Gutgeschriebene Verluste

Selbstgefälliges Palaver

Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger ausgeschmückte, ansonsten aber reale Autobiografie. Ein heute bei vielen Autoren sehr beliebter, narrativer Typus übrigens, der gemeinhin als Autofiktion bezeichnet wird.

Das Alter-Ego des Verfassers wird gleich zu Beginn bei einer Verabredung mit seinem besten Freund durch dessen «so schwerwiegend wie beiläufig» vorgebrachte Bemerkung geschockt: «Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen». Der 60jährige Ewige Hippie ist nach mehr als zehnjähriger, anfangs erfolgreicher Tätigkeit in Hamburg als Hersteller von Discokugeln und ähnlichem Equipment 1979 wieder in Berlin gelandet. Er schlägt sich nun als Autor von Rundfunk-Kommentaren und mit anderen Gelegenheitsaufträgen durchs Leben. Als Rahmenhandlung des Romans dient dem Autor die seit zwei Jahren bestehende Beziehung seines Protagonisten zu einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die kurz vor dem Scheitern steht. Hella neigt zu starken Gefühlsausbrüchen und erhofft sich mit ihm ein spätes Glück. Der angestrebte gemeinsame Nestbau aber erweist sich als Illusion, er scheitert an der geradezu pathologischen Bindungsunfähigkeit des Helden. Daran kann auch eine gemeinsame Reise zum KZ Buchenwald nichts ändern, in dessen Nähe er als Kind lebte, einige der Leerstellen in seiner Vita können jedoch dank einer alten Nachbarin dort geklärt werden. Diese gemeinsame Unternehmung ändert aber nichts an dem ständigen Zank des Paares, der sich zum Krieg der Geschlechter hochschaukelt. Nicht von ungefähr sehen sich die Beiden 2005 im Deutschen Theater Edward Albees Drama «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» an. Ein Erbe aus der Drogen-Vergangenheit ist die nicht überwundene Hepatitis-Infektion des Protagonisten, die er nach dreißig Jahren mit unsicherem Ausgang durch eine mit reichlich Nebenwirkungen belastende Interferon-Therapie bekämpfen muss, – die 68er-Vergangenheit holt ihn wieder ein. Und bei einer Podiumsdiskussion trifft er dann auch noch auf das RAF-Mitglied Peter Jürgen Book, der 25 Jahre im Zuchthaus gesessen hat und ihm inzwischen äußerst unsympathisch ist.

Als melancholische Lebensbilanz erzählt der Autor in Rückblenden von seiner schwierigen Kindheit, die Mutter hatte die Familie 1945 verlassen, als er wenige Monate alt war. Es folgen schlaglichtartige Erinnerungen an seine Jugend, erste Kontakte zum anderen Geschlecht, Erfahrungen mit Drogen, die Firmengründung 1968 und die Rückkehr ins Berlin des New Wave. Als Dauergast porträtiert er mit scharfem Blick für Details die skurrilen Gestalten in seinem Stammcafé, das ihm quasi als ‹ambulantes Wohnzimmer› dient. Seine ironisch-nüchternen Reflexionen aus der Schöneberger Subkultur sind gespickt mit köstlichen Anekdoten, bei denen Sex und Frauen das Hauptthema bilden. Aber auch die diversen Intellektuellen und Künstler aller Couleur und unterschiedlichsten Renommees ergeben reichlich Gesprächsstoff für den unentwegt sinnierenden und schwadronierenden Althippie, der sich im Seinstaumel dieses spinnerten Milieus als Mitglied etabliert hat.

Der Titel des Romans lädt zu allerlei Deutungen ein. Es sind zweifellos Verluste, die der unsympathische Alt-68er in seinem Katzenjammer zu verbuchen hat, gutgeschrieben aber werden sie ihm nicht, er steht am Ende seines Lebens mit leeren Händen da. Stilistisch gut geschrieben aber ist diese Geschichte sehr wohl, Bernd Cailloux schildert das Geschehen in einer saloppen Sprache, die besonders in den Dialogen durchaus überzeugen kann. Weniger überzeugend ist der schleppende Fortgang der Geschichte, die durch ein Übermaß an selbstgefälligem Palaver des grandios gescheiterten Helden sehr schnell sehr langweilig wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Die Verlobten

Faktenbasierte Horizonterweiterung

Im Jahre 1827 erschien als wegweisendes Werk der Romantik die erste Fassung des Romans «I Promessi Sposi» von Alessandro Manzoni, es wurde auf Anhieb ein Publikumserfolg. Vorbild für den italienischen Schriftsteller war Sir Walter Scott, dem er bei einem Treffen gestand, «dass er sich durchaus als sein Schuldner fühle». Noch im gleichen Jahr ins Deutsche übertragen, folgten dann mehr als ein Dutzend weitere Übersetzungen dieses ersten dem Realismus zuzurechnenden historischen Romans, er gehört unbestrittenen zum Kanon der Weltliteratur. Einst von Goethe hoch gelobt, auch von Reich-Ranicki euphorisch zur Lektüre empfohlen, ist er in Italien als bester Prosa-Klassiker heute noch Pflichtlektüre an höheren Schulen.

«Die Verlobten» ist die Geschichte eines Liebespaares aus einem Dorf am Comer See, das heiraten will. Es beginnt protokollartig: Am 7. November 1628 wird der Dorfpfarrer bei einem abendlichen Spaziergang von Schergen des Lehnsherren aufgefordert, die geplante Hochzeit von Renzo und Lucia keinesfalls vorzunehmen, widrigenfalls ihm Schlimmes drohe. Der brutale Don Rodrigo hat selbst ein Auge auf die schöne Braut geworfen, die Beiden müssen fliehen. Lucia versteckt sich in einem Kloster, Renzo flüchtet nach Mailand. Er gerät dort in einen Volksaufstand wegen der hohen Brotpreise, wird als Aufrührer verhaftet, kann entkommen und findet jenseits der Grenze Unterschlupf bei einem Cousin in Bergamo. Lucia jedoch wird im Auftrag von Don Rodrigo von einem verbrecherischen Feudalherrn auf dessen Ritterburg entführt. Als aber der charismatische Mailänder Erzbischof sich persönlich für sie einsetzt, geschieht die wundersame Bekehrung des grausamen Tyrannen zum christlichen Wohltäter. Er bringt Lucia bei einer wohlhabenden Mailänder Familie in Sicherheit. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges schleppen 1630 marodierende Soldaten dort die Pest ein, verzweifelt macht sich Renzo trotz Haftbefehl auf die Suche nach ihr.

Die in 34 Kapiteln erzählte Geschichte widmet am Ende zwei Kapitel allein der Ausbreitung der Pest in Mailand, fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung fielen ihr zum Opfer. Von der Corona-Pandemie geschädigte Leser werden in dieser exzellenten Darstellung vieles wiederfinden, was heute allenthalben die Schlagzeilen bestimmt. Alessandro Manzoni streut häufig auch eigene Gedanken zu den historischen Ereignissen ein, erläutert die ökonomischen Bedingungen, die zum ‹Mailänder Brotaufstand› geführt haben, oder zitiert aus Dokumenten der Zeit von den erfolglosen Maßnahmen der spanischen Fremdherrscher zur Bekämpfung des Angst und Schrecken verbreitenden Raubrittertums. Mit versteckter Ironie kommentiert er gelegentlich aber auch das fiktionale Geschehen und die allzumenschlichen Motive seiner lebensechten Figuren.

Ein Verdienst dieses berühmten Romans ist zweifellos der Verzicht auf die übliche Heroisierung des Rittertums, die hier vielmehr als Märchen entlarvt wird angesichts des unsäglichen Terrors, mit dem brutale Feudalherren erbarmungslos Tod und Elend verbreitet haben. Insoweit bietet die tragische Geschichte der Verlobten lediglich die narrative Basis für eine umfassende Analyse der komplizierten Stände-Gesellschaft jener Zeit und der nicht minder komplizierten politischen Verhältnisse. Sprachlich hat der Autor mit seinem sozialkritischen Werk Maßstäbe gesetzt für die italienische Literatur Anfang des 19ten Jahrhunderts. Er erzählt seine Geschichte gemächlich, mit üppigen Ausschmückungen und in langen, brillant formulierten Satzgebilden, denen man als Leser genüsslich folgt, – dafür sollte man allerdings die nötige Muße haben. Die damals neuartige Vermischung von historischen Fakten und Fiktion, von Goethe seinerzeit noch beanstandet, ist als literarischer Genretyp seit Sir Walter Scott jedoch fest etabliert. Sie erfreut all jene nach Belesenheit strebenden Buchfreunde, die neben fiktionaler Unterhaltung auch eine faktenbasierte Horizonterweiterung erwarten.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Manesse Zürich

Da sind wir

Rhetorische Floskel

Eigentlich sollte der Bestseller «Ein Festtag» sein letzter Roman bleiben, drei Jahre später nun ist vom britischen Erfolgsautor Graham Swift mit «Da sind wir» erneut ein Kurzroman erschienen, in dem er sein Zentralthema des Erinnerns aus anderen Blickwinkeln und in einem anderen Milieu nochmals aufgreift. Wie beim Vorgänger handelt es sich hier eher um eine Novelle, es ist nämlich eine ‹unerhörte Begebenheit› im Sinne Goethes, auf die diese neue Geschichte hinsteuert, was im Milieu des Varietés mit einem Zauberer als Held schon fast vorgezeichnet scheint. Ein weiteres literarisches Highlight?

Jack und Ronnie gelingt nach ihrer gemeinsamen Militärzeit der Sprung ins Showbusiness, sie bekommen 1959 im mondänen Seebad Brighton ein Engagement in einer berühmten Bühnenshow auf den Piers. Jack, der dort als Entertainer arbeitet, holt seinen Freund Ronnie erstmals als Zauberer auf die Bühne, und der verpflichtet als publikumswirksame Ergänzung für seine Show eine attraktive Assistentin. Die Drei haben großen Erfolg, sie ergänzen sich optimal, Ronnie und Evie rücken als ‹Pablo und Eve› immer mehr ins Rampenlicht, sie reüssieren als Zugnummer ihres Theaters, werden schon bald ein Paar und verloben sich. Bis passiert, was passieren muss in solcherart Konstellation, der berüchtigte Womanizer Jack bekommt Evie schließlich doch ins Bett, und völlig überraschend ist es für Beide die große Liebe. Sie heiraten, und ihre Ehe hält schließlich bis zu Jacks Tod fünfzig Jahre später. Ronnie aber ist damals, während seines letzten Auftritts, wie von Zauberhand spurlos von der Bühne verschwunden und blieb trotz intensiver polizeilicher Nachforschungen für immer unauffindbar.

Geschickt verknüpft Graham Swift in diesem neuen Roman das Schicksal seines Helden mit dem historischen Geschehen des Zweiten Weltkriegs. Wegen der ständigen Bombardierungen Londons musste der achtjährige Junge von seiner Mutter zu Pflegeeltern aufs Land evakuiert werden und wurde bei einem wohlhabenden, kinderlosen Ehepaar liebevoll großgezogen. Sein Pflegevater war vor dem Krieg ein erfolgreicher Zauberer gewesen, hat auch ihn für seine Kunst begeistern können und dem Pflegesohn bei seinem frühen Tod eine größere Summe hinterlassen. Die konnte Ronnie schließlich als unbedingt erforderliches Startkapital für seine eigene Bühnenshow mit Evie einsetzen. Mit einem melancholischen Grundton erzählt der Autor vom Leben im Varieté, das damals seinen beginnenden Niedergang erlebte, von Ronnies freudloser Kindheit und den glücklichen Jahren bei den Pflegeeltern.

Dabei springt er in diversen Rückblenden in die Vorgeschichte seiner Figuren zurück, erzählt seinen Plot zudem in stark fragmentierter Form und benutzt zuweilen das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers, was im Zusammenspiel mit Zauberei und Magie nicht wenig zur Verunsicherung des Lesers beiträgt. Seine Figuren wirken wenig empathisch und entsprechen diversen gängigen Klischees, vom draufgängerischen Frauenschwarm Jack über die kühl berechnende und leicht zu erobernde Evie in ihrem Glitzerkostüm bis zum hochsensiblen Zauberkünstler Ronnie, der sich seine treulose Verlobte kommentarlos ausspannen lässt. Zu den häufig verwendeten Metaphern im Roman zählt der Spiegel als trügerisches Symbol oder der bunte Papagei als krasser Gegenpol zur weißen Taube als dem typischen Überraschungstier beim Zaubern. Wenig erhellend sind auch die Erinnerungen der fünfundsiebzigjährigen Evie, die ein Jahr nach dem Tod von Jack, der mit ihr als seiner Managerin erfolgreich Karriere im Showbusiness gemacht hatte, immer wieder von Ronnie phantasiert. Der könne jeden Moment zur Tür hereinkommen, als Wiedergänger quasi. Gleiches denkt sie auch von ihrem toten Mann, derartige Illusionen begleiten sie also noch auf ihre alten Tage. «Hier sind wir» mag als rhetorische Floskel beim selbstbewussten Auftritt auf der Bühne funktionieren, dieser Roman jedoch kann mit dem Niveau seines Vorgängers nicht annähernd mithalten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Verirrungen

Impressionistisch hingetupft

Der 1895 erschienene Roman des schwedischen Schriftstellers Hjalmar Söderberg erschien unter dem Titel «Verirrungen» 2006 in neuer deutscher Übersetzung. Er gehört zu dem Mitte des 19ten Jahrhunderts von Edgar Allen Poe begründeten Genre des Flaneur-Romans und löste im prüden Fin de Siècle einen Skandal aus als «eine der unkeuschesten Hervorbringungen» der schwedischen Literatur, wie es in dem berühmten Verriss von Harald Molander hieß. Er sprach von «Dekadenzformen der niedrigeren Triebe des Menschen, ungezügelt, aber doch gleichzeitig ohnmächtig, Leidenschaften von wirklicher Intensität zu gebären».

Der Flaneur dieses Romans heißt Tomas, zwanzig Jahre alt, angehender Arzt, aus gutem Hause stammend, ein charmanter Tunichtgut mit Erfolg bei den Frauen, sein Flanierareal liegt im Herzen Stockholms. Gleich zu Beginn begegnen wir ihm nach dem Kauf roter Handschuhe, eine Alibihandlung, denn in Wirklichkeit geht es ihm um die nette Verkäuferin in dem Handschuh-Laden, die er bezaubernd findet. Bei einem Dinner trifft er wenig später die Gymnasiastin Märta, in die er schon länger verliebt ist und die er sich als seine künftige Frau vorstellen könnte. Söderberg nutzt das Dinner sehr geschickt für eine scharfsichtige Analyse der damaligen Stockholmer Bourgeoisie mit allen ihren Brüchen, wobei der Seelenzustand seiner Figuren hier nicht psychologisch analysiert wird, sondern sich allein durch ihr Handeln und ihre Äußerungen offenbart. Beide Mädchen erliegen schon bald dem Charme von Tomas. Neben der Liebe ist auch permanenter Geldmangel ein vordringliches Thema, der Vater von Tomas hält ihn eher knapp. Sein dekadentes Lotterleben aber ist teuer, und so gerät er schließlich in die Fänge eines Wucherers, mit dessen Hilfe er naiv seine diversen Schulden loszuwerden hofft.

Diese motivischen Verknüpfungen sind mit feiner Ironie und ganz ohne Pathos kühl und distanziert in einen Plot eingewoben, der erst ab der Mitte ein Minimum an Spannung erhält. Weite Strecken des Romans sind nämlich durch minutiöse Schilderungen dessen bestimmt, was Tomas als Flaneur auf seinen Streifzügen durch immer die gleichen Straßen an immer den gleichen Orten erlebt. Insoweit ist diese Hommage für das literarische Genre typisch, Stockholm-Kenner werden ihre helle Freude daran haben, ist doch diese Metropole von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben und strahlt noch den Charme vergangener Epochen aus. Mit feinem Gespür für Details schildert Hjalmar Söderberg ebenso eindringlich immer wieder die Natur und benutzt gekonnt das Wetter als stimmungsmäßige Grundierung des Geschehens, ohne dabei je in naturalistische Schwärmerei abzugleiten.

Dieser die verlogenen Konventionen einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft anprangernde Roman gehört heute zu den Klassikern der schwedischen Literatur. Sprachlich federleicht werden die titelgebenden «Verirrungen» des antriebslosen Protagonisten realistisch und nüchtern geschildert, ohne moralistische Wertung also. Als Tagträumer irrt Tomas so lange unentschieden zwischen den beiden Mädchen hin und her, bis ihm das Heft des Handelns endgültig entglitten ist. Er wird als ein Getriebener und Gefangener gleichzeitig dargestellt, der sich zuweilen elegisch selbst bedauert, dann aber auch wieder lebensfroh neuen Mut schöpft. Der Autor arbeitet in seinem klug anlegten Plot mit allerlei Leitmotivik und Farbsymbolik, mit raffiniert eingebauten, insignifikant erscheinenden Szenen wie dem taumelnden Hochzeitsflug zweier Schmetterlinge oder andere nebensächliche Beobachtungen, die seine Motive gleichwohl vorausdeuten oder begleitend illustrieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die im Dinner-Kapitel vage angedeutete Verbundenheit zwischen der Mutter von Tomas und dem Konsul, der am Ende dann plötzlich auftaucht und kommentarlos die Schulden des Hallodris begleicht. Derart impressionistisch hingetupften Kontext übersieht man leicht, man sollte sich also Zeit lassen zur genüsslichen Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Sweetest Fruits

Heimatloser Literat

In ihrer literarischen Biografie «Sweetest Fruits» erzählt die in den USA lebende Schriftstellerin Monique Truong vom wechselvollen Leben des irisch-griechischen Reiseschriftstellers Lafcadio Hearn. Die erste Biografie über ihn erschien schon 1906, zwei Jahre nach dem Tod des 54jährigen Journalisten, geschrieben von Elisabeth Bisland, die damals insbesondere durch ihr spektakuläres Wettrennen auf den Spuren von Jules Vernes rund um die Welt bekannt war. Aus dem zweibändigen Werk dieser amerikanischen Journalistin über ihren Freund und Kollegen Hearn werden, als Zwischenberichte quasi, den drei fiktionalen Teilen des Romans jeweils einige Seiten mit Zitaten beigefügt, wodurch ein authentisches Erzählgerüst entsteht.

Monique Truong erzählt aus den Perspektiven dreier Frauen vom Leben ihres Helden, beginnend auf einer griechischen Insel, wo Rosa ihrem bedrückenden Leben durch die Ehe mit einem dort stationierten irischen Stabsarzt zu entkommen sucht und mit ihm nach Dublin geht. Als die Ehe scheitert, lässt sie notgedrungen ihren kleinen Sohn Patricio in der Obhut der Familie und kehrt mittellos auf ihre Insel zurück. Im zweiten Teil erzählt Alethea, eine ehemalige Sklavin, die in einer billigen Pension als Köchin arbeitet, wie sie Patricio Hearn als Gast kennenlernt. Er war nach seiner Schulzeit in Irland von den Verwandten, die ihn großgezogen hatten, mittellos nach New York geschickt worden, hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und später in Cincinnati eine schlechtbezahlte Stelle als Journalist gefunden, der Anfang seiner literarischen Karriere. Alethea heiratet Pat, wie sie ihn nennt, aber die Ehe hält nur drei Jahre, ehe Hearn sich schließlich in Richtung New Orleans absetzt und sich scheiden lässt. Das Paar hat nur noch sporadisch Briefkontakt, zuletzt kommt ein Brief aus Martinique, wo der Weltenbummler inzwischen wohnt. Setsu, die Tochter eines Samurai, erzählt im dritten Teil schließlich, wie sie in der japanischen Hafenstadt Matsue den Englischlehrer Patrick Hearn kennenlernt, der sie heiratet, japanischer Staatsbürger wird und den Namen Yakumo annimmt. Sie haben vier Kinder miteinander, Hearn schreibt mehrere Bücher und wird Professor an der Universität von Tokio.

Es sind ganz unterschiedlichen Frauen, die diesen Globetrotter und Literaten porträtieren, wobei Monique Truong ihnen eine stilistisch jeweils ganz eigene Stimme verleiht. Rosa, die Mutter Hearns, diktiert auf dem Schiff einer Mitreisenden ihre Geschichte von der frühen Kindheit ihres Sohnes. Alethea, die gutgläubige Analphabetin, erzählt im Interview der Biografin naiv von ihrer Ehe, die letztlich scheiterte, als ihr Mann seine Stellung verlor, weil er mit einer Farbigen verheiratet war. Setsu schließlich rekapituliert nach dem Tod ihres Mannes sprachlich blumig in Du-Form das unstete Leben mit Hearn. Die auf drei Kontinenten lebenden Frauen offenbaren dabei mehr über sich selbst als über den Romanhelden. Sie hatten in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts mit vielerlei Anfeindungen zu kämpfen, die nicht nur sexistischer Art waren, auch gesellschaftliche Unterdrückung, Standesdünkel und Rassenhass trübten ihr Leben. Hearn selbst bleibt als Figur seltsam farblos, er war nach einem Unfall als Kind auf einem Auge fast blind, liebte die Natur über alles und verabscheute das hektische, moderne Leben, dessen dunkle Seiten er als Journalist bestens kannte, über das er immer wieder seine Reportagen schrieb.

Die fraktionelle Erzählweise des Romans eröffnet einerseits interessante Perspektiven, erfordert aber auch die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Der sieht sich zudem vielen fremdsprachigen Begriffen gegenüber, mit denen er mangels Register allein zurechtkommen muss. Es sind drei liebende Frauen, die diesen Roman prägen, die Kinder aber sind es letztendlich, die als «Süßeste Früchte» den Lebensbaum veredeln. Sie stehen auch für Beständigkeit als Gegenpol zum unsteten Leben eines heimatlosen Literaten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München

Bukowskis Jugendjahre

Bukowskis Jugendjahre. „Für alle Väter“ lautet die Widmung, die Charles Bukowski, der im August dieses Jahres 100 Jahre alt werden würde, seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen voranstellt. Denn Bukowski ist nicht nur der Autor zahlreicher Gedichte und Short Stories, sondern auch von einigen Romanen.

Bukowski: Class of `39

„Post Office“, sein Romandebüt widmete sich seiner einzigen festen Anstellung bei der amerikanischen Post. In „Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend“ geht Charles Bukowskis aber noch weiter in seinen Erinnerungen zurück, nämlich bis in seine Jugend im Amerika der 20er und 30er Jahre. Sein Vater, der jeden Morgen pünktlich das Haus verlässt, damit die Nachbarn nicht merken, daß er arbeitslos ist, war von der oben angeführten Zueignung und Widmung wohl ausgeschlossen. „Die rohe Gewalt, die in ihm rumorte, verscheuchte alles andere.“ Denn er züchtigte seinen Sohn Charles mit dem Lederriemen und verursachte damit wohl genau jene Entzündungen, die später als eitrige Akne ausbrachen und Bukowski damit sein Leben (oder zumindest seinen Körper) versauten. Aber so schlecht war dieses Leben nicht mehr, zumindest ab dem Zeitpunkt als er sein Elternhaus verließ. Genau über die Zeit davor handelt der vorliegende autobiographische Roman.

„Fump, fump, fump,fump …“

Bukowski nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Er spricht über Tabus, damit auch andere sich trauen, darüber zu reden. Seine Worte machen Mut und lösen eigene Erinnerungen aus, die vielleicht ebensolche Traumata auslösten. In der Schule war er noch ein Sportass, aber bald verlässt ihn der Ehrgeiz, da er schon früh anfängt zu trinken. „Das hier machte das Leben zu einer reinen Freude. Es machte einen Mann unerschütterlich und unangreifbar“, schreibt er über seinen ersten Rausch, bei dem er sich an Weinfässern des Vaters eines Mitschülers bediente. „So wohl war mir noch nie gewesen. Es war besser als Onanieren.“ Bukowski war noch keine 14. Bei der Beschreibung einer Tätigkeit eines anderen Mitschülers während des Unterrichts, bedient sich Bukowski auch der Lautsprache: „Fump, fump, fump,fump …“ lautet sein Kommentar zu den Beinen von Mrs. Gredis. Eine Parallelmontage der ganz anderen Art. Aber Bukowski zeigt auch viel Gefühl, etwa wenn er seine Beziehung zu der Krankenschwester beschreibt, die ihm seine Pusteln ausbrannte, Miss Ackermann. Aus seinem ersten McJob wird er wegen einer Schlägerei rausgeschmissen, aber mit der Pünktlichkeit hatte er es damals schon nicht so genau genommen. Seine ersten Tage als Student werden ebenso angeschnitten, wie seine Entscheidung nicht in den Krieg zu ziehen. Die Class of `39 war nämlich trotz Pearl Harbor schon pazifistisch gesinnt, obwohl `68 noch weit entfernt war.

Charles Bukowski wusste wohl damals schon, dass er sich ein Leben lang als Außenseiter durchschlagen muss. Nach weiteren McJobs als Tankwart, Schlachthof- und Hafenarbeiter (und natürlich als Postmann) starb Bukowski am 9. März 1994 in San Pedro/LA.

Charles Bukowski

Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend

Roman

dtv Allgemeine Belletristik
Aus dem amerikanischen Englisch von Carl Weissner
2007, 352 Seiten, Softcover

ISBN 978-3-423-20963-2
10,95 EURO

dtv


Genre: Autobiografie, Roman
Illustrated by dtv München

Der Russe ist einer, der Birken liebt

Seelisches Chaos

Die in Baku geborene, jüdische Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die 1996 als Zwölfjährige in Folge des Berg-Karabach-Konflikts mit den Eltern nach Deutschland emigrierte, verarbeitet in ihrem 2012 erschienenen Debütroman mit dem ironisch gemeinten Titel «Der Russe ist einer, der Birken liebt» eigene Lebenserfahrungen. Ihre autobiografisch inspirierte Protagonistin leidet nicht nur unter den Traumata der ethnischen Kämpfe in dieser krisengeschüttelten Kaukasus-Region, sie ist zudem von den latenten Problemen der Migranten in Deutschland betroffen und letztendlich auch noch von der Dauerkrise vieler multikultureller Gesellschaften, hier am abschreckenden Beispiel Israels.

Maria Kogan aus Aserbaidschan hat nach anfänglichen sprachlichen Problemen in der deutschen Schule ihr besonderes Talent für Fremdsprachen entdeckt und sich für ein Dolmetscher-Studium entschieden. Die hochbegabte Mascha, wie ihre Freunde sie nennen, erhält diverse Auslandsstipendien, und ehrgeizig wie sie ist strebt sie mit ihrem exzellenten Studienabschluss eine Anstellung bei der UNO an, wo ihr eine glanzvolle Karriere winkt. Die emanzipierte junge Frau wohnt mit ihrem deutschen Freund Elias in dessen Wohnung in Frankfurt, – es ist für Beide die große Liebe. Als er sich bei einem Fußballspiel das Bein bricht, entwickelt sich aus dieser Verletzung eine ernsthafte Erkrankung, bis Elias schließlich qualvoll an einer Sepsis stirbt. Verzweifelt flieht Mascha daraufhin nach Israel und nimmt dort eine deutlich unter ihrer Qualifikation liegende Stellung bei einer NGO an.

Nach dieser Zäsur, mit der sie ihre schwere emotionale Krise zu überwinden hofft, holt sie ihre Vergangenheit in voller Härte wieder ein. Die Pogrome in Baku, die sie als Kind miterleben musste, haben bisher tief verdrängte Traumata in ihr Bewusstsein zurückgerufen, und auch ihre jüdische Herkunft wird in Israel mit seinen unversöhnlichen ethnischen und religiösen Gegensätzen plötzlich zu einem handfesten Problem für sie. Ihre verzweifelte Identitätssuche erweist sich für die entwurzelte Frau als äußerst schwierig. Sie ist nicht mehr bindungsfähig, nach einer kurzen Affäre mit einem palästinensischen Soldaten kann sie auch zu ihrer politisch engagierten, lesbischen Freundin keine dauerhafte Beziehung mehr aufbauen. Der tote Elias beherrscht ihr ganzes Denken, sie macht sich sogar Vorwürfe, ihn nicht aufmerksamer gepflegt und die gesundheitliche Krise nicht rechtzeitig bemerkt zu haben. Von solchen Selbstzweifeln geplagt zeigen sich bei ihr schließlich physische Symptome, völlig appetitlos magert sie ab, wird von Beruhigungstabletten abhängig und erleidet schließlich einsam und hilflos einen Nervenzusammenbruch.

Es ist nicht nur der alltägliche Wahnsinn des von Gewalt beherrschten Staates Israel, dieser ewige Tanz auf dem Vulkan, mit dem die Ich-Erzählerin im zweiten Teil des Romans an ihrem vermeintlichen Zufluchtsort auf Schritt und Tritt konfrontiert wird. Olga Grjasnowa berichtet mit scharfem Blick für Details auch von den menschlichen Schwächen ihrer verschiedenen Figuren. Ihre Beschreibungen der absurd scheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse an beiden Handlungsorten, – in Deutschland mit seiner hysterischen Fremdenangst und in einem von religiösem Wahn beherrschten Israel -, werden temporeich und sprachlich schnörkellos in einem sachlichen, nüchternen Stil erzählt. In kurzen Sätzen werden hier, illusionslos und aus der Innensicht, kosmopolitische Multikulti-Fantasien als solche entlarvt. Denn hartnäckig erweist sich letztendlich immer die menschliche Natur mit ihren unausrottbaren Ressentiments als entschieden stärker. Es ist alles ein wenig zu dick aufgetragen, was sich in diesem Roman an Katastrophen ereignet, wobei die auch im Klappentext angedeutete, schreckliche Hasenszene ganz besonders hervorsticht. Narrativ eigensinnig wird hier von einer toughen jungen Frau berichtet, die in einer pseudo-globalen Welt an ihrem seelischen Chaos scheitert.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Scherbengericht

Konfuses narratives Gemenge

Der in Österreich geborene und seit seiner Kindheit in Argentinien lebende German Kratochwil gehört zu den spät Berufenen, mit seinem Romandebüt «Scherbengericht» schaffte es der damals 74Jährige auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2012. Inzwischen sind zwei weitere Romane von ihm erschienen, die ebenfalls im Milieu europäischer Einwanderer in Patagonien angesiedelt sind. Deren thematische Gemeinsamkeit bildet das Schicksal eben jener Migranten vor einer großartigen Naturkulisse, – eine literarisch einmalige, österreichisch-argentinische Melange mithin.

Eine illustre, drei Generationen umfassende und teilweise jüdisch versippte Gesellschaft trifft sich am Tag nach der Jahrtausendwende unter dem prächtigen Lindenbaum eines malerischen Landgutes in Patagonien. Zusammen mit ihren Sommergästen wollen die eingewanderten Österreicher auf ihrem idyllischen Hof den neunzigsten Geburtstag einer Dame aus Wiener Patrizierkreisen feiern, die als Stammgast quasi schon mit zur Familie gehört. Der in mehreren Handlungssträngen auf dieses Fest zusteuernde Plot beginnt mit der Anreise des vor der Pensionierung stehenden Sohns der Jubilarin, der für eine internationale Organisation arbeitet. Er wird begleitet von seiner psychisch labilen Tochter, die soeben aus der Psychiatrie entlassen wurde. Sein missratener Sohn, ein ewiger Student, lebt in einer obskuren Sekte in der Nähe des Landgutes und wird zu Ehren seiner Großmutter als besonderes Spektakel mit dem Gleitschirm direkt neben der Festtafel landen. Abwechselnd wird in Rückblenden aus dem Leben der verschiedenen Figuren erzählt, zu denen der gesundheitlich angeschlagene Gastgeber gehört, der seine Gäste immer wieder mit Propaganda-Phrasen des sprachlich täuschend ähnlich imitierten Fidel Castro erheitert. Und auch seine per Annonce aus Österreich herbei gelockte, immer lustige spätere Frau, die geradezu arbeitswütig Haus und Hof in Schuss hält und zudem als begnadete Köchin und Bäckerin gilt, gehört ebenso dazu wie ihr psychisch gestörter Sohn, den seine abartigen Tierquälereien sexuell erregen. Zu den jüdischen Gästen gehören auch ein Psychoanalytiker und ein Dentist, außerdem eine gute Freundin und der debile Verehrer der Jubilarin, dessen in tiefem Dunkel liegende Vergangenheit mit dem Namen Mauthausen verbunden ist.

