter verfolgt und dem er mehrfach nur knapp entkommen kann. Der Roman endet, nach der Heirat von Cosette, mit dem Tod seines zutiefst moralischen Protagonisten.

Victor Hugo baut neben seiner zentralen Figur eine Fülle weiterer Charaktere auf, die in vielen Abstufungen vom bewundernswerten Gutmenschen bis zum skrupellosen Schwerverbrecher das ganze Spektrum individueller Psyche und moralischer Verfasstheit abbilden. Alle diese Figuren werden überaus anschaulich beschrieben, sie verkörpern lebensprall jeweils ein bestimmtes menschliches Naturell und scheinen geradezu greifbar vor dem Leser zu stehen. Der abenteuerliche Plot ist weitverzweigt und nimmt nach dem Motto ‹Der Weg ist das Ziel› so manchen Umweg, der mit dem eigentlichen Thema wenig zu tun hat. So zum Beispiel, wenn auf dutzenden von Seiten die Schlacht bei Waterloo geschildert wird oder das unterirdische Abwassersystem von Paris, das hier am Ende als Fluchtweg dient. Gut und böse als ethische Gegenpole bestimmen diesen vielschichtigen Roman, der aber auch politische, religiöse und philosophische Fragestellungen aufgreift und in dem die berührende Liebesgeschichte von Cosette und Marius ebenfalls einen breiten Raum einnimmt. Insbesondere der Polizist Javert als kompromissloser Vertreter der Staatsmacht gelangt am Schluss mit seinen eisernen Prinzipien in unlösbare Gewissenskonflikte, aus denen er nicht mehr herauszufinden vermag. Sympathieträger im Roman sind auch so manche Nebenfiguren wie der schrullige Großvater von Marius oder der gutherzige Bischof. Den Großvater hätte seine schroffe Art beinahe ins Unglück gestürzt, wäre ihm nicht der beim Barrikadenkampf schwerverletzte Marius ins Haus gebracht worden, was bei ihm ein totales Umdenken auslöst.

Die Sympathie des Autors für die aufständischen Republikaner von 1832 ist unverkennbar. Man schoss durch ein Gitter aufeinander, heißt es an einer Stelle seiner mitreißenden Schilderungen der turbulenten Ereignisse. «Ein Beobachter, ein junger Träumer, der Verfasser dieses Buches, der ausgegangen war, um sich den Vulkan aus der Nähe anzusehen, geriet zwischen die beiden Feuer». Victor Hugo sah die Republik als politische Voraussetzung für die Linderung der schlimmsten Not «der Elenden». Er verdeutlicht aber auch seine Überzeugung, dass konsequentes ethisches Handeln diese Not entscheidend lindern kann, wofür er in diesem Epos viele anschauliche Beweise liefert. Insoweit ist dieser grandiose Roman eine flammende Anklage gegen die soziale Schieflage in der französischen Gesellschaft des frühen Neunzehnten Jahrhunderts.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Manesse Verlag München

Einer von vielen

Alles hängt mit allem zusammen

Wer das Buch von Norbert Zähringer mit dem Titel «Einer von vielen» aufschlägt, den empfängt auf dem Vorsatzblatt eine organigramm-artige Handskizze mit dem Namen Edison Frimm im Zentrum eines großen Netzes mit dutzenden von Namen. Damit wird grafisch das dem Plot dieses komplexen Romans zugrunde liegende «Kleine-Welt-Phänomen» der sozialen Vernetzung von Stanley Milgram verdeutlicht, nach dem alle Menschen über eine Kette von durchschnittlich nur sechs Zwischenkontakten miteinander verbunden sind. Und das gilt natürlich unter dem Aspekt von Vorsehung und Zufall auch für die vielen Figuren dieses narrativ äußerst virtuos konzipierten Romans mit seiner Schicksalsthematik.

In einer Art Rahmenhandlung wird im ersten und letzten der 56 Kapitel des siebenteiligen Romans vom Suizidversuch des achtzigjährigen, gerade aus dem Gefängnis entlassenen Edison Frimm an einem Dezembermorgen des Jahres 2003 erzählt. Mit einem atemberaubenden Konstrukt von Rückblenden und Zeitsprüngen in diversen Handlungssträngen entwickelt der Autor seine actionreiche Geschichte. Sie beginnt mit dem Großen Kantō-Erdbeben vom 1. September 1923, als in Tokio ein junger Polizist seine Eltern verliert, während gleichzeitig in Berlin Siegfried Heinze als Sohn eines strammen Nazis das Licht der Welt erblickt und in der Mojave-Wüste Kaliforniens die Zentralfigur ‹Eddi› Frimm geboren wird. Dessen abwechslungsreiches Leben als Komparse während der Stummfilmzeit in Hollywood und über die Zeit des Zweiten Weltkriegs hinweg bildet den roten Faden des Romans. Parallel verlaufen, oft lose miteinander verknüpft und abwechselnd erzählt, eine Fülle von kleinen Geschichten, Anekdoten und Szenen mit all den anderen Figuren, zu denen ‹Siggi› Heinze ebenso gehört wie der nazifeindliche Kriminalkommissar Mauser, der schwule Filmschauspieler und Pilot Scott LaMont, der japanische Expolizist und zen-buddhistische Gärtner Koga, ferner der idealistische Sektengründer Dan Schmidt mit seiner Wüsten-Gemeinde Josua Ridge, in deren Gemeinschaftsküche ‹Eddi› zur Welt kommt. Als prominente Figur ist ein Ölmillionär und Filmmogul eingebunden, für den Howard Hughes Pate gestanden hat, aber auch Ronald Reagan und Willy Brand haben ihr Cameo. Politisch ist die Handlung insbesondere durch den Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, den Bombenkrieg der Alliierten, die Invasion in der Normandie, das dramatische Kriegsende in Berlin und die turbulente Nachwendezeit geprägt.

Die oft lediglich assoziative Verknüpfung der diversen Erzählfäden dieses komplexen Romans über die Ironie der Geschichte erfordert in Verbindung mit dem riesigen Figurenensemble die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Dabei wird dieses achtzig Jahre umfassende Panorama der Geschichte auch noch aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt. Die sieben Romanteile werden jeweils mit einem Kapitel eingeleitet, in dem ein Ich-Erzähler, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass er bei einer Berliner Wach- und Schließgesellschaft arbeitet, im Jahr 2003 von Geschehnissen aus seiner Clique berichtet, was eine reizvolle zweite Perspektive bildet.

Mit seinem Sprachwitz erinnert der temporeiche, unterhaltsame Roman an den journalistisch knappen, manchmal lakonischen Erzählstil einiger amerikanischer Autoren. Wobei die überbordende Fülle des Stoffs es mit sich bringt, dass vieles nur angerissen werden kann, tiefer ausgeleuchtet hätten sonst auch doppelt so viele Buchseiten kaum ausgereicht. ‹Eddi› und ‹Siggi› bilden den Kontrapunkt des Plots, sie sind in einer Szene am Kriegsende als Feinde schicksalhaft nur wenige Meter voneinander entfernt, ohne jedoch aufeinander zu treffen, – eine raffiniert angelegte Schlusspointe. Und so ist denn dieser ebenso amüsante wie spannende Roman ein süffig zu lesender Pageturner, originell erdacht und viel Obskures erzählend. «Was macht die Zeit mit uns» heißt die Kernfrage dieses Romans, und «Alles hängt mit allem zusammen» lautet hier eine der möglichen Antworten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt