Die romantischen Jahre

Ingendaay“Und ist ihm sonst auch nichts gelungen, dann macht er in Versicherungen”. Hätte Marko Theunissen eine mit ähnlich klugen Lebensweisheiten gesegnete Omma gehabt wie ich, wäre ihm sicher das ein oder andere erspart geblieben. Ganz recht. Marko Theunissen. Der Held aus “Warum Du mich verlassen hast” begegnet uns in seinen romantischen Jahren wieder. Noch lange nicht erwachsen geworden, aber ins Erwachsenenleben integriert. Der Literaturstudent mit reichlich Flausen im Kopf ist nun Versicherungsvertreter. Oder auch Agent. Weil sich das besser anhört, befindet Joe, seine kleine Freundin aus der Nachbarschaft.

Paul Ingendaay erzählt in seinem zweiten Roman die Lebensgeschichte eines Mannes weiter, der nicht so genau weiß, was sein Lebenstraum ist und sich vielleicht genau deswegen nachgerade trotzig dazu entschließt, die Lebensträume und Risiken anderer zu versichern. Denn wie um alles in der Welt kann man Romantiker sein und doch Versicherungsvertreter an der gönne Kant des tiefsten Niederrheins werden? Wie kann es sein, dass einer zehn Jahre lang Literaturwissenschaften studiert, Bildungsreisen inclusive und sich plötzlich in der Ellenbogenwelt des vertriebsorientierten Kundensprechs, der Bonifikationen, der “Ich-hab-da-zwei-Leben-in-der- Anbahnung” – Abschlussgeilheit wieder findet? Während Theunissen in einer Branche, welche “hinreichend Platz für alle Gemeinheiten der Menschennatur bietet” , die Balance zwischen Überleben und Fairneß zu halten sucht, kämpft er gleichzeitig an den ältesten Fronten der Menschheit: Den Verflechtungen der Liebe und denen mit der eigenen Familie. Gewonnene Einsichten sowohl aus dem “Haifischbecken” der Versicherungsbranche als auch aus dem nicht minder bissigen Umfeld des Literaturbetriebs helfen ihm dabei..”Menschen neigen dazu, sich selbst als Einzelfall zu sehen und deshalb vom Schicksal eine Einzelfallsbehandlung zu erwarten.”

Ingendaay erzählt fabulierfreudig, mit der Sprache spielend, eine ganz normale Geschichte. Eine Geschichte, wie sie heutzutage wohl eher die Regel denn die Ausnahme ist. Eine Geschichte von Unentschlossenheit, von zerplatzten Lebensentwürfen, von verratenen Idealen und Selbstbetrug. Er erzählt sie liebevoll, von viel Verständnis für die sich so schnell in Schubladen stecken lassenden Menschen getragen. Er weiß, dass “je mehr Entscheidungen wir dann aber treffen, umso kleiner werden die Chancen auf einen ganz anderen Lebensentwurf”. Mit einem guten Gespür für Würde und Würdelosigkeit mischt der Erzähler sich mit feiner Ironie ein und lenkt die Dinge in eine zwar von Kompromissen getragene, aber durchaus befriedigende Richtung. Denn “das Schicksal schlägt auch nicht zu. Es hat ja keine Arme. Das Schicksal ist, was wir sind. Unser Schicksal ist die Summe unserer wechselnden Zustände in einem gegebenen zeitlichen Rahmen.”

Der Autor selbst nennt sein Buch “den Roman der verpassten Möglichkeiten”. Kennen wir das nicht alle? Der Klappentext verspricht “den Sieg der Möglicheit über die graue Realität”. Wünschen wir uns das nicht alle? Und tatsächlich schafft es unser Held, sein Leben nicht zum emotionalen Schadensfall werden zu lasen und es gelingt ihm mit etwas Glück und viel Chuzpe einem äußerst widerwärtigen Exemplar von Kollegen (kennen wir den nicht auch alle?) das Handwerk mit Hilfe von “Rosinenschnecken” zu legen. Sehr gelungenes Ende!

Marko Theunissen ist die meiste Zeit “glücklich immer nur gewesen ” und rettet sein Motto “Ich bin liebenswürdig, sinnenfroh, grausam und einsam” in eine Zukunft, von der hoffentlich weiter zu lesen sein wird. Ich für meinen Teil werde einige der ebenso klugen wie verqueren Einsichten des Herrn Versicherungsagenten behalten und ganz besonders das schöne spanische Sprichwort “Dar tiempo al tiempo” (Der Zeit muss man Zeit geben) zu beherzigen suchen.

Der Autor: Paul Ingendaay lebt seit 1998 mit seiner Familie in Madrid als Kulturkorrespondent der FAZ. Einem breiteren Publikum ist er nicht nur als Herausgeber der Gesamtausgabe von Patricia Highsmith bekannt, sondern auch als Autor der beliebten “Gebrauchsanweisung für Spanien”. Mit dem Alfred-Kern-Preis ausgezeichnet, hat er sich auch als Literaturkritiker einen Namen gemacht. Insofern freut es ganz besonders, dass Ingendaay mit den romantischen Jahren schon den zweiten exzeptionell guten Roman vorgelegt hat.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

In Zeiten des abnehmenden Lichts

RugeBereits 2009 bekam Eugen Ruge für sein Prosa-Manuskript den renommierten Alfred-Döblin-Preis. Nun liegt der fertiger Roman vor, bereits mit dem Aspekte Literaturpreis ausgezeichnet und auf der Shortlist des deutschen Buchpreises. Von Kritikern einhellig bejubelt, vom Otto Normal-Leser – zumindest von denen, die es sorgsam lesen und sich nicht nur ins Regal stellen, weil es ja das Must-have des Buch-Herbstes ist – eher zwiespältig beurteilt.

“In Zeiten des abnehmenden Lichts” erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Es darf vermutet werden, dass Ruge mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie bewahrt. Eine Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Der 1.Oktober 1989 ist die Klammer, die dieses Buch zusammenhält. Es ist der Geburtstag des Patriarchen Wilhelm – überzeugter Kommunist, der durch die Machtergreifung Hitlers einst mit seiner Frau Charlotte ins russische Exil, später in unbedeutende Geheimdienstmissionen gezwungen wurde. Dieser Tag wird aus der Perspektive jedes einzelnen Familienmitglieds erzählt – immer unterbrochen von szenischen Momentaufnahmen beginnend mit den frühen Fünfzigern bis hin zum September 2001. Wir erleben die Geschichte von Kurt, der als einziger Sohn überlebte – sowohl den zweiten Weltkrieg als auch den sowjetischen Gulag. Kurt, der zwar an die Veränderbarkeit der Welt unvermindert glauben möchte, der aber eher ein sich arrangierender Mitläufer denn überzeugter Parteifunktionär ist. Die Strahlkraft der politischen Utopie nimmt von Generation zu Generation weiter ab, über den unglücklichen, sich aber nicht engagierenden Enkel Sascha bis hin zum schließlich aufbegehrenden Ur-Enkel Markus.

Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Seltsam distanziert bleibt dementsprechend der Leser, zumal die ständigen Zeitsprünge und Perspektivwechsel ihm einiges abverlangen. Dazu kommt, dass Ruge sich des öfteren in kleinlichen Hakeleien verliert, die seinen Hass auf den realen Sozialismus klar zutage treten lassen und den Leser ohne detailliertes Hintergrundwissen leicht überfordern. Die Geschichte verliert in seinem Lauf viel vom furiosen Schwung der Anfangskapitel, zum Ende hin wird es gar mühsam. Man hat das Gefühl: Es reicht. Wir haben es jetzt verstanden. Wir brauchen nicht noch eine Drogenabhängigkeit, nicht noch eine tödliche Krankheit, nicht noch einen Streit, nicht noch eine demente Götterdämmerung, um die Botschaft des Buches entziffern zu können. Denn bei allem Verständnis bleibt doch die unbeantwortete Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderem System glücklicher geworden?

Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht “In Zeiten des abnehmenden Lichts” trotz der Kritikpunkte ganz sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Gleichwohl tut man meiner Meinung nach dem Autor keinen Gefallen, wenn man sich in großen Feuilletons dazu versteigt, hohe Erwartungen zu schüren und gleich die ostdeutschen Buddenbrooks heraufzubeschwören. Die Buddenbrooks (diese Bemerkung gestatte ich – die ich Thomas Manns Epos als eines meiner liebsten Bücher bezeichne – mir) sind das Maß aller Dinge und ich glaube auch in der Tat nicht, dass Eugen Ruge mit seinem Buch das ostdeutsche Komplementärwerk vorlegen wollte. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht.

Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. “In Zeiten des abnehmenden Lichts” ist sein Debütroman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Der Seiltänzer

goering seiltänzer
Die Abschaffung des Zölibats und Konsequenzen aus den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – das sind die Kernforderungen einer Aufsehen erregenden Predigt, die der Priester Andreas Wingert in seiner Gemeinde hält. Wochen später sieht er sich selbst mit Missbrauchsvorwürfen konfrontiert und steht unvermutet vor einem Scherbenhaufen. Klugen Rat und Hilfe erhofft er sich – wie so oft in seinem Leben – von seinem besten Freund Thomas. Doch dieser liegt ausgerechnet jetzt mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus.

Nach einem Besuch bei Thomas in Münster begibt sich Andreas auf eine Autofahrt kreuz und quer durch Westfalen. Diese Fahrt, von mehreren Anlaufstellen unterbrochen, wird insgesamt 5 Stunden dauern. In diesen 5 Stunden erinnert sich Andreas: An eine Kindheit und Jugend in der westfälischen Provinz, an die seitdem bestehende Lebensfreundschaft mit Thomas, an die gemeinsamen Erlebnisse ihrer Studienjahre in Berlin, Köln und Bonn, Wales und München. Danach schlagen die Freunde sehr unterschiedliche Wege ein. Thomas heiratet, gründet in Münster eine Familie und macht als Geisteswissenschaftler Karriere. Andreas hingegen geht ins Paderborner Priesterseminar und wählt die Kirche als Lebenspartnerin, “viel zickiger, viel strenger, viel unberechenbarer” als ein Ehepartner sein könnte, wohl wissend “dass es kein ungefährlicher Bund für ihn” ist. Schon immer fasziniert von den Ritualen der katholischen Kirche ist er sich sicher, dass der Glaube sein Sicherheitsnetz sein kann “über dem das Seil aufgespannt ist, auf dem er geht.”

Michael Göring erzählt in einer sehr klaren, fast nüchternen Sprache von Wendepunkten, vom sich Entscheiden müssen, von den Anfechtungen des Alltags, von religiöser Berufung und von der Gratwanderung eines Priesters. Er blickt dennoch liebevoll und wohlwollend auf seine Protagonisten und bewahrt seine Erzählung so vor einem bitteren Unterton. Göring selbst betont, dass er einen Entwicklungsroman habe schreiben wollen und keine theologische Streitschrift. Die Rückblenden beginnen in den frühen Siebzigern und werden mal aus Andreas’, mal aus Thomas’ Perspektive erzählt. Thomas übernimmt dabei den Part des Skeptikers und Mahners. Die Geschehnisse in der Gegenwart – (im Roman Frühjahr 2010) werden bis auf die allerletzte Seite ausschließlich aus der Sicht von Andreas erzählt und vermitteln ein sehr eindringliches Bild von Problemen und Anfechtungen, die in unserer Zeit sehr ungut in das Leben einzelner als auch der Gemeinschaft eingreifen. Die Missbrauchsvorwürfe sind zwar das vordergründige Thema, doch Michael Göring zeigt anhand des Konfliktes anschaulich, zu welch vergifteter Atmosphäre und zu welch verhärteten Fronten übereifriges Denunziantentum, Kollektivschuld und Generalverdacht führen können. Darüber hinaus vermittelt er in seinem Buch noch eine Erkenntnis, der nicht wenige aus täglichem Erleben heraus zustimmen werden. Kirche als Institution wird heute kaum mehr gehört und akzeptiert. Auch nicht von denen, die den Wunsch, ihren Glauben zu leben, noch nicht aufgegeben haben. Kirche ist für die meisten nur noch die Gemeinde vor Ort. Nicht mehr, aber eben doch auch nicht weniger.

Als Dreingabe neben all diesen “schweren” Themen macht der Autor sich aber auch noch um etwas anderes verdient. Auch wenn die Hauptschauplätze des Romans fiktive Namen tragen, Göring zeichnet mit wenigen Worten ein Bild der alten BRD und fängt die Atmosphäre des zweigeteilten Landes unverfälscht ein. Ein Unterfangen, um das sich noch nicht allzu viele Autoren verdient gemacht haben.

Zum Ende hin verliert der Roman etwas von seinem Schwung, die Dialoge auf den letzten Seiten wirken auf einmal gestelzt und zu bemüht. Auch das Ende selbst – es hat mir so nicht gefallen. Um es westfälisch zu sagen, es war mir zu verschwurbelt und passte nicht zur klaren Sprache des Buches. Ohne zuviel verraten zu wollen – es ist völlig in Ordnung und auch folgerichtig, wenn der Autor die allgemeingültige Lösung nicht geben will. Mir als Leser wäre es jedoch wesentlich lieber gewesen, er hätte sich klar zum offenen Ende bekannt.

Mein Fazit: Der Seiltänzer ist ein mutiges Buch zu einem brandaktuellen Thema, dem Erfolg zu wünschen ist. Nicht zuletzt verbunden mit dem Wunsch, dass die überfälligen Diskussionen in der katholischen Kirche wieder aufleben – wenn möglich auf einer sachlicheren und weniger von persönlichen Eitelkeiten geprägten Ebene als zuletzt. .

Der Autor Michael Göring leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT Stiftung Ebelin und Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus ist er Honorarprofessor am Institut für Kultur und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Der Mitte September erschienene Seiltänzer ist – nach vielen Fachpublikationen – sein erster Roman.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

In den Augen der anderen

Jodi PicoultWas ist normal und wer entscheidet das? “In den Augen der anderen ist Jacob Hunt alles andere als normal. In den Augen seiner Mutter ist es normal, ein besonderes Kind zu haben. Jacob selbst sagt “Normal ist nur eine Einstellung an der Waschmaschine”.

Als bei Emma Hunts Sohn Jacob das Asperger Syndrom diagnostiziert wird, eine autistische Störung, ist die Wissenschaft ungefähr auf dem Stand von Rain Man. Emma kämpft, lässt ihrem Sohn jede denkbare Therapie angedeihen und integriert seine besonderen Bedürfnisse in den Familienalltag. Routinen sind für ihn überlebenswichtig. Wenn Jacob nicht als erster duscht, ist der Tag nicht mehr zu retten. Wenn Jacob kein offenes Haar erträgt, dann macht Emma sich eben einen Pferdeschwanz. Wenn jeder Wochentag eine besondere Farbe haben muss, dann gibt es am weißen Dienstag eben Kartoffelpüree mit Reis. Wenn Jacob es leichter fällt, in Filmzitaten zu antworten, dann lernt man eben, dass “geschüttelt und nicht gerührt” das Äquivalent zu “Ja” ist. Emmas unermüdlichem Einsatz ist es zu verdanken, dass Jacob am Alltagsleben teilhaben, dass er zur Schule gehen und seine außergewöhnliche Intelligenz nutzen kann. Und sei es für ein obsessives Interesse an Kriminaltechnik. Was Emma nicht beeinflussen kann, ist die Wahrnehmung Jacobs in den Augen der anderen. Freundschaften sind nicht erzwingbar und wenn Jacob ein Außenseiter ist, nimmt sie in Kauf, dass auch sie aussen steht. Was Emma nicht rechtzeitig sieht und beeinflusst, sind die Auswirkungen von Jacobs Krankheit und des gelegentlich absonderlichen Familienlebens auf ihren jüngeren Sohn Theo. Eines Tages wird die junge Pädagogikstudentin Jess tot aufgefunden. Erschlagen? Vielleicht von Jacob, den sie mehrmals in der Woche betreute und für den sie erfolgversprechende Übungen für seine soziale Kompetenz entwickelt hatte? Schnell wird Jacob verdächtigt und die mühsam erkämpfte Normalität in Emmas kleiner Familie bricht zusammen. Jacob muss vor Gericht. Doch wie soll das gehen? Emma und ihr bislang nicht gerade durch fulminante Erfolge aufgefallene Rechtsanwalt Oliver nehmen den Kampf auf. Es geht darum, Jacob vor dem Gefängnis zu bewahren – aber auch um die Rechte von Menschen, die anders sind. Wenn auch nur in den Augen der anderen.

Jodi Picoult berichtet Jacobs Geschichte wie immer sorgfältig recherchiert. Der Leser wird erschöpfend mit Fachwissen über Autismus und das Asperger Syndrom versorgt. Teils zu erschöpfend. Weniger wäre in ihrem neuen Buch etwas mehr gewesen. Ein beherztes Streichen hätte nicht geschadet. Dennoch – der ungewöhnliche Held Jacob, die tapferen Mitstreiter und die Story entfalten genug Spannung, dass man sich auch in diesem Buch dem Sog von Jodi Picoults Erzählung nicht entziehen kann. Erzählt wird aus wechselnden Perspektiven. Der Leser erfährt jede Seite der Geschichte. Er weiß um die Nöte Emmas, aber auch um die von Theo. Er erfährt Hintergründe des Verbrechens vom ermittelnden Polizisten und vom Anwalt die genaue Vorbereitung des Prozesses und seine Führung. Aber auch die Gedankenwelt Jacobs und seine eigene Sicht der Dinge kommen nicht zu kurz. Der Beleuchtung des Themas von allen Seiten, aus aller Augen sozusagen tut dies ausserordentlich gut. Klar kristalliert sich heraus, wie Jacob auf andere wirkt, wie es zu Missverständnissen und Fehleinschätzungen kommen kann.

Die US-amerikanische Autorin Jodi Picoult hat sich beidseits des Atlantiks eine riesige Fangemeinde erschrieben. Ihre Bücher erscheinen zumeist pünktlich zum Leseherbst und sind sichere Bestseller-Garanten. Ihre Bücher folgen einem immer gleichen Schema. Sie verbindet das Drama brisanter Themen mit den Auswirkungen auf eine Familie, akribische Recherche mit moralischen Grundsatzfragen. Ihre Bücher siedeln zwischen Reportage und Roman, immer nahe an ihren Protagonisten und am Thema. Ob es nun um die minutiöse Aufarbeitung eines Amoklaufs geht (19 Minuten) oder um die Frage, ob ein Kind gezeugt werden darf, welches ein Leben lang als Knochenmarkspender für die leukämiekranke Schwester dienen soll. (beim Leben meiner Schwester) – immer legt Jodi Picoult den Finger zielsicher in die Wunden unserer Gesellschaft und legt offen, wie kompliziert menschliche Verflechtungen sein können. Auch wenn man nach jedem ihrem Bücher erschöpfend informiert ist zum jeweiligen Thema – es ist nie langweilig, immer spannend wie ein Thriller, bis sie am Ende dem Leser eine eigene Position abringt – die nicht zwangsläufig mit ihrer eigenen übereinstimmen muss.
Mich erinnern ihre dokumentarischen Romane immer ein wenig an die Readers Digest früherer Jahre. Oft wird – zu Recht – geklagt, dass Qualitätsjournalismus und vernünftige Reportagen selten geworden sind. Eine Geschichte wie die von Jacob hätte ich auch gerne in einem Magazin gelesen. Es scheint, als ob Jodi Picoult in die Bresche springt und diese warum auch immer freigewordene Lücke besetzt. Vielleicht sollte man den Erfolg von Jodi Picoult zum Anlass nehmen, Journalismus im 21. Jahrhundert noch einmal zu überdenken. Der Erfolg gibt Jodi Picoult recht und der Bedarf scheint da zu sein.

Fazit: In den Augen der anderen ist ein echter Jodi Picoult. Sorgfältig recherchiert. Sorgfältig dokumentiert. Man kriegt, was man erwartet. Ihre Fans werden es lieben. Ihre Kritiker werden wieder überheblich den Zeigefinger heben, dass man solche Themen doch nicht für reißerische Romane mißbrauchen könne – um damit zu überspielen, dass sie nur kritisieren, aber davor zurückscheuen, sich brisanten Themen fundiert zu nähern.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Die hellen Tage

Neun lange Jahre haben wir gewartet. 2002 wurde Zsuzsa Bank für ihren Debut-Roman “Der Schwimmer” gefeiert und mit Preisen überhäuft. Seit diesem Frühjahr liegt mit den “hellen Tagen” ihr zweiter Roman vor. Von den Lesern geliebt, vom Feuilleton zwiespältig bewertet.

helletage“Die hellen Tage” sind ein Buch über Freundschaft und Liebe, Verrat und Aufopferung, Heimat, über Verlust und brüchige Idyllen. Vor allem aber über die Sehnsucht nach hellen Tagen. Den hellen Tagen, mit denen alles angefangen hat.

Zsuzsa Bank erzählt die Geschichte dreier Familien und die Geschichte einer Lebensfreundschaft. Einer Freundschaft, einst zwischen drei Kindern geschlossen, die sich zum Zeitpunkt der Erzählung nicht erinnern können “an eine Zeit vor dieser Freundschaft, keine Vorstellung davon, wie sie ausgesehen haben könnten, die Tage ohne einander”.
Zsuzsa Bank erzählt von den Tagen miteinander, von dieser Freundschaft, die sie in einem Dreieck hält, aus dem sie sich nie lösen konnten und wollten. Von den Mädchen Siri und Aja, von dem Jungen Karl. Drei, die “lange aneinander gefädelte helle Kindheitstage verlebten, unbelastet von den Verschattungen, die sie doch schon ahnten.”
Sie erzählt von Ajas Mutter, der Seiltänzerin Evi. Evi, die anders war als die anderen Frauen im Dorf Kirchblüt. Deren Haus eigentlich eine Baracke war, aber ein in der Zeit schwebender Ort für die Kinder und ihre Mütter, wo die “Tage hell waren, wenn sie im Schatten der Bäume Grashalme zupften”.
Sie erzählt von Zigi, Ajas Vater, der als Trapezkünstler unter der Zirkuskuppel schwebt und nur wenige Wochen im Jahr präsent ist. Wenige Wochen, in denen sie eine ganz normale Familie sein können, in denen Zigi “mit seinen schiefen Zähnen und dem wirren Haar” Aja und Siri auf seine Schultern setzt und sie lange tragen kann, ohne müde zu werden. Sie erzählt die Geschichte von Evi und Zigi, die einst eine schmale Zeitschleuse nutzten, um über Nacht und ohne Abschied aus ihrem Zirkusleben in Ungarn zu fliehen und ihr Glück in Wanderjahren im freien Westen zu suchen.
Sie erzählt von Karl, dessen Leben von zwei Sekunden bestimmt und unabdingbar getaktet ist. Den zwei Sekunden, die sein Bruder brauchte, um in ein fremdes Auto zu steigen und für immer aus aller Leben zu verschwinden.
Sie erzählt vom gemeinsamen Aufbruch der Freunde nach Rom, der Suche nach einem Ort, an dem es nie schneite, einem Ort voller Licht und Wärme. Von den Fahrten dorthin, die sie andächtig zelebrierten, die Berge hinter sich lassend, den Süden begrüßend. Rom – ein Ort, der in Seris Vergangenheit schon einmal die Rolle der verlorenen Stadt übernahm und in dem sich auch für Seri, Aja und Karl ihre Lebenswege klären und entscheiden werden.
Sie erzählt von der sich entwickelnden Freundschaft der Mütter. Der Mütter, die das Dreieck stützen, die das trotz aller Verluste immer spürbare Glück der drei festhalten, die dafür sorgen, dass ihre Tage hell bleiben können.
Schliesslich erzählt sie die unerwarteten Wendungen in Ajas Leben. Aja, die übers Eis schwebend die Gabe hatte, den Schnee zu spüren, bevor er fiel. Aja, deren Fähigkeit zur Nähe sie eine wunderbare Ärztin werden liess. Aja, deren Idylle sich als die brüchigste erwies und die mehr noch als die anderen beiden das Freundschafts-Dreieck brauchte, um sich im Leben zu halten und den Schatten, die plötzlich über den hellen Tagen lagen, zu widerstehen

Wie in ihrem Debütroman sind auch “die hellen Tage” weitgehend ein Roman übers Erwachsenwerden. Anders ist die Sprache Zsuzsa Banks. Es kündigte sich schon in ihren zwischenzeitlich erschienenen Erzählungen an, die kurzen, klaren Sätze aus dem Schwimmer sind Vergangenheit. Von den hellen Tagen erzählt Zsuzsa Bank elegisch, fast schon poetisch, auf jeden Fall eigentümlich und unvergleichlich. Unwillkürlich fragt man sich, ob man wirklich ein Buch aus unserer Welt, aus unserer Zeit in den Händen hält. Auf jeden Fall ist es ein Buch, welches den Leser lange festhält, ihn nachhaltig begleitet.
Ein bisschen schwebt der Roman, so wie Evi über Seil und Aja übers Eis. Die Handlung wird nicht stringent erzählt, Bruchstücke aus der Vergangenheit verweben sich immer wieder mit der gegenwärtigen Erzählwelt. Zsuzsa Bank widersteht jeder Reflexion. In ihrem Buch gibt es Beziehungen, aber keine Gespräche oder Analysen darüber, es gibt Lebensgeschichten, Wahrheiten und Erkenntnisse, aber keine psychologischen Studien.
Mutig wagt sie sich an Gefühlswelten. Sie weiß, welchen schmalen Grat sie damit betritt. Sie hält ihren Stil und die Balance genau wie Evi auf dem Seil und schafft es – manchmal nur haarscharf – nie die Grenze zum Kitsch zu überschreiten.
Allen Verlusten zum Trotz, allen schmerzlichen Wahrheiten die Stirn bietend, zeugt dieser Roman vom möglichen Glück. Dem Glück, Freunde und Familie zu haben, die einen tragen und auffangen. Die es ermöglichen, die “hellen Tage zu behalten und die dunklen dem Schicksal zurückzugeben.”

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Der Besucher

Schauerroman? Gesellschaftsroman? Psychologische Studie? Die britische Autorin Sarah Waters gibt ihren Lesern einige Rätsel auf. Fest steht am Ende, der Besucher ist ein gut unterhaltender, ganz und gar nicht schauerlicher Schmöker.

Der BesucherHauptschauplatz des Geschehens ist Hundreds Hall, ein jahrhundertealtes, vom Verfall bedrohtes Herrenhaus im englischen Warwickshire. Auf der einen Seite haben wir die zum englischen Landadel gehörende Witwe Mrs. Ayres. Sie residiert mit ihren erwachsenen Kindern Roderick und Caroline auf Hundreds Hall. In den Jahren nach dem ersten Weltkrieg versuchen sie verzweifelt, den verwunschenen Familiensitz vor dem Verfall zu retten und einen einstmals als selbstständlich genommenen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite gibt es Dr. Faraday. Junggeselle und Landarzt, der sich mühevoll aus dem Arbeitermilieu hochgearbeitet hat. Seine Mutter war einst Kindermädchen bei den Ayres und behütete die unter ungeklärten Umständen um Leben gekommene Erstgeborene. Faraday war schon als Kind fasziniert von der prachtvollen, aber auch mystischen Erscheinung Hundreds Halls. Haus und Bewohner erschienen ihm wie aus einer anderen Welt und begründeten seine lebenslange undefinierte Leidenschaft für Hundreds Hall.
Eines Nachts wird der Arzt zum Herrenhaus gerufen. Er nutzt die Gelegenheit, den Kontakt zur Familie zu begründen. Auch wenn sie aus unterschiedlichen Schichten stammen, eine entscheidende Gemeinsamkeit haben Faraday und die Familie. Sie alle suchen ihren Platz in der veränderten Gesellschaft des Nachkriegsenglands. Dr. Faraday wird bald zum Vertrauten der Familie, fühlt sich zugehörig und übernimmt – teils ungebeten – Verantwortung für Hundreds Hall und seine Bewohner. Schon bald erfährt er von seltsamen, unerklärlichen Vorgängen. Es beginnt mit sich verschiebenden Gegenständen und Möbeln, kryptischen Zeichen, die plötzlich an den Wänden auftauchen und unerklärlichen bedrohlichen Geräuschen im Haus und endet schliesslich in Bränden, versuchten und gelungenen Selbstmorden. Der Mann der Wissenschaft versucht, immer wieder natürliche Erklärungen zu finden und drängt die Familie zu unglücklichen Konsequenzen. Der Sohn wird in die Obhut eines Irrenhauses gegeben, doch es hilft alles nichts. Die Schicksalsfäden der Familie sind gezogen und umspannen die Familienmitglieder sowie den Herrn Doktor einen nach dem anderen unerbittlich und ausweglos.

Sarah Waters ist eine preisgekrönte britische Schriftstellerin, die vor dem Besucher vor allem mit Büchern aus dem lesbischen Milieu Aufmerksamkeit erregte. Mit dem nun vorliegenden Roman, erst der zweite ins Deutsche übersetzte, wagt sie sich erstmals in Mystery Gefilde. Sie erzählt die Geschichte gekonnt, ihre flüssige Sprache verdichtet die Ereignisse und bringt dem Leser so die gesellschaftlichen Umstände jener Zeit nahe. Sie lässt sich Zeit, beschreibt detailverliebt die Schauplätze und charakterisiert ihre Protagonisten psychologisch fundiert. Zugegeben, der Spannungsbogen leidet darunter. Das dürfte aber nur denjenigen stören, der einen Horror-Roman in schnellem Tempo erwartet. Meinem Empfinden nach hebt genau dies den Besucher über das Level einer reißerischen Horrorgeschichte hinaus und bestärkt meine Vermutung, dass die Intention der Autorin eher ein Gesellschaftsroman war. Ein Roman, der die Elemente des Schauerromans verstärkend nutzt, um die Geschichte eines schauerlichen Untergangs zu erzählen.

Ich habe mich gut unterhalten, auf mehr als 500 Seiten fein geschmökert und mich anschließend beim Lesen diverser Buchbesprechungen im Netz bestens amüsiert. Da waren sie wieder alle. Die sofort schreien, wenn Fragen offen und Lösungen ungeklärt bleiben. War es nun a) Wahn oder doch b) ein Poltergeist? Es wird diskutiert, man erregt sich, die Diskussion verselbstständigt sich und übersieht das, was wirklich geschrieben steht. Ohne allzu viel verraten zu wollen, weise ich zum einen dezent daraufhin, dass dieses Buch einen Titel hat und dieser Titel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zufällig gewählt wurde. Des weiteren verweise ich auf das Gespräch zwischen Dr.Faraday und dem Kollegen Seeley über die Theorie des Kräfte freisetzenden Traum-Ichs und schlussendlich auf die Traumsequenz Faradays (übrigens der Name!! Nachtigall und so…. ) in der letzten Katastrophennacht sowie seine epischen selbstberuhigenden Rechtfertigungen zum Ende des Romans! Bleibt als offene Frage, ob Mrs.Waters sich nicht heimlich auf ihrer Insel amüsiert, weil keiner Lösung C diskutiert ?

Mein Fazit: Mit dem Besucher begibt man sich auf eine schaurig schöne Reise. Ein Schmöker, wie gemacht für lange Winterabende, aber auch durchaus okay für faule Urlaubstage.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Super Sad True Love Story

Die ganz nahe Zukunft in den USA: Wirtschaftlich spielt die einstige Supermacht keine Rolle mehr, dafür stecken sie nach einer Invasion in Venezuela auch militärisch gehörig in der Bredouille. Ein Euro kostet mehr als acht Euro und Leitwährung ist längst der Yen; als mächtigster Mann der Welt gilt der chinesische Generalbanker.

Lenny Abramov, der reichlich naive Sohn jüdisch-russischer Immigranten, literarisch interessiert und wahrscheinlich der letzte Tagebuchschreiber Amerikas, kehrt nach einem einjährigen Auslandsaufenthalt in Rom zurück nach New York und muss schon bei der Einreise feststellen, dass das politische Klima rauer geworden ist: Polizei und Militär prägen das Stadtbild. Doch Lenny hat andere Dinge im Kopf; ist er doch frisch verliebt: Eunice Park heißt die Angebetete, eine wesentlich jüngere Frau koreanischer Abstammung mit familiären Problemen, die bald zu ihm zieht und das Glück zunächst perfekt macht.

Allerdings plagen Lenny auch Probleme, denn er ist 39 und gehört in einer Gesellschaft, die dem Jugendwahn frönt, längst zum alten Eisen. Seine Arbeit für einen Konzern, der den Superreichen Lebensverlängerung verspricht, konfrontiert ihn täglich mit dieser Tatsache und auch die jungen Konkurrenten im Job setzen ihm gehörig zu. Und so taumeln Lenny und Eunice in eine fragile Beziehung, während sich um sie herum die ökonomischen und politischen Krisen zuspitzen und die Ausgestoßenen der Gesellschaft zu rebellieren beginnen…

Gary Shteyngart zeichnet durchaus überzeugend ein düsteres Zukunfts(?)bild der Vereinigten Staaten, die sich als Folge der nachhaltigen Wirtschaftsturbulenzen zu einer Mischung aus Polizeistaat und Militärdiktatur entwickelt haben. Da man sich den Gläubigern aus Europa und China in strahlendem Glanz präsentieren möchte, sind Säuberungsaktionen beim unterprivilegierten Teil der Bevölkerung an der Tagesordnung, während diejenigen, die noch Arbeit haben weitgehend mit sich selbst beschäftigt sind.

Mit ihren „Äppäräts“ genannten Kleinstcomputern werden permanente Rankings erstellt, gemessen wird dabei alles Erdenkliche, neben Kreditwürdigkeit auch die wirklich wichtigen Dinge wie personality und fuckability. Weiterer unabdingbarer Bestandteil des Daseins ist das GlobalTeens-Network (eine Art überdimensioniertes Twitter), mit dem rund um die Uhr Belanglosigkeiten in alle Welt geblasen werden. So feiert der Analphabetismus fröhliche Urständ, Bücher sind verpönt und auch deshalb ist Lenny, der seine Wohnung mit Literaturklassikern gefüllt hat ein Außenseiter, ein stiller Rebell. Doch auch eher unpolitische Menschen wie er und Eunice können sich nicht entziehen der normativen Kraft des Faktischen.

Der Autor selbst begegnet diesem geschilderten Verfall der Sprache und Kultur mit sorgfältigen und präzisen Formulierungen, bisweilen poetisch, aber nie antiquiert. Der Roman ist aufgebaut aus sich abwechselnden Tagebucheinträgen (Lenny) und Textnachrichten (Eunice); ein gekonnt eingesetztes Stilmittel, das die Gegensätze des ungleichen Paares verdeutlicht, denn „Super Sad True Love Story“ ist trotz aller implizierten Kritik an den realen oder fiktiven politischen und sozialen Verhältnissen eben auch eine Liebesgeschichte. Es kommt nicht allzu oft vor, dass ich unseren Feuilletonisten uneingeschränkt zustimme, aber hier ist die Euphorie angebracht, das Buch sollte man gelesen haben.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Elf Leben

MarkWatson
“Überschätzen die Leute, was sie verändern können oder unterschätzen sie es?” Um diese zentrale Frage menschlichen Daseins dreht sich ein kluges, überraschendes Buch des Briten Mark Watson. Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Sturm entfachen oder jeder kennt jeden um höchstens 6 Ecken. Diese Theorien sind nicht neu, Wissenschaftller aller Couleur und sogar soziale Netzwerke wie Xing mühen sich, den Beweis dafür zu erbringen. Neu ist, dass ein Autor den Versuch wagt, sich dieser Theorien literarisch anzunehmen. Mit Elf Leben ist Mark Watson mehr als das gelungen.

Xavier Ireland ist der Domian Großbritanniens. Moderator einer nächtlichen Radiosendung, in der Menschen anrufen, die schlaflos in London ihre Geschichten wälzen und sich von Xavier die Lösung ihrer Probleme auf einem Silbertablett erhoffen. Xavier hört ihnen zu, agiert jedoch mehr am Rande dieser Geschichten. Wohl gibt er Hilfestellung, aber er mischt sich nicht ein. Der Leser vermutet schnell, dass dies mit seiner eigenen Geschichte zu tun hat. Wenig gibt er von sich preis. Gerade soviel, dass man weiß, Xavier ist in Australien aufgewachsen, er hatte dort Freunde und eine große Liebe – um von einem auf dem anderen Tag wegzugehen und auf einem fernen Kontinent unter neuem Namen ein neues Leben zu beginnen, als eben jener Radiomoderator. Erst die Begegnung mit der exzentrischen, vor Leben sprudelnden Pippa, die trotz ihres eigenen Schicksals nie aufhören kann, sich einzumischen, die Xavier zunächst nur widerstrebend als Putzfrau in sein Leben lässt – erst diese Begegnung und die aufkeimende Liebe brngt ihn dazu, sich seinem Leben und seiner Vergangenheit zu stellen. Eine Entscheidung herbeizuführen, was er mit seinem Leben wirklich anzufangen (ver)mag. Soweit der vordergründige Plot. Im Hintergrund kreuzen sich zehn weitere Lebenswege. Mit Xavier sind dies die titelgebenden elf Leben, deren Schicksale unausweichlich miteinander verbunden sind. Sie werden sich nie begegnen, nie voneinander erfahren, aber das Handeln Xaviers, besser gesagt, sein Nicht-Handeln bleibt nicht ohne Einfluss auf die Schicksale dieser Menschen und sein eigenes.

Die eingangs gestellte Frage beantwortet diese Buch mit einem klaren “Du kannst das Leben von jemand ändern, ohne es überhaupt zu wissen. Es ist viel einfacher, Dinge zu wissen, als sie zu beherrschen..” Im Roman werden die elf Schicksalsfäden zusammengeführt, es schliesst sich ein Kreis. Anders und bestürzender als gedacht und erhofft. Dem Leser bleibt die Hoffnung, dass das Leben “Begnadigungen in letzter Minute” gewährt und der Kreis ein Schlupfloch lässt.

Elf Leben ist ein kluges, tief beeindruckendes und lange nachwirkendes Buch. Anspruchsvoll ob der vielen sich kreuzenden Geschichten und handelnden Personen schafft der Autor den Spagat zwischen Leichtigkeit und Tiefsinn. Den Leser stößt er in ein Wechselbad der Gefühle – charmante, feinfühlige Momente und scharfsinnige Beobachtungen lassen ihn lächeln und Tränen blinzeln zugleich. Er gibt ihm keine Lösungen mit auf dem Weg, aber viele Denkanstöße. Mark Watson schreibt, als wäre ihm die Geschichte mit Leichtigkeit aus der Feder geflossen, als hätte er nur notiert, was das Leben ihm diktierte. Nicht wenige Kritiker zogen den Vergleich zu Nick Hornby, ich finde ihn zu bemüht. Hornbys Geschichten sind wie aus einem Guß, ein melancholischer Unterton schwingt immer mit. Bei Mark Watson ändert sich der Ton, als er beginnt, die Tragödie des Xavier Ireland zu erzählen und trotz der Dimensionen dieser Ereignisse und dem überraschenden Ende verliert das Buch nie seinen optimistischen Unterton. Watson findet eine eigene Sprache für seine Geschichte, lakonisch und stilvoll zugleich. Manche Sätze sind so leicht, aber pointiert, dass man erst locker über sie hinweg liest, um nach einem kurzen Innehalten nachdenklich und tief berührt zu ihnen zurückzukehren. Lange wiegt er den Leser in falscher Sicherheit. Vom leichten Ton der ersten Hälfte getragen, war ich mir ziemlich sicher, welcher Art das große Geheimnis ist, welches Xavier umgibt. Aber – selten so daneben gelegen. Die zugrunde liegende Tragödie ist alles andere als lapidar, sie ist vielmehr in der Tat ein Grund dafür, dass ein Mann so aus der Welt fallen kann wie unsere Hauptfigur. Zusätzlich stockt dem Leser irritiert der Atem, wenn Watson den Kunstgriff anwendet, by the way der Zukunft vorzugreifen. So endet eine entscheidende Begegnung mit der simplen Feststellung “Sie gaben sich die Hand. Zwei Männer, die sich nie mehr wiedersehen werden”. So, als ob doch schon alles vorherbestimmt und auch durch Einmischen nicht mehr zu ändern wäre. Ebenso überraschend endet der Roman nicht an der Stelle, wo der Leser es erwartet hätte. Watson schreibt es auch noch ganz deutlich “Hier könnte die Geschichte enden”. Doch das tut sie nicht. Genauso ist das Leben eben nicht. Es ist nicht wie die Scrabble-Turniere, mit denen Xavier seine Sonntagnachmittage verbringt.