Zweifellos ist German Kratochwil ein hervorragender Erzähler, der insbesondere mit seinen alle Sinne ansprechenden Naturbeschreibungen diesen Roman zu bereichern versteht. Grenzwertig erscheint allerdings die Überfülle an Motiven, Szenen und Geschehnissen seines Romans, der bedauerlich oft ins Klischee abgleitet, was schon bei der märchenhaft übertriebenen Schilderung des Landguts mit all seinen bäuerlichen Aktivitäten beginnt, alles beherrscht vom geradezu archetypischen Lindenbaum. Auch von Konflikten mit Indianern wird beispielsweise erzählt, die sich gegen eine Landnahme wehren, vom Whale Watching, vom Besuch in einem kitschigen Lady-Di-Museum, von einem dem Berghof auf dem Obersalzberg nachempfundenen Hotel, von dem samt Wassergraben und Zugbrücke burgartig angelegten Refugium exzentrischer Sektierer.

Aber auch viele andere Figuren dieser europäischen Migranten-Clique sind deutlich überzeichnet, ob das nun die grantelnde Wiener Jubilarin ist mit ihrer süßlichen Operetten-Seeligkeit oder die vor albernem Frohsinn ewig vor sich hinglucksende Gastgeberin. Da wird von heimlicher Homosexualität mit Strichjungen am Bahnhof berichtet, von Inzest unter Geschwistern, von Krebstod und Suizid, und auch die Politik spielt natürlich mit hinein, wenn ein junger Mann in den bürgerkriegsartigen Unruhen spurlos verschwindet. Der tragische Schlussakkord ist mit dem titelgebenden «Scherbengericht» völlig unzutreffend beschrieben. Es werden hier zwar die Schatten der Vergangenheit ans Licht geholt, ohne indes mit einer nachvollziehbaren inneren Logik überzeugen zu können, zu konfus ist leider das maßlos überfrachtete narrative Gemenge.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Picus Verlag Wien

Hundert Jahre Einsamkeit

Literatur als Spöttelei

Geradezu als Definition des «Magischen Realismus» kann man «Hundert Jahre Einsamkeit» des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez bezeichnen. Dieser inzwischen kanonische Roman brachte seinem Verfasser den literarischen Durchbruch, prägte jahrzehntelang wie kein zweiter die südamerikanische Literatur und wurde in Dutzende von Sprachen übersetzt, mit einer Gesamtauflage von über 30 Millionen Exemplaren. Die Jury in Stockholm verlieh dem Laureaten 1982 die begehrte Auszeichnung «für seine Romane und Erzählungen, in denen sich das Phantastische und das Realistische in einer vielfacettierten Welt der Dichtung vereinen, die Leben und Konflikt eines Kontinents widerspiegeln». Fünfzig Jahre nach der Erstveröffentlichung ist dieser Roman 2017 in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen, ein guter Grund für mich, dieses komplexe Werk nach fast zwei Jahrzehnten nun erneut zu lesen!

Jose Arcadio Buendia, wegen Mordes vom schlechten Gewissen geplagt, zieht mit seiner Familie in eine abgelegene, sumpfige Region Kolumbiens und gründet dort, fernab jeglicher Staatsgewalt, das Dorf Macondo. Schon bald wird es von einer Gruppe fahrender Zigeuner entdeckt, zu der auch der geheimnisvolle Melchiades gehört, der zum besten Freund des Gründervaters wird. Viele Siedler folgen und lassen sich auch dort nieder, das einsame Dorf wächst, seine Wirtschaft prosperiert. Schließlich wird es gegen erbitterten Widerstand der Einwohner der staatlichen Verwaltung unterstellt und in die Republik eingegliedert. Damit werden die Bewohner auch in den Bürgerkrieg hineingezogen, wobei Oberst Aureliano Buendia, ein Sohn des Stammvaters, zum gefeierten militärischen Führer der liberalen Partei aufsteigt. Die wirtschaftliche Blüte des Dorfes wird mit dem Bau der Eisenbahn gefördert, die Ansiedlung eines nord-amerikanischen Bananen-Konzerns schließlich bringt viele neue Arbeitsplätze nach Macondo. Irgendwann aber offenbart sich die hässliche Fratze des Kapitalismus, streikende Arbeiter samt ihren Familien werden brutal von Maschinengewehren niedergemäht, die 3000 Opfer dieses Massakers in 200 Eisenbahnwaggons verladen und ins Meer versenkt. Nach Jahren endlosen Regens fällt das Dorf allmählich in Agonie, viele Bewohner verlassen den unwirtlichen Ort, die Häuser verfallen, der Dschungel wuchert alles zu. Am Ende schließlich gelingt es Aureliano, dem letzten Sprössling aus dem Buendia-Clan, justament in seiner ebenfalls vorausgesagten Todesstunde die Aufzeichnungen von Melchiades zu entschlüsseln, die das endgültige Verschwinden des Dorfes prophezeien.

Dieses wundersame Epos einer skurrilen Familie, allesamt Archetypen, wird in vielen Vor- und Rückgriffen über sechs Generationen hinweg als Allegorie auf die Geschichte Südamerikas erzählt. Das ausufernde Figurenensemble durchlebt grotesk überzeichnet das Auf und Ab des menschlichen Schicksals, Schwächen und Unzulänglichkeiten seiner Akteure entlarvend. Wie im Märchen werden Tote wieder lebendig, andere entschweben in den Himmel oder werden unsichtbar, die Frau des Dorfgründers wird 120 Jahre alt und ist beim Tod auf die Größe eines Säuglings zusammengeschrumpft. Aureliano schließlich, der letzte Buendia, zeugt mit seiner Schwester ein Kind, das mit einem Schweineschwänzchen als einst geweissagtem Menetekel zu Welt kommt und wie die Mutter kurz nach der Geburt stirbt.

Leitmotivisch durchzieht immer wieder ein Erschießungskommando als Spannung erzeugender, chronologischer Vorgriff die in vielen, üppig ausgeschmückten Episoden erzählte Geschichte. Mit seiner überbordenden Phantasie beschreibt Garcia Marquez sein psychedelisches Urwalddorf als eine schwermütige, beklemmende Welt voller Aberglauben und Mythen, in der dem einsamen Tod die Hauptrolle zufällt. Literatur, so wird sie an einer Stelle im Buch emblematisch beschrieben, sei «das beste Spielzeug, das man erfunden hatte, um sich über die Leute lustig zu machen». Eine zulässige Deutung auch für diesen Roman?

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Vor Rehen wird gewarnt

Ein Reh als Raubtier

Nicht der bekannteste Roman von Vicky Baum, aber zweifellos ihr bester ist «Vor Rehen wird gewarnt», erstmals 1951 in englischer Sprache erschienen und fünf Jahre später mit Maria Schell als grandioser Fehlbesetzung verfilmt. Denn der Titel des Romans ist ironisch gemeint, seine Protagonistin ist alles andere als ein sanftes Reh, das «Seelchen», so der Spitzname der braven ‹Schelle Marie›, konnte diese unredliche, kalt berechnende Romanfigur nicht glaubhaft verkörpern. Die 1932 in die USA emigrierte, während der Weimarer Republik höchst erfolgreiche österreichische Schriftstellerin war lange in Vergessenheit geraten. Zu ihrem 60ten Todestag wurde nun ihr anspruchsvollster Roman in einer leicht überarbeiteten Übersetzung neu herausgegeben und als erfreuliche Wiederentdeckung gefeiert. Mit Recht?

Angelica Ambros heißt das Reh, das gleich zu Beginn als dominante, 65 Jahre alte Dame bei einer Bahnreise Ende des Zweiten Weltkriegs ihr großes Talent zur Manipulation ihrer Mitreisenden eindrucksvoll unter Beweis stellt. Diese auf ein tragisches Ende hinsteuernde Bahnfahrt in Begleitung ihrer Stieftochter Joy dient als erzählerische Klammer des dreiteiligen Romans, der im Mittelteil in Rückblenden ihr Leben beschreibt. Am Ende eben dieser Reise und damit auch des Romans steht quasi als Resümee der Stoßseufzer ihres Rechtsanwalts: «Das zäheste alte Luder, das mir in meinem ganzen Leben vorgekommen ist». Ann ist ein zartes, bezauberndes Mädchen aus gutem Hause in San Francisco, sie wird von ihrer älteren Schwester Maud, vom italienischen Kindermädchen und von den wohlhabenden Eltern verwöhnt und verhätschelt. Als junge Frau wickelt sie alle Männer um den Finger und verliebt sich schließlich unsterblich in den Wiener Geigenvirtuosen Florian, von dem sie ganz sicher ist, er würde ihr Mann werden. Als er sich aber überraschend für ihre Schwester entscheidet, heiratet sie aus purem Kalkül einen reichen Unternehmer, der sie verwöhnt und mit Geschenken überhäuft. Maud bekommt ihre Tochter Joy, und auch Ann bekommt einen Sohn, den sie über alles liebt, der aber zu ihrem Leidwesen so ganz nach seinem grobschlächtigen Vater geraten ist.

Vicky Baum erzählt ihre raffiniert konstruierte, etwa fünf Jahrzehnte umfassende Geschichte von Ann und ihrem Stargeiger in einer angenehm lesbaren, unverschnörkelten Sprache mit erstaunlichem psychologischen Einfühlungsvermögen. Alle ihre Figuren sind sehr plastisch beschrieben und wirken glaubhaft, wobei insbesondere das Seelenleben von Ann geradezu seziert wird, alle ihre äußerst trickreichen Winkelzüge und unverfrorenen Ränkespiele, falschen Schmeicheleien und geschickt lancierten Unwahrheiten offenlegend. Sie ist einerseits Opfer ihrer grenzenlosen Phantasien, vieles an ihr ist reine Pose, sie nimmt sich andererseits aber rücksichtslos alles, was sie will, und ist fest davon überzeugt, dass ihr auch all das zusteht. Dabei schreckt sie selbst vor illegalen Machenschaften nicht zurück, Versicherungsbetrug begeht sie ohne jedes Unrechtsbewusstsein, ihr Psychogramm weist sie als eine radikale Egoistin aus. Ihre moralisch höchst zweifelhafte Persönlichkeit ist insoweit eine eindrucksvolle Bestätigung von Darwins «Survival of the Fittest», denn Ann findet auch beim größten Schlamassel stets einen Ausweg, sie behält den Kopf immer oben. Bei alledem wirkt sie, und das ist ihre Stärke, durchaus nicht unsympathisch, sie ist charmant und ruft als kapriziöses Persönchen vor allem bei den Männern reflexartige Beschützer-Instinkte hervor.

