Bonita Avenue

bonitaAvenueCoverIst es vorstellbar, dass Menschen anfang der Nuller-Jahre mehrere Tausend Euro für ein paar Nacktbilder ausgeben, wo man doch heutzutage, etwas mehr als nur 10 Jahre später, geballte Erotik umsonst im Netz bekommt? Peter Buwalda spielt in seinem Roman Bonita Avenue mit der Zeit. Logisch, dass wir uns diesen Familienroman aus der Sicht zweier Generationen vornehmen.

Jan Gocha, 19 Jahre:

Kurz vor Silvester stürmen tausende Niederländer grenznahe deutsche Supermärkte, um günstig verfügbare Feuerwerkskörper zu kaufen. Der Grund für die rigide Handhabung von Silvesterknallern im Nachbarland ist die Katastrophe in Enschede, bei der 2000 eine Feuerwerksfabrik explodierte, mehrere Menschen starben und fast ein ganzes Stadtviertel verschwand. Man kann es ohne Übertreibung ein niederländisches Trauma nennen, dass Peter Buwalda in seinem hochgelobten Debütroman Bonita Avenue benutzt, um die persönliche Implosion einer nach außen hin erfolgreichen und angesehenen Familie metaphorisch einzubauen. In den Niederlanden wurde Bonita Avenue hochgelobt und geradezu euphorisch gefeiert, man nannte Buwalda sogar den niederländischen Jonathan Franzen. Nach der Lektüre bleibt eine Frage allerdings offen: Warum?

Im Zentrum der Geschichte steht die Patchwork-Familie Sigerius, deren Oberhaupt Siem, Mathematik-Genie, ehemals erfolgreicher Judoka, Rektor der Universität und später als Politiker ein angesehenes Mitglied der niederländischen Upper-Class ist. Seine Frau Tineke brachte zwei Töchter mit in die Ehe, von denen nur die Ältere Joni relevant für den Verlauf der Geschichte ist. Ihr Freund Aaron ist Fotograf und geisteskrank. Die beiden verdienen ziemlich viel Geld mit einem geheimen Unternehmen und auch wenn zunächst nicht verraten wird, welches, so deutet Buwalda doch hier und da an und es braucht nicht mehr als gesunden Menschenverstand, um zu erahnen, welche Unternehmung in einer eigentlich liberalen und offenen Familie geheim gehalten werden muss, wenn Joni schön und Aaron Fotograf ist. Zu dieser Familiensituation gesellt sich noch Siems Sohn Wilbert aus erster Ehe, der als verurteilter Mörder im Gefängnis saß und nun freigelassen wird, dabei allerdings nicht vergessen hat, wer ihn die ganze Zeit verleugnet und verlassen hat. Zeitgleich mit der Explosion der Feuerwerksfabrik fliegt Siem sein fragiles Familiengebäude um die Ohren, als er eine erste Ahnung von Jonis und Aarons Geheimnis bekommt.

Die Erzähltechnik ist zunächst so einfach wie wirkungsvoll konzipiert. Buwalda ist so von der Stärke seiner Geschichte überzeugt, dass er das Ende einfach schon am Anfang verrät. Im Verlauf des Buches kommen allerdings noch Drehungen und Wendungen hinzu, die das Lesen trotzdem nicht langweilig werden lassen. Zeitlicher Ausgangspunkt sind die Jahre 2000-2002, die aber durch Vor- und Rückschauen sinnvoll ergänzt werden.
Auch wenn immer neue Facetten das Ende ergänzen, so kommt man nicht umhin, eine gewisse Zwangsläufigkeit zu entdecken, die dem Buch nicht gut tut. Der Autor ist vollkommen mit der Zerstörung seiner Charaktere beschäftigt, so dass der Moment, in dem man das Buch aus der Hand legt und sich denkt: “Krass” völlig fehlt. Buwalda zerstört jedes einzelne Leben, jede glückliche Lebenssituation mit Konsequenz und Härte. Das bekommen auch die Figuren zu spüren, zu denen meine Einstellung von gleichgültig (Joni) über vollkommen unsympathisch, weil lächerlich und die üble Sorte des totalen Verlierers (Aaron) zu anfangs sympathisch aber dann von Buwalda auf kranke und perverse Art charakterlich zerstört (Siem) reicht. Man kommt nicht umhin, Buwalda eine gewisse Arroganz zu unterstellen, weil er dem Leser auch nur die kleinste Anteilnahme am Schicksal der Figuren direkt wieder versaut.

Die Kritiker lobten vor allem Buwaldas rhetorische Fähigkeiten, die in der Tat vorhanden sind. Man möchte allerdings des öfteren sagen: Manchmal ist weniger mehr. Zu einer Figur wie Siem, der zwar ein angesehener und sehr intelligenter Mann, gleichzeitig aber einen so körperlichen Sport wie Judoka betreibt und im Grunde seines Herzens immer das arme Unterschichtskind aus der Utrechter Arbeiter-Siedlung geblieben ist, passt ein einfacher Vergleich oder eine schlichte Metapher besser als das ausgefeilteste Paradoxon. Eine Stelle im Buch möchte ich hier ganz besonders hervorheben, weil ich sie unglaublich misslungen finde. Als Aaron endgültig verrückt wird, verfällt Buwalda in eine Art Gedankenstrom, der sich aber nicht nur auf Aaron, sondern auch auf dessen Umwelt erstreckt. Das Ziel, das Buwalda damit verfolgt, ist klar: Er möchte uns das Wesen einer Geisteskrankheit näher bringen. Wenn man dies allerdings so offensichtlich möchte und dazu wenig subtile Mittel wählt, liegt die Gefahr des Misslingens nahe. Hier braucht der Leser Joni, um zu verstehen.

Wenig subtil auch immer wieder die Sprachebenen.So wird die Sprache an mehreren Stellen, an denen es um Porno geht, derb und vulgär. Nun könnte man meinen: Passt doch. Passt hier aber nicht, da die Figuren nicht so sind, weder von ihrem Wesen noch von ihrem Vokabular. Es sind auch nicht die Figuren, die anschaulich beschreiben, wie man einer Person Gegenstände anal einführt, sondern nur der Erzähler, der einmal mehr destruktiv aktiv wird. Die insgesamt gelungene Sprache wird so immer von Negativeffekten zerstört. Hat wahrscheinlich Methode.

Über das Buch verteilt sind kleine Easter-Eggs für den Leser. So benannte Buwalda jeden Amerikaner nach einer Figur, die Elvis Presley in einem Film spielt. Buwalda bestätigte diese Theorie eines niederländischen Literaten und begründete mit zu viel Zeit, unbestätigt ist hingegen meine Theorie zu Jonis Namen: Ist es Zufall, dass der Name der freizügigen Tochter in der Tantra-Lehre die Vulva der Frau benennt? Wohl kaum.
Insgesamt ist dieses ganze Buch vollkommen auf Zerstörung aus, niemand findet ein glückliches Ende, alle stehen mit leeren Händen da. Bei allen Kritikpunkten, die ich nun so aufgeführt habe, denke ich, dass man auch durchaus würdigen sollte, wenn man so herrlich erfrischend mit Blut und anderen Körperflüssigkeiten um sich wirft, wie Buwalda es tut, und sei es, nur um der Zerstörung zu huldigen.

Britta Langhoff, 49 Jahre:

Ja. So ist das. Es läuft alles auf Zerstörung hinaus. In diesem Buch. Im Leben. Viel zu oft: Keine Hoffnung, nirgends. Bewahren und zusammenhalten ist oft die herausfordernste Aufgabe. Und ja – die Protagonisten in Bonita Avenue haben diese Aufgabe nicht bewältigt. Bonita Avenue ist kein harmloser Familienroman. Gleich einer antiken Tragödie ist das alles beherrschende Thema Schuld an sich. Rahmenhandlung ist ein Schreckensjahr voller Intrigen, Verderbtheit und Korruption, endend in Mord und Wahnsinn. Fokus der Erzählung liegt auf dem sich als moralische Instanz inszenierenden Vater, der dennoch durch sein Vorbild zerstört. Zwei Generationen zerreiben sich durch unvereinbare Weltanschauungen, die Väter Generation, die sich über Arbeit und Disziplin definiert, die der Kinder, die sich vor allem einer elastischen Moral bedient.

Um diesen Überbau herum porträtiert Buwalda ganz unterschiedliche, nicht zusammengehörige Welten. Die Welt der Judoka – ein Sport, der einen mit sich selber konfrontiert, die Welt der Universitäten, die Haager Regierungswelt und schließlich die moralisch flexible der Pornoindustrie. Nicht nur die Generationen, auch diese Welten prallen aufeinander, die Explosion ist so unausweichlich wie die der Enscheder Feuerwerksfabrik. Neben der Fabrik bemüht Buwalda auch im Verlaufe weitere visualisierende Bilder, das offensichtlichste das der titelgebenden Bonita Avenue, der Straße, in der die Familie in früheren Jahren glücklich war. Ein Bild, welches immer wieder den Bogen zurück schlägt zur auch in diesem Buch unterschwellig drängenden Frage, eine der am meisten gestellten unserer Zeit. Der Frage nach Heimat. Nicht umsonst trägt der Blog zum Buch den Titel Nirgends so fremd wie zu Hause. Eine der Schlüsselfragen des Buchs ist “Was wissen wir wirklich voneinander, was wissen wir von unseren Kindern” und man ahnt, dass ist es, woran Siem Sigerius zerbricht: An der Suche nach Zugehörigkeit und daran, dass er sie nirgends fand.

Bonita Avenue ist das amerikanischste aller Bücher der niederländischen Literatur, das ich jemals las. Buwaldas Sprache ist robust, kraftvoll und dennoch präzise, ähnlich der Eigenschaften, die man den Judoka nachsagt, die eine nicht unwichtige Rolle im Buch spielen. Am auffälligsten ist, dass er auf Chronologie keinen Wert legt. Flashbacks, Flash Forwards entwickelt er nahezu zu einer eigenen Kunstform. Das geht auf Kosten des traditionellen Spannungsaufbaus. Auch wenn man einwenden mag, dass sich erst aus der Rückschau bessere Schlüsse generieren lassen – entweder ist dieser Stil einfach arrogant oder dem Wunsch des Autors geschuldet, seine Leser unter Kontrolle zu halten. Aber gerade vor dem Hintergrund des Fehlens jeglicher Chronologie ist die Menge an Fakten und Ereignissen erdrückend. Dazu wird das Leben eines jeden gnadenlos ausgebreitet, nicht darf verloren gehen, jeder Gedanke, jedes Detail – alles muss berücksichtigt werden. Hingegen setzt der Autor einfach voraus, dass die Enscheder Explosion als historisches Ereignis bekannt ist. Zumindest außerhalb der Niederlande grenzwertig vor dem Hintergrund, dass Bonita Avenue auch eine Geschichte mit klarer Coming-of-Age Thematik ist und der Autor diesen Hintergrund dieser Zielgruppe vorenthält.

Bringt uns zurück zu Jans Frage: Warum? Fragte auch ich mich am Ende der Lektüre. Warum ist es Buwalda so wichtig, der zerstörerische Erzähler zu sein, warum reicht ihm nicht der neutrale Beobachterposten? Er vermeidet die direkte Meta-Ebene, Partei ergreift er auch nicht, also warum nimmt er die Spannung, warum lässt er seinen Lesern nicht die Freude am Entdecken, warum bleibt dem Leser nur die mühsamere Freude des Interpretierens? Er selbst als Autor gönnt sich das, was er dem Leser versagt, den Spaß am Spiel mit Sprache – siehe den ergiebigen Gebrauch von Easter Eggs.

Bonita Avenue ist eine verstörende Lektüre, die den Leser mit vielen Fragen zurücklässt, dennoch ist das Buch lesenswert. Schon alleine, weil es für ein Debütwerk erstaunlich und mutig ist, dass ein Autor sich an so einen vielschichtigen und anspruchsvollen Roman wagt, an einen Roman von so viel zerstörerischer Sprengkraft.

Bonita Avenue ist der erste Roman des niederländischen Journalisten und Essayisten Peter Buwalda. Als sein Vorbild nennt er Ian mc Ewan, er selbst sagt, er schreibe, weil ihm die Welt der Fiktion eine dringende neben der realen Welt zu sein scheint. Für Bonita Avenue zog er sich 4 1/2 Jahre weitestgehend aus der realen Welt zurück – mit einem erstaunlichen, verstörenden Ergebnis. Namhafte Feuilletons in den Niederlanden und Deutschland überschlagen sich vor Begeisterung und formulieren enorme Erwartungshaltungen. Bleibt zu hoffen, dass Buwalda ob diesen Drucks gelassen bleibt und seinen Stil so unbeirrbar weiter treibt wie in Bonita Avenue die Zerstörung seiner Charaktere.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Er ist wieder da

Timur_Vernes_er_ist_wieder_daAdolf Hitler erwacht 2011 und bewegt sich wie Catweazle durch eine Zeit, die ihn erheblich irritiert. Was ist aus seinem Dritten Reich geworden? Die Volksgenossen sprechen teilweise ein ihm unverständliches Idiom, es gibt technische Geräte wie Fernseher und Computer, die er nicht bedienen kann und statt im »Völkischen Beobachter« muss er in der »Frankfurter Allgemeinen« blättern. Zu seinem Glück nimmt sich ein Kioskbesitzer seiner an und vermittelt ihn als originellen Hitler-Darsteller an eine Fernsehproduktion. Dort soll er in eine Satireshow eingebunden werden.

Der wieder auferstandene Schnurbart will »das Heft des Handelns« ergreifen und setzt alles daran, erneut eine Erweckungsbewegung des deutschen Volkes zu starten. Immerhin hat er das bereits einmal erfolgreich geschafft, und da ihn auch damals die Pressezaren unterstützen, fühlt er sich zwischen Privatfernsehsendern und BILD-Zeitung gleich wieder in bester Gesellschaft. Im bizarren Hier und Jetzt will er den Kampf aufnehmen. Dabei versucht er, der neuen Welt, die ihn mit »Meesta« statt mit »Mein Führer« anredet, verständnisvoll zu begegnen. Schließlich waren die Leute in den Jahrzehnten seiner Abwesenheit »unablässig aus der Suppenkelle der Demokratie mit einem verbogenen marxistischen Geschichtsbilde übergossen« worden.

Mit einer Assistentin der Filmbude, die ihn unter ihre Fittiche nimmt, eröffnete er eine neue Reichskanzlei. Er lässt sich mit »Guten Morgen, mein Führer« zackig grüßen und in die Geheimnisse des Computers einweisen. Bald wird er als Witzfigur in die Schau eines türkischstämmigen Comedians eingebaut. Über YouTube erlangt der »irre YouTube-Hitler« mit seinen völkischen Reden bald Berühmtheit, zumal ihn ein Großteil der Zuschauer ernst nimmt. Seine ausländerfeindlichen Tiraden begeistern sogar. Nachdem er mit einem Fernsehteam bei der NPD einmarschiert und dort den verweichlichten Geist derjenigen geißelt, die in seinem Namen agieren, schafft er den medialen Durchbruch.

Überzeugend versteht es der Autor, alles aus der Sicht des »Führers« zu beleuchten. Eines Tages wird »Onkel Wolf« beispielsweise durch das Getöse eines Laubbläsers aus dem Schlaf gerissen wird und schaut aus dem Fenster. Ein Blick auf die umstehenden Bäume verrät ihm, dass es sich um einen ausgesprochenen windigen Tag handelt. Er ist, so viel lässt sich eindeutig erkennen, völlig unsinnig, an jenem Tage Laub gezielt von irgendwo nach irgendwo anders hinblasen zu wollen. Doch er bewundert den Laubbläser, hat dieser doch einen Befehl bekommen, den er in fanatischer Treue ausführt. Er erfüllt tapfer und stoisch seine Pflicht, so sinnlos sein Wirken bei dem Wind auch sein mag. »Wie die treuen Männer der SS«, meint Hitler und eilt hinaus, um den Mann zu danken: »Für Menschen wie Sie führe ich meinen Kampf fort. Denn ich weiß: Aus diesem Laubblasegerät, ja aus jedem Laubblasegerät in diesem Lande strömt der glühende Atem des Nationalsozialismus«. Genau das sei der fanatische Wille, den das Land brauche …

Fraglos ist es ein geschickter Zug, aus der Perspektive des überzeugten Nationalsozialisten Politik und Gesellschaft zu betrachten und entsprechend gnadenlos zu kritisieren. Egal, was der Widerauferstandene sagt, es wird schließlich unter Humor subsumiert und entzieht sich einer über alles wachenden »political correctness«. Doch die Quintessenz des Romans, wonach »damals« nicht alles schlecht war, hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Denn je weiter wir im Buch der Geschichte voranblättern und uns von der Nazi-Zeit entfernen, desto harmloser scheinen die Verbrechen jenes Terrorregimes. Klar, da wurden ein paar tausend Juden ausradiert, aber der Führer war doch eigentlich ein kauzig-schräger Typ, den man in seiner Andersartigkeit sogar lieb gewinnen kann.

Dieses Buch ist gefährlich gut. Es betreibt mit den Mitteln der Komik Verharmlosung. Es hilft, Adolf und seine braunen Schatten als Biedermänner auferstehen zu lassen. Es dient weder der Aufarbeitung der deutschen Geschichte, noch leistet es einen Beitrag, dem Wiedererwachen des Faschismus einen Riegel vorzuschieben. Im Gegenteil: Das Lachen über den »komischen« Hitler, der wieder auf die Bühne steigt (und sein Geist ist ja inzwischen tatsächlich längst wieder da) dient der Bagatellisierung eines Massenmörders und seiner Gesinnung. Deshalb schmeckt mir die Lektüre nicht, wenngleich ich an vielen Stellen laut lachen musste.

Nachtrag


Deutscher Kinostart des Buches aus dem Jahre 2012 war der 8. Oktober 2015.

 


Genre: Romane

Die Elefanten meines Bruders

Billy Hoffmann will mit seiner Familie zu einer Zirkusvorstellung gehen. Unterwegs erlebt er Schreckliches: Sein älterer Bruder Philipp wird von einem tonnenschweren Reisebus erfasst, der ihn durch die Luft schleudert. Er stirbt. Die entsetzte Mutter, so das Bild, das sich unauslöschlich in das Kind einbrennt, steht schreiend an der Böschung, wo der Tote hingeschleudert liegt. Blut befleckt ihren neuen Mantel. Weiterlesen


Genre: Jugendbuch, magischer Realismus, Romane
Illustrated by Kindle Edition

Ein Jahr voller Wunder

Thompson_Walker_Ein_Jahr_voller__130144Was, wenn die Erde plötzlich aufhören würde, sich zu drehen? Was, wenn Tage nicht mehr länger Tage, Nächte nicht mehr länger Nächte sind? Wie lebt es sich in einer Welt, in der die Vergangenheit lang und die Zukunft kurz ist?

Julia ist ein ganz gewöhnliches kalifornisches Sonnenschein-Mädchen aus einer ganz gewöhnlichen Familie. Ein Mädchen an der Schwelle zum Teenager, im Übergang von der Middle- zur High-School, die Zeit, die in den USA Age of Miracles (so auch der Originaltitel) – ein Jahr voller Wunder genannt wird. Die größte vorstellbare Katastrophe für sie sind bis dato die Streitereien ihrer Eltern, ihre größte Verunsicherung die Irrungen und Wirrungen ihrer ersten Verliebtheit. Eines Morgens wachen Julia und ihre Eltern auf und werden jäh aus ihrem bisherigen gewöhnlichen Leben ausgebremst. Gemeinsam mit dem Rest der Welt hören sie eine globale Fernsehmeldung: Es hat eine “Verlangsamung” stattgefunden. Die Erde dreht sich langsamer, Tag und Nacht stimmen nicht länger mit dem 24-Stunden-Rhythmus überein. “Eine Zeit lang fühlten sich die Tage immer noch wie Tage an. Doch mit jedem neuen Morgen kamen wir weiter aus dem Tritt.”

Die Gesetze der Schwerkraft verschieben sich. Vögel fallen vom Himmel, Pflanzen verkümmern, Sonnenstürme gefährden die Nahrungsmittel- und Stromversorgung. Die über Nacht gewonnenen Minuten dehnen sich im Laufe der Zeit aus zu langen Licht und Nachtabschnitten. Es ist die Stunde der Weltuntergangspropheten, der Astrologen – Sternzeichen haben sich ebenfalls verschoben. “Neue Minuten tauchten überall auf. In jenen Tagen war die Zeit schwerer zu vergeuden. Die Sterbenden brauchten länger zum Sterben, die Kinder länger zum Geborenwerden. Wie hatten wir an solche viel zu einfachen Dinge wie die 24 Stunden Uhr glauben können?”

Weltweit beschließen die Regierungen in seltener Einmut, die sogenannte Uhrenzeit einzuführen. Die Menschen leben wieder nach dem gewohnten 24 Stunden Rhythmus, ungeachtet der Sonnenauf-und Untergänge. Nicht alle – manche verweigern sich der Direktive und gründen Kolonien, die nach der Echtzeit und im Konflikt mit den Uhrenzeitlern leben. Die Verlangsamung und die mit ihr einhergehende bei immer mehr Menschen auftretende Schwerkraftkrankheit zerstören das fragile Gleichgewicht zwischen Impuls und Kontrolle. Und “wir verloren mit diesem klaren Rhythmus […] ein gemeinsames Grundvertrauen.”Die Risse in Familien, in Freundschaften werden immer deutlicher, doch wären sie auch ohne die Verlangsamung je zu sehen gewesen?

Schließlich wird Nahrung rationiert, das Knacken einer Traube im Mund ist nur noch eine ferne Erinnerng. Überhaupt – Erinnerungen! Sie werden bewahrt wie verblasste Fotos aus einer fernen Zeit und bekommen eine völlig neue, nie gekannte Wertigkeit. Es ist einer der ergreifendsten Momente im Buch, wenn Julia und Seth, ihre erste zarte Liebe ihre Namen in noch nassen Zement ritzen, damit wenigstens etwas von ihnen überdauert Eines Tages werden die Server abgestellt, das Ende des Internet ist der Vorbote des Weltendes. Ein goldener Datenträger wird mit einer Super-Rakete ins All geschossen, er bewahrt und trägt die kostbarsten Erinnerungen der Menschheit. Gerüche, Erzählungen, Geräusche wie das Rauschen der Wellen

Julias Tagebuch erzählt dem staunenden Leser von diesem Jahr. Julia ist ein stilles, abwartendes, genau beobachtendes Mädchen. Das macht sie zur perfekten Erzählerin. Als Einzelkind ist sie besonders empfänglich für die Zerbrechlichkeit von Familie, Freundschaft und der ersten Liebe. Eine solche Geschichte mit der Wucht des drohendes Untergangs aus der Sicht der Unschuld und der Naivität zu schreiben ist ein bewährtes Stilmittel in der Science-Fiction und es bewährt sich auch hier, wo der Spagat zwischen einer klassischen Coming-of-Age-Geschichte und einer Endzeitfiktion gewagt wird. Die Katastrophe wirkt jederzeit nachvollziehbar und realistisch, doch sie bezieht einen Großteil ihres Schreckens aus der Unsicherheit einer Jugend, von der man nicht weiß, ob ihre Protagonistin je die Chance bekommen wird, erwachsen zu werden.

Die in Brooklyn lebende Autorin Karen Thompson Walker arbeitet als Lektorin, ein Jahr voller Wunder schrieb sie in den Morgenstunden vor Arbeitsbeginn. Ihre Sprache ist wohltuend zeitlos und auffallend melodisch, ganz sanft bringt sie damit die Geschichte nach vorne. Wenn es um das Verrinnen der Zeit geht, um das Bedauern über Vergänglich- und Endlichkeit wird ihre Sprache fast schon elegisch. Manchmal merkt man den Sätzen allerdings an, dass sie – wie von der Autorin in der Danksagung selber angemerkt – wieder und wieder umgeschrieben wurden. Dann werden die Sätze hölzern und es  hat eindeutig die Lektorin über die phantasiebegabte Autorin gesiegt. Etwas mehr “schreiben aus dem Bauch heraus” hätte dem Erzählfluß sicher nicht geschadet. So geht Empathie und Emotionalität – eigentlich Kernbegabungen der Autorin – gelegentlich zu Gunsten der Präzision verloren.  

Dennoch – ein Jahr voller Wunder ist ein Buch, welches man schon nach dem sehr kurzen, aber eindringlichen ersten Kapitel kaum mehr aus der Hand legen mag. Zumal in Zeiten, in denen einem die Klima- und sonstige Katastrophen beinahe stündlich um die Ohren gehauen wurden. Auch Julia und ihre Eltern sind es als Kalifornier gewohnt, mit den Verschiebungen der Natur und der Erde zu leben, doch mit der Verlangsamung haben auch sie nicht gerechnet. Mühsam navigieren Julia und ihre Familie sich durch völlig veränderte Landschaften, völlig veränderte Tag-und Nacht-Rhythmen. “Während die Erde sich immer langsamer dreht, müssen die Menschen sich immer schneller anpassen.” Der Konflikt zwischen den Echtzeitlern und den Uhrenzeitlern ist unvermeidlich und im Übertragenen der Konflikt zwischen dem Natürlichen und dem von Menschen gemachten.

Phantasievoll, aber mit einem tiefen Verständnis der Gegenwart ist ein Jahr voller Wunder eine zugleich originelle und provozierende Geschichte, ob ihrer Plausibilität zudem erschreckend. Wird es so sein? Wird all das, worüber wir uns derzeit Sorgen machen, irgendwann völlig belanglos ob der viel größeren Katastrophe, die unserer harrt? Zum Ende hin komprimiert Karen Thompson Walker die Zeit und die Geschehnisse, doch das tut dem lange nachwirkenden Ende keinen Abbruch. Denn – Manchmal benötigen die traurigsten Geschichten die wenigsten Worte Es ist immer mutig, wenn Genres wild durcheinander gewürfelt werden, in der Regel kommt dabei ein guter Wurf heraus. So auch hier – ein Jahr voller Wunder ist nicht nur aber auch eine großartige Liebeserklärung an die Welt, wie wir sie kennen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by btb München

Abschied für Anfänger

Was treibt uns an, wenn wir ein Buch aufschlagen? Mit welcher Intention begeben wir uns in die Gedankenwelt eines Autors? Nun, wir möchten unterhalten werden, neue Welten kennen lernen und andere Blickwinkel erforschen. Manchmal erhoffen wir uns auch Trost und Zuspruch. Möchten erfahren, dass wir nicht alleine sind mit unserer Sicht auf die Dinge. Eine zuverlässige Garantin für die Erfüllung all dieser Wünsche ist mir seit vielen Jahren die amerikanische Schriftstellerin Anne Tyler.

Ganz offiziell stehe ich nicht alleine mit meiner Meinung, dass Anne Tyler zu den wichtigsten zeitgenössischen Autorinnen gehört. Schon 1989 wurde sie für ihr Buch Atemübungen mit dem Pulitzer-Preis geadelt, noch im letzten Jahr wurde sie für ihr Lebenswerk mit dem Sunday Times Award for Literary Excellence geehrt. Der ebenfalls erfolgreiche britische Schriftsteller Nick Hornby sagte einmal, er wünsche sich, nur einmal in seinem Leben so schreiben zu können wie Anne Tyler. Tatsächlich ist jedes einzelne ihrer bisher 19 erschienenen Bücher ein ganz besonderes Kunstwerk.

Ihr Talent wird oft als stilisierter Realismus bezeichnet, aber das trifft es meiner Meinung nach nicht ganz. Für mich ist Anne Tyler das weibliche Pendant zu John Irving. Sie braucht keine raffinierten Handlungen, das Alltägliche ist ihr bedeutsam genug und so macht sie scheinbare Banalitäten des Lebens zu lesenswerten und fesselnden Geschichten. Sie erzählt unprätentiös und undramatisch, humorvoll und sorgfältig beobachtend. Poetisch und weise vermittelt sie in all ihren Büchern Lebensklugheit und schafft es so, dem Alltag seinen Zauber wiederzugeben.

Abschied für Anfänger Ein Musterbeispiel für die tylersche Welt ist der junge Witwer Aaron in Anne Tylers neuestem Roman Abschied für Anfänger. Aaron ist keineswegs perfekt, er lebt mit einer leichten Körperbehinderung, entstanden durch eine Kinderkrankheit. und er stottert oder wie er selbst es ausdrückt: “Er hört sich an wie ein Handy mit Wackelempfang”. Als größte Behinderung empfindet er jedoch nicht seine körperlichen Gebrechen, sondern die fortgesetzten Versuche seines Umfeldes, ihn mit übertriebener Vorsicht über zu behüten. Bei allem Unabhängigkeitsstreben ist Aaron dennoch in den familiären Betrieb eingestiegen, einem Zuschussverlag und empfindet sich mehr als druckender Dienstleister denn als Lektor.

In der älteren Ärztin Dorothy lernt er eine unabhängige Frau kennen, die sich wenig um seine Behinderung schert, was Aaron als ausgesprochen erleichternde Bereicherung seines Lebens empfindet. Sie bemühen sich eine Ehe zu führen und nehmen sich als mal mehr, mal weniger talentiert dazu wahr. Ausgerechnet nach einem belanglosen Streit stürzt ein Baum in ihr Haus, schickt Dorothy in den Tod und Aaron in einen Zustand der trauernden Agonie. Nur in kleinen Momenten, in denen die tote Dorothy “einfach so neben ihm auftaucht,in denen er ein Bewusstsein für ihre Gegenwart entwickelt”, helfen ihm, kurzzeitig zur Ruhe zu kommen.

Neben “dem Sammelsurium von Kriegs- und Lebenserinnerungen, die kein althergebrachter Verlag auch nur eines Blickes würdigen würde “ist Aaron auch Herausgeber einer Serie von Handbüchern für Anfänger. Witwer für Anfänger war leider nicht dabei, also muss Aaron selbst herausfinden, wie das geht: Weiterleben und auch für Anfänger eine Möglichkeit finden, sich zu verabschieden.

Wie viele ihrer Bücher spielt auch dieses in Baltimore, wo die Autorin ihren geerdeten Lebensmittelpunkt hat. Behutsam führt Anne Tyler den Leser in die Gefühlswelt eines ganz normalen Menschen. Eines Menschen mit ganz normalen Gedanken, Gefühlen und Wünschen. Anne Tylers Helden sind selten Genies, manchmal sind sie exzentrisch, aber immer liebenswert. Menschen, mit denen man gerne Zeit verbringt und mit denen man sich über den Moment freut, an dem sie ihr Glück finden. John Irving hat erst kürzlich in einem Interview bestätigt, dass seine Helden durchaus im Laufe der Jahre wiederkehren und sich in  seinen Romanen weiter entwickeln, wenn auch unter anderen Namen Dieses Gefühl hat man im Laufe der Romane auch bei Anne Tyler. Ich kannte die überfürsorgliche Schwester Nandina, ich kannte den Bauunternehmer Gil und auch von der Sekretärin Peggy habe ich nicht zum ersten Male etwas gelesen.

Aaron kannte ich nicht, aber ich habe ihn gerne kennengelernt. Seine heraufbeschworenen Visionen, seine Schuldgefühle, seinen Mut zur Wahrheit, seine Selbstgespräche und Dialoge, die gewonnene Einsichten offenbaren: “Früher war ich davon ausgegangen, dass wir beim Sterben herausfinden, worauf das Leben letztendlich hinausgelaufen ist. Ich hatte nicht geahnt, dass man das auch feststellen kann, wenn jemand anders stirbt.” und die ihn schlussendlich zu der einfachen, aber doch so schwer zu erfüllenden Weisheit bringen: “Wichtig ist also im Leben, gut achtzugeben”.. Anne Tyler ist ein emotionales, sehr bewegendes und befriedigendes Buch über Trauer, Verlust und die Wiederherstellung einer kleinen Welt, über Intimität und den Trost von Freundschaft und Familie gelungen.

Abschied für Anfänger ist das zweite Anne-Tyler Buch, dessen deutschsprachige Fassung im ambitionierten Kein & Aber Verlag erschien. Eine ihrer bewährten Übersetzerinnen hat sie dorthin mitgenommen, der Roman wurde von Christine Frick-Gercke sehr sorgsam übersetzt. Es kann nicht einfach sein, in einer Übersetzung den ganz speziellen Anne-Tyler-Tonfall zu treffen, von daher an dieser Stelle ein aufrichtiges Danke dafür.

Fazit: Abschied für Anfänger entwickelt sich zu einem tröstlichen “Weiterleben für Fortgeschrittene” .Uneingeschränkt empfohlen für alle, die Anne Tyler sowieso lieben und ob der Kürze und Prägnanz des Buches auch eine uneingeschränkte Empfehlung für alle, die gerne ein Anne-Tyler-für-Anfänger Buch lesen mögen.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Kein & Aber Zürich

Bettler und Hase

BettlerundHaseKapitalismus, internationale Kriminalität, Menschenhandel sind im Allgemeinen nicht gerade die Zutaten, aus denen Märchen gestrickt sind. Sie sind aber der Nährboden, aus dem die Sehnsucht nach ihnen erwächst. Die Sehnsucht nach wundersamen Begebenheiten, nach einer klaren Trennung von Gut und Böse, nach aufrechten, gerne auf den ersten Blick schwachen Helden, die Auseinandersetzungen mit heimtückischen Kräften überstehen und zum Schluß den Triumph über das Böse feiern. Solch ein Märchen hat Tuomas Kyrö, ein in seiner Heimat Finnland renommierter und preisgekrönter Autor der jüngeren Generation, mit Bettler und Hase geschrieben.

Sein Held, der rumänische Bettler Vatanescu möchte eigentlich nichts als ein arbeitsames, auskömmliches Leben führen und einmal in seinem Leben so weit kommen, dass er seinem Sohn die ersehnten Stollenschuhe kaufen kann. Gar nicht so leicht in einer Zeit, “in der Gott die ganze Welt verlassen hat und in die nächste Galaxie umgezogen ist.” Naiv und mutig zugleich vertraut Vatanescu dem Menschenhändler Jegor und lässt sich von ihm nach Finnland schleusen. Dort muss er die durch den Transfer entstandenen Schulden bei Jegor durch organisierte Bettelei abarbeiten. Hunger und Ungerechtigkeit lassen ihn aufbegehren und er macht sich alleine auf zu einer abenteuerlichen Odyssee durch Finnland. Lange bleibt er nicht alleine. Er rettet einen Hasen, der eigentlich ein Kaninchen ist und tut in der Folge gut daran, sich von diesem leiten zu lassen. Denn Vatanescu weiß nicht immer, “was er vom Tag bekommen wird. Oder was er ihm abnehmen darf.” Dafür weiß es aber das Hasen-Kaninchen und tut in kritischen Momenten immer genau das Richtige.

Auf ihrer gemeinsamen Suche nach dem Glück begegnen sie fleißigen Vietnamesen, kriminellen Ukrainern, trinkfesten Nudisten, verlieben sich in eine Zauberkünstlerin und baden die Folgen des guten Willens überambitionierter Polit-Aktivisten aus. Immer aber begegnen sie auch Menschen, die ihnen helfen, die es gut mit ihnen meinen und so wird Vatanescu zu einer Art finnischem Forrest Gump. Einem Forrest Gump 2.0. noch dazu, denn das Internet und seine sozialen Medienwege spielen eine nicht unerhebliche Rolle bei seinem Aufstieg. Ohne sich dessen bewusst zu sein, durchlebt Vatanescu auf seinem Weg den klassischen Karriereweg des kapitalistischen Way of dream. Vom Bettler über Tellerwäscher zum Beerensammler zum Bauarbeiter zum ….. das wird hier nicht verraten. Nur soviel: den weißen Ritter gibt der finnische Ministerpräsident, der in einer eigenwilligen Mischung aus Karrieregeilheit, Berechnung und wahrhaft empfundener Menschenfreundlichkeit die Rolle des Pragmatikers im Märchen besetzt. Ein Mann, der weiß, dass man “Rückenschmerzen nicht vom Arbeiten, sondern vom Buckeln bekommt” und danach lebt.

Es ist ein modernes Märchen, ein Schelmenstück aus einem fernen Land, welches Tuomas Kyrö vorlegt. Bettler und Hase wird in der Kritik oft mit dem “Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg” verglichen. Diesen Vergleich kann man ziehen, doch er stimmt nur bedingt. Bettler und Hase reiht sich zwar ein in die mit einem Augenzwinkern geschriebenen Road-Movies von Menschen am Rande der Gesellschaft. Aber Vatanescu ist wesentlich einsamer, fatalistischer, anspruchsloser, forrest-gumpiger als der Hundertjährige. Kyrös Buch setzt weniger auf Humor denn auf satirische Gesellschaftskritik und spürbaren Sarkasmus. Den Hundertjährigen las man mit einem wohlwollenden Schmunzeln, bei Kyrö weiß man trotz des utopisch visionären Happy Ends nicht, ob man lachen oder weinen soll. Dazu trägt sicher bei, dass die Geschichte nicht durchgängig aus Vatanescus Sicht erzählt wird, sondern auch Menschenhändler Jegor eine Stimme bekommt. Für Jegor beginnt mit dem Aufstieg Vatanescus der Abstieg in seiner kriminellen Organisation und er endet schließlich im Gefängnis, wo er mit seinen Memoiren beginnt und seinem Schicksal hadert, denn “Unsereiner hat auch erfolgreich Häschen in ganz Europa verkauft – wo ist da der Unterschied?” Schließlich ist seinereiner kein Opfer, er macht welche.

Trotzdem ist das Buch angenehm zu lesen, Kyrös Schreibstil ist ein entspannter. Gelegentlich überspitzt er, in Summe bleibt er aber charmant, was den Kontrast zu den geschilderten Mißständen nur umso deutlicher hervorhebt. Seine Sicht auf die Menschen bleibt warm und humorvoll. Ab und an schießt er damit übers Ziel hinaus, vor allem, wenn er auf sich selbst als den “allwissenden Erzähler” verweist. Das hätte er sich ruhig sparen können, an diesen Stellen entsteht der Eindruck eines eher halbherzigen Versuchs, das Ganze zusätzlich noch auf die derzeit so beliebte Meta-Ebene zu hieven. Hätte Kyrö, hätte das Buch nicht nötig gehabt. Unterm Strich ist Bettler und Hase ein ebenso scharfsinniges wie schräges Buch, eben ein modernes Märchen, welches seinen Auftrag durchaus erfüllt. Denn wie sagt es der weiße Ritter im Buch: “Die Verbindung von Weinen und Lachen gibt den Menschen Glauben und Hoffnung. Daraus besteht das Leben. Aus Träumen, Glauben, Hoffen.”

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Zehn Minuten und ein ganzes Leben

Zehn MinutenEine Frau liegt auf dem Sterbebett. Die Stimmen um sie herum blendet sie aus. Sie mag ihre eigenen Stimmen hören, ihre eigenen Bilder sehen. Die Bilder ihres Lebens. Sie braucht zehn Minuten, um siebzig fragmentarische Szenen ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge ablaufen zu sehen. Es werden die letzten zehn Minuten ihres Lebens sein. Die Zeit der Möglichkeiten ist endgültig vorbei. Die Szenen, die sie sieht, sind flüchtige Bestandsaufnahmen von der Kindheit bis ins Alter. Die Autorin Manuela Reichart schreibt in “Zehn Minuten und ein ganzes Leben” die Rückschau eines erschreckend banalen Frauen-lebens. Vielleicht kein Zufall, dass auch der Titel an den eher banalen, aber wirkungsvollen Slogan fürs Blutspenden erinnert.

Es ist kein außergewöhnliches Leben gewesen, an das die namenlose Protagonistin sich erinnert. Es gab Höhen und Tiefen, aber zumeist nur Höhen und Tiefen, die sie selbst in die Banalität der Ereignisse hinein interpretiert hat. Hauptsächlich erinnert sie sich an Männergeschichten, so gut wie alle gescheitert. Gelegentlich blitzen zwar Erinnerungen aus ihrem frühen Familienleben auf, auch aus der Kindheit ihrer eigenen Kinder, aber in der Relation sind sie selten. Selbst eine der allerersten Szenen aus ihrer Kindergartenzeit ist der Frau nur deshalb erinnerlich, weil eine vierjährige Rivalin ihr den Kindergartenfreund abspenstig machte. Ihre eigenen Kinder haben sie wohl enttäuscht, haben der Mutter nicht die erwartete Anerkennung, den erwarteten Dank erwiesen.

Sie erinnert sich an den Mann, der einstmals sogar mit Selbstmord drohte, wenn sie ihn nicht erhöre. Doch auch dessen Verehrung währte nicht ewig. Er schloß eine Ehe, die nicht auf ihren Stöckelschuhen daherkam, sondern “fest in den Gesundheitsschuhen” einer bodenständigeren Frau stand. So war auch “er ihr zum Verräter geworden”. Der Mann, den wiederum sie einst bis zum Wahnsinn verehrte, er erzählt beim Wiedersehen von seiner letzten Darmspiegelung. So geht es mit den Männergeschichten munter weiter und gipfelt schließlich in der Erinnerung an unbefriedigende Masturbationsversuche.

Ist es wirklich das, woran man sich am Ende eines Lebens erinnern will? Sind dies wirklich die Ereignisse, die bleiben? Im Klappentext steht “Es ging ihr immer nur um die Liebe”. War das wirklich so oder ging es ihr nicht vielmehr doch um die verzweifelte Suche nach Anerkennung? “Einen gescheiten Satz sollte jeder zurücklassen”. Das ist ihr dringendster Wunsch. Doch “hat sie ihn gesagt, hat man ihn gehört?” Manuela Reichart hat mit dieser kurzen Prosa kein Rührstück geschrieben, auch keines, welches an die viel beschworenen wirklich wichtigen Dinge im Leben gemahnt. Vielmehr zeigen ihre kurzen Fragmente, wie erschütternd wenig bleiben kann, wenn man am Ende seines Lebensweges angelangt ist. Als Leser empfindet man es bitter, dass diese Lebensrückschau sich in erster Linie mit der unbefriedigt gebliebenen Suche nach Anerkennung und Respekt beschäftigt. Es scheint wenig Gutes gegeben zu haben, an das die namenlose Frau sich erinnern kann.

Gleichwohl macht dieses Buch nicht traurig. Melancholie ist das äußerste Gefühl, welches die kühl und komprimiert geschriebene Prosa hervorruft. Die Autorin lässt den Szenen selten einen freien erzählerischen Lauf. Sie traut sich durchaus was mit diesem Buch, doch sie traut den Lesern zu wenig zu. Rasch und unbeteiligt analysiert Manuela Reichart lieber selbst. Gerade bei den Erinnerungen an Szenen aus dem Familienleben lässt sie kein Klischee gelten, sie entlarvt und verurteilt unerbittlich.

