Thomas Mann erkannte im Kriminellen vielfach Künstlerisch-Eigenstes wieder. Sein Werk »Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull« fußt auf den Memoiren von Georges Manolescu, der als »Fürst Lahovary« ein ebenso abwechslungsreiches wie abenteuerliches Leben als Hochstapler führte. Diese Memoiren aus dem Jahr 1905 liegen jetzt wieder vor. Weiterlesen
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Fürst Lahovary. Mein abenteuerliches Leben als Hochstapler
Utopia
Triumph der Vernunft
Das unter dem Namen «Utopia» publizierte Buch von Thomas Morus weist bereits im Titel auf seinen satirischen Charakter hin, ein im Englischen homophones Sprachspiel um die griechischen Begriffe Outopia und Eutopia, deutsch ‹Nichtort› und ‹Glücksort›. Das im Original auf Latein verfasste Werk wurde auf Betreiben seines Freundes Erasmus von Rotterdam erstmals 1516 in den Niederlanden herausgegeben. Morus hatte bei ihm während einer diplomatischen Mission mehrere Wochen als Gast gewohnt und bei dieser Gelegenheit den entscheidenden Teil dieses Werkes geschrieben, das den thematisch zentralen Reisebericht umfasst, hin zu jener unbekannten, wundersamen Insel.
Mit dem später entstandenen ersten Teil fügte der Autor trickreich eine Rahmengeschichte hinzu, in der er in persona als Gesprächspartner eines Seefahrers namens Hythlodeus auftritt. Der erzählt von seinen weiten Reisen und schwärmt insbesondere von der unbekannten Insel Utopia, die südlich des Äquators liege. Morus nimmt dabei, aus gutem Grund, nur die Rolle eines kritischen Gesprächspartners ein, der aus reiner Höflichkeit dem euphorischen Lobgesang nicht widerspricht. Die staatskritische Thematik seines Buches nämlich war sehr gefährlich, er musste deswegen offenbar literarisch deutliche Merkmale einbauen, um das Fiktionale des Ganzen zu betonen. Denn wie sich später zeigte, wurde er als Lordkanzler unter Heinrich VIII wegen Aufmüpfigkeit ja kurzerhand zum Tode verurteilt, – Rübe ab, schon war er Märtyrer, so schnell ging das! Seine vorsorglich manifestierte, ironische Distanz drückt sich bereits im Namen des Seemannes aus, der übersetzt ‹Possenreiter› bedeutet. Andererseits ist Thomas Morus aber auch neugierig und bedeutet Hythlodeus, ihm die gesamte Geschichte von seinem fünfjährigen Aufenthalt in Utopia zu erzählen. Mit seinem ausführlichen Bericht, der den zweiten Teil dieses satirischen Romans bildet, kommt der ‹Possenreiter› diesem Wunsch erkennbar gerne nach.
Geschildert wird ein idealtypisches Staatsgebilde, das man als basisdemokratisch organisierten Kommunismus freier Bürger bezeichnen könnte. Der ganz ohne Geld auskommt, in dem alles allen gehört und jeder gerechterweise das zugeteilt bekommt, was er benötigt. Es gibt also kein Eigentum, aber auch keine Privilegien, alle herausgehobenen Ämter werden, nach einem Rotationsprinzip ständig wechselnd, nur auf Zeit verliehen. Alle arbeiten als Bauern oder Handwerker sechs Stunden am Tag, werden gemeinsam verpflegt und tragen einheitlich eine zweckmäßige Kleidung aus eigener Produktion. Da das viele Gold, das sie besitzen, als Material für sie keinerlei praktischen Nutzen hat, fertigen sie ihr Nachtgeschirr daraus. Es gibt noch viele weitere derart wunderliche Verhaltensweisen und soziale Regeln, dass seit Erscheinen des Buches immer wieder allerlei Deutungen und philosophische Dispute heraufbeschworen wurden über die faszinierende Ideenwelt von Utopia. Unwillkürlich stößt man beim Lesen dieses inzwischen fünfhundert Jahre alten Textes häufig auf Gedanken, die eigentlich naheliegend sind und viele Probleme mit einem Schlage lösen könnten, auch die unserer heutigen Welt. Wenn dem nicht jener aus dem Selbsterhaltungstrieb resultierende Eigennutz unausrottbar im Wege stände. Genau das hatte auch Karl Marx nicht berücksichtigt. Das Glück der Utopier nämlich liegt im Ideellen, nicht im Materiellen. Sie nutzen die reichlich vorhandene Zeit, um den Geist zu bereichern, für alles andere ist ja bestens gesorgt, alle sind gleichermaßen zufrieden mit dem, was sie haben.