Neben interessanten Einblicken in das Musikleben, zu dem hier auch eine Stradivari gehört, baut Vicky Baum geschickt das Große Erdbeben, die Weltausstellung und den Börsencrash in ihren Hollywood-artig angelegten Plot mit ein. Ihre Erzählung ist unterhaltsam und oft auch amüsant, weil man als Leser, schon von der Idee an, die heimtückischen Winkelzüge ihrer Heldin quasi hautnah miterlebt und nun durchaus gespannt ist, ob sie mal wieder damit durchkommt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Arche Zürich

Die toten Seelen

Originelle Grundidee

Nicolai Gogol steht in vorderster Reihe jener Schriftsteller, die in der nach-napoleonischen Zeit eine eigenständige russische Literatur geschaffen haben. Sein Hauptwerk «Die toten Seelen» blieb unvollendet, von den ursprünglich geplanten drei Teilen des Romans ist nur der erste fertig geworden, der zweite ist fragmentarisch erhalten. Gogol gilt als bedeutendster Vertreter der literarischen Groteske, er wurde darin besonders von Puschkin gefördert, der ihn auch zu diesem Werk angeregt hat, das 1842 erstmals erschienen ist und seither zu den Klassikern der Weltliteratur zählt.

Sein Protagonist ist Pawel Tschitschikow, ehemals ein kleiner Beamter, der sich durch Fleiß und Umsicht nach oben gearbeitet hat. In seiner letzten Position beim Zoll hatte er sich als unbestechlicher Kämpfer gegen die weitverbreitete Korruption im Zarenreich profiliert. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst reist er zu Beginn des Romans mit seinen zwei Leibeigenen, dem treuen Diener und dem Kutscher, von Gutshof zu Gutshof, um seine geniale Geschäftsidee in die Tat umzusetzen. Die auf den Gutshöfen arbeitenden Bauern und Handwerker waren allesamt Leibeigene, die quasi als lebendes Inventar ebenso zum Besitz dazugehörten wie die Ländereien und Gebäude. Sie stellten einen Wert an sich dar, konnten also je nach Bedarf hinzugekauft oder verkauft werden. Jeder Gutsherr musste entsprechend einer alle fünf Jahre neu erfolgenden Zählung eine Kopfsteuer für diese sogenannten ‹Revisionsseelen› entrichten. Tschitschikow nun will den Gutsherren alle ihre inzwischen verstorbenen Leibeigenen abkaufen, nur tote Seelen also, was überall großes Erstaunen auslöst. Aber weil mit dem notariellen Kaufvertrag die jährlichen Abgaben des Gutsherrn für die verkauften Leibeigenen wegfallen, sind sie letztendlich doch oft bereit zu diesem ebenso ominösen wie vertraulichen Geschäft, dessen Hintergründe niemand wirklich durchschaut. Am Ende schließlich kauft sich Tschitschikow dann auch noch spottbillig einen maroden, weit abgelegenen Gutshof. Durch seine inzwischen mehrere hundert nur auf dem Papier existierenden Leibeigenen aber, die er vorgeblich dort ansiedeln wird, ist das Gut inklusive Gesinde plötzlich sehr viel wert. Dementsprechend könnte es nun auch sehr hoch beliehen werden, – so sein erst im Verlauf der Geschichte allmählich deutlicher werdendes Kalkül!

Schamlos übertreibend schildert Gogol in seinem Erfolgsroman die groteske Geschichte eines ebenso gerissenen wie lebenshungrigen Mannes, der durch sein konziliantes Auftreten bei den allesamt vertrottelten, geltungssüchtigen Honoratioren der Stadt schnell hohes Ansehen gewinnt und viele nützliche Kontakte knüpft. Nacheinander werden dann in weiteren Kapiteln ebenso verschiedene Gutsherren vorgestellt, die jeder für sich einen skurrilen Typen aus der dekadenten gesellschaftlichen Mittelklasse verkörpern. Bis auf wenige Ausnahmen werden sie als arbeitsscheu beschrieben, sie kümmern sich nicht um ihr Landgut, sondern frönen gelangweilt dem Müßiggang. Insoweit ist dieser Roman eine Anklage, aber auch eine karikaturartige Verhöhnung der erstarrten, maroden Gesellschaft im zaristischen Russland, die aber seinerzeit dennoch, erstaunlicherweise auch bei den betreffenden sozialen Schichten, literarisch viel Anklang fand.

Der Roman glänzt, neben mitreißenden Naturbeschreibungen, insbesondere durch sein anschaulich beschriebenes, vielköpfiges Figurenensemble, bei dem die Beamten nur Randfiguren darstellen. Die Gutsbesitzer hingegen werden in breit angelegten, detaillierten Lebensbeschreibungen als Müßiggänger geschildert, unter denen sämtliche Laster vertreten sind, Fresssucht, Alkoholismus, Geltungssucht und ausgeprägter Despotismus. Sie wirken allesamt statisch, als dynamisch sich entwickelnde Figur ist lediglich Tschitschikow dargestellt. Mit gewissen Längen altväterlich erzählt ist dieser amüsante satirische Roman mit seiner originellen Grundidee gleichwohl eine unterhaltsame Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Offene See

Der englische Lyriker Benjamin Myers (*1976) legt mit „Offene See“ erstmals einen sprachgewaltigen Roman vor – angesiedelt in den 40er Jahren im ländlichen, kriegsversehrten England.

Der sechzehnjährige Robert lebt in einem verarmten Dorf im Norden Englands kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Da das Dorf vom Kohleabbau abhängig ist, soll Robert nach der Schule im Kohlebergwerk seinen Lebensunterhalt verdienen.

Robert aber ist ein wahres Naturkind. Nichts liebt er mehr, als nach der Schule allein durch Wiesen und Felder zu stromern. Die Enge des Schachts unter Tage, die staubige Luft, das künstliche Licht: All das graut ihn so sehr, dass er in seinem jugendlichen Abenteuertrieb beschließt, loszuziehen und die Welt zu sehen.

Das Leben wartete da draußen, bereit, gierig getrunken zu werden.

Mit dem Allernotwendigsten ausgerüstet, begibt er sich auf Wanderschaft und lässt die gewohnte Umgebung hinter sich – streift durch fremde Wälder, Moore und Haine. Die Freiheit, die sich ihm offenbart, ist überwältigend.

Die Neuheit des Unbekannten war berauschend. Hier klang sogar alles anders, die leere Weite der Moore ein flüsternder Ort, frei von dem Dröhnen und Rattern des Bergarbeiterlebens.

 Je weiter ich mich von allem entfernte, was ich je gekannt hatte, desto leichter fühlte ich mich.

 Und doch lastet sein kommendes Schicksal wie ein schwarzer Fleck auf seiner Seele, denn er weiß, dass er seiner Vergangenheit nicht entfliehen kann.

 Es war ein Akt der Befreiung und Rebellion, doch die Fesseln des alten Lebens waren noch immer so festgezurrt, dass ich mich fragte, ob die Wanderung lediglich eine kurze Galgenfrist war.

 Sein Weg führt ihn bis an die Ostküste Englands, wo er in einem verwilderten Cottage dem Freigeist Dulcie Piper begegnet, einer älteren Frau, die bereits in der Welt herumgereist ist und ein anderes Weltbild und andere Werte vertritt, als Robert sie von Kindheit an eingetrichtert wurden. Dulcie ist Hobbyimkerin, liebt die Poesie und alles Künstlerische, raucht Zigarre und leugnet Gott. Sie ist weder verheiratet noch hat sie sonst irgendwas gemein mit den Frauen aus Roberts Dorf. Selbst zu den ihm verhassten Deutschen hat sie eine klare Meinung, die Roberts Ansichten widerspricht:

Krieg ist Krieg: Er wird von wenigen angezettelt und von vielen geführt, und am Ende verlieren alle. […] Hör auf, die Deutschen zu hassen; die meisten sind genau wie du und ich.

Was beide Nationen trennt, seien andere Sitten, und natürlich das Meer. Aber auch das war nicht immer dort. Demnach sei früher einmal „England Deutschland gewesen und umgekehrt.“

Dulcie eröffnet Robert eine ihm gänzlich unbekannte Welt. In dieser Welt steht nicht an vorderster Stelle, den Erwartungen anderer gerecht zu werden oder seine Arbeit tüchtig zu verrichten, sondern die ungestörte Entfaltung seiner Persönlichkeit und das Zulassen von Träumen. Die geistige Entwicklung unseres Protagonisten ist enorm. Am Ende des Romans wird aus einem Dorfjungen mit beschränktem Horizont aus dem staubigen Kohlerevier ein einflussreicher Mann, der seine Träume lebt.

Doch auch Dulcie, die wie eine weise Mentorin Einfluss auf Roberts Leben ausübt, ist nicht so unbeschwert, wie sie vorgibt zu sein. Als Robert ihre überwucherte Hecke stutzen möchte, um ihr den Blick auf die offene See frei zu machen, lehnt sie vehement ab. Auch als Robert ein altes an sie persönlich adressiertes Manuskript findet, reagiert Dulcie ungewohnt mürrisch. Was ist in ihrer Vergangenheit geschehen? Robert kommt Dulcies Geheimnis immer näher, bis auch sie sich gezwungen sieht, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Nicht nur Robert ist es, der in diesem Sommer 1946 über sich hinauswächst, auch Dulcie kann dank Robert endlich ein düsteres Kapitel ihres Lebens zuschlagen und positiv der Zukunft entgegenblicken.

„Offene See“ ist hohe Literatur, die man heutzutage nicht mehr allzu oft zu lesen bekommt. Myers hat seinen Lesern eine poetische Geschichte vorgelegt, die dazu anregt, sich auf heilsame Weise mit seinem eigenen Leben auseinandersetzen.