Am Ende jedes Fragments steht eine lakonische Zusammenfassung, die den Kern drastisch vor Augen führt. Die kurzen, komprimierten Texte bringen dem Leser jedoch nur wenige Einsichten. Vor allem die Männerfixiertheit als Priorität irritiert. Andere Geschichten werden nur angedeutet, obwohl sie eine wohltuende Abwechslung gewesen wären. So erfährt man nur an Rande, dass die Schwester, mit der sie den Anfang teilte, in der Mitte des Lebens unwichtig wurde und jetzt am Sterbebett die wichtigste Bezugsperson ist. Wieso und warum, das erfährt man nicht.

Aber nun – einen wichtigen Satz hinterlässt jeder. Die namenlose Sterbende hinterlässt eine Erkenntnis, die den Leser mit der im Unterton der Unzufriedenheit geschriebenen Rückschau versöhnt: “Klar ist am Ende nur eins. Man hat in all den Jahren viel zuwenig getanzt.” Dem werden wohl viele Frauen zustimmen.

(Die Autorin: Manuela Reichart lebt als Radio-Moderatorin und Autorin in Berlin. Den Lesern in NRW dürfte sie auch als langjährige Moderatorin von “Gutenbergs Welt” auf WDR3 bekannt sein).

Erstveröffentlichung dieser Rezension am 16.07.2012 in den Revierpassagen.de


Genre: Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Soap

SoapMichaelMeisheitEigentlich ist Lukas noch Student an der Film-Akademie, aber wie so oft liegt der Fehler im Eigentlich. Glückliche oder je nach Sichtweise unglückliche Umstände führen dazu, dass Lukas zum Drehbuchautor bei Deutschlands beliebtester und ältester Seifenoper Schöneberg avanciert. Dies setzt eine Ereigniskette in Gang, die Lukas bisheriges von Träumen rund um Hollywood und Sex geprägtes WG-Leben von links nach rechts dreht. Nun bestimmt das Räderwerk wöchentlich ausgestrahlter Serienfolgen seinen Alltag, Intrigen nehmen ihren Lauf und wo soviel erdichtete Liebe im Raume steht, ist auch die echte, wahre, einzige Liebe nicht weit. Aber bis diese zusammenfindet… ja, bis dahin muss Lukas so einige Schaumbäder nehmen und Seifenblasen hinterherjagen.

Lukas’ Schöpfer, Michael Meisheit ist eigentlich Drehbuchautor bei Deutschlands ältester Seifenoper, der Lindenstrasse. Aber wie so oft, liegt es am eigentlich. Denn uneigentlich strebt er eine zweite Karriere als Schriftsteller an, wohl auch um ab und an das enge Korsett wöchentlich zu sendender Folgen abzustreifen. Für seinen Erstling greift er auf seine gesammelte Erfahrungs-Schatzkiste zurück und liefert einen geschmeidigen Roman from the Inside of a Soap Opera. Einen Verlag hat er sich dafür nicht gesucht, Michael Meisheit ging den Weg des Self-Publishing und das gründlich. In sozialen Netzwerken kennt er sich aus, ist im Gesichtsbuch und im Zwitscherland präsent und freundlich kommunikativ unterwegs. Dazu gibt es seinen Blog, der schon lange viele, natürlich auch Lindenstrassen-affine Leser hat und mit all diesen Werkzeugen begab Meisheit sich an die Vermarktung seines ersten Romans. Die ersten Kapitel wurden vorab veröffentlicht, die Prinzipien des Crowd-Sourcing – sagen wir es vorsichtig – ausgetestet. Aufgeregte Blogleser und Lindenstraßenfans rissen sich um die Ehre, vorablesen und lektorieren zu dürfen, über die Namen der Hauptfiguren, sogar über den Preis konnte abgestimmt werden.

Soweit gut. Nicht gut hingegen, dass das Buch meine geweckten Erwartungen nicht erfüllt und mich streckenweise enttäuscht hat. Schon nach wenigen Kapiteln wusste ich wieder, warum ich Lindenstrasse schaue und nicht GZSZ oder was es sonst noch so gibt. Das Buch macht seinem Titel alle Ehre, gelegentlich meint man, die Seife aus dem Kindle rausquellen zu sehen. Dafür sind die Einblicke, die Soap in das Innere einer Seifenoper bietet, nur mäßig interessant. Da leisten die Einblicke im Lindenstrassen-Almanach bessere Dienste. Ähnlichkeiten mit Serienfiguren oder deren Darstellern sind – um allen Neugiernasen auch direkt diesen Zahn zu ziehen – nicht nur rein zufällig, sondern auch definitiv nicht vorhanden. (was ich persönlich allerdings positiv werte). Die Handlung empfand ich als banal, gefesselt hat es mich selten. Zeitweilig glaubt man, die wichtigsten Anliegen des Autors waren es, seinen Tagesablauf vor einem breiteren Publikum auszubreiten und endlich einmal das zwar originelle, aber moralisch fragwürdige Ende publizieren zu können. Wenn man sich bis zu diesem vorgekämpft hat, meint man auch die Antwort auf die Frage gefunden zu haben, die mich seit Anfang des Projekts interessierte. Warum hat er sich keinen Verlag dafür gesucht, er hat doch einen Namen, das wäre doch bestimmt nicht so schwer gewesen? Ich bin sicher, das Ende -welches ich hier nicht spoilern werde- hätte ihm jeder Verlag um die Ohren gehauen. Jeder Redakteur einer Soap Opera wohl auch.(Zum Glück. Bleibt mir das wenigstens visuell erspart.) Ist man also bis zum Ende vorgedrungen, stellt man fest, dass man die handelnden Personen leichten Herzens verabschiedet und ihnen keine Träne nachweint. Wenn überhaupt noch einer der Protagonisten interessiert, dann ist das Walter, der Produzent der Serie Schöneberg und zugleich der Einzige mit einem erkennbaren alter Ego.

Ich habe den Weg vom Projekt bis zum erschienenen Buch verfolgt und kann mich nur schwer des Gedankens erwehren, dass Meisheit in sein Self-Publishing und Marketing mehr Energie gesteckt hat als in das Schreiben des Romans selbst. Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun – schreiben kann er, leichtfüßig und gewandt. Das ist nicht der Kritikpunkt. Aber – nicht nur die flache Handlung, auch kleine Ungereimtheiten irritieren im Lesefluss. So bringt Meisheit ständig die Zeitebene seines Helden Lukas mit seiner eigenen durcheinander. Lukas im Buch startet z.B. gerade mal zur zweiten Storyline-Sitzung und berichtet schon wie ein alter Hase.”Vor einiger Zeit hatten wir” “noch nie hatten wir” sind ständige Formulierungen, die doch verwirrend klingen, wenn einer berichtet, der erst so kurz dabei ist. Dann erzählt Lukas aka Meisheit davon, wie sehr ihn die Cliffhanger nerven, die ein Markenzeichen der Serie sind. Nicht wegen der Cliffhanger an sich, sondern weil sie durch das Konzept der Handlung am immer gleichen Wochentag nur indirekt aufgelöst werden können Und was macht er? Knallt an die meisten Kapitelenden einen Cliffhanger a la Lindenstrasse und löst diese mit Vorliebe indirekt auf. Das dafür dann aber sehr routiniert, so routiniert, dass die vorstehend geäußerten Vermutungen naheliegend sind.

Aber nun, Soap ist ein Debütroman und macht zwischendrin auch Spaß, so ist es nicht. Meisheit war damit bisher leidlich erfolgreich und hat direkt E-Book-Nummer Zwei hinterher geschoben, diesmal in der Tat eine Anthologie gesammelter Beobachtungen aus seinem Alltag. Jan Weiler lässt grüßen? Ganz sicher hat er aus diesem Wagnis mächtig Erfahrungen mitnehmen können. Erfahrungen, die wir demnächst Sonntags-Abends um 18:50 nachvollziehen dürfen? Ich wage mal eine freihändige Prognose: Klausi Beimer ist das Hartz-IV Dasein schnell leid und geht demnächst unter die Self Publisher, um sein bisher unveröffentlichtes Buch nach Methode Meisheit zu pushen. Und Momo wird sein betroffenes Gutmenschengesicht aufsetzen und als oberster Bedenkenträger der Lindenstrasse Klausi mahnen, dass man doch seine Leser nicht so unverfroren einbinden könne. Darüber wiederum würde dann ich mich allerdings großartig amüsieren.

Zum Blog des Autors (u.a. auch mit weiteren Bezugsquellen) HIER entlang

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift

 


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Zehntelbrüder

Zehntelbrüder- Ruth Cerha Mischa, ein junger Wiener DJ und Radiomoderator hadert mit seiner  verworrenen Kindheit. In seinen ersten acht Jahren lebte er noch mit und bei seiner Mutter, doch diese verabschiedete sich öfter für ungewisse Zeit an einen ungewissen Ort und irgendwann vergaß sie das Zurückkommen ganz. In Folge lebte Mischa bei Exmännern seiner Mutter und Exfrauen seines Stiefvaters mit den unterschiedlichsten Geschwisterkonstellationen und so kam es, dass er für alle zum liebevollen, großen Bruder wurde. Er hat zwei Stiefbrüder, einen Halbbruder, etliche Nennbrüder und dann noch Lilli und Mila, seine Achtelschwestern, die Töchter der ersten Frau des Stiefvaters aus zweiter Ehe, anders ausgedrückt die Halbschwestern der Halbbrüder seines Halbbruders. Die Frage, ob man Verwandschaft wirklich in Brüchen definieren kann, stellt sich ihm früh.

Deswegen ist das mit der Liebe und erst recht mit einer möglichen Bindung auch nicht so einfach für ihn. Eigentlich ist er glücklich mit Hannah, doch als die Beziehung ernster wird und Hannah ihn ihrer Familie vorstellen mag, weigert er sich. Seine Familie ist ihm schließlich kompliziert genug. Hannah legt ihn und ihre Liebe daraufhin zunächst auf Eis und Mischa wird klar, dass für ihn die Zeit gekommen ist, sich seiner Vergangenheit und seinen Gefühlen zu stellen.

In Rückblenden erzählt Mischa von seiner chaotischen, aber nicht lieblosen Kindheit. Vom leiblichen Vater, der ein Träumer war, welcher keine Beschränkung seiner Träume duldete. Vom Stiefvater Janek, ein Mann wie aus einem Dostojewski Roman, der Mann, an dem sich alle in der weit verzweigten Familie abarbeiten. Er ist ein Mann, der sich nie ändert, allerdings ändert sich langsam der Blick, den Mischa auf ihn hat. Von Jenny, der seelenvollen Drittfrau des Stiefvaters, von Toni, der letzten großen Liebe des Stiefvaters, der Frau, die schließlich die ganze verworrene Familie zusammen hält.