Die liebevoll editierte Menasse-Ausgabe von 2004 lässt sich in der Übersetzung von Jacques Laager trotz der anspruchsvollen Thematik sehr flüssig lesen. Dabei hilft zum Verständnis der umfangreiche, erschöpfend Auskunft gebende Anmerkungsapparat. Als zeitloser Klassiker kann man diesen Roman, wie ich es getan habe, auch wiederholt lesen, man wird immer wieder erneut bereichert von diesem utopischen Triumph der Vernunft.
Fazit: erstklassig
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Die Elenden
Sozialkritisches Epos
Einer der wichtigsten Romane der französischen Literatur ist «Die Elenden» von Victor Hugo, ein 1862 erschienenes Werk der Romantik, das inzwischen ein Klassiker der Weltliteratur wurde, es gibt nicht weniger als 48 Verfilmungen und dutzende andere Adaptionen des Stoffes. Vordergründig handelt es sich um einen Abenteuerroman, in dessen Mittelpunkt ein ehemaliger Zuchthäusler steht, der seinen Weg zurück in die Gesellschaft sucht. Vom Anliegen des Autors her aber ist dies ein sozialkritischer Gesellschaftsroman aus der Epoche nach Napoleon bis zum Juni-Aufstand in Paris, also von 1815 bis 1832.
Der ursprünglich nur wegen Mundraub verurteilte Jean Valjean hat, nach seiner Entlassung aus 19 Jahren Haft, als Gast eines selbstlosen Bischofs ein beglückendes Erweckungserlebnis, er wandelt sich zu einem moralisch vorbildlichen Menschen. Wegen seiner Vergangenheit nimmt er eine neue Identität an und wird schließlich mit einer genialen Erfindung zum erfolgreichen Fabrikanten. Seinen neuen Reichtum nutzt er selbstlos als hochgeachteter Wohltäter, hilft den Armen wo er kann, man ernennt ihn sogar zum Bürgermeister. Seine Lebensaufgabe findet er schließlich, als er ein kleines Mädchen aus den Fängen seiner bösartigen Pflegefamilie befreit, zu sich nimmt und aufzieht. In dem sturen Polizeiinspektor Javert findet er jedoch einen hartnäckigen Gegenspieler, der ihn unerbittlich weiter verfolgt und dem er mehrfach nur knapp entkommen kann. Der Roman endet, nach der Heirat von Cosette, mit dem Tod seines zutiefst moralischen Protagonisten.
Victor Hugo baut neben seiner zentralen Figur eine Fülle weiterer Charaktere auf, die in vielen Abstufungen vom bewundernswerten Gutmenschen bis zum skrupellosen Schwerverbrecher das ganze Spektrum individueller Psyche und moralischer Verfasstheit abbilden. Alle diese Figuren werden überaus anschaulich beschrieben, sie verkörpern lebensprall jeweils ein bestimmtes menschliches Naturell und scheinen geradezu greifbar vor dem Leser zu stehen. Der abenteuerliche Plot ist weitverzweigt und nimmt nach dem Motto ‹Der Weg ist das Ziel› so manchen Umweg, der mit dem eigentlichen Thema wenig zu tun hat. So zum Beispiel, wenn auf dutzenden von Seiten die Schlacht bei Waterloo geschildert wird oder das unterirdische Abwassersystem von Paris, das hier am Ende als Fluchtweg dient. Gut und böse als ethische Gegenpole bestimmen diesen vielschichtigen Roman, der aber auch politische, religiöse und philosophische Fragestellungen aufgreift und in dem die berührende Liebesgeschichte von Cosette und Marius ebenfalls einen breiten Raum einnimmt. Insbesondere der Polizist Javert als kompromissloser Vertreter der Staatsmacht gelangt am Schluss mit seinen eisernen Prinzipien in unlösbare Gewissenskonflikte, aus denen er nicht mehr herauszufinden vermag. Sympathieträger im Roman sind auch so manche Nebenfiguren wie der schrullige Großvater von Marius oder der gutherzige Bischof. Den Großvater hätte seine schroffe Art beinahe ins Unglück gestürzt, wäre ihm nicht der beim Barrikadenkampf schwerverletzte Marius ins Haus gebracht worden, was bei ihm ein totales Umdenken auslöst.
Die Sympathie des Autors für die aufständischen Republikaner von 1832 ist unverkennbar. Man schoss durch ein Gitter aufeinander, heißt es an einer Stelle seiner mitreißenden Schilderungen der turbulenten Ereignisse. «Ein Beobachter, ein junger Träumer, der Verfasser dieses Buches, der ausgegangen war, um sich den Vulkan aus der Nähe anzusehen, geriet zwischen die beiden Feuer». Victor Hugo sah die Republik als politische Voraussetzung für die Linderung der schlimmsten Not «der Elenden». Er verdeutlicht aber auch seine Überzeugung, dass konsequentes ethisches Handeln diese Not entscheidend lindern kann, wofür er in diesem Epos viele anschauliche Beweise liefert. Insoweit ist dieser grandiose Roman eine flammende Anklage gegen die soziale Schieflage in der französischen Gesellschaft des frühen Neunzehnten Jahrhunderts.