Der wortgewandte Autor gebraucht eine sehr metaphorische, ästhetische Sprache und schreibt mit viel Liebe fürs Detail. So erwähnt er mitunter jedes summende Insekt, das in der Luft umherschwirrt, jeden Käfer, der durchs Gehölz kriecht, und jedes Kraut, das am Wegesrand wächst. Statt die Handlung ereignisreich aufzuladen, haucht er kleinsten Momenten mit ungeheurer Präzision Leben ein, wie etwa der Ekstase des Sich-Verlierens in den Urgewalten der Natur oder Momenten der Freiheit, in denen man realisiert, dass einem die Welt zu Füßen liegt und überall Tore offen stehen, durch die man bloß hindurch gehen muss. Wie mit dem Blick aufs Meer, bei dem sich Robert fühlt, als könnte er irgendwer sein, irgendwo hin gehen und irgendwas machen. Bei jeder besonders elegant gewählten Formulierung musste ich innehalten, den Satz erneut lesen und ihn mir genussvoll auf der Zunge zergehen lassen, so meisterlich weiß Myers mit Sprache umzugehen. Wie es sich für einen Lyriker gehört, begegnet man stilistischen Mitteln an jeder Ecke, aber nie so häufig, dass man ihrer überdrüssig wird: Metaphern in Hülle und Fülle, Vergleiche, Symbole, Allegorien, Personifizierungen, z. B., wenn es um den Krieg geht:

 In diesen Gesprächen mit Fremden wurde der Krieg kaum erwähnt; diese Bestie blieb begraben. Sie war noch zu frisch, um exhumiert zu werden.

Aber neben einer die Seele beglückenden Handlung gibt Myers zugleich einen traurigen Abriss der damaligen Zeit und bildet die erbärmlichen Lebensverhältnisse und das psychische Leid ab, das der Krieg verursacht hat. Zwar war Robert „nicht alt genug, um sich [im Krieg] zum Helden gemacht zu haben“, aber auch nicht „jung genug, den Wochenschaubildern entkommen zu sein“. Dennoch war er nicht unmittelbar vom Krieg betroffen, da er ihn gegenwärtig mit den „Augen der Jugend sieht”, worin [der Krieg] lediglich eine Abstraktion darstellt, „eine Erinnerung zweiten Grades, die bereits verblasst.“

Trotz der historisch aufgeladenen ernsten Thematik, die überall präsent ist, mangelt es der Geschichte nicht an Humor. In den lebhaften Dialogen zwischen Robert und Dulcie, die sich über mehrere Seiten erstrecken und sich häufig zu philosophischen Diskussionen ausweiten, die man interessiert verfolgte, gab es viel zu schmunzeln, wenn Roberts Naivität auf Dulcies Lebenserfahrung trifft.

Myers fängt in diesem äußerst vielschichtigen Roman allerlei Themen ein, das Leben in all seinen Facetten – Glück, Freiheit, Liebe, (Zukunfts-)Ängste, die Inspiration und Kraft einer Begegnung –, besticht dabei durch Identifikationsfiguren, die dem wahren Leben entsprungen zu sein scheinen, und einer zwischen bittersüßen Melancholie und ansteckender Lebensfreude springenden Stimmung.

„Offene See“ ist eine Lobeshymne auf die Freiheit, die Selbstverwirklichung und auf ein Leben im Einklang mit der Natur. Sie fordert jeden einzelnen dazu auf, seinen Horizont zu erweitern und das Unmögliche zu träumen. Dieses Buch ist eine Quelle, aus der man nachhaltig Zuversicht, Lebensmut und Hoffnung schöpft, und die einen auch von düsteren Gedanken befreien vermag.

An dieser Stelle sollte das Übersetzerduo Ulrike Wasel und Klaus Timmermann nicht unerwähnt bleiben, das diese Erzählung exzellent ins Deutsche übertragen hat. Denn die Kunst der Übersetzung ist noch einmal eine Schwierigkeit für sich, die den beiden hervorragend gelungen ist!

Mein Video-Buchblog:

https://www.youtube.com/channel/UC4HroFmpRpH7t2BiZA-X68wC4HroFmpRpH7t2BiZA-X68w

 


Genre: Roman
Illustrated by DuMont

Herrmann

Herrmann. Der Studienabbrecher Herrmann (mit zwei r und zwei n) hat sein halbes Leben als Bereichsleiter in seiner Firma verbracht: 22 Jahre, vierte Managementebene. Sein Gegenentwurf ist sein Freund Orban, der nach Auslandsaufenthalten eine Laufbahn im Bankwesen einschlug. Aber seit der jüngsten Bankenkrise gäbe es auch an Bankern nichts mehr zu bewundern, wie Herrmann lakonisch kommentiert. Dreißig Jahre lang haben sie sich nicht mehr gesehen.

Herrmann oder Überdosis Fürsorge

Das komplizierte Beziehungsgeflecht, das die Autorin im nach ihrem Protagonisten benannten Roman entwirft, ist von der sog. Midlifecrisis geprägt, denn alle seine Kollegen und Freunde – weiblich oder männlich – befinden sich in so einer. Herrmann ist von Rieke getrennt und lebt allein. Aber er geht gerne in die Natur, denn dort fühlt er sich sehr wohl. Oder beim Hirschragout von der Mutter. Als er endlich umzieht – auf die andere Straßenseite – wird Herrmann „von der Vorstellung verfolgt, in seinen eigenen Wänden wobei auch immer ertappt zu werden“. Die behütete Obhut seiner Familie ist im Grunde genauso ein Gefängnis wie sein Job. So beschließt er etwa zu Hause immer Pyjama zu tragen, was beim Abendessen bei der Mutter aber wieder zum Gesprächsthema führt, worin seine Mutter ihm die Schlafanzüge seines Vaters und Großvaters antragen wird: Eine Qualität, die man heute gar nicht mehr erzeuge, so seine Mutter. „Denken durfte er, was er wollte, aber eines Tages würde das zunehmend unberechenbare Getöse in seinem Kopf der Außenwelt zu Ohren kommen“.

Der Baron, der Blade und der Behinderte

Würde er der Familie den Zutritt verwehren, allein sein, seine Ruhe haben wollen, die Familie würde ihn für krank oder gefährdet halten und umso entschlossener vordringen, den Cousin herbeirufen und ab sofort auch Orban.“ „Going postal“ nannte man die zwischen 1986 und 1997 in den Postämtern der USA sich häufenden Amokläufe, erklärt die Autorin in einem weiteren Einschub, den sie auch schon zur Jägersprache – nicht Jägerlatein – machte. Diese Maladie würde durch Stress bei der Arbeit ausgelöst werden, ein Umstand von dem Herrmann wohl nur träumen kann. Herrmann teilt eben das Schicksal vieler Mitvierziger: „Die saure Übelkeit in der Kehle überraschte ihn nicht, wenn er sich nicht leiden konnte, schlug ihm das auf den Magen, ihm wurde sozusagen von sich selber schlecht.“ An einer Stelle bringt die Autorin das soziale Leben ihres Protagonisten auf den Punkt: „Der Baron, der Blade und der Behinderte“ schreibt sie in Anlehnung an Sergio Leones Westernklassiker „The Good, the Bad and the Ugly“.

Bettina Gärtner, die 1962 in Frankfurt am Main geboren, aber seit frühester Kindheit in Wien lebende, hat eine Milieustudie verfasst, die den Protagonisten Herrmann vom Herrmanngefühl zum Fuchsgefühl führt. Die Zwischenkapitel Myokarditis, Blutdruck, Logbuch PRO, Jägersprache, Going Posta, Liedgut I , Blaze und Liedgut II wurden dem Internet entnommen und teilredigiert. An den Textpassagen sei nichts erfunden, ihre Bearbeitung und Zusammenstellung im Hinblick auf Lesbarkeit, Scheinrelevanz und Unterhaltungswert seien Authentizitätsfake (Hervorhebung durch BG) im Sinne der Fiktion. „Die meisten Vorboten erkennt man erst im Nachhinein“.

Bettina Gärtner
Herrmann. Roman
2020, Hardcover, 288 Seiten
ISBN: 9783990590485
Literaturverlag Droschl


Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Middlemarch

Der Weg ist das Ziel

In Deutschland bis heute weitgehend unbekannt geblieben ist «Middelmarch», das 1871/72 in acht Fortsetzungen unter dem Pseudonym George Eliot erschienene Opus magnum von Mary Anne Evans mit dem Untertitel «Eine Studie über das Leben in der Provinz». Zum zweihundertsten Geburtstag der englischen Schriftstellerin sind 2019 gleich zwei Neuübersetzungen dieses nach Meinung von 82 internationalen Literatur-Experten bedeutendsten britischen Romans erschienen, was manchen Leser denn doch animieren dürfte, sich an die Lektüre dieses berühmten, dickleibigen Klassikers der Weltliteratur heranzumachen.

Handlungsort der mehrsträngig erzählten Geschichte ist die titelgebende, fiktive Kleinstadt Middelmarch, Erzählzeit der Beginn der Industrialisierung im ersten Drittel des 19ten Jahrhunderts. In einem familiär eng verflochtenen Figurenensemble werden vor allem die Beziehungen der verschiedenen Charaktere untereinander thematisiert, wobei dem Individuum hier übermächtig die rigide viktorianische Gesellschaft gegenübersteht, an der viele scheitern. Besonders Liebesnöte und unglückliche Ehen nehmen dabei einen breiten Raum ein, aber auch ökonomische, politische und soziale Aspekte werden im historischen Kontext äußerst facettenreich beleuchtet. Es beginnt mit der schönen Dorothea, die zum Entsetzen der Familie und gegen alle Vernunft einen doppelt so alten, verschrobenen Theologen heiratet und erwartungsgemäß in einem albtraumartigen Ehedrama landet, aus dem sie nur der frühe Tod ihres drögen Mannes errettet. Scheitern muss auch der zweite Protagonist, der ehrgeizige, aber mittellose Landarzt Lydgate, der die verwöhnte Tochter des Bürgermeisters ehelicht, sich in Schulden stürzt und schließlich resigniert alle wissenschaftlichen Ambitionen aufgeben muss. Er geht nach London und wird dort widerwillig Modearzt, um seiner Frau das komfortable Leben bieten zu können, auf das sie Anspruch zu haben meint.

Größte Stärke dieses grandiosen Gesellschaftsromans sind seine psychologisch tiefgründigen Charakterstudien. Das üppige Figuren-Ensemble besteht aus diversen ebenso liebevoll wie ironisch beschriebenen Archetypen, von denen viele ebenfalls scheitern. Den frömmelnden, unredlichen Bankier zum Beispiel holt seine fragwürdige Vergangenheit ein, gesellschaftlich geächtet muss er Middelmarch verlassen. Ein fauler Tunichtgut muss erkennen, dass er keine Chance hat, seine Liebste zu ehelichen, wenn er sein unstetes Lotterleben nicht radikal ändert, – was er dann notgedrungen auch tut. Amüsanteste Figur ist Mrs. Cadwallader, die gleich zu Beginn in einer köstlichen Szene versucht, die sich abzeichnende Mesalliance von Dorothea im letzten Moment doch noch zu verhindern. Der Nachbar, Pfarrer Farebrother, verkörpert den grundgütigen, selbstlosen Menschen, der sich immer wieder helfend und schlichtend einbringt in den intrigenreichen Mikrokosmos dieses Romans, der von naiver Religiosität, Standesdünkel und doppelter Moral geprägt ist, die ständig neue menschliche Schwächen offenbaren.