Mein Fazit: Den Wert der Buchstaben in Elf Leben hat Watson definitiv mehr als verdoppelt. Ich empfehle dieses sehr besondere Buch – selten genug – uneingeschränkt.

Der Autor: Mark Watson ist ein in England sehr beliebter Romanautor, Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator und Stand-Up Comedian. Studierter Literaturwissenschaftler und Umweltaktivist, ausserdem als Blogger noch einer von uns. Elf Leben ist sein erstes in Deutsche übersetze Buch. Ich für meinen Teil hoffe inständig auf weitere.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Eichborn Verlag

Die Pfeiler des Glaubens

Die Pfeiler des Glaubens Mit Spannung erwartet. Der zweite Roman des Spaniers Ildefonso Falcones. Hält der Roman, was uns Falcones mit der “Kathedrale des Meeres “versprach ? Meiner Meinung nach ein entschiedenes NEIN: Ich war enttäuscht, ich habe mich gelangweilt, ich war mehrmals kurz davor, einfach nicht mehr weiterzulesen.

Falcones begibt sich diesmal ins Andalusien des Jahres 1568. Nach Jahren der Unterdrückung erheben sich die spanischen Muslime gegen ihre christlichen Peiniger. Unter den Aufständischen ist auch der junge Maure Hernando, der sein Volk und seine Kultur vor dem Untergang retten will. Doch die Revolte wird bald zum blutigen Glaubenskrieg, und angesichts der von beiden Seiten begangenen Grausamkeiten wächst in Hernando das Bedürfnis nach Frieden und Aussöhnung der Religionen – ein Ziel, dem er fortan sein Leben widmet.

Holzschnittartig konstruiert Falcones eine Geschichte, in der seine Protagonisten mal in die Berge, mal aus den Bergen, mal ans Meer, mal übers Meer flüchten, mal in der Kathedrale beten, mal in der Moschee, mal zuhause. Keine der Figuren erwacht zum Leben, keine wächst einem ans Herz. Die schier unglaubliche Detailfülle, mit der der Roman überfrachtet ist, hilft nicht im Geringsten. Das Buch verliert sich in unübersichtlichen und z.T. uninteressanten Einzelheiten, denen schwer zu folgen ist und erzeugt alsbald ein Gefühl des Überdrusses. Schade. Ich hatte mich gefreut auf diese Lektüre, war ich doch schon mehrmals in Granada und Cordoba, den Hauptschauplätzen und habe vieles noch genau vor Augen.

Falcones hat sich zuviel vorgenommen: den moralischen Zeigefinger heben, eine detailgetreue Abhandlung über geschichtliche Abläufe, eine Liebesgeschichte, und noch eine Liebesgeschichte, am besten direkt vermittels dieses Buches die bis heute zerstrittenen Religionen versöhnen, dazu noch dem Leser ein bißchen was über frühe Stierkämpfe uind die Anfänge der stolzen , spanischen Pferdezucht beibringen – 900 Seiten, die zwar einen roten Faden haben. Aber einen Faden, den man sich als Leser allzuoft wieder selbst zusammenrollen muss, 900 Seiten, in denen keine Spannung erzeugt wird, 900 Seiten, ohne dass ein Funke überspringt. Schade. Die Kathedrale des Meeres war so ein tolles Buch. Der Autor ist wohl wie so viele vor ihm an seinen eigenen Erwartungen und denen der Leser gescheitert.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Bertelsmann München

So viel Zeit

51l+gGmt2XL._SX314_BO1,204,203,200_Sagen, wie die Dinge sind. Klartext reden. Gerader Blick und offene Worte. Dafür sind wir berühmt berüchtigt. Wir hier im Ruhrgebiet. Geliebt, lange auch schon über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus ist dafür “unser” Autor Frank Goosen.
Sein nach meinem Dafürhalten bestes Buch legte er vor zwei Jahren vor: “So viel Zeit”. Vor einigen Wochen nun legte ich dieses Buch dem geschätzten Mit-Rezensenten Ulrich Kretzler mit innigen Worten an sein Herz. Zu meiner Freude empfand er es genauso.

Bei Frank Goosen ist Fünf die magische Zahl, um Gefühle und Erinnerungen in den Griff zu bekommen.
Bei uns ist es die Zwei. Denn nun folgt: unsere gemeinsame Rezension zu diesem wunderbaren Buch. So viel Zeit muss jetzt einfach sein.

(Britta Langhoff in ruhrigem Schwarz, Ulrich Kretzler in bayerisch blau)
Konni, Bulle, Rainer und Thomas sind alte Bochumer Schulfreunde, die sich als inzwischen gestandene Mittvierziger mehr oder weniger eingerichtet haben in ihrem alltäglichen Leben, ohne jedoch selbst so richtig von dem überzeugt zu sein, was sie da tun. Allerlei Beziehungs- und andere Krisen tun ein Übriges, um nagende Zweifel zu schüren und so bleiben die regelmäßigen Doppelkopf-Abende einzige Konstante der gemeinsamen Freundschaft. Während einer dieser nicht immer harmonisch verlaufenden Veranstaltungen beschließen die vier – auch im Hinblick auf das bevorstehende 25-jährige Abiturtreffen – zu vorgerückter und feuchtfröhlicher Stunde eine Rockband zu gründen und sich so einen vermeintlichen Traum der verlorenen (?) Jugend zu erfüllen.

Gesagt, getan: Zügig werden die nötigen Instrumente (samt Roadie) erworben und allen Widerständen im jeweiligen persönlichen Umfeld zum Trotz die unvermeidlichen Übungen und Vorbereitungen aufgenommen. Die handwerklichen Grundlagen eignen sie sich vergleichsweise rasch an, aber dennoch müssen die Freunde feststellen, dass ihnen das gewisse Etwas fehlt und so erinnert man sich an den Schulfreund Ole, der früher genau dieses kreative Element verkörperte und damals direkt nach dem Abitur unter nie ganz geklärten Umständen nach Berlin geflohen ist. Man bricht also spontan auf in die Hauptstadt und setzt damit eine Kette von Ereignissen in Gang, die das Leben aller Beteiligten vom Kopf auf die Füße stellen werden…

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir der Autor bis vor nicht allzu langer Zeit lediglich als Kabarettist, Hardcore-Fan des VfL Bochum und Kicker-Kolumnist ein Begriff war und so bin ich wieder einmal froh und dankbar, dass es hier in Blogsdorf Leute gibt, die wesentlich belesener sind als ich, denn sonst hätte ich definitiv etwas verpasst: Frank Goosen hat mit seinem vierten Roman nichts weniger als ein echtes Meisterwerk geschrieben.

Man spürt in seinem Buch viel Herzblut, was ja ein durchaus riskantes Unterfangen ist, denn allzu oft triefen solche Erzeugnisse von Pathos oder Wehleidigkeit. Der Autor vermeidet derartige Peinlichkeiten geschickt, indem er mit feinem Sprachwitz, ironischer Distanz und trockenem Humor bisweilen zwar Melancholie oder Nostalgie aufkommen lässt, sich dabei aber niemals in Sentimentalität oder falscher Verklärung der Vergangenheit verliert.

Es ist ein Buch, geschrieben von einem Mann über Männer, bei weitem aber kein Buch nur für Männer. Auch mich hat dieses Buch mitten ins Herz getroffen und von der ersten Seite tief in seinen Bann gezogen. Die Macht der Vergangenheit, beziehungsweise die Erinnerung an diese, treibt ja nun nicht nur die in einer Doppelkopfrunde konservierten Goosen’schen Protagonisten. Beruf erlernt, mehr oder minder Karriere gemacht, Ehepartner gefunden (und verloren), Kinder gezeugt und (v)erzogen, Eigenheim angeschafft, tolles Auto… – alles erreicht, was vor langer Zeit als “Lebensziele” angepeilt war. Jetzt kommt die Ernüchterung und die Wehmut. Geht es nicht allen Forty-somethings so? Im Buch ist die wiederauferstandene Band ein demonstrativer Akt, dem Gefühl entgegenzuwirken, alt und verbraucht zu sein und damit zu der doch allgemeingültigen Gewissheit führt, “dass man immer noch Kontakt aufnehmen kann zu seinem früheren Ich”.

Ohne seine anderen alle von mir aufrichtig gemochten Bücher schmälern zu wollen: “So viel Zeit” ist ein großartiger Roman mit hohem Unterhaltungs- und Wiedererkennungswert (nein, ich werde hier nicht verraten, in wem ich mich wiedererkannt habe), der neben Witz und ironischer Distanz auch Trauer und Gebrochenheit ohne Kitsch und Mitleidgedöns überzeugend zum Ausdruck zu bringen vermag.

Und so ist das Ergebnis rundum gelungen: Eine Hymne auf die Freundschaft, ein Plädoyer für die Verwirklichung von Träumen, eine Ode an die Musik, die Leben retten kann und last but not least eine Liebeserklärung an das Leben und die Menschen im Ruhrpott.

Ulrich Kretzler/ Britta Langhoff


Genre: Romane
Illustrated by Eichborn Verlag

Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten

Jacok Jankowski ist irgendwas über die Neunzig, so ganz genau weiß er das nicht mehr. Eben noch mitten im turbulenten Trubel seines Familienlebens steckend, findet er sich in den Niederungen eines Seniorenheimes wieder. Hauptsächlich damit beschäftigt, etwas für seine Würde zu tun. Als ein Wanderzirkus seine Zelte auf dem Parkplatz vor dem Seniorenheim aufschlägt, träumt er sich zurück in seine Vergangenheit. In die Zeit, welche die schönste und zugleich auch die schlimmste seines Lebens war. Im Amerika der 30er-Jahre-Depression steht er – Student einer Elite Universität – nach einem Schicksalschlag plötzlich vor dem Nichts. Verzweifelt springt er auf den nächstbesten Zug auf und findet sich als Tierarzt bei “Benzinis spektakulärster Show der Welt” , einem der legendären Eisenbahn-Zirkusse dieser Zeit wieder. Rasch findet er unter den Zirkusleuten Freunde und Feinde gleichermaßen, Leidenschaften, Hoffnung,Existenzkämpfe – und die Liebe. Die Liebe zu Marlena, der geheimnisvollen Dressurreiterin und zu Rosie, der sturen, klugen und treuen Elefantendame. Sara Gruen erzählt Jacobs Geschichte auf beiden Zeitebenen so zart und liebevoll wie leidenschaftlich und bildgewaltig. Auch wenn man kein ausgewiesener Freund des Zirkus ist,schnell ist man mitten in der Manege, schliesst Jacob und Marlena ins Herz, leidet, hofft und bangt mit ihnen.

In diesem Sommer kam der Film ins Kino, die DVD dazu wird in Kürze erwartet. Es heißt, Sara Gruen sei begeistert gewesen. Ihre Leser werden ihr größtenteils zustimmen. Der Film folgt der vorgegebenen bescheidenen Linie, verzichtet auf Effekthascherei und Sensationsgier. Darstellerisch überzeugte er mich nur bedingt. Es fragt sich, ob Robert Pattinson mehr als zwei Gesichtsausdrücke zu bieten hat, Reese Witherspoon kann eigentlich auch anders als nur unterkühlt. Ihre Marlena ist in der Buchvorlage nur vordergründig kühl, ihre besondere Gabe zur Zärtlichkeit kommt deutlich zum Tragen. Böse Zungen behaupten, der Elefant sei der beste Darsteller gewesen, aber es gab ja auch noch Christoph Waltz. Seine Rolle ist eine ambivalente, was ihm bekanntermaßen liegt. Folgerichtig ist sein August die Rolle, welche dem Zuschauer am endrucksvollsten in Erinnerung bleibt. Die Film-Adaption erinnert an das gefühlige Kino der 80er Jahre. Heute wirkt sie altmodisch. Im guten Sinne. Die nostalgische Atmosphäre des Films, seine wehmütige Dichte bieten Kino zum Träumen und zum Eintauchen in eine fremde Welt.

Wer sich in trüben Tagen nach einer seelenvollen Geschichte sehnt, nach einer Geschichte mit einem ebenso überraschenden wie befriedigendem Ende, dem seien Buch und Film ans Herz gelegt.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Leon und Louise

Leon und LouiseSchuld war Christine Westermann. Denn mein erster Gedanke war “Och nö, nicht schon wieder”, als ich das erste Mal von Leon und Louise hörte. Une affaire d’amour en France. Eine Liebe gelebt gegen die ganze Welt. Ein Mann, eine Frau, die eine ganz besondere Liebe erkennen, sie aber nicht leben können. Über die Weltgeschehnisse hinweg immer mal wieder gestohlene Stunden miteinander verbringend. Och nö, hatten wir das nicht schon mal? Benoite Groult. Salz auf unserer Haut. George und Gauvain. Ein unbestritten schönes Buch. Mich nachhaltig beeindruckend und lange begleitend. Wohl auch daraus resultierend mein Zögern ob der vermuteten Neuauflage. Doch der Radiomoderatorin meines Vertrauens sei Dank. Selten hat Christine Westermann ein Buch so innig, mit soviel Herzblut empfohlen. Frau Westermann schrieb “Eine wunderschöne Geschichte, bei der man nach 314 Seiten zutiefst bedauert, dass sie schon zu Ende ist. Und sich heimlich wünscht, dass einem im nächsten Leben einer wie Léon begegnen möge. Oder eine wie Louise” und ich wurde doch neugierig. Als ich das Buch dann las, erlebte ich mehr als eine kleine Überraschung. So begeistert war ich selten. Nicht so sehr von der Handlung. Die – wie gesagt – hatten wir so ähnlich schon mal. Wobei die Geschichte von Leon und Louise der Geschichte von George und Gauvain an bittersüßer Romantik, Tragik und letztendlich Versöhnung in nichts nachsteht. Was das Buch des Schweizer Autors Alex Capus so kostbar macht, ist seine Sprache. Ein märchenhafter Erzählstil, lakonisch durch die Weltgeschichte mäandernd, sprachgewaltig und zart zugleich, schenkt er dem Leser Sätze von einfacher Klarheit und berührender Poesie. Es liest sich, als hätten Edith Piaf und ZAZ zusammen ein Album aufgenommen.

Leon und Louise lernen einander gegen Ende des ersten Weltkrieges kennen. Die beiden verbringen einen wunderbaren Tag und eine ebensolche Nacht miteinander – und werden doch kein Paar. Granaten reißen sie tragisch auseinander. In der Folge halten sie sich gegenseitig für tot. Erst Jahre später sehen sie sich zufällig in der Pariser Metro wieder, gestatten ihrer Liebe einen weiteren Tag und eine weitere Nacht. Mehr nicht, denn Leon ist inzwischen verheiratet und Vater. Und ein Mann wie Leon tut, was er tun muss und was er bleiben lassen soll, lässt er bleiben. Dennoch verbindet die beiden über die Jahrzehnte eine ganz besondere Liebe, die auch den zweiten Weltkrieg, die Besetzung von Paris, das Exil Louises und Léons Ehe überdauert.

Erzählt wird die Geschichte aus Leons Sicht von seinem Enkel. Alex Capus gelingt es jedoch, nicht nur Leons Gefühle einfühlsam darzustellen. Mithilfe berührender Briefe aus ihrem Exil leiden, freuen und lächeln wir auch mit Louise. Und nicht nur mit ihr. Auch Yvonne, Leons Gattin, lernen wir schätzen und respektieren. Sie, die von der unerfüllten Liebe weiß und damit ihren Frieden macht. Sie, die mit diplomatischer Klugheit, agentenwürdiger Schlauheit und der Rücksichtslosigkeit einer Gotteskriegerin ihre Familie durch die Fährnisse der bewegten Zeit dirigiert und dadurch nicht zur bedauernswerten Betrogenen, sondern zur zweiten Heldin der Geschichte wird.

So schwer und traurig eine solche Liebesgeschichte in einem Jahrhundert der Kriege anmutet, so leicht schafft es Capus, Alex Capus, offizielles Autorenfot schon auf den ersten Seiten eine bezaubernd einfache Stimmung heraufzubeschwören. Die Stimmung unbeschwerter Jugend, die Stimmung eines leichten Sommerwinds, die den Roman nie ganz verlässt und im allerletzten Absatz unvermittelt wieder über den Leser hereinbricht. Den Leser, der dieses Buch danach mit einem warmen Gefühl, aber auch wehmütig zur Seite legt. Tatsächlich traurig. Darüber, dass es schon vorbei ist.