Fazit: erstklassig
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Das babylonische Wörterbuch
Date mit einem Unbekannten
Der 2018 erschienene Erzählband «Das babylonische Wörterbuch» vom Joaquim Maria Machado de Assis ist eine Auswahl aus seinen insgesamt 226 ‹contos›, einer spezifischen Kurzprosa in Form von Erzählungen, Legenden, Fabeln und mythischen Texten. Der literarische Aufstieg des Brasilianers führte über den Journalismus zu einem äußerst vielseitigen Œuvre, er ist unumstritten der Urvater der modernen südamerikanischen Literatur. «Hinter Garcia Marquez steht Borges und hinter Borges als Quelle und Ursprung von allem Machado de Assis» hat Salman Rushdie geschrieben. Susan Sontag hat ihn 1990 als «großartigster lateinamerikanischer Autor aller Zeiten» gefeiert, Alberto Manguel fragt sich in seinem «Tagebuch eines Lesers», warum er –außerhalb Brasiliens – ein Unbekannter bleibt, denn «Es gibt keinen, der ihm vergleichbar wäre».
In dem vorliegenden, liebevoll editierten kleinen Band, 2018 erschienen, sind dreizehn der besten seiner zwischen 1880 und 1890 entstandenen Erzählungen enthalten, die thematisch wie stilistisch recht unterschiedlich sind. Deren deskriptive Titel allein machen schon neugierig! In «Die Akademien von Siam» tauschen Glühwürmchen mit den Sternen der Milchstraße akademisches Wissen aus, in «Der wahre Grund» wird der abstoßende Sadismus eines scheinbar selbstlosen Arztes entlarvt, und «Evolution» ist eine sozialkritische Skizze, die sich mit unglaublich hohlköpfigen Politikern befasst. Die biblisch konnotierten Erzählungen beschäftigen sich in «Adam und Eva» mit einer erstaunlichen Version der Genesis, in der nicht Gott, sondern der Teufel die Welt erschaffen hat, es gab also auch keinen Sündenfall. Die Geschichte «Auf der Arche» berichtet vom ersten Zwist unter den Menschen, in «Die Kirche des Teufels» gründet der Satan eine eigene Kirche in Konkurrenz zu Gott und erlebt damit eine Pleite, «Die Predigt des Teufels» schließlich ist als konträr angelegte Bergpredigt in biblischer Diktion eine ironische Abrechnung mit dem brasilianischen Kapitalismus jener Zeit. In einer konventionellen Geschichte vom Ehebruch unter dem Titel «Die Wahrsagerin» erfahren wir, dass ‹in jeder Verneinung noch eine Bejahung steckt›. Mit den Worten ‹Es war einmal› führt uns «Das babylonische Wörterbuch» in einen phantastischen Wettstreit, der im Erfinden einer obskuren neuen Sprache gipfelt. Auf Schillers Ballade basiert «Der Ring des Polykrates», und in «Die alexandrinische Geschichte» wird der Frage nachgegangen, ob die Essenz aller menschlichen Fähigkeiten und Empfindungen im Blut enthalten ist. In «Die durchlauchtigste Republik» hält ein Wissenschaftler einen Vortrag, in dem er von seiner bahnbrechenden Entdeckung berichtet, dass die Spinnen eine eigene Sprache haben, und «Der türkische Pantoffel» ist ein Traumsymbol, von dem in einem trivialen Theaterstück erzählt wird, dessen Held in einen Schlaf versinkt, aus dem aufwachend er erklärt, ‹dass das beste Drama nicht auf der Bühne stattfindet, sondern im Zuschauer selbst›.
Der Stil des umfassend klassisch gebildeten Autors ist geprägt durch eine präzise, knappe Sprache, die ungewöhnlich anspielungsreich und klug durchdacht fantasievoll seine anthropologische und philosophische Thematik behandelt und dabei souverän ganz ohne autobiografische Bezüge auskommt. Als wichtiger Wegbereiter der Moderne ist sein Nimbus als skeptischer Schriftsteller vor allem auf seine erzählerische Raffinesse gegründet, in der die Vertauschung und das Verschweigen die Mittel seiner Wahl sind.
Zum Lesevergnügen trägt insbesondere die niemals ins Sarkastische abgleitende, feine Ironie bei, man staunt als Leser immer wieder über die skurrilen Einfälle des Autors und seine absurden Herleitungen, aber auch über die oft erst nach einigem Nachdenken verständliche Katharsis. Man wird gut unterhalten und intellektuell gefordert mit diesen in Deutschland kaum beachteten Erzählungen, ein Date mit einem Unbekannten quasi, das womöglich eine Lücke schließt in der eigenen Belesenheit.
Fazit: erstklassig
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