Unübersehbar ist bei alledem die kritische, feministische Sichtweise der Autorin, die ja schon damit beginnt, dass sie unter einem männlichen Pseudonym veröffentlichen musste, um literarisch ernst genommen zu werden. Die Frauen in diesem viktorianischen Epos sind allesamt ungebildete Weibchen, dem Manne untertan. Häufig schweift George Eliot zu kontemplativen Exkursionen über politische, künstlerische, philosophische und auch wissenschaftliche Themen ab. In ihrem komplexen Handlungsgeflecht nimmt dabei auch die Medizin breiten Raum ein und zeugt von ihren erstaunlichen Kenntnissen auf diesem Gebiet. Zum Lesegenuss des intellektuell äußerst anspruchsvollen und raffiniert konstruierten Romans trägt nicht wenig auch die kongeniale Übersetzung von Melanie Walz bei, in der subtil der köstliche englische Humor zum Tragen kommt. Die mehr als zwölfhundert Buchseiten vergehen somit wie im Fluge, denn auch hier gilt mal wieder: «Der Weg ist das Ziel».

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der Fetzen: Roman

Als alle Charlie sein wollten

Das Leben des französischen Journalisten Philippe Lançon, der für die Tageszeitung „Libération“ und das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ schreibt, veränderte sich am 7. Januar 2015 auf fundamentale Art und Weise: Am Morgen jenes Tages verübt die Organisation „Al-Quaida im Jemen“ einen Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris. Sie töten elf Menschen und verletzen mehrere.

Philippe Lançon überlebte den Anschlag nur knapp und wurde an Händen und Armen schwer verletzt – vor allem aber im Gesicht. Sein Mund und sein kompletter Unterkiefer wurden weggeschossen, übrig blieb ein klaffendes Loch. Er muss sich 17 Operationen unterziehen. Fast das gesamte Jahr 2015 verbrachte er in der Chirurgie des Hôpital de la Pitié-Salpêtrière und zur Anschlussheilbehandlung im Hôpital des Invalides.

„Der Fetzen“ beginnt mit drei hinführenden Kapiteln („Was ihr wollt“, „Fliegender Teppich“, „Die Konferenz“) und kommt dann zur Sache selbst: eine detaillierte Beschreibung des 7. Januar 2015, der Tag des Attentats. Es war ein Jazzbuch, das Philippe das Leben gerettet hat. Philippe wollte eigentlich schon aufbrechen, doch er blieb noch zwei Minuten stehen, um dem Comiczeichner Jean Cabut – der beim Anschlag ermordet wurde – ein neues Jazzbuch zu zeigen:

„Wenn ich nicht stehengeblieben wäre, um es ihm zu zeigen, wäre ich zwei Minuten früher gegangen und, ich habe es hundertfach durchgerechnet, im Flur oder im Treppenhaus auf die beiden Mörder gestoßen. Sie hätten mir wahrscheinlich eine Kugel oder mehrere in den Kopf gejagt, und ich wäre den anderen Palinuri, meinen Gefährten, ans Ufer der grausamen Bewohner und in die einzig existierende Hölle gefolgt; die, in der man nicht mehr lebt“ (Seite 74f.).

Der Roman endet in den Novembertagen 2015, als Philippe die erste USA-Reise seit dem Anschlag unternimmt. In New York erreichen in die Berichte von den Anschlägen vom 13. November 2015 des sog. „Islamischen Staates“ (IS) in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und mehr als 680 verletzt wurden. Seine Chirurgin Chloé, die weiß, dass Philippe gerade nicht in Frankreich weilt, schreibt ihm eine SMS um ein Uhr morgens:

„Ich bin froh, Sie weit weg zu wissen. Kommen Sie nicht so bald wieder“ (Seite 548).

Mit dieser SMS endet der Roman von Philippe Lançon.

Zum Zeitpunkt des Anschlages im Jahr 2015 war Charlie Hebdo eine Zeitschrift, die eigentlich bereits am Ende war, Philippe spricht offen vom „Niedergang“ – sowohl politisch als auch wirtschaftlich. Dieser Rückblick auf die Zeit vor 2015 ist wichtig, denn der nach dem Anschlag entstehende Hype unter dem Slogan „Ich bin Charlie“ kommt nicht ganz ohne Heuchelei aus. Philippe erläutert, dass „Charlie Hebdo“ bis zur Affäre um die Mohammed-Karikaturen um Jahr 2006 eine maßgebliche Rolle in der Kulturlandschaft gespielt hat. Doch danach distanzierten sich die meisten Zeitungen von der Wochenzeitschrift, weil sie die Mohammed-Karikaturen veröffentlich hatte. Die Zeitung wurde um ihre Stammleserschaft gebracht. Entsprechend deutlich waren die Worte von Philippe:

„Abwechselnd kam man sich vor wie in einer Teestube oder in der Replik einer stalinistischen Zell. Diese fehlende Solidarität war nicht nur eine berufliche und moralische Schande. Indem sie Charlie isolierte und anprangerte, machte sie die Zeitung zu einer Zielscheibe der Islamisten“ (Seite 65).

Man kann durchaus die These vertreten: Hätte es den Anschlag nicht gegeben, es würde „Charlie Hebdo“ heute nicht mehr geben. Der Anschlag veränderte alles – auch die betriebswirtschaftliche, ökonomische Situation der Wochenzeitschrift:

„Am 7. Januar 2015 gegen 10 Uhr 30 waren in Frankreich nicht viele Leute Charlie“ (Seite 66).

Nur wenige Minuten später kam es zu einer radikalen Veränderung. Viele wollten Charlie sein.

Zwei Leben

Die fundamentale Art und Weise, auf die sich das Leben von Philippe durch den Anschlag veränderte besteht darin: der alte Philippe ist tot. Der 7. Januar 2015 war die „Stunde Null“ für Philippe. Seine alte Identität war weggefetzt worden. Sehr detailliert beschreibt er das Attentat und die unmittelbaren Minuten und Stunden danach. Es sind jene Bilder, die sich durch den Rest des Buches hindurchziehen. In seiner eigenen Blutlache liegend setzt sich der Anblick seines Kollegen und Freundes Bernard in seinen Gedanken fest, der tot auf dem Bauch lag und dessen Gehirn aus dem Schäden hervorquoll:

„Bernard ist tot, sagt mir derjenige, der ich war, und ich antwortete, ja, er ist tot, und genau hier wurden wir eins, an jenem Punkt, an dem dieses Gehirn hervorquoll, das ich am liebsten wieder in den Schädel zurückgestopft hätte und von dem ich mich nicht mehr losreißen konnte, denn seinetwegen habe ich in diesem Moment endlich gespürt und begriffen, dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war“ (Seite 87).

Ist der neue Philippe ein Opfer? Ist er ein Held?

Ein Krankenpfleger sagt einmal zu Philippe, dass es nun in seiner Familie einen Helden gebe (Seite 196). Doch Philippe beschreibt, dass er sich nicht als Held fühlt und sich gleichzeitig schämt, die ihm von den Umständen zugewiesene Rolle nicht spielen zu können. Er gibt offen zu, dass er die typischen Schuldgefühle des Patienten habe. Er ist in allem abhängig und kann nicht einmal die Abhängigkeit kontrollieren. Eine besondere Abhängigkeit durchzieht sich im ganzen Roman zu seiner Chirurgin Chloé, die seinen neuen Unterkiefer gemacht hat. Chloé wird von Philippe idealisiert – oft stellt der Leser sich die Frage: Hat sich Philippe in Chloé verliebt? Doch diese Romantik bleibt uns Lesern dankenswerter Weise erspart.

Philippes Buch ist weder eine Heldengeschichte noch die Anklageschrift eines Opfers. Philippe ist Überlebender. Sein neuer Unterkiefer, den er ab sofort „Schnitzel“ nennt, wird mühsam aus einem seiner Wadenbeine rekonstruiert.

Bereits sieben Tage nach dem Attentat veröffentlicht Philippe einen Beitrag in „Libération“. Zum ersten Mal in seiner damals dreißigjährigen Berufstätigkeit berichtete er in einer Zeitung über sich selbst. Nicht zuletzt diese Zeilen sind eine sehr lohnenswerte Lektüre, denn sie erinnern uns an den Wert der Pressefreiheit:

„Dieses Attentat hat mir in Erinnerung gerufen, wenn nicht erst entschlossen, weshalb ich meinen Beruf bei diesen beiden Zeitungen ausübe – weil ich die Freiheit hochhalte und für sie eintreten möchte, in Form von Nachrichten oder Karikaturen, in guter Gesellschaft und in allen möglichen Formen, die, selbst wenn sie missraten sind, kein Urteil verdienen“ (Seite 215).

Philippe hat diese Freiheit mit dem Drittel seines Gesichts bezahlt.

Rekonstruktion durch Literatur: Kann Literatur wirklich Leben retten?

Das Ziel von „Der Fetzen“ ist eine Rekonstruktion in einem doppelten Sinne. Zum einen geht es für Philippe darum, dem Leser und dem „neuen Philippe“ nachzuzeichnen, wie sein Unterkiefer mühsam aus seiner Wade („Sekundärtransplantation“) rekonstruiert. wird. Zum anderen geht es für Philippe aber um eine viel tiefergehende Rekonstruktion, nämlich die bereits angedeutete, seelische und geistige Rekonstruktion als neuer Philippe.

Damit die seelische und geistige Rekonstruktion als neuer Philippe gelingt, schreibt er diesen Roman. Literatur hat ihm das Leben gerettet. Um zu verstehen, wie Literatur wirklich Leben retten kann, bringen wir kurz Denis Scheck ins Spiel: In seinem „Vorwort zu einem frivolen Unternehmen“ zu seinem „Kanon“ über die „100 wichtigsten Werke der Weltliteratur“ berichtet Denis Scheck über ein Gespräch mit Stefan Raab. Raab gilt als sehr belesen, liest keine Belletristik. Raab stellte Scheck die kritische Frage, warum solle er sich denn mit Literatur aufhalten solle und nie begriffen habe, weshalb er sich für erfundene Probleme erfundener Figuren interessieren müsse. Für Scheck gibt es keinen Zweifel daran, dass wir nur lesend die Welt verstehen und uns in ihr zurechtfinden können:

„Im Spiel der Kunst, nicht zuletzt im Gedankenspiel der Literatur entwickeln wir jene Systeme der Wahrnehmung, unserer moralischen Werte und ethischen Orientierung, die es uns erlauben, uns in dieser Welt zurechtzufinden. Nur lesend verstehen wir diese Welt – und fühlen uns sogar gelegentlich von der Welt verstanden“ (Quelle: Denis Scheck 2019: Schecks Kanon. Die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur von „Krieg und Frieden“ bis „Tim und Strupi“, München: Piper, Seite 8).

Weit über das Verstehen der Welt hinaus hat die Literatur das Potenzial, Leben zu retten:

„Literatur hat mir das Leben gerettet. Oft. Literatur hat mich beschützt und bewahrt, aber auch ausgesetzt und aus der Passivität ins Leben gestoßen“ (Seite 9).

Literatur und vor allem sein Dialog mit einer riesigen Werkgeschichte hat Philippe nicht das Leben gerettet. Der alte Philippe ist tot. Literatur hat das Leben des neuen Philippe gerettet. Es war eine Rettung durch Verwandlung. Dass dieser Prozess der Verwandlung in den neuen Philippe sehr schwierig war, veranschaulicht er unter anderem mit der Hilfe von Marcel Proust:

„Nichts ist schmerzlicher als dieser Gegensatz zwischen der Verwandlung der Menschen und der Starrheit der Erinnerung, wenn wir begreifen, dass das, was in unserem Gedächtnis so viel Frische bewahrt hat, im Leben keine Frische haben kann“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, zitiert Seite 406).

Für Philippe war die Identitätssuche als neuer Philippe auch deshalb so schwer, weil er die Beständigkeit der Menschen nicht ertragen konnte, die ihn im Krankenhaus besuchten – unter anderem der damalige Staatspräsident François Hollande. Seine Besucher steckten  für immer in den Tagen vor dem 7. Januar 2005 fest. Doch diese Zeit gibt es für Philippe nicht mehr. Der neue Philippe lebt weder die verlorene noch die wiedergefundene Zeit; er lebt die unterbrochene Zeit.

Literatur gibt jedem nicht nur das richtige Gefühl, sondern auch die richtige Orientierung: Du bist nicht alleine. Wir sind alle Opfer. Wir sind alle Helden. Jeder führt große Armeen an. Literatur liefert Verständnis. Literatur befriedigt Bedürfnisse. Literatur macht jeden zum Erwachsenen. Jeder ist ein Dichter. Jeder erobert Königreiche. Literatur lässt den Einsamen nicht alleine. Literatur ist Flucht in die Realität. Wir sind alle Verlierer. Wir sind alle Königskinder.

„Karussell der prophetischen oder didaktischen Kommentare“

In jedem Buch gibt es die persönliche Lieblingsstelle. Meine Lieblingsstelle ist jene Passage, auf die ich gewartet habe. Jene, in der Philippe über den „Sinn“ des Anschlags nachdenkt, Genauer: Über die Frage der (moralischen) Legitimität von politisch motivierter Gewalt bzw. „Terrorismus“ – diesen Begriff verwendet Philippe sehr sparsam. Es ist die einzige Stelle im ganzen Buch, in der Philippe diese Thema anschneidet:

„Ich las praktisch keine Zeitungen, hatte immer noch kein Fernsehen abonniert, und das Radio langweilte mich wie das in den Tiefen eines Sees brummende Geräusch eines Außenbordmotors. Als ich in einer Wochenzeitschrift, die mir jemand mitgebracht hatte, das Interview mit einem französischen Intellektuellen las, der nicht nur mit der Gewalt liebäugelte, sondern von deren inspirierenden und revolutionären Potenzial sichtlich fasziniert war, bestätigte das meinen Reflex – denn man kann es weder Willen noch Überlegung nennen -, das Karussell der prophetischen oder didaktischen Kommentare zu fliehen. Das Denken hatte etwas Skrupelloses, wenn es dem Ereignis, dem es unterworfen war, einen unmittelbaren Sinn zuschrieb. Die Fliege schwang sich zum Adler auf, nur war das keine Fabel, sondern die Wirklichkeit, die triste Wirklichkeit des intellektuellen Hochmuts: Diese Leute hielten sich für Kant, der Benjamin Constant antwortet, oder für Marx, der den Staatsstreich Louis Napoleons analysiert. Sie abstrahieren vorschnell“ (S. 374).

Einfacher ausgedrückt oder auf den Punkt gebracht: Philippe ruft den Gewaltliebhabern zu: „Ich habe es an meinem eigenen Körper erlebt, ihr Schwätzer. Ihr könnt mich mal!“

Die Lieblingsstelle ist ein wohltuender Abgesang Philippes auf den intellektuellen „Diskurse“ – Intellektuelle führen ja Diskurse und nicht bloß Debatten -, die auch im Sinnlosen, Zerstörerischen, Barbarischen und schier Unglaublichen eine eigene Rationalität erkennen möchten. Natürlich gibt es keine Denkverbote und jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung. Auch die Rechtfertigung von Gewalt mag eine eigene Meinung sein. Was allerdings zum Himmel stinkt, ist der intellektuelle Hochmut zahlreicher Analysen, die den Horizont der 1970er Jahre, als über die Rote-Armee-Fraktion und das „Recht auf Gegen-Gewalt“ philosophiert wurde, nicht wirklich verlassen haben und immer noch dem revolutionären Traum der „Verdammten dieser Erde“ nachtrauern. Die gleichen Intellektuellen versuchen nun, in die Talkshows zu gelangen, wenn sie versuchen, den „neuen Terrorismus“ zu verstehen.

Liebe Gewaltliebhaber, lasst euch doch mal etwas Neues einfallen!

„Und die Gewalttätigen reißen es an sich“

Die Titelseite von „Charlie Hebdo“ vom 7. Januar 2015 thematisierte den am gleichen Tag erschienenen Roman „Unterwerfung“ von Michel Houellebecq. In der Redaktionskonferenz am Morgen des 7. Januar 2015 war „Unterwerfung“ dementsprechend das zentrale Streitthema. Philippe erinnert sich, wie er und sein Freund Bernard die Einzigen waren, die das Buch verteidigten: „Fast alle schwiegen oder attackierten es“ (Seite 67).

Es dauert bis zum Ende des Romans, als Philippe auf Houellebecq trifft. Philippe war seinem Gesprächsthema vom 7. Januar 2015 noch nie begegnet. Philippe beschreibt Houellebecq als „zerstörte, mineralische und mitfühlende“ Erscheinung. Als jemand, der aussieht, mit alters- und geschlechtslosem Gesicht, wie jemand, der „die Verzweiflung der Welt auf sich nahm“. Houellebecq wechselte mit Philippe ein paar unverständliche Wörter und zitierte dann die Bibel:

„Und die Gewalttätigen reißen es an sich“ (Seite 540).

Warum verwendet Houellebecq, der Mann mit alters- und geschlechtslosem Gesicht, diesen Vers aus dem Matthäus-Evangelium, wenn er Philippe Lançon, dem Mann mit unterkieferlosen Gesicht, begegnet?

Machen wir einen kleinen „theologischen Ausflug“, der auch für den Nicht-Gläubigen aufschlussreich sein könnte: Ich interpretiere diese Aussage von Houellebecq als ein großes Lob an Philippe – aber zugleich als eine versteckte, unheimliche Warnung. Um diese Interpretation zu belegen, schauen wir uns den kompletten Vers an, denn Houellebecq hat nur die zweite Hälfte des Verses zitiert:

„Von der Zeit an, als Johannes der Täufer auftrat, bis zum heutigen Tag bricht sich das Himmelreich mit Gewalt Bahn, und Menschen versuchen mit aller Gewalt, es an sich zu reißen“ (Neue Genfer Übersetzung).

Kein anderer Prophet wird von Jesus so sehr gelobt wie Johannes der Täufer: „Unter allen Menschen, die je geboren wurden, hat es keinen Größeren gegeben als Johannes der Täufer“ – so lautet es im Vers unmittelbar vor dem „Houellebecq-Vers“. Johannes der Täufer war der Vorläufer des Messias. Seine Predigten an das Volk unterschieden sich fundamental von den Predigten der Pharisäern und Schriftgelehrten. Doch das einfache Volk mochte ihn, wollte Buße tun und sich von ihm taufen lassen. Das gefiel den stolzen und hochmütigen Pharisäern und Schriftgelehrten nicht. Er wurde für seinen aufrichtigen Glauben ins Gefängnis gesteckt und hingerichtet: durch Enthauptung.

Houellebecq vergleicht damit Philippe mit dem Vorläufer des Messias. Offensichtlich ein großes Lob. Er war der Lieblingsprophet von Jesus. Doch er wurde enthauptet. Philippe wurde zwar nicht enthauptet, aber ein Drittel seines Gesichts wurde weggefetzt. Was kann also noch Schlimmeres für Philippe kommen? Hoffentlich wird Philippe nie mehr Gewalt angetan.

Fazit: schwere Kost, aber es lohnt sich

Darf man das Buch eines Mannes kritisieren, dem ein Drittel des Gesichts weggefetzt wurde?

Durch die Lektüre des Buches lernt man Philippe kennen. Und wenn man sich darauf einlässt, ihn wirklich kennenzulernen, dann kann man behaupten, dass der neue Philippe sich über diese Frage ärgern würde. Vielleicht aber auch eher über sich selbst, weil die Lektüre seines Buches den Leser emotional dazu bringt, sich diese Frage überhaupt zu stellen. Philippe ist Literaturkritiker und wahrscheinlich würde er einen Roman wie „Der Fetzen“, wenn er nicht von ihm selbst geschrieben worden wäre, heftig kritisieren. Literaturkritik kann oder sollte zwar ausreichende Sensibilität haben, sollte jedoch nicht ins Sentimentale verfallen.

In diesem Sinne wagen wir uns mutig an eine ketzerische Frage: Ist „Der Fetzen“ wirklich ein Roman?

Julia Encke bezeichnete den „Fetzen“ in einer Rezension in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.03.2019) als ein Buch „das kein Roman und doch ergreifender, dichter und literarischer ist als so viele der neuen Romane dieses Frühjahrs.“ In der Tat besteht die literarische Qualität des „Fetzens“ besteht nicht zuletzt darin, dass man Jahre brauchen würde, um die ganze Literatur und Werke aufzuarbeiten, die er in seinem Roman zitiert: Franz Kafka, Thomas Mann, Baudelaire, Marcel Proust, Honoré de Balzac usw. Vielleicht bewirkt der reiche Schatz an Literatur, der im „Fetzen“ steckt“ auch Ärger beim Leser: Wie viele der in „Der Fetzen“ zitierten Werke stehen schon lange ungelesen im eigenen Bücherregal?

An der Universität hat mal ein Dozent im Fachbereich Politikwissenschaft einen Satz geprägt, der bei mir hängen geblieben ist: „Lesen Sie Karl Marx, Max Weber und Sigmund Freud. Das reicht aus, um die nächsten 15 Jahre lang nur noch Déjà-vu-Erlebnisse zu haben.“ Und genau dieses Gefühl hatte ich bei der Lektüre von Philippes „Roman“ nicht.

Reicht das als Grund aus, ihn zur Lektüre zu empfehlen?

Die Antwort ist ein klares „Ja“.


Genre: Erzählung, Roman
Illustrated by Tropen