Mehr über den (die Bemerkung kann ich mir jetzt nicht verkneifen) sehr attraktiven Autor, von dem bedauerlicherweise noch nicht allzu viel auf Deutsch erschienen ist, auf seiner Homepage und in den Zehnseiten der Zeit.

Quellen: Autorenfoto www.alexcapus.de
und www.christine-westermann.de

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Carl Hanser München

Einsiedlerkrebse

\"Das\"einsiedlerkrebse\"\"Hitzewelle\"

Kurz vor dem Urlaub fiel es mir in die Hände. \”Das Lügenhaus\” von Anne B. Ragde. Lange ist es her, dass mich ein Buch so unvermittelt und so tief in seinen Bann zog. Selten genug passiert es, dass ich Geld für Hardcover ausgebe, aber in diesem Fall kein Moment des Zögerns. Teil 2, \”Einsiedlerkrebse\” und Teil 3, \”Hitzewelle\”, zu meinem grossen Glück soeben auf dem deutschen Buchmarkt erschienen, mussten unverzüglich her, damit ich ohne Unterbrechung im Bann der Geschichte der Familie Neshov bleiben konnte. Die drei Bücher sind Familienromane im besten, traditionellen Sinn. Manchmal witzig, meistens jedoch schwermütig, oft genug auch sehr dunkel und öfter, als einem lieb ist, von hohem Wiedererkennungswert. Mich hat die Geschichte sehr betroffen und auch traurig gemacht. Monate ist es her, dass ich die \”Hitzewelle\” beendete und noch immer habe ich mich nicht ganz dem Bann der Trilogie entzogen.

Das Lügenhaus ist zunächst die Geschichte dreier Brüder, dreier sehr ungleicher Brüder. Der Älteste, Tor, als Schweinezüchter auf dem elterlichen Hof geblieben. Der Mittlere, Margido, alleinstehend, katholisch und Bestatter aus Leidenschaft. Der Jüngste Erlend, ein exaltierter schwuler Schaufensterdekorateur, der mit seinem Lebenspartner Krumme in Kopenhagen ein schwules Leben im Wohlstand führt. Stilmittel aller drei Bücher ist es, jedes Kapitel aus einer anderen Sichtweise zu erzählen. Mal erleben wir die Neshov\’sche Welt aus der Perspektive Tors, mal aus der Erlends usw. Die drei Brüder sind seit Jahren ohne Kontakt miteinander und schnell will man wissen, was dazu geführt hat, dass diese Familie so zerrüttet, so zerstört ist und welche Last die drei Brüder mit sich tragen. Das Lügenhaus, welches die alte Bäuerin Anna Neshov um sich herum errichtet hat, bekommt mit ihrem bevorstehenden Tod erste Risse. Am Sterbebett der Mutter begegnen sich die drei Brüder erstmals wieder. Bei ihnen und ihrem teilnahmslosen, von allen verachteten Vater ist Torunn, die uneheliche Tochter des Schweinezüchters, von deren Existenz die anderen erst jetzt erfahren. Torunn, anfänglich noch eine Randfigur, wird nach und nach ins Zentrum der Erzählungen rücken und sie ist es auch, deren Figur und Geschichte am tiefsten betroffen machen. Nach dem Tod der Mutter entscheidet sich die zwanghaft wiedervereinte Familie für ein gemeinsames Weihnachtsfest auf dem düsteren, heruntergekommenen Hof nahe Trondheim. Am heiligen Abend gibt ausgerechnet der bis dato nicht groß in Erscheinung getretene Vater ein Geheimnis preis, dessen verheerende Folgen unabsehbar scheinen. An dieser Stelle endet das Lügenhaus, quasi mitten im Satz, und die Einsiedlerkrebse schliessen nahtlos an. Diese Technik, die noch viel krasser in den Einsiedlerkrebsen zum Tragen kommt, macht es meines Erachtens im übrigen so gut wie aussichtslos, Band 2 und Band 3 losgelöst von den anderen zu lesen. Die Einsiedlerkrebse lassen zunächst und über einen längeren Zeitraum Hoffnung aufkommen. Hoffnung, die Familie wachse wieder zueinander. Hoffnung, die Brüder und Torunn würden jeder für sich einen Weg zu einem glücklichen, erfüllenden Leben finden. Margido erweitert sein Bestattungsunternehmen, durchlebt eine kurze, für ihn verwirrende Beziehung, aber gelegentlich findet er nun den Weg zum Hof und zu seiner Familie. Torunn erlebt eine heftige Liebe, ist aber seit dem Weihnachtsfest nicht mehr diesselbe und mit einem Teil ihres Herzens immer auf Neshov. Als Tor verunglückt und zunächst ausser Gefecht gesetzt ist, verlässt Torunn kurzentschlossen ihr eigenes Leben und eilt dem Vater zu Hilfe. Erlend und Krumme durchleben eine kurze Krise, die darin endet, dass die beiden beschliessen, gemeinsam mit zwei lesbischen Freundinnen Kinder zu bekommen und eine neue, aussergewöhnliche, aber glückliche Familie zu gründen. Alle sind also mit sich selber beschäftigt, keiner bemerkt, welche Tragödie sich auf dem Hof anbahnt. Das Finale der Einsiedlerkrebse ist verwirrend, bestürzend und völlig unerwartet, auch für den Leser. Im dritten, nahtlos anknüpfenden Teil, legt sich eine Hitzewelle über das Land und den Hof, dessen Bewohner in depressiver Stagnation verharren. \”Hitzewelle\” handelt vordergründig davon, dass man in seinem Leben und seiner Familie zu Entscheidungen gezwungen wird und davon, wie schwer diese Entscheidungen manchmal zu treffen sind. Wenn man sich als Leser aber auf die Figur der Torunn konzentriert, erzählt das Buch noch von sehr viel mehr. Es erzählt von Schuld, von der Schuld der Lebenden und aber auch von der Schuld der Toten. Es erzählt vom Egoismus der Überlebenden, in diesem Fall Erlend, dessen Figur in Hitzewelle viel Sympathie einbüsst. Es erzählt von der Gedankenlosigkeit, von der Unbekümmertheit, mit der Menschen andere für ihr Leben verantwortlich machen und ihnen ein Schicksal, ein Leben aufzuzwingen suchen, eben aus dem einfachen Grunde, weil es in ihren eigenen Lebensentwurf besser passt. Margido sieht dies in Anfängen und versucht, diesen halbherzig zu wehren. Darüberhinaus erzählt uns die Hitzewelle aber auch, was geschehen kann, wenn die Lebenden, in diesem Fall Torunn, eben jene Schuld und jene Verantwortung auf sich nehmen und wiedergutmachen wollen. Das Buch zeigt uns keinen guten Ausweg und es hinterlässt in uns das Gefühl, dass es aus eben dieser Falle keinen Ausweg und auch keinen wirklichen Neubeginn mehr geben kann.

Ich empfehle diese drei klugen Bücher uneingeschränkt. Ich empfehle aber auch, sich vor der Lektüre genau zu überlegen, ob man sich der Thematik gewachsen fühlt. Die Geschichte der Familie Neshov bietet kaum eine Lösung, kaum einen Ausweg und sehr wenig Hoffnung.

Aber – und diese Bemerkung erlaube ich mir jetzt einfach: Würde Anne.B.Ragde den Literaturnobelpreis bekommen, ich würde die Vergabe vehement verteidigen. In Norwegen wird Anne B. Ragde für ihre Trilogie gefeiert. Die liebevolle Beschreibung der schwulen, glücklichen Partnerschaft zwischen Erlend und Krumme hat die Schriftstellerin überdies in Skandinavien zu einer Ikone der Schwulenbewegung werden lassen.
Unter dem Titel \”Berlinerpoplene\” wurde die Geschichte mit riesengroßem Erfolg für das norwegische Fernsehen verfilmt

Anne B. Ragde
Das Lügenhaus, Roman
Verlag btb HC
ISBN-13: 978-3442751938
auch als Taschenbuch
Einsiedlerkrebse
Verlag btb
ISBN-13: 978-3442751679
Hitzewelle
Verlag btb
ISBN-13: 978-3442752256

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by btb München