Während er sich erinnert, schreitet die Geschichte in der Gegenwart voran. Jul, der blutverwandteste Bruder von allen, wird zum Problemkind, Hannah schwanger von einer Zufallsbekanntschaft und Mischas Leben auch dadurch nicht leichter, dass er sich während dieser Sendepause in Nella verliebt, die ihrerseits große Probleme mit einem Viertelbruder hat. Normalerweise ist Familie ein jahrhundertealtes Rezept, gar gekocht durch Jahre des Zusammenlebens, die Soße gebunden mit Blut. Doch Mischas Familie ähnelte eher einem Wok-Gericht. man schmniss einfach alles hinein, was man gerade zuhause hatte und von dem , was man nicht zuhause hatte, behauptete man, es gehöre gar nicht hinein.

Die Wiener Autorin Ruth Cerha hat die Zutaten für ein abgerundetes Rezept einer gut erzählten Geschichte gefunden. Sie lässt ihren Mischa die Geschichte klar, uneitel und ohne Sentimentalität erzählen. Sie findet eine leichte, fast schon musikalische Sprache, die den Leser die zugrunde Melancholie erahnen lässt, ihn damit aber nicht belastet. Geschickt bindet sie das Flair der Wiener Schausplätze in ihre Erzählung ein und entlässt ihre Leser mit der durchaus tröstlichen Gewissheit, dass Familie nicht immer etwas mit Blutsverwanschft zu tun hat und Verwandschaft eben nicht in Brüchen aufzurechnen ist. Am Ende ist Verwandschaft doch eher eine Primzahl. Unteilbar, undefinierbar und die Antwort, die man auf die Frage “Bist Du verwandt?” des jüngsten Zehntelbruders Max findet.

Eine wichtige Rolle im Buch spielt nicht nur der Wiener Schmäh, sondern auch die Musik. Der leibliche Vater ist ein erfolgloser Musiker, der seiner Musik trotzdem alles unterordnet. Die Schallplattensammlung des Stiefvaters gibt dem Buch seinen roten Faden und natürlich ist da Mischa, der leidenschaftliche DJ. Leider ist gerade hier einer von zwei Kritikpunkten. Die Bedeutung der Musik für den leidenschaftlichen DJ, dass er gerade dies und nichts anderes werden konnte, dass Musik das Medium war, welches ihn aufnahm und ihm Geborgenheit schenkte – da wäre mehr drin gewesen. Es ist, als ob ausgerechnet dort die Autorin, die auch ausgebildete Musikerin ist, sich bewusst zurückgenommen hat. Möglicherweise trug sie Bedenken, zu überschäumend zu wirken. Dabei trifft sie so oft gerade durch das Musikalische in ihrer Sprache mitten ins Herz. Etwas mehr Mut zur Euphorie wäre bei diesem Thema bestimmt belohnt worden.

Der zweite Kritikpunkt bezieht sich auf die dem Roman angehängten Gesprächsprotokolle. Lilli und Mischa sprechen im Laufe der Geschichte mit einigen Mitgliedern der weitverzweigten Wahlfamilien, um mehr Klarheit zu bekommen. Das wird thematisiert, aber die Protokolle der Gesprächen sind dem Roman hinten angefügt, noch nach dem Epilog. Für den Lese-Fluss der Geschichte wäre es sicher leichter gewesen, man hätte diese sukzessive in die Geschichte integriert. Erlauben diese Protokolle doch noch einmal einen anderen Blick auf so manche Charaktere, den man gerne auch schon im Laufe der Geschichte gehabt hätte. Außerdem hätte der Leser dann die Chance gehabt, den wirklich schönen, versöhnlichen Epilog länger für sich stehen und auf sich wirken zu lassen. Dennoch: Der Leser fühlt sich wohl in dieser Familien-Gemengelage und Mischa ist ein sehr liebenswerter Held. Die Geschichte von den Zehntelbrüdern ist eine ganz und gar nicht ausweglose Erzählung, ein Buch getragen von tröstlicher Melancholie.

Fazit: Lesenswert. Absolut. Für mich eins der Bücher, welches zunächst keinen Platz im Regal findet. Sondern auf dem Stapel der Bücher, die ich unbedingt noch ein zweites Mal lesen mag.


Genre: Romane

Back to Blood

Back to Blood von Tom Wolfe

Die Religion stirbt, aber an irgendetwas muss der Mensch glauben, der sich als Atom in einem Superteilchenbeschleuniger namens Universum erkennt. Darum gibt es nur eins: Zurück zum Blut, zurück zum Glauben an die Blutlinien, die durch unsere Körper strömen, meint Tom Wolfe in seinem letzten großen Roman, der den nahezu programmatischen Titel »Back to Blood – Zurück zum Blut« trägt.

Wolfe beweist seine These am Beispiel der Stadt Miami: Die Metropole in Florida besteht zu mehr als 50 Prozent aus Neueinwanderern, von denen angeblich jeder jeden hasst. Hier reiben sich die White-Anglo-Saxon-Protestants (WASP), Mitglieder eines schrumpfenden und bedrohten Stammes, der aber immer noch die wirtschaftlichen Fäden der Macht in Händen hält, mit eingewanderten Latinos – vor allem Kubanern, die gut aussehen, viel Geld haben, die Mehrheit der Bevölkerung stellen und die Stadt politisch kontrollieren.

Den Konflikt zwischen den weißen americanos und den anderen Bewohnern der Stadt illustriert der Autor in dem ihm typisch spitzzüngigen und eloquenten Stil am Beispiel des aus Kuba stammenden Polizeibeamten Nestor Camacho. Dieser »Gibraltar aus Trapez- und Deltamuskeln« ist bei der Harbour Patrol tätig und rettet einem kubanischen Flüchtling in Ausübung seines Dienstes mit einem halsbrecherischen Einsatz das Leben. Er klettert auf einen 20 Meter hohen Vormast eines Freizeitseglers, auf den sich der Asylant kurz vor Erreichen des rettenden Ufers geflüchtet hat, seilt den Mann unter Lebensgefahr ab, um ihn dann festzunehmen und »durch seine Abschiebung ins Verderben zu stürzen«, wie viele seiner Landsleute später sagen.

Durch seinen Einsatz zieht Camacho sich den Zorn seiner Familie und Landsleute zu, die ihn künftig ignorieren, und auch seine heiße Freundin Magdalena verlässt ihn. Lediglich der junge Reporter einer »weißen« Tageszeitung stellt seine mutige Tat objektiv heraus, und so wundert es nicht, dass sich zwischen dem von allen verlassenen Officer und dem WASP eine Freundschaft entwickelt. Gemeinsam gehen sie auf die Jagd nach einem Kunstfälscher, der möglicherweise in Beziehung zu einem russischen Oligarchien steht, in dessen Seidenbett eines Morgens auch die schöne Magdalena erwacht.

Nun ist bei einem Roman von Tom Wolfe eigentlich weniger die Handlung interessant als der Einsatz seiner stilistischen Mittel und die Zeichnung der Figuren. Wer »Fegefeuer der Eitelkeiten« oder andere Bestseller des 1931 geborenen Autors kennt, der weiß, dass der Autor gern in die Haut seiner unterschiedlichen Figuren schlüpft und aus ihrer Perspektive denkt, spricht und erzählt. Dies gelingt dem Mitbegründer des »New Journalism« mit dem vorliegenden Werk großartig. Wolf schildert dabei nicht nur die Gedanken und die materielle Welt seines Personals; er brilliert auch mit der Darstellung des unterschiedlichen, oft unterschwelligen Rassismus der unterschiedlichen Kulturen, die im täglichen Miteinander deutlich werden und sich auch sprachlich ausformen. Besonders reizvoll wird dies, wenn er die (oft schlüpfrigen) Gedanken seiner Akteure in Paranthese mit einblendet, um diese darauf meist wesentlich abgemildert oder diplomatischer aussprechen zu lassen.

Schon der kurze Prolog »Wir sind jetzt in Mii-ah-mii« des mit 765 Seiten durchaus umfangreichen Werkes macht die Meisterschaft des Autors deutlich. Am Beispiel einer dramatischen Parkplatzsuche vor Miamis Jahrhundertnachtclub des Monats schildert er so ziemlich alle Konflikte, die sich zwischen den unterschiedlichen Blutlinien auftürmen, und ich kann nur jedem empfehlen, wenigstens dieses Kapitel des Buches zu lesen, um einen Eindruck von der Sprachgewalt des Ausnahmeautors zu gewinnen.

Tom Wolfe schreibt milieudicht. Er schreckt auch vor drastischen Formulierungen und möglicherweise sexuell anstößig wirkenden Beschreibungen nicht zurück, wenn er den Sex auf goldenen Plexiglasstelzen durch Miami stöckeln lässt. Sein Roman ist eine opulente Gesellschaftssatire, die den so genannten amerikanischen Traum genüsslich seziert. Dabei schreibt der Kultautor derart spritzig, dass man den fast ein Kilo schweren Wälzer (ich beziehe mich auf die Hardcover-Ausgabe), der allein mit dem allerletzten kurzen Aussagesatz der Entwicklung der Geschichte einen unerwarteten und vollkommen neuen Kurs verleiht, keine Minute lang aus der Hand legen mag.

»Back to Blood« ist das sprachliche und stilistische Vermächtnis des am 14. Mai 2018 verstorbenen Wortartisten Tom Wolfe.

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Genre: Romane
Illustrated by Heyne München

Die besten Wochen meines Lebens

begannen damit, dass eine Frau mich verließ, die ich gar nicht kannte.

die besten Wochen meines Lebens..... Den Rekord für den längsten Buchtitel dürfte der französische Autor Martin Page damit wohl halten. Zum Glück braucht sich aber auch trotz etlicher Kritikpunkte der eher schmale Band, hinter diesem Mammut-Titel nicht zu verstecken. Mit diesem Roman ist dem Autor eine bittersüße und subtile Komödie gelungen.

