Über Menschen

Mehr Essay als Roman

Niemand bedient den aktuellen literarischen Trend des Dorfromans so erfolgreich wie Juli Zeh, die fünf Jahre nach ihrem Erfolg mit «Unterleuten» nun mit «Über Menschen» wieder das Großstadtleben Berlins dem Landleben in einem öden brandenburgischen Kaff gegenüberstellt. Dieser Gesellschafts-Roman konzentriert sich, anders als sein Vorgänger von 2016, auf nur wenige Figuren aus einem fiktiven Ort namens Brackendorf. Thematisch widmet er sich außer dem Corona-Wirrwar dem latenten Alltags-Rassismus und einem missionarisch betriebenem Umweltschutz. Sie hoffe, hat die Autorin erklärt, dass ihr Buch helfe, Barrieren zu überwinden.

Zeitlich ist der Roman im ersten Lockdown Anfang 2021 angesiedelt, als die 36jährige Werbetexterin Dora sich von ihrem Freund trennt, der als glühender Klima-Aktivist immer abstrusere Thesen vertritt und ihr damit den Alltag vergällt. Zusätzlich genervt von den Einschränkungen des Lockdowns, hat sie kurz entschlossen ein schon lange leerstehendes Haus in dem 285-Seelen-Dorf gekauft und ist mit ihrer Hündin, die transgender-gemäß den Namen «Jochen-der-Rochen» trägt, in das auch für sie so verheißungsvolle Landleben geflüchtet. Wie nicht anders zu erwarten wird sie jedoch als Städterin sogleich mit den profanen Alltagsproblemen des Landlebens konfrontiert, aber auch mit mentalen Hürden, die es im Zusammenleben mit den wenigen Nachbarn zu überwinden gilt. Ihren ersten Kontakt hat sie über die hohe Trennmauer hinweg mit ihrem direkten Nachbarn, der wütend ist, weil ‹Jochen› im Kartoffelbeet gegraben hat, weshalb er die Hündin nun im hohen Bogen über die Mauer zurückwirft auf Doras Grundstück. Er sei übrigens der Dorfnazi, erklärt er ihr lapidar, und werde von allen ‹Gote› genannt. Im Wald trifft Dora auf Franzi, die, wie sich herausstellt, Gotes zehnjährige Tochter ist und beim Vater lebt. Ferner macht sie Bekanntschaft mit dem Floristen Tom und dem Kabarettisten Steffen, einem schwulen Männerpaar, das dekorative Pflanzen-Gestecken herstellt. Der Verkauf floriert, in Zukunft wollen sie damit auch im Internet tätig werden, wobei die inzwischen arbeitslos gewordene Dora ihnen helfen soll. Der Nachbar Heinrich von gegenüber, der den Spitznamen R2-D2 trägt, macht sich ungefragt über Doras verwilderten Garten her, während Gote, der früher Schreiner war, ihr unaufgefordert Möbel baut und in ihr leeres Haus stellt. Und Sadie schließlich steht mit einem Sack Saatkartoffeln vor der Tür, die beim Händler derzeit nirgends zu bekommen sind, und erzählt beim Kaffee, dass sie als alleinerziehende Mutter permanent in Nachschicht arbeiten muss, um finanziell über die Runden zu kommen

Soweit die Dorfidylle mit ihren vielen Klischees, die den Hintergrund bilden für die sozialen Verwerfungen, die Juli Zeh mit ihrem Roman aufzeigen will. Als Hauptübel entlarvt sie die permanente Unzufriedenheit der Menschen, die fast alles haben, sich aber trotzdem ständig an irgendwas stören, über irgendwas aufregen, anderen unbedingt ihre Meinung aufzwingen wollen. Schon kleinste Beeinträchtigungen des Wohlergehens werden da als Katastrophe wahrgenommen und erbittert bekämpft. Mit analytischem Scharfblick zeigt die Autorin durch ihr obskures Figuren-Ensemble nicht nur, wie solch verhärtete Fronten entstehen, sondern auch, wie sie sich fast von allein auflösen, wenn Menschlichkeit ins Spiel kommt, die ja schließlich in jedem stecke. Das gerät ihr allerdings oft gar zu rührselig und märchenhaft, aber Empathie für ihre Figuren kommt trotzdem nicht auf.

Irritierend ist am Ende die erkennbare Absicht der Autorin, die Untaten ihres Protagonisten Gote durch seine tückische Erkrankung zu relativieren. Und dass nun ausgerechnet Doras Vater dafür als medizinische Koryphäe in der Charité gilt, strapaziert den Zufall denn doch zu arg. Das Gedankengut dieses Romans wäre besser in einem brillant formulierten Essay verarbeitet worden, für einen Roman nämlich fehlt neben dem Impetus vor allem ein tragfähiger Plot.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Pflaumenregen

Politisches Terra incognita

In seinem neuen Roman «Pflaumenregen» beschäftigt sich der studierte Sinologe Stephan Thome mit der Geschichte Taiwans, die den historischen Hintergrund bildet für sein breit angelegtes Familienepos. Beginnend im Zweiten Weltkrieg über das Ende der japanischen Kolonialzeit und die wechselnden politischen Systeme bis hinein in die Gegenwart wird die Geschichte von Umeko erzählt. Die Achtjährige erlebt noch unter japanischer Herrschaft mit, wie die Armee ein Lager für Kriegsgefangene einrichtet, die in der örtlichen Kupfermine unter unmenschlichen Bedingungen zur Arbeit eingesetzt werden. Nach damals vorherrschender japanischer Ideologie allesamt Feiglinge, denn nur ein feiger Soldat kann in Gefangenschaft geraten, der tapfere stirbt, bis zum letzten Atemzug kämpfend, für den Tenno.

Historisch weniger sattelfesten Lesern werden in einem informativen Vorwort die politischen Vorbedingungen erläutert, beginnend beim chinesisch-japanischen Krieg von 1894/95, den China verlor, womit die Insel zu einer japanischen Kolonie wurde. Nach Ende des Pazifischen Krieges und der Machtübernahme der Kommunisten auf dem chinesischen Festland geriet Taiwan 1949 unter die Kontrolle der oppositionellen Nationalisten unter Chiang Kai-shek. Der errichtete einen autoritären Polizeistaat, ehe dort schließlich, erst im Jahre 1996, die ersten freien Präsidentschafts-Wahlen stattfinden konnten. Bis heute betrachtet China die Insel bekanntlich als chinesisches Territorium und strebt im Rahmen seiner ‹Ein-China-Politik› eine Wieder-Vereinigung an. Man kann nur hoffen, dass der Riesenstaat China dabei nicht die jüngst erfolgte gewaltsame, aber weitgehend folgenlose russische Annexion ukrainischen Staatsgebiets als nachahmenswertes Vorbild ansieht.

Der Roman beginnt mit nicht weniger als fünfzehn Seiten, auf denen minutiös ein Baseballspiel mit Umekos Bruder geschildert wird, man versteht kein Wort und fühlt sich nur einfach ‹im falschen Kino›! Umeko bedeutet übrigens Pflaumenkind, was denn auch den Romantitel erklärt. Auch wenn der Großvater noch immer chinesisch geprägt ist, hat sich die jüngere Familie an die japanische Lebensweise angepasst, spricht japanisch und verehrt den Tenno als gottgleichen Kaiser. Die Unterdrückung der Chinesen endet erst 1945 mit der japanischen Kapitulation, die Verhältnisse kehren sich schlagartig um, Umeko muss nun wieder ihren chinesischen Namen Hsiao Mei annehmen. In eindringlichen Bildern schildert der Autor in den zwanzig Kapiteln des Romans das Leben ihrer Familie, die ebenfalls von der staatlichen Willkür betroffen ist. Ihr Vater verliert seine Arbeitsstelle, der «dritte Onkel» verschwindet spurlos und ihr geliebter Bruder Keiji, der auf der Seite Japans gekämpft hat, verschwindet für zehn Jahre in einem Arbeitslager. In zeitlichem Wechsel werden diese Geschehnisse mit Episoden aus der Jetztzeit unterbrochen, als 2017 zum achtzigsten Geburtstag der Großmutter Umeko nicht nur die beiden älteren, sondern auch deren jüngster Sohn anreist, Professor Harry Chen aus den USA. Und auch Sohn Paul und Tochter Julie werden dabei sein. Damit verschiebt sich die Perspektive auf die Jetztzeit und auf die Enkelin Julie, die in Hongkong mit dem Engländer Dave zusammenlebt.