Im Mittelpunkt steht Virgile, ein durch und durch neurotischer, hypochondrischer junger Mann aus der Pariser Werbebranche. Ein Stadtneurotiker, wie er im Buche steht. Virgile ist es gewohnt, von den Frauen, die er liebt, sitzen gelassen zu werden. Das kriegt er stets aufs Neue ganz wunderbar hin. Aber dieses Mal ist es irritierend anders. Auf seinem Anrufbeantworter findet er eine Nachricht von Clara, die ihm ihre gemeinsame Zeit aufkündigt und ihn verlässt. Dumm nur, dass Virgile sich überhaupt an keine Clara und schon gar nicht an eine Beziehung mit ihr erinnern kann. Zunächst sucht er -der erfahrene Hypochonder- die Erklärung in einer unheilbaren Krankheit, die ihn gewiss alsbald hinwegraffen wird. Er kündigt Strom, Gas, Telefon und wo er schon mal dabei ist, direkt die ganze Wohnung und geht auf Abschiedstournee bei seinen Freunden. Nachdem ihm aber alle Ärzte einwandfreie Gesundheit bescheinigen, erkennt er, dass ein Heilungsprozeß viel zufriedenstellender verläuft, wenn man gar nicht wirklich krank ist. So trifft er eine unerwartete Entscheidung: Er will diese Frau finden, für sich gewinnen und erobern, er ist sich sicher, er verpasst sonst die wahre Liebe. Abermals dumm nur, dass er darüber die ganzen voreilig ausgesprochenen Kündigungen vergisst und das Unheil seinen Lauf nehmen muss. So wird Virgile schliesslich zum abgedrehten Hauptdarsteller in einer noch abgedrehteren Geschichte.

Martin Page erzählt diese Geschichte sehr elegant und ohne jede Sentimentalität. Was er dabei aber nicht abstreifen konnte, ist der leicht prätentiös elitäre, dünkelhafte Hauch des Pariser Oberschichten-Intellektuellen. Die durchschimmernde Arroganz alleine schon daran erkennbar, dass er sich jedwede Beschreibung der Umgebung spart. Wer Paris nicht kennt, Pech gehabt. Braucht erst gar nicht hier mit Lesen anfangen. Aber – Paris ist die Stadt aller Städte, die wird ja wohl jeder kennen. Ebenso blasiert, dazu aber auch noch banal kommt Virgile daher. Es grenzt fast an ein Wunder, dass einem dieser sich hinter seinem Zynismus versteckende Charakter schon nach wenigen Seiten so ans Herz gewachsen ist, dass man ihn nur allzu gerne den Höhlenforscherhelm überstreifen sieht und ihn auf seinen solchermaßen ausgestatteten Streifzügen durch den Monoprix begleitet. Selbst die ewig zitierten Weisheiten von Marc Aurel nimmt man in Kauf, um ja bloß zu erfahren, ob es mit so einem wie Virgile noch ein gutes Ende nehmen kann. Denn bei aller Egozentrik ist Virgile kein Menschenfeind. Das zeigt schon sein chronisch schlechtes Gewissen, weil er meint, sich mit der Werbung maßgeblich an der Zerstörung der Welt durch Konsum zu beteiligen und seine ehrliche Sorge um das Wohlergehen seiner engsten Freunde.

Es ist ein eigenartiges Buch. Ich könnte ohne Ende rumkritteln. An der Geschichte, die sich manchmal überschlägt, manchmal aber seitenlang als höchste Abwechslung nur die Wahl der Getränke bietet. Rumkritteln an reichlichst aufgestoßenen Türen, die nicht wieder geschlossen werden, wenn sie überhaupt zeigen, was sich dahinter verbirgt. An dem Geheimnis, welches so unendlich trivial aufgelöst wird. Und am Ende bleibt dieselbe Erkenntnis wie bei einem Woody Allen Film: Man findet tausend Dinge, die einem nicht passen, die nerven und doch bleibt man gebannt sitzen, liest oder schaut weiter und muss zugeben, bestens unterhalten worden zu sein und sich ungerne von Virgile und seinen Freunden verabschieden zu wollen. Denn bei allen Kritikpunkten ist der Roman weit mehr als eine Stilübung. Mit Charme, trockenem Humor und dem Sinn für das Nicht-Erwartbare schafft es der Autor, den Leser in Virgiles Bann zu ziehen.


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

Mein letzter Mord

Cover Download, zur Verfügung gestellt von Dumont Buchverlag, Köln Es ist sein letzter Mord, die letzte Ermittlung, die ein alter niederländischer Polizist vor seiner Pensionierung noch durchführt. Einen ganz alten Fall hat man aus den Akten gekramt. Einen alten, ungelösten Fall, den der alte Polizist noch einmal neu aufrollen soll. Vielleicht ein letzter Versuch, diesen Fall noch zu klären, wahrscheinlicher aber der Versuch, den Polizisten auf seine letzten Tage vor dem Altenteil zu beschäftigen.

Der alte Polizist wählt einen ungewöhnlichen Weg, um den Fall zu lösen. Er versetzt sich in den Mörder hinein, geht dessen Wege gedanklich und real nach, besorgt sich eine Waffe, schläft mit dessen Witwe und schreibt darüber einen außergewöhnlich langen Ermittlungsbericht an seinen Vorgesetzten. Der Bericht ist nicht nur ein Bericht über die Ermittlungen, sondern vielmehr eine Lebensbilanz, die der Polizist zieht. Viel zu bilanzieren gibt es allerdings nicht, weder auf der Haben-, noch auf der Sollseite. Er war halt Polizist – “alles andere hat er vergessen zu tun”.

“Mein letzter Mord” ist das erste auf Deutsch erschiene Buch des Niederländers Marc Boog, ein im Nachbarland erfolgreicher und anerkannter Schriftsteller. Das Buch ist eher ein Essay als ein Roman oder gar ein Thriller. Eine Studie über den Versuch einer späten Selbstbefreiung. Es geschieht wenig in diesem Buch, dafür wird viel resümiert, erkannt, geschlussfolgert. Im niederländischen Literaturbetrieb hat man für diese Art Roman ein eigenes Genre erdacht, den “literaire thriller” und in der niederländischen Presse mutmaßt man nicht ganz zu Unrecht, dass es für dieses Genre schwer sein dürfte, über die Landesgrenzen hinaus Verständnis zu wecken. So verwundert es nicht, dass auch der niederländische Originaltitel den Leser schneller auf die richtige Fährte führt: “Ik begrijp de mordenaar” (ich verstehe den Mörder). Dem Autor geht es nicht darum, einen Fall zu lösen, sondern er möchte einen Mörder verstehen und erkunden, ob sich ein gewöhnlicher, ja langweiliger Mensch in diesen hineinversetzen kann.

In der Tat fällt es schwer, einen Zugang zu diesem Buch zu finden. Ik begrijp de mordenaar – man ist versucht zu sagen: “schön für ihn”. Aber wer begreift den Schriftsteller und das, was er uns damit sagen will? Der Mörder bleibt nebulös, spät kann man ein Motiv erahnen, seine Gedankengänge hingegen kann wohl nur der halbherzig ermittelnde Detektiv nachvollziehen. Aber auch das weiß man nicht sicher. Zu sehr vermischt sich dessen Lebenssicht, seine Wut auf verschenkte Lebenszeit mit dem, was er herausfindet. Zu keiner Zeit kommt der Leser diesem Polizisten nahe. Mehr noch, dieser Polizist – er interessiert einfach nicht. Zuviel Gejammer. Wie auch die anderen maßgeblichen Protagonisten bleibt er ohne Namen. Namen- und konturlos blickt er zurück auf ein Leben voller verpasster Chancen und er ergreift auch diese letzte Gelegenheit, aus seinem eigenen Schatten herauszutreten, eher zögerlich.

Auch Marc Boogs Sprache bleibt fremd und ist schwer zugänglich. Er formuliert wunderschön, aber konstruiert. Man hat den Eindruck, er betrachtet jedes Wort, dreht es um, stellt es mal hierhin, dann dorthin, solange, bis er zufrieden ist. So entstehen zwar Sätze, die für sich genommen gefallen und sicher auch nachdenkenswerte Wahrheiten beinhalten, doch als wahrhaftiger empfindet man den Roman dadurch nicht.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de, Cover zur Verfügung gestellt vom DuMontVerlag

 


Genre: Romane
Illustrated by dumont Köln

Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Abenteuer BankberaterWär schon schön, wenn man jemanden in seinem Leben hätte, der einen aus der Bredouille holt und rettet. Der ehemalige Bankberater von Tilman Rammstedt ist dieser Jemand anscheinend nicht. Dieser wäre am liebsten eine Salzstange und würde sich zu den anderen Salzstangen in den Einkaufswagen legen. Man kennt das.

Das Leben ist kompliziert geworden und keiner mehr da, der es einem erklären kann. Geschweige denn, dass Tilman Rammstedt wüsste, wie der Abgabetermin seines neuen Buches einzuhalten sei. Die Idee hat er: Er dichtet dem melancholischen Bankberater einen Überfall auf seine eigene Bank an. Dieser geht natürlich grandios schief, aber wie jetzt weiter? Das hypochondrische, an der Welt leidende Alter Ego Tilman Rammstedts kommt auf die nahe liegende Lösung: Hollywood. Dort sind sie doch zu finden, die Weltenretter – und wer könnte besser geeignet sein als der Experte für sechste Sinne und langsames Sterben, Bruce Willis, um in die Rolle des Bankberaters zu schlüpfen und dessen Schieflage zu begradigen? Beflügelt von seinem Lösungsansatz, setzt Herr Rammstedt sich an die Tasten und hackt ellenlange Mails an Herrn Willis hinein. Er bedrängt den Filmstar, umschmeichelt ihn, fleht und bettelt, wird zeitweilig beleidigend und nötigend. Bruce Willis jedoch antwortet nicht und Rammstedt beginnt zu fürchten, dass er sein Buch umbenennen müsse in “Die Abenteuer des Bruce Willis, die abrupt endeten, als er von einer Harpune durchbohrt wurde, weil er sich zu fein war, auch nur eine einzige Mail zu beantworten”

Tilman Rammstedts neues Werk Die Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters besteht aus diesen Emails, die sich mit Erinnerungen an seinen mittlerweile ehemaligen Bankberater abwechseln. Dieser Bankberater kennt zumindest die halbe Wahrheit und langsam beginnt Rammstedt einzusehen, dass dies doch so wenig gar nicht ist. Denn “das meiste war schließlich einfach und der Rest nicht so schwer”: Ein Baum ist wie ein Festgeld. Es muss fest stehen und langsam wachsen. Nicht mehr und nicht weniger. Der Bankberater steht dabei symbolisch für jeden, der beratend tätig ist und von dem die Leute erwarten, dass sie ihnen die Welt erklären, auch wenn das längst niemand mehr kann. Es hätte auch ein Steuerberater sein können, aber bei diesen lohnt es sich vielleicht nicht so sehr, wenn sie die eigene Kanzlei überfallen. Wer sich beim Titel des Romans Insiderwissen zur Finanzkrise erwartet hat, liegt völlig falsch. Dieses Thema kann man sich allenfalls dazu denken, man kann es aber auch lassen. Denn das ist nicht das Thema des Tilman Rammstedt. Genauso wie das Buch nichts mit Katzen zu tun hat, auch wenn eine auf dem Cover thront. Die Katze steht allenfalls für den toten Hund, der im Zweifel eine größere Hilfe ist als der Actionstar. Wen das irritiert, dem sei gesagt, das lernt man direkt als Anfänger bei jedweden sozialen Medien. Ohne sogenannten “Cat-Content” und Banken-Bashing geht heutzutage fast nichts mehr.