Harry plant ein Buch über Taiwans Geschichte und fährt deshalb mit seiner Mutter an den einstigen Heimatort Kinkaseki, ohne dabei jedoch viel Verwertbares aus seiner Mutter heraus zu bekommen, sie schweigt sich weiterhin aus über die scheinbar nicht so ruhmreiche Vergangenheit. Gleichwohl erfahren Harry und seine Tochter Julie doch so einiges über sie und auch über die brutale Auslöschung alles Japanischen aus dem Leben Taiwans, für die gewaltsam erzwungene Namens-Änderungen nur ein äußeres Zeichen sind. Ohne Zweifel ist dies ein stilistisch gekonntes, informatives, streckenweise aber leider deutlich zu breit angelegtes Buch über ein literarisch vernachlässigtes Land, dessen politische Zukunft auch heute noch ziemlich ungewiss ist.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Reise mit Clara durch Deutschland

Das glücklichste Buch

Der im Original 2010 erschienene Roman des spanischen Schriftstellers Fernando Aramburu schildert das Entstehen des Berichtes über eine Reise durch Deutschland. Den Reiseführer schreibt Clara, die Frau des Ich-Erzählers, die sich für den Auftrag ihres Verlags ein Jahr Auszeit als Lehrerin genommen hat, der Vorschuss für das Buch macht’s möglich. Ihren Mann, selbst Schriftsteller, hat sie gebeten, sie auf ihrer Recherche-Reise zu begleiten. Er soll ihr neben seinen Diensten als Chauffeur auch beim Sammeln des Materials helfen, soll insbesondere das Fotografieren für sie übernehmen. Nach dem Riesenerfolg von «Patria», der den ETA-Terror behandelt, ist dieser vorher entstandene Reise-Roman Aramburos nun ebenfalls auf Deutsch erschienen, er bleibt literarisch aber weit unter dem Niveau des Bestsellers von 2016.

Erste Station der Reise im Hitzesommer 2003, die in der Nähe von Wilhelmshaven beginnt, ist Tante Hildegard in Cuxhaven. Die stellt dem kinderlosen Ehepaar mittleren Alters kostenlos ihre Wohnung in Bremen zur Verfügung, in die sie anschließend fahren, um die Hansestadt zu erkunden. Es folgt ein Abstecher nach Hamburg mit Hafenrundfahrt und Striptease auf der Reeperbahn, weiter geht es zur Insel Rügen, zur ehemaligen Künstlerkolonie Worpswede, und auch das Arno-Schmidt-Haus in Bargfeld bei Celle wird besucht. Schließlich geht es noch nach Goslar, Göttingen und Berlin. Dort endet die Reise abrupt, denn Goethe ist erkrankt, der bei einer Nachbarin während der Reise untergebrachte Hund der Beiden.

Mit ihrem mageren Plot kann die in der Tradition des Schelmen-Romans geschriebene Geschichte leider nicht überzeugen. Es fehlt jede Spannung, das Erzählte ist so banal wie der Alltag der vielen Menschen, denen das Paar begegnet. Gleichwohl werden die Figuren stimmig geschildert mit ihren teils schrulligen Eigenarten, werden in Aussehen und Verhalten detailliert beschrieben. Allerdings ohne dass dabei irgendwelche regionaltypischen Besonderheiten herausgestellt werden, die Land und Leute charakterisieren könnten. Erzählerisch markant sind nur die beiden Protagonisten selbst, deren gemeinsames Merkmal jedoch darin besteht, dass sie als Roman-Figuren keinerlei Emotionen erzeugen, sie bleiben einfach nur unsympathisch. Einzig die ironische Schilderung ihres Ehe-Alltags mit all den Neurosen und Macken, die der Autor verschmitzt immer aufs Neue als erzählerischen Trumpf aus dem Ärmel zieht und genüsslich vor dem Leser ausbreitet, machen diese Lektüre zumindest stellenweise amüsant. Auf Distanz bedacht, enthält der Autor sich dabei aber strikt jeder moralischen Wertung, denn die Fronten sind klar: Clara ist eine Nervensäge, die ihre dominante Rolle in der Beziehung so geschickt nutzt, dass «Maus», wie sie ihren Mann zuweilen nennt, immer klein beigibt, egal wie absurd ihr Ansinnen jeweils ist. Und «Mäuschen», so die Steigerungsform seines Kosenamens, geht jedem Dissens tunlichst aus dem Weg, er ist der Prototyp eines trägen Weicheis und knickt immer sofort ein, wenn es ernst wird.

Was der Ich-Erzähler in dem voluminösen Roman zu sagen hat, ist kaum von Belang, allzu platt sind die episodenweise erzählten Szenen geraten. Sie gehen spannungslos ineinander über, ihre Motive laufen ins Leere, statt näher beleuchtet zu werden und Erkenntnisse daraus zu ziehen. Äußerst platt ist auch der Humor, der das einzig markante Merkmal dieses Romans ist, er erinnert in seiner Vorhersehbarkeit aber eher an Klamauk als an brillanten Witz. Und auch wer als Leser erwartet, durch dieses Buch-im-Buch-Konstrukt literarische Einblicke zu erhalten, wird enttäuscht, denn was die «Frau Schriftstellerin» zu Papier bringt, das bleibt offen, einzig ihre Schreibblockaden werden erwähnt. Es gibt auch kaum nennenswerte intertextuelle Bezüge, die bei Schriftstellern als Protagonisten sich ja geradezu aufdrängen. Was Fernando Aramburu als sein «glücklichstes Buch» bezeichnet hat, wird seine Leser jedenfalls kaum glücklich machen.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Ein von Schatten begrenzter Raum

Kunst als Ersatzheimat

Die türkischstämmige Schauspielerin und Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar hat mit «Ein von Schatten begrenzter Raum» nach 17 Jahren wieder einen Roman veröffentlicht, der als autofiktionales Werk eine Bilanz ihres Lebens zieht. Gleich zu Beginn hält sich die Ich-Erzählerin, auf der Flucht vor den politischen Verhältnissen in Istanbul, 1971 auf einer der türkischen Inseln auf, von der aus Lesbos zu sehen ist. Dort sei Europa, erklärt ihr ein Einheimischer, dort werde es niemals dunkel. Der fiktionale Anteil des Romans wird schon bald deutlich, als ihr nämlich die Krähen auf der Insel dringend davon abraten, als Schauspielerin nach Deutschland zu gehen. «Auf einer deutschen Bühne ist eine türkische Frau eine türkische Frau, und eine türkische Frau ist eine Putzfrau. Das ist die tägliche Realität. Du kannst in Deutschland am Theater nur als Putzfrau Karriere machen», erklären ihr die schwarz gefiederten, visionären Unglücks-Boten, – und formulieren damit eines der Leitmotive dieses Romans.

Kann man als jemand, der die geografische Heimat verloren hat, in der Kunst seine Heimat finden, lautet die Kernfrage, ein weiteres Leitmotiv, das in diesem Roman in vielen Facetten, wenn auch oft ironisch, thematisiert wird. Die Protagonistin geht zunächst nach West-Berlin und arbeitet, zwischen West und Ost pendelnd, als Regieassistentin ihres Mentors Benno Besson an der Ostberliner Volksbühne. Ihre endlosen Streifzüge durch das «Kriegsinvalidenberlin» sind ein erster erzählerischer Höhepunkt des Romans. Mit scharfem Blick für die allgegenwärtigen Kriegsspuren an den zerschossenen Häusern nennt sie die zerstörte Metropole fortan «Draculas Grabmal». Man höre dort gleichermaßen das Schweigen der Täter wie auch die Stimmen der Opfer, für sie ein eher destruktives künstlerisches Arbeitsklima. Ab 1979 spielt sie dann am Schauspielhaus Bochum unter Matthias Langhoff, Intendant dort wird damals gerade Claus Peymann. Bis sie schließlich Benno Besson nach Paris holt, um an seiner Inszenierung von Brechts «Der kaukasische Kreidekreis» mitzuwirken.

Wesentlich stärker noch als die Berlin-Passagen prägen die endlosen Beschreibungen von Paris den Roman. Dabei stören schon bald die häufigen, oft wortwörtlichen Wiederholungen der immergleichen Szenen das Lesevergnügen. Sei es im Café, in der Metro, zuhause bei den diversen Freunden, die ihr selbstlos Unterkunft gewähren, beim Beschreiben der Eigenarten von deren Katzen oder dem täglichen Besuch eines psychopathischen Nachbarn, der Leser beginnt sich zu langweilen und schließlich zu ärgern. Hinzu kommt eine schwer zu bewältigende Fülle von erzählerischen Details, seien es die unüberschaubar vielen Figuren, denen die Protagonistin begegnet, oder die dauernd wechselnden Orte des Geschehens, die schiere Menge all dessen überfordert den Leser schlichtweg.

Die Art und Weise, wie die Autorin die vielen, in sich abgeschlossenen Szenen ihres Romans mit durchaus auch dokumentarischem Anspruch aneinander reiht, das erinnert an die Techniken von Bühne und Film. Besonders überzeugend sind dabei die ins Mystische weisenden Szenen, wenn Tiere oder Gegenstände plötzlich zu reden beginnen, oder wenn die Romanheldin immer wieder mal auf dem berühmten Pariser Friedhof Père Lachaise am Grab von Edith Piaf zu der Sängerin spricht, ihr das Herz ausschüttet. Man kann diesen Roman auch als Versuch interpretieren, das libertäre Lebensgefühl einer Epoche herauf zu beschwören, um damit die gegenwärtige Leere, «Ein von Schatten begrenzter Raum», glücklich zu überwinden. Dabei wird nicht nur Vergangenheit und Gegenwart angenähert, es wird im Rückblick sogar, mit dem Terrorangriff auf Charlie Hebdo beispielweise, Jahrzehnte früher eine schreckliche Zukunft in den Text mit eingebunden. Weniger gelungen ist die traumatische Liebesgeschichte im letzten Drittel dieses in Teilen erfreulichen, dickleibigen Künstler-Romans, der als Ganzes aber nicht überzeugt, weil er mehr will, als er tatsächlich leistet.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Das Versprechen

Irrlichternde Erzählerstimme

Als dritter südafrikanischer Autor hat Damon Galgut mit seinem Roman «Das Versprechen» 2021 den britischen Booker Prize gewonnen. Der Titel bezieht sich auf das uneingelöste Versprechen der Mutter einer weißen Familie, die auf dem Totenbett ihrem Mann das Versprechen abgenommen hat, ihrer farbigen Dienstbotin die baufällige Hütte auf dem Farmgelände zu übereignen, in der sie wohnt. Im vorangestellten Motto wird Federico Fellini mit einer Anekdote zitiert, der von einer ziemlich überdreht auftretenden Frau gefragt worden sei: «Warum gibt es in ihren Filmen nicht einen einzigen normalen Menschen?» Ist das als Hinweis auf die Roman-Figuren gedacht?

Zeugin des Versprechens war Amor, die jüngste, damals 13jährige Tochter des Ehepaares Swart. In dem vierteiligen Roman ist jeweils ein Teil der Mutter, dem Vater, der ältesten Tochter und dem Sohn gewidmet. Die enden jeweils mit ihrem Tod, Ma stirbt an Krebs, Pa am Biss einer Kobra, Astrid wird ermordet und Anton erschießt sich, weil seine Farm hoffnungslos überschuldet ist. Der Roman berichtet von den tief reichenden Konflikten der auseinander driftenden Familie vor dem politischen Hintergrund der südafrikanischen Geschichte, ausgehend vom Tod der Mutter 1986 und über das Ende der Apartheid hinweg bis zur Auflösung der ‹Kleptokratie› von Präsident Zuma. In den vier Romanteilen wird in teils drastischen Bildern vom langsamen Verfall einer Familie erzählt, deren Probleme bei der Sinnsuche von Religions-Übertritten, Ehezwist, Versagensängsten oder Alkoholismus bestimmt sind. All das wird zudem überschattet von desillusionierenden Erfahrungen in der Nach-Apartheid-Ära, in der die Gewissheiten der weißen Bevölkerung von einst zunehmend verloren gehen.

Durch den gesamten Roman zieht sich als alleiniger Spannungsbogen, geradezu gespenstisch im Hintergrund bleibend, das im Titel apostrophierte Versprechen, welches weder der Vater einlöst noch der Sohn, der die Farm nach dessen Unfall-Tod übernimmt. Zur Schlüsselfigur wird die erzählerisch im Hintergrund bleibende jüngste Tochter Amor, die jahrzehntelang vergebens die Einlösung des Versprechens fordert. Sie ist als Kind nur knapp dem Tod entronnen, als ein Blitz dicht neben ihr eingeschlagen ist. Dieses Erlebnis hat sie zweifellos geformt und besonders sensibel gemacht. Sie hat sich völlig von der Familie gelöst und findet in der Arbeit als Krankenschwester ihre Erfüllung. Nach einigen gescheiterten Beziehungen bleibt sie alleinstehend und ist oft auf Jahre hin für die Familie nicht erreichbar. So auch beim Tod ihres Bruders, erst am Tage der Trauerfeier erfährt dessen Frau zufällig, dass Salome, die Dienstbotin, ihre aktuelle Telefonnummer hat. Als Amor verspätet eintrifft, findet sie das Manuskript des Romans, an dem Anton seit vielen Jahren schrieb, und wie sie an den wenigen fertigen Seiten erkennt, ist er auch daran gescheitert. Amor übernimmt es als letzten Liebesdienst, wunschgemäß Antons Asche auf dem Grundstück zu verstreuen.

Damon Galgut stellt dem nicht eingehaltenen Versprechen der Familie, das wie ein Fluch über den Protagonisten liegt, die ebenfalls nicht eingehaltenen Versprechungen der Politik gegenüber. Und er lässt seine Figuren oft recht drastische Töne anschlagen: «Anton steht [betrunken] in der Toilettenkabine und pisst. Er weiß zwar nicht genau, wie er hierher gekommen ist, aber Pissen ist eine grundsätzlich ehrliche Tätigkeit. Kacken auch. Da kann man sich nicht hinter gesellschaftlichen Umgangsformen verstecken. Diplomatie sollte grundsätzlich auf dem Scheißhaus stattfinden». Der in den ersten zwei Dritteln eher holprig erzählte Roman mit unkonventionell irrlichternder Erzählerstimme liest sich erst im letzten Drittel flüssiger, zumal auch das Geschehen erkennbarer auf ein Ziel hinsteuert und dann sogar in ein unerwartet poetisches Ende mündet. Und das, obwohl ansonsten alle Emotionen konsequent ausgespart bleiben von einem zu seinen Figuren sarkastisch Abstand haltenden Autor.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

50 Jahre Der Pate

50 Jahre Der Pate. 14. März 1972: Weltpremiere “Der Pate“. Der Pate auch als The Godfather im deutschen Sprachraum bekannt wird 50. Gemeint ist weder die Figur des Vito “Don” Corleone” noch die Romanvorlage, sondern der Film von Francis Ford Coppola, der 1972 veröffentlicht wurde. Der Roman selbst kam wenige Jahre vorher, 1969, auf den Markt. Ein guter Grund für eine Re-Lektüre. “Jeder kennt den grandiosen Film. Nur wenige wissen: Der Film ist so gut, weil die Romanvorlage genial ist. Jetzt zum Wiederentdecken!” So wirbt der Verlag für seine schöne Ausgabe in scharlachrotem Cover. Mit Blutstropfen am Revere.

Geschichte eines Aufstiegs in Amerika

Als ich als Jugendlicher den Roman vor beinahe ebenfalls 50 Jahren das erste Mal las, blieben mir vor allem zwei Szenen in Erinnerung: Der abgeschnittene Pferdekopf im Ehebett und die Verengungsoperation einer gewissen Signora. Was mir auch in Erinnerung blieb ist die Tatsache, dass viele Sizilianer ihre Insel für besetzt hielten und sich deswegen zu einer Mafia zusammenschlossen, die nur Einheimischen offen stand. Damals hatte ich allerdings noch keinen Begriff von der Mafia und ihren Geschäftszweigen und machte mir kein Kopfzerbrechen über Corleones Ablehnung mit Drogen zu handeln. Der Anschlag auf sein Leben wird nämlich dadurch verursacht. Seine Söhne Michael und Sonny rächen zwar ihren Vater, können die Entwicklung, die das organisierte Verbrechen nach der Aufhebung der Prohibition aber auch nicht aufhalten. Haben sie also eine andere Wahl?

50 Jahre Der Pate

Don Vito Corleone war noch ein Mafiaboss der alten Schule: Er setzte sich für Hilfsbedürftige ein und kämpfte für Gerechtigkeit für die Seinen. Aber natürlich sind seine Einnahmequellen nicht mit dem katholischen Glaubensbekenntnis vereinbar: Don Vito Corleone verdient sein Geld mit Glücksspiel, Bestechung, Erpressung, Schmuggel und Alkoholhandel. Er hatte nach seiner Flucht aus Sizilien ein Imperium aufgebaut und nun sollen es seine Söhne übernehmen. Aber nicht um jeden Preis.

Lieblingszitate aus dem Paten für den Alltagsgebrauch

Der Pate wurde zu einem internationalen Bestseller mit mehreren Millionen verkauften Exemplaren. Die Verfilmungen von Francis Ford Coppola, für die Mario Puzo mit ihm die Drehbücher schrieb, wurden weltweit sogar von über eine Milliarde Zuschauer gesehen. Gerne werden immer wieder Zitate aus dem Buch und den Filmen im Alltag verwendet. Und es gibt längst mehrere Best of Listen der beliebtesten Zitate aus dem Paten. Wir halten uns hier an die Originalsprache. Das bekannteste ist wohl: “Some Day, And That Day May Never Come, I Will Call Upon You To Do A Service For Me.” Wer einen Gefallen verlangt, der muss auch damit einverstanden sein, dass er eines Tages zurückgefordert wird. Der Satz klingt wie eine Drohung, ist aber ein offenes Versprechen, denn der Tag kommt ja vielleicht doch nicht. “Revenge Is A Dish Best Served Cold.” Ein Zitat das auch Tarantino in “Kill Bill” verwendete mag zwar nicht vom Paten erfunden worden sein, aber er machte es mit Sicherheit populär.

I Believe In America.

Zuletzt vielleicht sei noch das kürzeste Zitat aus dem Paten erwähnt: “I Believe In America.” Die Worte in dessen Zusammenhang dieser Satz fällt sind voll beißender Ironie und Zynismus, denn Amerika, das Land der Verheißung, kann für manche auch das genaue Gegenteil bedeuten. Und für die Rache für das Geschehene ist es dann wohl doch gut, einen Vito Corleone zu haben. Wer macht sich schon gerne selbst die Hände schmutzig?

Mario Puzo hat mit seinem Roman ein Werk geschaffen, von dem man wohl noch in 100 Jahren sprechen wird. Wer dann noch mitreden möchte, sollte so bald wie möglich das Buch lesen.

 

MARIO PUZO
Der Pate. Roman
(Originaltitel: The Godfather)
Aus dem amerikanischen Englisch von Gisela Stege
Mit einem Vorwort von Francis Ford Coppola
640 Seiten | Gebunden mit Farbschnitt | Großformat 12,5 x 20,5 cm
€ (D) 24,90 | sFr 34,– | € (A) 25,60
ISBN 978 3 311 12510
Kampa Verlag


Genre: Amerika, Aufstieg, Krimi, Literaturverfilmung, Mafia, Roman
Illustrated by Kampa

Ludwigshöhe

Der Tod als Programmfehler

Seinem Roman «Ludwigshöhe» hat Hans Pleschinski ein an den ‹Zauberberg› erinnerndes Setting zugrunde gelegt, eine in die Jahre gekommene, einst pompöse Jugendstil-Villa, die aber hier von keinen Patienten, sondern von Lebensmüden bevölkert wird. Der Autor benutzt sie für seine originelle Versuchs-Anordnung, Suizid-Kandidaten einen letzten Zufluchtsort zu bieten, an dem sie ohne bürokratische Hürden völlig ungehindert aus dem Leben scheiden können. Das Ganze wird durch eine riesige Erbschaft ausgelöst, die nur unter der Bedingung wirksam wird, dass die drei Erben dieses Hospiz ein Jahr lang ausschließlich zu diesem sehr speziellen Zweck betreiben.

Der reiche Onkel aus Brasilien hat diese Hürde für drei Geschwister aufgebaut. Sie alle sind wenig zufrieden mit ihren persönlichen Lebensumständen und träumen von dem Luxusleben, das sie erwartet, wenn sie unter den strengen Augen des Notars die makabre Erbauflage erfüllen. Aber wie an die Kandidaten kommen? Jede öffentliche Werbung wäre ja sittenwidrig und würde die Behörden auf den Plan rufen! Also stecken sie im Wartebereich von Arztpraxen und Arbeitsagenturen in die dort ausliegenden Zeitschriften und Broschüren diskret schwarze Visitenkarten, auf denen Folgendes geschrieben steht: «Reicht es? Reicht es wirklich? Und nicht mehr weiter? Kein Weg mehr? Aber prüfen Sie sich. Alles in Ruhe. Wenn Sie verstehen, verstehen Sie», gefolgt von einer Telefonnummer. Und es melden sich auch tatsächlich Interessenten für diesen notgedrungen so verklausuliert angebotenen Service. Nach und nach füllt sich die Villa mit fast zwanzig «Finalisten», wie die Kranken, Verbitterten, Enttäuschten, Gescheiterten und Mutlosen hausintern genannt werden. Da ist zum Beispiel die von ihrem Lover verlassene Domina, ferner eine abgehalfterte, ehemals bekannte Schauspielerin, die nervlich an ihren Schülern gescheiterte Lehrerin, ein bankrotter Verleger, eine vom Alltagsstress ausgebrannte Verkäuferin, die medikamentensüchtige Witwe, der verzweifelte Bühnenbildner und ein medienmüder Radioredakteur. Wie zu erwarten folgen aber, von zwei Ausnahmen abgesehen, die im Keller tiefgekühlt gelagert sind, die Moribunden kaum noch ihrem ursprünglichen Ziel. Es entwickeln sich neue Beziehungen in diesem seltsamen Mikrokosmos, das Leben scheint weniger unerträglich zu sein als ursprünglich angenommen.

Die alte Villa dient als Bühne für menschliche Verrücktheiten und als Laboratorium für Wege aus dem ewigen Dilemma allen Lebens, seiner unabweisbaren Endlichkeit. Kann man dem denn wenigstens mit passiver Sterbehilfe beikommen, weil die aktive ja doch nur theoretisch möglich ist? Will man ein Fazit ziehen aus all den Gedanken, die in diesem lebensprallen Gesellschafts-Roman angesprochen und oft auch durchdekliniert werden, so kommt man letztendlich auf die einfache Formel: Unsterblichkeit wäre ein Fluch!

Humorvoll nutzt Hans Pleschinski seine Satire zu einem Feuerwerk an herber Gesellschafts-Kritik und zu verschmitzt vorgetragenen, philosophischen Diskursen über ein im Kern ja durchaus ernstes Thema. Aber wie eine Finalistin im Roman es sich wünscht, nämlich tot zu sein ohne sterben zu müssen, das funktioniert leider auch auf der «Ludwigshöhe» nicht. Es sind solche Verrücktheiten, die bei der Lektüre dieses makabren Plots immer wieder ein Schmunzeln erzeugen, den Leser aber öfter auch laut auflachen lassen. Sprachlich nutzt der fabulierlustige Autor mit seinem ironischen Plauderton alle Register seines Könnens. Er bleibt auch im Fiktionalen dem Realismus verhaftet, überzeugt zudem mit vielerlei intellektuellen Betrachtungen, aber auch mit fundiertem Alltagswissen. Dabei verzeiht man ihm dann, dass er seinen Stoff derart über Gebühr ausgewalzt hat, weniger wäre hier mehr gewesen. Das Wichtigste an dieser Moralsatire aber ist die beißende Kritik an einem Zeitgeist der intellektuellen Verflachung, in welchem der Tod, wie es im Roman heißt, «zum Programmfehler heruntergekommen ist».

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Rauschzeit

Redundanter Lebensgefühls-Roman

Das Opus magnum des Büchner-Preisträgers Arnold Stadler mit dem Titel «Rauschzeit» ist ein Roman ohne Plot, der allein von seinem eigenwilligen Stil lebt und genau damit eine sehr konträre Rezeption in Feuilleton und Leserschaft erzeugt hat. Am Beispiel eines Paares in der Beziehungskrise wird hier resignierend eine illusionslose Weltsicht thematisiert, die ihr Vorbild in Jean Paul hat, auf den der Autor in seinem intertextuell reich ausgeschmückten Roman häufig Bezug nimmt.

Der Buchtitel spielt auf die begrenzte Paarungszeit der Wildschweine an, die ihre Entsprechung findet im Sexualverhalten von Alain und Mausi, die eigentlich Irene heißt. Das in Berlin lebende, kinderlose Ehepaar, beide vierzigjährig und als Übersetzer tätig, hat sexuell seine «vegetarische Zeit» erreicht, sie beschimpft ihn, nicht ganz zu Unrecht, als «Waldschrat». Die sich über zwei Mittsommer-Tage, den 25. und 26. Juni 2004, erstreckende Handlung ist schnell erzählt: Alain reist zu einem Symposium nach Köln und trifft dort zufällig nach langer Zeit erstmals wieder auf seine Jugendliebe Babette. Mausi hat von Freunden eine Karte für ‹Toska› geschenkt bekommen und fiebert schon dem Opernabend entgegen, die zweite Karte ging nämlich an einen ihr unbekannten Dänen, der dann ja neben ihr sitzen wird. Und wie vorauszusehen finden Alain und Babette wieder zueinander, und Mausi und der blonde Däne werden ebenfalls ein Paar. So weit, so profan, – denn mehr ist da nicht! Der Autor hält sich an Mark Twain, den er häufig mit dem bezeichnenden Satz aus «Huckleberry Finn» zitiert: «Persons attempting to find a plot in will be shot». Also Vorsicht, verehrter Leser!

Dem Roman ist mit «Wir wissen wenig voneinander» ein Zitat von Georg Büchner vorangestellt. Und Arnold Stadler selbst beginnt seinen sechsteiligen Roman mit den sinnigen Worten: «Was ist Glück? Nachher weiß man es», den er später immer wieder mal zitiert und variiert. In oft kurzen, mit ihrem Namen überschriebenen Kapiteln lässt er jeweils abwechselnd seine zwei Protagonisten zu Wort kommen, Alain als Ich-Erzähler, die Mausi-Kapitel werden auktorial erzählt. Nur im vierten Teil schildert Alain unter dem Titel «Ma vie» auf fast zweihundert Seiten ohne jede Gliederung sein Leben. Das Besondere daran sind jedoch nicht die Inhalte, die erzählerisch wenig hergeben, es ist der alle Konventionen negierende Stil, in dem da erzählt wird. Er ist, typisch für Stadler, gekennzeichnet durch eigenwillige Sprachbilder, häufige Selbstzitate und Wiederholungen, aphoristische Irrwege oder Sackgassen und oft ins Groteske verzerrte Figuren. Und deren ständiger Begleiter auf ihrer unentwegten Suche nach Glück und Lebenssinn ist der Schmerz, der in ständigen Vor- und Rückblenden und mit vielen, meist wörtlichen Wiederholungen thematisiert wird. Besonders der mutmaßliche Freitod von Mausis bester Freundin, der trucksüchtigen Fotografin Elfi Rauschzeit (oh wie sinnig, dieser Nachname!) wächst sich im Roman schon fast zu einer Art Totenklage aus.

Erzählt wird in einer an Neologismen reichen Sprache, in der das unbekümmerte Wortspiel tragendes Element ist sowie die ungehemmte Lust am Verschieben von Buchstaben oder das eifrige Variieren zusammengesetzter Wörter mit phonetisch ähnlichen. Ein gleichartiges Spiel wird auch mit ganzen Sätzen veranstaltet, was zu bestenfalls komischen, aber auch zu oft völlig sinnlosen Aussagen führt. Befremdlich wirken zudem viele der vom Autor eingestreuten Aphorismen aus eigener Feder, deren tieferer Sinn sich oft nicht erschließt. «Mein Leben war eine Vermeidungsstrategie, damit es glückte» wird da verkündet, oder, ebenso sinnig: « Ich? Ein Joint Venture aus Schmutzfink und Sprachgitter». Als alles beherrschendes Formschema aber bläht ausufernde Redundanz die Textmasse des Romans unnötig auf und ärgert den geplagten Leser. Als stilistisch holperiger Lebensgefühls-Roman spricht «Rauschzeit» allenfalls einen äußerst kleinen, esoterischen Leserkreis an!

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Brooklyn soll mein Name sein

Kontemplative Hochliteratur

Als Roman eines Romans ist «Brooklyn soll mein Name sein» von Eduardo Lago, der nun erstmals auch auf Deutsch vorliegt, ein typisch selbst-referenzielles Werk, das insbesondere auch die Lust und den Frust beim Schreiben thematisiert. Der in Deutschland weitgehend unbekannte, in Madrid geborene und in New York lebende Schriftsteller und Hochschullehrer gewann für seinen kritischen Vergleich dreier spanischer Übersetzungen des «Ulysses» den ältesten und prestige-trächtigsten spanischen Literaturpreis, den ‹Premio Nadal›. Er ist zudem Gründungs-Mitglied des ‹Order of Finnegans›, kein Wunder also, dass sein grandioser erster Roman als intellektuelle Hochliteratur in manchem an James Joyce erinnert.

Mit «Die Toten leben einzig in uns» als Begleitzitat von Marcel Proust beginnt der Roman am ‹Fenners Point›, einem längst aufgelassenen Friedhof von dänischen Matrosen, die einst an dieser gefährlichen Steilküste des Atlantiks zu Tode kamen. Nur mit einer Sonder-Genehmigung darf der Schriftsteller Gal Ackerman dort, seinem Wunsch entsprechend, bestattet werden. Ich-Erzähler des Romans ist sein bester Freund, der von seinen Freunden nur Ness genannte Journalist Néstor Chapman. Er hat Gal versprochen, dessen unvollendeten Lebens-Roman an Hand des hinterlassenen Materials unter dem Titel «Brooklyn» fertig zu schreiben. So wollte Gal post mortem erreichen, dass seine seit Jahren verschollene, große Liebe, die in Sibirien geborene Pianistin Nadja Orlov, ihn als Einzige lesen kann. Es gibt mehrere Erzählstränge in diesem Roman, einer davon ist die Amour fou mit der deutlich jüngeren, geheimnisvollen Nadja, ferner die Herkunfts-Geschichte von Gal, die er erst mit 14 Jahren erfährt und die ein düsteres Geheimnis birgt. In einer Bar in Brooklyn, dem Oakland, laufen viele weitere Handlungsfäden zusammen. Dort ist quasi der Lebens-Mittelpunkt nicht nur für den Ich-Erzähler, sondern auch für eine illustre Schar von Stammgästen verschiedenster Couleur. Unter ihnen viele Seeleute, kaputte Typen, Getriebene, Aussteiger und Gestrandete, die untereinander ein enges Gefecht von Beziehungen und Abhängigkeiten verbindet, – und ein unbändiger Durst auf Alkohol, der nicht selten in Trunkenheits-Exzessen endet. Weitere Episoden beschäftigen sich zum Beispiel mit dem Chelsea, einem legendären Hotel mit berühmten Gästen, oder mit Coney Island und seinen Attraktionen, einst «Insel der Träume» für den jungen Gal.

Quelle für all diese Episoden ist die «letzte Ruhestätte», Gals unerschöpfliches Archiv direkt über der Bar, wo er geschrieben hat und woher nun all die Tagebücher, Briefe, Notizen und Zeitungs-Ausschnitte stammen, die Ness als sein Testaments-Vollstrecker in den Roman einbringt. Mit einer ausgeprägten Intertextualität verbunden sind hier außer den Schriftsteller- auch viele Künstler-Geschichten. Gal hat Thomas Pynchon und Dylan Thomas im Chelsea getroffen, und er berichtet zum Beispiel auch vom Freitod des manisch-depressiven Mark Rothko in seinem Atelier.

Es ist nicht leicht, sich in diesem Mikrokosmos des Autors zurechtzufinden, weil eine Überfülle von Motiven, Szenen und Gedanken auf den Leser einstürzt und zum Verständnis dessen volle Konzentration fordert. Ein wenig hilft dabei das angeschlossene Register, das in der Reihenfolge ihres Erscheinens nicht weniger als 148 Personen verzeichnet, womit sogar Tolstois «Krieg und Frieden» in den Schatten gestellt wird. Hilfreich ist auch eine Chronologie der Ereignisse in Kurzform sowie ein siebenseitiges Glossar mit erläuternden Anmerkungen, so zum Beispiel zu Sacco und Vanzetti, die ebenfalls ihren Platz finden in diesem labyrinthischen Roman. Was Dublin im Ulysses ist, ist New York in diesem fragmentiert angelegten Exil-Roman, dessen Protagonist den ‹Big Apple› rastlos durchstreift und seine Wege und Beobachtungen minutiös beschreibt. Wer sich darauf einlässt als Leser, der wird hier kontemplativ herausgefordert, aber literarisch auch überreich belohnt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Kröner Verlag

Kazimira

Baltisches Epos

Der neue Roman von Svenja Leiber weist mit dem slawischen Frauennamen «Kazimira» als Titel auf eine starke Frau als Protagonistin hin. Auf dem Umschlag ist Bernstein abgebildet, ein einst beliebter Schmuckstein, in dessen Abbaugebiet an der Kurischen Nehrung die Handlung räumlich angesiedelt ist. Der zeitliche Rahmen der Geschichte reicht von der Reichsgründung 1871 über beide Weltkriege bis 1945, und ergänzend ist dann auch noch ein Handlungsstrang im Jahre 2012 mit eingebaut.

Die mit einem Bernstein-Schnitzer verheiratete Titelheldin hat eine geniale Idee. Man könnte doch, erklärt sie ihrem Mann, das mühsame und verlustreiche Säubern der landeinwärts geförderten, aber stark verschmutzten Steine mit Hilfe einer künstlich erzeugten Brandung erledigen. In der würden sie dann automatisch ebenso sauber gewaschen werden wie die Zufallsfunde am Strand ja auch. Der jüdische Unternehmer Hirschberg greift diese Idee gerne auf und begründet damit in Weststrand, dem heutigen russischen Jantarny, eine lukrative Bernstein-Förderung im großen Stil, die ihm und auch seinen Arbeitern einigen Wohlstand bescheren. Neben diesem primären Handlungsstrang erzählt die Autorin im Rahmen einer breit angelegten Familiengeschichte über vier Generationen hinweg auch vom Ringen ihrer Heldin um Anerkennung und ein frei bestimmtes Leben. Sie will partout «kein Kindchen» und bekommt doch eins. Auch eine lesbische Episode wird erzählt, in der Kazimira die in ihr schlummernden, männlichen Anlagen entdeckt und mit einer Freundin auslebt. Als sie sich aber die Haare kurz schneidet und Hosen trägt, löst das einen Skandal aus, sie wird fortan von allen geächtet. Und auch der zunehmende Antisemitismus in Ostpreußen wird thematisiert. Die Unternehmer-Familie wird immer öfter angefeindet, verkauft schließlich den Betrieb und flieht in das vermeintlich weltoffenere Berlin, – bis die Nazis an die Macht kommen.

Es gibt als Binnenhandlungen etliche weitere Geschichten, von denen am meisten bedrückend die von Kazimiras Urenkelin mit Down-Syndrom ist. Eines Tages wird das Kind unter falschen Versprechungen zu einem Heimaufenthalt abgeholt. Sie kommt nie wieder, denn in Wahrheit fällt sie für die Nazis in die Kategorie «lebensunwertes Leben». Auch ein SS-Massaker kurz vor Kriegsende wird thematisiert, die greise Kazimira ist hilflose Zeugin des Mordens. Und die nachrückenden Russen bringen bald wieder neues Unheil. Ein weiterer Handlungs-Strang im Jahre 2012 berichtet von einem plötzlichen Boom für Bernstein. Nachdem dieser Anfang des Jahrhunderts völlig aus der Mode gekommen war und die Förderung eingestellt wurde, entstand durch die hohe Nachfrage aus China ein neuer Markt mit hohen Profiten. An denen wollen auch Kazimiras Ururenkelin und ihr Mann beteiligt sein, sie werden dabei aber in kriminelle Machenschaften hinein gezogen.

Das Leben in diesem abgelegenen Landstrich Ostpreußens wird sehr anschaulich, detailliert und teilweise in geradezu poetischen Sätzen beschrieben, man fühlt sich mittendrin im Geschehen. Allerdings ist es ein gewagtes Unterfangen, eine Familiengeschichte über mehr als ein Jahrhundert in all den gravierenden historischen Umbrüchen zu spiegeln. Zumal eine kaum noch überschaubare Anzahl von Figuren in immer neuen Episoden und unterschiedlichen Handlungs-Strängen auftritt. Die werden für sich genommen alle einfühlsam erzählt und sind zudem bereichernd, in Summe aber ist der Plot dadurch deutlich überfrachtet. Nicht zuletzt stören auch die vielen Zeitsprünge, sie tragen nicht gerade zu einem angenehmen Lesefluss bei und erfordern immer wieder ein lästiges gedankliches Umschalten. Svenja Leiber erzählt in weiten räumlichen und zeitlichen Bögen eine Geschichte, die in Teilen von Grausamkeiten berichtet und dann wieder, fast schon lyrisch, eine scheinbar heile, ländliche Welt beschreibt, die in eine raue Natur eingebettet ist. Leider ist es ihr nicht gelungen, ihre überbordende Stofffülle  zu einem stimmigen Ganzen zu fügen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Abby – Auf der Seite des Gesetzes (Band 3)

Von Outlaws zu gesetzestreuen Bürger*innen

Abigail Clearwater Williams, genannt Abby, hat sich mit ihrem Mann Butch Cassidy, jetzt bekannt unter dem Namen Robert Williams, eine Ranch gekauft. Beide wollen nach ihrem Dasein als Outlaws ein ruhiges, gesetzestreues Leben führen. Deshalb geht Robert seiner zweiten Leidenschaft, dem Hegen und Pflegen von Tieren, nach: Er züchtet und verkauft Pferde. Ihre gemeinsame Tochter Elisabeth, kurz Betty, liebt Tiere ebenfalls und liegt ihren Eltern schon seit geraumer Zeit mit eigenen Pferden und Hunden in den Ohren. Betty weiß nichts von der Outlaw-Vergangenheit ihrer Eltern und das soll nach dem Willen von Abby und Robert auch so bleiben. Sie haben extra ihre Spuren verwischt, damit man ihren ruhigen Lebensabend nicht gefährden kann. Das bedeutet aber auch, dass Abby auf ihre erste Tochter Alison verzichten muss, denn diese kennt die Vergangenheit ihrer Mutter. Alison lebt mittlerweile in dem Glauben, Butch Cassidy und Abby seien gestorben. Aber durch Abbys und Roberts Freunde Mary und Elzy, die mit Alison in Kontakt stehen, ist Abby immer über ihre Tochter informiert, sodass sie zumindest aus der Ferne an Alisons Leben teilhaben kann. Dann aber erleidet Alison einen lebensbedrohlichen Unfall und Abby beschließt, sie im Krankenhaus zu besuchen. Das ist leider nicht das einzige Unheil, dass den Frieden der Familie gefährdet: Auch Betty, die mit ihrer lebhaften Art ihrer Mutter nachschlägt, erleidet einen Unfall, der sie an den Rand des Todes bringt. Außerdem müssen sich Abby und Robert gegen einen Pater wehren, der Kinder missbraucht. Ihr Leben gestaltet sich also weiterhin alles andere als ruhig.

Wahre Begebenheiten

Ich bin erst mit Band 3 in die Reihe eingestiegen. Schon erhältlich sind die Bände „Abby – Mit Butch Cassidy auf dem Outlaw Trail“ und „Abby – Totgesagte leben länger“. Ein 4. Band ist geplant. Mir ist der Einstieg in die Reihe leichtgefallen, da kurze Rückblicke an gegebener Stelle einiges erklären, was sonst unklar geblieben wäre.

Die Autorin hat sich mit dieser Reihe dem Western verschrieben, und zwar aus Frauensicht. Ihre Protagonistin Abby ist zwar eine Fantasiefigur, aber Fischer lehnt ihre Geschichte an wahre Begebenheiten an. Butch Cassidy und Elzy Lay z.B. waren reale Outlaws, über die sich die Autorin mithilfe von Büchern informierte, wie sie im Nachwort schreibt. Ihr ist es auch wichtig, zwischen Realität und Fiktion zu trennen und aufzuzeigen, wo bei ihr die Fiktion beginnt. Sie weist aber auch darauf hin, dass sie behutsam ihre Fiktion mit der Realität verbunden hat, um ein rundes Ganzes zu schaffen. Das ist ihr gelungen. Die Geschichte liest sich spannend, man kann gut in die Story eintauchen und mit den Figuren mitfühlen. Die Figuren selbst hat Fischer lebendig und sympathisch gestaltet.

Frauenbild

Um noch einmal auf das Genre “Western” aus Frauensicht zurückzukommen: Meist sind Western aus Männersicht geschrieben oder verfilmt. Frauen kommt dabei eher die Rolle von Nebendarstellerinnen zu, die entweder die gute Hausfrau mimen, in Salons den männlichen Voyeurismus bedienen oder als „schwaches“ Geschlecht z.B. als evtl. zu rettendes Opfer herhalten müssen. Kurz: Die Rolle der Frau in einer solchen Sicht des Westerns hat zumindest bei mir als Mädchen und später als Frau keine Begeisterungsstürme ausgelöst. Ich konnte mich aus guten Gründen mit keiner dieser negativ und einseitig besetzten Frauenrollen identifizieren, sodass mir dieses Genre weitgehend fremd geblieben ist. Mit einer selbstbestimmten und gleichwertigen Frau als Hauptfigur sieht das aber schon ganz anders aus. Abby ist selbstbestimmt; sie lässt sich auch in sexueller Hinsicht nichts sagen und macht das, was ihr richtig erscheint. Sie steht ihren Mann, ohne dabei ihre Form der Weiblichkeit aufzugeben. Letztlich ist sie es, die entscheidende Richtungswendungen veranlasst. Auch ihre Töchter Alison und Betty lassen sich in kein Rollenklischee pressen und machen das, was ihnen gut dünkt. Gerade Alison eckt damit regelmäßig bei ihrem konservativen Vater an. Aber das macht sie bewusst, um ihn zu ärgern und vielleicht auch, damit er über seinen engen Tellerrand hinaussieht. Betty hat das Glück in einer Familie aufzuwachsen, die ihr die für sie so notwendigen Freiheiten gibt, damit sie sich gesund entwickeln kann.

Die anderen Frauen in dem Roman entsprechen allerdings dem Rollenklischee und scheinen damit auch zufrieden zu sein. Das ist in Ordnung, solange sie dazu nicht gezwungen sind und anderen keine Vorhaltungen machen, wie sie zu leben haben. Das tun die Frauen in dem Roman nicht, sie unterstützen sich gegenseitig und ergänzen sich. Damit entsprechen sie den matriarchalen Netzwerken, die für Frauen sehr vorteilhaft sind, wenn sie funktionieren. Das Patriarchat versucht nicht umsonst, starke Frauennetzwerke zu zerstören. Ein Wehrmutstropfen für mich ist allerdings, dass Abby dem Klischee der Rothaarigen entspricht: Sie ist so feurig wie ihre Haarfarbe. Sieht man sich die historischen Begebenheiten an, leiden Rothaarige und v.a. rothaarige Frauen unter Klischees. Die Haarfarbe ist bei anderen Menschen nicht sehr beliebt und führte in der Vergangenheit sogar zu Tötungen von gerade weiblichen Rothaarigen (Hexenverbrennungen). Auch eine meiner Kindheitsfreundinnen, die rothaarig war, litt immer wieder unter Repressalien wegen ihrer Haarfarbe. Deshalb finde ich es besser, Klischees zu durchbrechen, anstatt sie weiter zu bedienen. Frauen müssen auch nicht immer impulsiv sein, um Stärke zu zeigen, zumal Frauen, die impulsiv sind, oft die Vernunft und das analytische Denken abgesprochen werden (was nicht stimmt, es geht auch beides). Analytisches Denken, kühle Überlegtheit wird oft nur Männern zugestanden, was ebenso falsch ist. Wenn man bedenkt, was Frauen egal welchen Charakters durch die Mehrbelastung leisten müssen und dass das nur mit durchgetaktetem Tagesablauf und damit nur mit strategischer Planung und Organisation geht, dann ist dieses Klischee schon millionenfach widerlegt.

Positive Grundhaltung

Der Roman hat trotz aller Schwierigkeiten, die die Figuren meistern müssen, immer einen positiven Grundton. Er liest sich flüssig und leicht. Die Figuren meistern die Schwierigkeiten mit Entschlossenheit, verbergen aber auch ihre Bedenken und ihre Ängste nicht, was sie realer wirken lässt. Durch die positive Grundhaltung gesunden Abby und die anderen wieder und versinken nicht in Depressionen. Was meinen Lesefluss ein wenig gestört hat, ist die Angewohnheit der Autorin, ganze Sätze nicht mit einem Punkt, sondern nur mit einem Komma abzutrennen. Dadurch werden die Sätze zu lang und bekommen etwas Hastiges, Unruhiges im Satzduktus. Die kleine Lesepause durch den Punkt fehlt mir. Aber insgesamt finde ich den Roman gelungen, denn aus o.g. Gründen ist er gut durchdacht und spannend geschrieben.


Genre: Roman, Western
Illustrated by Bogner

Lavaters Maske

Die Nöte eines Schreiberlings

Der Titel «Lavaters Maske» von Jens Sparschuh verrät, dass es um die Maskerade des Lebens geht, um Physiognomik, hier im Roman speziell um die wissenschaftliche Methode, aus den Gesichtszügen auf den Charakter eines Menschen zu schließen. Johann Caspar Lavater war im achtzehnten Jahrhundert Begründer und wichtigster Vertreter dieser Lehre, heftig angefeindet von Lichtenberg, später auch von seinem Jugendfreund Goethe. Das Thema des 1999 erschienenen Romans ist insoweit hochaktuell, als China die heutigen technischen Ressourcen radikal nutzt, um einen lückenlosen Überwachungs-Staat zu realisieren. Dieses totalitäre Regime kontrolliert seine Bürger auf Schritt und Tritt mit modernster Software zur Gesichts-Erkennung, um Rückschlüsse auf ihre seelische Verfasstheit zu ziehen. Die Orwellsche Dystopie «1984» ist also doch noch Realität geworden.

Ich-Erzähler des Romans ist ein ehemaliger Germanist und wenig erfolgreicher Schriftsteller, dem für sein letztes Buch das «Wühlischheimer Ehrenstipendium» zugesprochen worden war, damit er eine Zeit lang in ländlicher Ruhe schreiben kann. Er führt nun ein mit Residenzpflicht verbundenes, ziemlich langweiliges Stadtschreiber-Dasein. Ausgerechtet jetzt aber leidet er an einer Schreib-Blockade, ihm fällt partout kein neues Thema ein. Auf telefonische Nachfrage seines Agenten, woran er denn derzeit arbeite, antwortet er ohne lange zu überlegen mit einer Notlüge: Er schreibe über Lavater. Er hat das gar nicht vor, aber daraus wird dann tatsächlich Ernst, als sich nämlich auch noch ein Filmboss für den eher ungewöhnlichen Stoff interessiert. Da winken ihm ja schließlich dringend benötigte Vorschüsse. Er beginnt also, über seinen Protagonisten zu recherchieren, und stößt dabei schon bald auf eine Selbstmord-Geschichte. Enslin, der jugendliche Sekretär von Lavater, hatte sich mit einem Gewehr erschossen, ein mysteriöser Suizid, der bis heute viele Fragen aufwirft.

Die Recherchen zu dem Exposé für den geplanten Film nehmen breiten Raum ein in diesem Roman, unterbrochen nur von gelegentlichen Lese- und Vortragsreisen, mit denen der Ich-Erzähler zwischendurch seine notorisch klamme Kasse wieder auffüllt. Dieser ergänzende Erzählstrang ist witzig und zeugt davon, dass der Autor wohl vertraut ist mit den Gegebenheiten und Ritualen, denen sich heute ein Schriftsteller unterziehen muss als Promoter seiner eigenen Werke. Weniger lustig ist allerdings, was man in Form von historischen Briefen, Lexikonbeiträgen und zeitgenössischen Zitaten über Lavater und seinen Schreiber Enslin erfährt. Dieser eigentliche Haupt-Strang des Romans ist äußerst langweilig zu lesen, er führt zudem mit den wilden Spekulationen des Ich-Erzählers, was denn nun wirklich passiert ist in der Causa Enslin, ins Leere. Ebenso ins Leere führen auch die wirren Versuche des schreibenden Romanhelden, seinem Exposé eine tragfähige, glaubhafte und zündende Idee als Handlungsgerüst zu Grunde zu legen. Das Ganze wird nur immer wirrer, er macht die aberwitzigsten Erfahrungen, trifft auf die merkwürdigsten Leute und scheitert letztendlich auch im privaten Bereich, das Zwischenmenschliche ist nicht seine Stärke.

Ähnlich ergeht es auch Jens Sparschuh, es ist ihm nämlich nicht gelungen, das Lavater-Thema mit dem seiner Romanfigur, des Schriftstellers in der Identitäts-Krise, stimmig zu verbinden, beides steht in dieser doppelbödigen Geschichte unabhängig voneinander für sich. Da passt es dann auch, dass der eher trottelige, gleichwohl aber sympathische Protagonist am Ende des Romans in einer Festrede zum Thema Physiognomik kläglich scheitert. Gerade diese fachspezifischen Passagen wirken als Störfaktor, sie sind einfach nicht stimmig in ein erzählerisches Werk zu integrieren. Insoweit ist dieser anekdotenreiche Roman allenfalls wegen seiner gekonnt erzählten, amüsanten Einblicke in die Nöte eines mittelmäßigen Schreiberlings zur Lektüre zu empfehlen, als Ganzes aber ist er leider misslungen.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Lichte Stoffe

Psychedelisches Palaver

Für ihren Roman «Lichte Stoffe» hat Larissa Boehning den hochdotierten Mara-Cassens-Preis als bestes deutschsprachiges Debüt des Jahres 2007 verliehen bekommen. Sie beschreibt darin die Suche einer jungen Frau nach dem Schlüssel für ihre eigene Herkunft und verwebt in ihrer Geschichte Themen wie Raubkunst, Besatzungskinder, deutsch-amerikanische Animositäten, Familien-Geheimnisse und persönliches Scheitern. «Geheimnisse sind der Motor zum Erzählen» hat die Autorin im ZEIT-Interview erklärt, ihre Figuren spiegelten einzeln das Hauptthema des Romans wider, «weil jede Figur ihre eigene Lüge mitbringt oder verarbeitet». Worauf sich der Buchtitel bezieht, erfahren wir in der Mitte des Buches, als die Protagonistin nach der Trennung von ihrem Mann sinniert: «Aber die Liebe? Lichter Stoff.»

Die Großmutter von Nele Niebuhr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg einen farbigen GI kennen und lieben gelernt. Er war als Bewacher eines Lagerstollens für Nazi-Beutekunst zufällig in einer Nische auf ein rahmenloses Ölgemälde gestoßen und hat es heraus geschmuggelt. Das Bild von Degas zeigt eine Frau mit Hut, und da die Großmutter eine Hutmacherin war, hatte der Besatzungs-Soldat es ihr geschenkt. Als sie schwanger wurde, endete die Liaison mit dem Ami, sie gab ihm das Bild zurück, bevor er sich auf Nimmerwiedersehen davongemacht hat. Dieses Trauma, alleingelassen zu werden mit einem Mischlingskind, hat sie niemals überwunden, aber solange sie lebte hat sie auch nie darüber gesprochen. Eva, die Tochter der Alleinerziehenden, lebt mit ihrem Mann in einer Reihenhaus-Siedlung, sie ist konsumsüchtig und hat ständig Besuch vom Gerichtsvollzieher. Ihr Mann Bernhard wurde nach dreißig Jahren als Sicherheitschef einer Großbäckerei entlassen, von schnöseligen Unternehmens-Beratern einfach wegrationalisiert. Er traut sich nicht, das seiner Frau zu sagen, und geht jeden Morgen ‹zur Arbeit›, um den Schein zu wahren. Die inzwischen dreißigjährige Nele, Tochter der Beiden, ist in Chicago mit dem Verkaufsleiter eines Herstellers ausgeflippter Sportschuhe verheiratet. Sie steht vor den Trümmern ihrer Ehe und dem Ende ihrer Karriere als Designerin in der gleichen Firma. Nach dem Tod der Großmutter stößt sie auf Ton-Kassetten, auf denen die Oma von dem Degas-Gemälde erzählt, das inzwischen Millionen wert sein muss. Nele macht sich auf, diesem Familien-Mythos auf den Grund zu gehen, den verschollenen Großvater und das Bild zu finden.

Erzählerischer Rahmen des Romans ist ihr Rückflug nach Deutschland, sie hat einen älteren Herrn im Tweedsakko als Sitznachbarn, der sich in der Malerei auskennt und ihr viel zu erzählt weiß. Neles Besuch beim Großvater hat sich als Fiasko erwiesen, sie hatten sich nichts zu sagen, das Bild bei ihm an der Wand könnte allerdings tatsächlich der Degas sei. Mit dieser Beutekunst-Geschichte legt die Autorin eine falsche Fährte, wohl um Spannung zu erzeugen. In Wahrheit geht es ihr offensichtlich um andere Themen wie zum Beispiel das deutsch-amerikanische Verhältnis oder der Konsum-Fetischismus, den sie karikaturhaft übertreibend in der Turnschuh-Episode an den Pranger stellt. Und völlig unverständlich bleibt der Sinn einer Episode, in der Neles Vater Bernhard sich kurz entschlossen dem Nachbarn anschließt, als der sich für drei Wochen mit 100 Euro pro Tag bei Manövern als Darsteller einer feindlichen Zivilbevölkerung anheuern lässt. Wenig überzeigend sind vor allem die Animositäten den Amerikanern gegenüber, die hier recht schablonenhaft artikuliert werden.

Diese Geschichte vom Leben der Frauen dreier Generationen einer Familie, bei denen fast alles schiefgeht, wird in verschiedenen Rückblenden metaphernreich erzählt. Immer wieder artet allerdings die Erzählweise in ein psychedelisches Palaver aus, was schon bald ziemlich nervt. Man grübelt dann zum Beispiel, was unter «Zahnpastasuburbs» zu verstehen sei oder was denn ein «kaugummifadenzartes Streichorchester» für eine Musik zu erzeugen vermag.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Eichborn Verlag

Das Polykrates-Syndrom

Der ungewöhnlich vielseitige österreichische Schriftsteller, Essayist und Dramatiker Antonio Fian, Meister der kleinen Form, hat 2014 mit «Das Polykrates-Syndrom» nach 22 Jahren seinen zweiten Roman veröffentlicht. Er wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert und war 2019 Basis für den Spielfilm ‹Glück gehabt›. Der Titel des ursprünglich als Drehbuch geplanten Romans weist auf den Tyrannen von Samos hin, von dem Herodot überliefert hat, er habe in seinem Leben so viel Glück gehabt, dass er am Ende einen grausamen Tod sterben musste. Schiller thematisiert dies in seiner berühmten Ballade mit der idealisierenden These, je größer das Glück, desto tiefer ist der nachfolgende Absturz. Im Roman nun erlebt ein junges Ehepaar, wie über ihren wohlgeordneten Alltag schicksalhaft ein schreckliches Geschehen hereinbricht.

Der weder ehrgeizige noch anspruchsvolle Historiker Artur jobbt in einem Wiener Kopierzentrum, verdient sich zusätzlich Geld mit Nachhilfestunden und schreibt nebenbei ziemlich platte Sketche, die keine Sendeanstalt haben will. Seine Frau Rita hingegen ist als Lehrerin auf der Erfolgsspur und hat gute Aussichten, schon in wenigen Jahren die jüngste Direktorin einer Wiener Schule zu werden. Als Ich-Erzähler schildert Artur detailreich und mit köstlichem Humor, wie er in seiner monotonen Ehe häufigen Vorwürfen durch seine burschikose Frau ausgesetzt ist. Der sympathische Schluffi erträgt all das aber äußerst gelassen, er kennt ihre Psyche und weiß immer im Voraus, womit sie ihn nun wieder gängeln wird. Aber die beiden wissen sehr wohl auch, was sie aneinander haben, und so findet zu guter Letzt denn auch regelmäßig eine Versöhnung im Bett statt. Mit dem Besuch einer attraktiven jungen Frau im Copyshop kurz vor Ladenschluss beginnt für den sympathischen Protagonisten Artur ein aufregendes Abenteuer, welches sich im Verlauf der Handlung zu einem wahren Höllenritt entwickelt.

Der in den 1990er Jahren angesiedelte Plot hat die Zäsur in Arturs Leben zum Thema, schicksalhaft heraufbeschworen durch das Zusammentreffen mit der hübschen Alice. Denn eher harmlos als draufgängerisch veranlagt, steigt der brave Langeweiler nun plötzlich dieser geheimnisvollen Frau nach, einzig beseelt von dem Wunsch, sie ins Bett zu bekommen. Was ihm schließlich auch gelingt, sein erster Fehltritt nach mehr als zehnjähriger Ehe. Dieser für ihn überraschende Ausbruchsversuch krempelt sein ganzes Leben um und entwickelt sich zum Alptraum. «In der kurzen Zeit, in der ich Alice kannte, hatte ich mich völlig verändert. Ich betrog meine Frau, belog meine Mutter, leistete Beihilfe zum Diebstahl, schaffte Leichen weg und hatte keinen anderen Gedanken, als dass Alice bald wieder mit mir schlafen würde». Die zunächst harmlos dahinplätschernde Geschichte wird zunehmend spannender und absurder und endet sehr gekonnt, – überraschend, aber völlig unspektakulär.

Diese mit viel schwarzem Humor locker erzählte Geschichte ist als Parodie auf einen Ehebruch konzipiert, der durch seine drastischen Details satirisch kräftig überhöht wird und in einigen Horror-Szenen einem Splatter-Roman gleichkommt. Besonders gelungen und immer wieder zum Schmunzeln, aber auch zum lauten Lachen anregend sind die pointiert angelegten, schlagfertigen Dialoge, die als verbale Fechtkunst mit ihren geistreichen Wortattacken geradezu lustvoll ausgefochten werden. Das anschaulich geschilderte Wiener Lokalkolorit bereichert wirkungsvoll diesen gut durchdachten Totentanz, der als Mischung aus Grauen und Humor auffallend nüchtern erzählt wird. So wenn zum Beispiel über Arturs Versicherungen berichtet wird, dass er sie nur abschließe, weil er meint, dann würde ja ganz im Sinne der Assekuranz wahrscheinlich niemals mehr etwas passieren. Und was genau denn Sex in Eichhörnchen-Stellung ist, darüber lässt der Autor den Leser listig im Dunkeln. In dieser burlesken Story wird lakonisch Pointe auf Pointe abgefeuert, Antonio Fian lotet gewissermaßen die Grenzen seiner abgründigen Geschichte bis zur Neige aus.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Miss Bohemia

Roman im Roman

Letzter Teil der Berlin-Trilogie von Mathias Nolte ist der Roman «Miss Bohemia», der, vom Feuilleton weitgehend ignoriert, in der Leserschaft eine einhellig positive Aufnahme fand. Zweifellos handelt er sich um grandiose Unterhaltungs-Literatur mit einer schon im Buchtitel anklingenden, verheißungsvollen Thematik. Es geht um eine wahrhaft unkonventionelle, schöne junge Frau, die als Femme fatale bei den Männern allerlei Verheerungen anrichtet. Wobei es sich bei den Männern um Schriftsteller handelt, was ja Literatur affine Leser per se schon mal neugierig macht.

«Ich hatte mir geschworen, nie wieder einen Gedanken an Tara zu verschwenden», lautet der erste Satz. Der Ich-Erzähler Lukas, ein mittelmäßiger Roman-Schriftsteller, entdeckt in der New York Times eine Meldung, die über den Tod des bekannten Schriftstellers Philipp Bach berichtet. Auf dem Foto von der Verteilung seiner Asche im Meer erkennt er Tara. Lukas hatte sich vor zwei Jahren für seinen neuen Roman ein Ferienhaus auf Key West gemietet, um in Ruhe arbeiten zu können. Überraschend hatte ihn dort sein erfolgreicher Kollege Philipp Bach besucht, zusammen mit seiner wesentlich jüngeren Freundin und Muse. In Rückblenden erzählt Lukas, wie ihn schon am ersten Morgen die attraktive Tara zu einem Strandausflug überredet hat, um dort den Sonnenaufgang zu erleben, ihr Lover hat noch tief geschlafen. Und an dem menschenleeren Strand hat sie Lukas dann auch verführt, – sie war die Aktive, er wusste gar nicht, wie ihm geschah.

In einem raffinierten Konstrukt entwickelt Matthias Nolte auf verschiedenen Zeitebenen seinen Plot um eine Menage à trois im Schriftsteller-Milieu. Tara hat ihre Examens-Arbeit über den hoch dekorierten DDR-Schriftsteller Franz Krohn geschrieben, und der wiederum war Mentor von Philipp Bach. Kurz nach der Ausbürgerung von Wolf Biermann hat Krohn über seine guten Beziehungen zur Staatsführung Bach sogar zur Flucht in den Westen verholfen. Dort hat Bach dann mit «Miss Bohemia» seinen äußerst erfolgreichen Debütroman veröffentlicht. In häufigen, durch die Kapitel-Überschriften aber deutlich zugeordneten Zeitsprüngen erzählt Matthias Nolte seine Geschichte mit mehreren, kunstvoll verflochtenen Handlungs-Strängen. Seine drei Protagonisten sind sehr eigenwillige Typen. Der dem Autor biografisch ähnelnde Lukas ist ein ewiger Zweifler, der fast alles geduldig hinnimmt, von dem man ansonsten aber wenig erfährt. Er arbeitet an dem Roman, den wir in Händen halten, und lässt den Leser an seinen Recherchen und am Schreibprozess teilhaben, eine reizvolle ‹Roman im Roman›-Konstellation. Freund und Nebenbuhler Philipp Bach ist ein überheblicher, unsympathischer und cholerisch veranlagter Schriftsteller, der ein dunkles Geheimnis birgt. Nach seinem Debüt schreibt er nun seit vielen Jahren an dem gigantischen Werk «Der Roman des Jahrhunderts». Tara ist eine selbstbewusste, schlagfertige und lebenskluge Frau, die besonders im unkonventionellen Umgang mit ihrer Sexualität verblüfft und es im Übrigen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Von Lukas nach ihren bisherigen festen Freunden gefragt, erklärt sie ihm beispielsweise, es gab bisher nur einen: «Nach Johnny kam nichts Festes mehr, nein. Nach ihm habe ich à la carte gelebt». Auf seine verblüffte Nachfrage ergänzt sie: «Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, […] habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut, und er dankt es mir jeden Tag».

Dieser aufregende Roman ist schwungvoll erzählt, wobei die Ironie darin unübersehbar ist. Trotz des nicht unbeträchtlichen Wirrwarrs, das die Geschichte mit ihren vielen Andeutungen erzeugt, folgt man ihr gerne, zumal die Spannung immer mehr steigt, was denn nun hinter all dem steckt. Übertrieben hat es Mathias Nolte allerdings mit den vielen Zufällen, auf denen sein Plot aufbaut. Überzeugend und angesichts der trickreichen Verflechtungen hilfreich ist, dass er das Erzählte häufig rekapituliert. Und nicht wenige Leser dürften sich zudem an der üppigen Intertextualität erfreuen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Deuticke Wien