In diesem Buch findet sich ein ganzes Konglomerat derzeit erfolgreicher Literaturprinzipien. (Briefroman, die direkte Ansprache von Ikonen der Popkultur und Metafiktion – die Thematisierung von Fiktion der Geschichten und Charaktere). Vor allem das Prinzip der Metafiktion reizt Rammstedt bis zum Äußersten aus. Er schaltet sich nicht nur gelegentlich ein, sondern ist klar erkennbar der Ich-Erzähler, welcher von der Schwierigkeit berichtet, aus einer guten Idee einen Roman zu machen. Gerade, wenn der Abgabetermin näher rückt und Bruce Willis immer noch nicht geantwortet hat. Er tut dies nicht mitleidheischend, sondern durchaus gewitzt. Es ist ein großer Lesespaß, wenn er dem stummen Willis damit droht, jederzeit Hubschrauber auffliegen lassen zu können oder wenn er seinen eigenen Verlag inständig bittet, ihm aus dem gut bestückten Verlags-Fundus doch bitte ein Buch zukommen zu lassen, in dem ein Gefängnisausbruch erklärt wird. Die Emails haben deutliche Längen, da gerät der Autor gelegentlich ins Schwafeln. Doch die Einschübe mit den Erinnerungen an den Bankberater und dessen traurige Parabeln sind bei aller Lakonie sprachlich ungeheuer dicht und ausgefeilt. Bei aller Überspitzung ist Rammstedt da sehr nahe dran an der Realität.

Der Ausgang der Abenteuer bleibt ungewiss. Auf Seite 155 weiß Tilman Rammstedt noch nicht, an welcher Stelle der Geschichte er sich befindet. Auf Seite 999 verabschiedet er sich und wünscht Bruce Willis viel Glück. Leider haben es die Seiten 156-998 nicht mehr ins Buch geschafft und es bleibt somit der Phantasie des Lesers überlassen, ob Rammstedt sein so sehnlich erwünschtes glückliches Ende bekommt. Vielleicht hat er ja sogar statt Hollywood das Ruhrgebiet um Hilfe gebeten und Helge Schneider gefragt. Diesen hatte nämlich ich dauernd vor Augen, wenn es um den Bankberater ging. Warum auch immer. Sicher hätte Helge sich gemeldet und sehr wahrscheinlich wäre ihm auch etwas eingefallen. Auf jeden Fall hätte er verstanden, dass man “manchmal ein Ziel erst hinter sich lassen muss, um es zu verstehen.” So bleibt neben diesen Ungewissheiten noch die Frage offen: Werden wir je wieder einen Bruce-Willis-Film sehen können, ohne daran denken zu müssen, dass dieser Tilman Rammstedt im Stich gelassen hat?

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by dumont Köln

In One Person

Bill Abbot ist fast 70 und blickt zurück auf ein bewegtes Leben. Aufgewachsen in einem Provinzkaff in Vermont stellt er früh fest, dass er sich zu Frauen und Männern gleichermaßen hingezogen fühlt; wahrlich keine einfache Prüfung in den prüden und bigotten 50er Jahren. Seine Familie steigert die Verwirrung noch: Da gibt es den Großvater, der im ortsansässigen Theater vorzugsweise Frauenrollen spielt, den Vater, der unter mysteriösen Umständen verschwand und die Mutter, die unter der zerbrechlichen Schale harte Geheimnisse bewahrt.

Dennoch verleugnet er seine Vorlieben nicht und geht seinen Weg, kämpfend dabei nicht nur gegen die Vorurteile und Anfeindungen der Heteros, sondern ebenso mit dem Misstrauen der Homos. Hilfe und Unterstützung findet Bill dabei in der Literatur und so verwundert es nicht, dass er (wie so viele Irving-Helden) schließlich selbst Autor wird. Er findet viele Liebschaften (beiderlei Geschlechts) und einige Freunde, von denen allerdings etliche das AIDS-Zeitalter nicht überstehen. Bill bewahrt sich trotzdem seine Empathie und Menschlichkeit; er bleibt ein suchender Erkunder.

Es fällt nicht leicht, zu diesem Roman eine klare und stringente Inhaltsangabe zu liefern; zu umfangreich ist der Plot und zu ausschweifend Irvings Erzählstil. Geboten wird definitiv keine leicht verdauliche Kost, auch wenn des Autors feinsinniger Humor und seine Vorliebe für skurrile Charaktere (Bären gibt es diesmal keine, dafür wieder mal Ringer) durchaus ihren Platz finden. Andererseits gehen die minutiös geschilderten Leiden sterbender AIDS-Patienten tief unter die Haut, ebenso wie die Nöte der Homo-, Bi- und Transsexuellen in der freien Welt der USA.

Ich habe den Eindruck, John Irving schreibt seine Bücher mit zunehmendem Alter immer kompromissloser: Wenn in früheren Werken sexuelle Inhalte eher zurückhaltend angedeutet wurden, ist die Sprache jetzt explizit und lässt an Offenheit nichts zu wünschen übrig. Auch bei politischen Themen positioniert er sich inzwischen so eindeutig, wie er das kürzlich in Interviews vor der US-Präsidentenwahl getan hat.

Irving ist einer der Großen der Weltliteratur, das bestätigt er wieder einmal mit seinem neuen Roman. “In One Person” ist ein kraftvolles Buch mit vielen Facetten, mal heiter, mal tragisch, aber stets zutiefst anrührend. Der Autor überzeugt wie immer mit seinen Ideen und Anliegen, das wichtigste davon ist diesmal das überaus eindringliche Plädoyer für die Toleranz der Vielfalt.


Genre: Romane
Illustrated by Simon & Schuster

Er ist wieder da

Er ist wieder da - der RomanHätte mein Sohn dieses Buch schon gelesen, sein Kommentar wäre: “Was für eine kranke Scheisse!”. Nicht falsch verstehen, das ist in Jugendsprech derzeit ein Maximalkompliment. Die kranke Scheisse scheint auch anderen zu gefallen, seit Wochen ist Er ist wieder da -der Roman von Timur Vermes ganz oben in sämtlichen verfügbaren Bestsellerlisten.

Ein Mann erwacht orientierungslos auf einem Berliner Trümmergrundstück. Er braucht nicht lange, dann fällt es ihm wieder ein: Er ist Adolf Hitler, der selbsternannte GröFaz. Daran erinnert im Jahre 2011 allerdings lediglich seine Uniform. Keine Eva ist in Sicht, kein Reichsmarschall, kein Führerbunker und warum steht auf dem Rückenteil des unweit seines Erwachungsortes kickenden Hitlerjungen bloß Ronaldo? Es muss allerhand passiert sein, während er geschlafen hat – sogar die Achse Berlin-Ankara scheint endlich zu einem erfolgreichen Bündnis gekommen zu sein, stellt er schnell fest bei einem ersten Spaziergang durch die Reichshauptstadt. Das hätte er Goebbels gar nicht zugetraut. Derart ermutigt stellt er sich tapfer den Herausforderungen der neuen Zeit, begeistert sich schnell für die neuen Medien, gerät zufällig in ein Casting und reüssiert höchst erfolgreich als Fernsehstar mit einer eigenen Show. Nur dass er öfter mit diesem Stromberg verwechselt wird, das stört ihn schon noch etwas.

So geht es munter weiter im Überraschungserfolg des Herbstes. Vernes lässt Hitler als Ich – Erzähler agieren und nutzt diese Konstellation zu einem verbalen Rundumschlag gegen bundesdeutliche Wirklichkeiten. Wenn ein Autor als Adolf Hitler spricht, lädt das ja nun nachgerade dazu ein, ohne Rücksicht auf irgendwen oder irgendwas hemmungslos an nichts ein gutes Haar zu lassen. Ob es der feine Herr Rossmann ist, der zu fein ist, sich selbst hinter seine Ladentheke zu stellen oder dieser dilettierende schlitzäugige Gesundheitslehrling aus dem sogenannten Kabinett. Selbst die heiligsten Kühe unserer Republik werden so gnadenlos geschlachtet. Kleine Kostprobe? Vermes aka A.H. über Helmut Schmidt: “dieser Mann etwa hat absolute Narrenfreiheit und kann Blödsinn reden noch und noch. Man setzt ihn in einen Rollstuhl, wo er in ununterbrochener Reihenfolge Zigaretten abbrennt und …. die schlimmsten Allgemeinplätze verkündet…… dann stellt sich heraus, dass sich sein Ruhm lediglich auf zwei läppische Taten gründet, nämlich dass er im Fall einer Hamburger Sturmflut die Armee zu Hilfe rief, wozu man kein Genie sein muss, und dass er den entführten Schleyer kommunistischen Verbrechern überlassen hat, was ihm sogar gesinnungsmäßig entgegen gekommen sein dürfte.” Noch Fragen? So geht es das ganze Buch. Es gibt keine Klarstellung, nichts, es gibt nur die Sicht Adolf Hitlers. Die NPD kriegt ihr Fett übrigens auch ab, das sind für ihn nur halbgare verpickelte Jüngelchen, derer man sich schämen muss.

Natürlich ist es allerdünnstes Glatteis, auf das sich Vermes da begibt. Aber es hält. Er beherrscht die Gratwanderung, einerseits alles aus der Perspektive Hitlers zu schreiben, andererseits keinen Moment vergessen zu lassen, dass man hier Satire in den Händen hält. Natürlich ist es eigenartig, mit Hitler zu lachen und nicht über ihn, natürlich bleibt einem das Lachen ständig im Halse stecken, weil man sich so oft bei zustimmendem Nicken ertappt. Und natürlich ist es bei allem Witz, aller Schlagfertigkeit auch verstörend und erschreckend, wie plausibel der Roman rüberkommt.

Allerdings: Es ist aus berufenen Mündern zu hören, dass Timur Vermes den Duktus des A.H. sehr gut getroffen habe. Das ist sicher eine der Stärken des Romans, zugleich aber auch seine größte Schwäche. Denn mal Hand aufs Herz – alle political correctness, die ganze Thematik ruhig mal außer Acht gelassen, wenn A.H. ins Schwafeln geriet, war es definitiv ermüdend. Und genauso geht es einem im Buch immer wieder, dass man denkt: mach hinne, komm zum Punkt. Ich will wieder was Witziges lesen.

Fazit: lesenswert. Schon alleine, weil sich mit Timur Vermes endlich mal jemand traut, Adolf Hitler als das darzustellen, was er neben allem anderen wohl auch war: Ein attraktives, verführerisches Massenphänomen und dadurch zu zeigen, wie groß die Gefahr wirklich ist, dass ein Land so einem Wahnsinnigen jederzeit wieder erliegen könnte.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane