Ein Regenschirm für diesen Tag

Wilhelm Genazinos durch Frankfurt latschender Protagonist ist gut zu Fuß. Der Flaneur, der häufig das Gefühl empfindet, ohne seine innere Genehmigung auf der Welt zu sein, ist Meistertester der Schuhmanufaktur Weisshuhn. Im Auftrag des expandierenden Unternehmens prüft er handgearbeitetes Schuhwerk, schreibt darüber umfangreiche Gutachten und hält sich mit diesem Minijob mehr schlecht als recht über Wasser.

Seine langjährige Gefährtin und Geldgeberin Lisa hat den Schuhtester inzwischen verlassen, um ihn zu zwingen, sich endlich um einen besseren finanziellen Hintergrund zu bemühen. Die früh pensionierte Grundschullehrerin, »die sich für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat«, meint damit seine »mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt«.

In ständigem Gedankenfluss wandert der namenlose Ich-Erzähler durch die Stadt. Er erlebt die Zerbröckelung, Zerfaserung und Ausfransung seines Lebens als Prozess, den er »Verflusung« nennt. Er stört sich an Kindern, die Schokolade essen ebenso wie an Autos, die am Straßenrand parken. Während er ziellos durch die Landschaft schlendert und sich vom Leben abzulenken versucht, beobachtet er unterschiedlichste Gestalten und notiert in Gedanken ihre Bewegungen, Eigentümlichkeiten und Eigenschaften. Es scheint ihm dabei so, dass der Auftritt einer Person, der es offenkundig noch schlechter geht als ihm, in ihm das Verhalten eines guten Menschen hervorruft.

Gelegentlich trifft er weibliche Bekannte, die ihn an seine Kindheit und Jugend erinnern. »Man wird die Leute nicht mehr los, denen man einmal von seiner Kindheit erzählt hat«, klagt er und kehrt in einen Frisiersalon ein, mit deren Inhaberin ihn ein gelangweiltes Gelegenheitsverhältnis verbindet. Auch eine Freundin aus der Jugendzeit rührt ihn nicht wirklich an, wenn er zum wiederholten Mal ihrem verpatzten Traum von einer Schauspielerkarriere lauscht.

Seine »Tagesverdammnis« will es, dass die Schuhmanufaktur sein Honorar für die Berichte auf ein Viertel kürzt. Er beschließt, den Job aus Verachtung aufgeben, doch er ist zu matt und erfindet künftig lieber aus Rache die Gutachten. Sein Dünkel besteht aus einem fast permanenten Zusammenstoß von Demut und Ekel. Die Demut gemahnt ihn, auch die dümmsten Geschichten seiner Mitmenschen anzuhören. Der Ekel stachelt ihn an, zu fliehen, um nicht in den Ausdünstungen seiner Mitmenschen unterzugehen.

Beiläufig stößt er auf den Redakteur des Generalanzeigers, für den er einstmals bereits tätig war. Obwohl er es eigentlich ablehnen möchte, nimmt er dann doch dessen Angebot an, für das Blatt lokale Berichte zu schreiben. Zudem erklärt er Leuten, die ihm ein Gespräch aufdrängen, er leite ein Institut für Gedächtnis- und Erlebniskunst. Zu ihm kämen Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein lang gezogener Regentag geworden sei. Sein Institut versuche, Klienten zu Erlebnissen zu verhelfen, die wieder etwas mit ihnen selber zu tun haben, jenseits von Fernsehen, Urlaub, Autobahn und Supermarkt. Verstört reagiert er, als sich Menschen von seiner Notlüge angesprochen fühlen und sich ihm als Kunden aufdrängen.

Genazinos Roman besteht aus dem endlosen Monolog eines intellektuellen Stadtstreichers, der sich und seine Umwelt ständig beobachtet. Der Autor beschreibt haargenau Menschen, die sich im Alltag bewegen und lässt sich, genau wie im richtigen Leben, federleicht ablenken von Figuren, die wie Treibgut in sein Blickfeld schwimmen. Dabei fällt die ungeheure Kraft des Erzählers auf, den Leser nur durch Beobachtungen am Geschehen teilhaben zu lassen. Genazino verzichtet nahezu vollständig auf den Einsatz anderer Sinne, wie es den Teilnehmern jedes »Kreativ-Schreiben«-Kurs bereits in den ersten Lektionen ins Hirn gehämmert wird. Höchst selten findet ein Riechen, Schmecken, Hören oder Tasten statt, ein Geruch »fällt ihm auf«, aber dabei lässt er es auch schon bewenden.

Die lakonische Erzählweise Genazinos und das dabei entstehende Gemälde einer Persönlichkeit am Rande des Scheiterns sind eindrücklich. Der Autor arbeitet photographisch exakt, er belichtet ausgewählte Details und vergrößert sie für seine Prosacollage im »Gestrüpp, Geröll, Geraschel, Geschluppe, Geschlappe« des Lebens. Sein Roman über ein im Gleichmass verlaufendes «Ablenkungsleben» ist ein Buch für Leser, die zuweilen auch das Gefühl haben, dass ihr bisheriges Leben lediglich ein lang gezogener Regentag ist und «ihr Körper der Regenschirm für diesen Tag».

Bitte kommentiere diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Mittelmäßiges Heimweh

Der Controller Dieter Rotmund wohnt allein in einer großen Stadt. Er lebt getrennt von seiner Frau, die im Schwarzwaldidyll siedelt und sich dort auf seine Kosten selbst verwirklicht. Doch da ist noch Susanna, die geliebte Tochter. Beide besucht er jeweils zum Wochenende. Edith weicht ihm ständig aus. Sie stürzt sich in eine Affäre und zieht sich und das gemeinsame Kind schließlich ganz von ihm zurück.

Rotmund fällt im Gefühl des Zerfalls seiner Ehe immer stärker in ein gleichförmiges, langweiliges Leben. Seine Sehnsucht nach Frau und Kind verkümmert zur Gleichgültigkeit. Obwohl ihm der Schwarzwald inzwischen ganz gut gefällt, empfindet er für den Ort, an dem seine Lieben sind, bald nur noch mittelmäßiges Heimweh. Darauf bezieht sich der Titel des Romans.

Mittelmaß und Gleichgültigkeit machen das Leben Rotmunds aus. Selbst als er in einer Kneipe plötzlich ein Ohr verliert, irritiert ihn das nur leicht. Später kommt ihm sogar noch eine Zehe abhanden. Er scheint sich damit allmählich im Mittelmaß aufzulösen. Sein unscheinbares Leben wird ungenau. Eine kleine Qual hat ihr Zelt in ihm aufgeschlagen und drangsaliert ihn von innen. Da hilft auch keine sexuelle Beziehung mit einer Frau, die zufällig in sein Leben tritt.

Deutlich merkt er, dass sein Gefühlsleben stehen geblieben ist und sich nicht bewegen will, obwohl er es manchmal anzuschieben versucht. In diesem Stillstand fällt ihm auf, dass er Sehnsucht nicht mehr von Heimweh unterscheiden kann. Früher war ihm klar, dass Sehnsucht dem Heimweh vorausgeht: »Du liebst eine Frau, dadurch entsteht Sehnsucht. Indem sich die Sehnsucht zeigt, bildet sich nebenbei auch Heimweh nach der Landschaft oder der Stadt, in der die geliebte Frau zu Hause ist. Indem du die Frau liebst, wird die Sehnsucht gestillt, und das Heimweh verschwindet. So einfach war das einmal. Zuerst wurde die Sehnsucht mittelmäßig, jetzt auch das Heimweh«. Rotmunds Leben verdichtet immer mehr zum inneren Monolog eines Menschen, der den Glauben an erfüllende Partnerschaften ebenso wie das Gefühl inneren Glücks verloren hat.

Wilhelm Genazino zeichnet in dem ihm eigenen resignativen Stil das Bildnis eines Mannes, der die Fremdheit überwinden will und doch von Fremdheit zugewuchert wird. Er konzentriert sich mit seinem Roman auf den merkwürdigsten Punkt im Leben: auf den Punkt, da sich ein zuvor heftiges Interesse plötzlich aufzulösen beginnt. Lakonisch und gleichzeitig haarscharf in der Beobachtung schildert er den Wärmetod des Gefühls, die Abflachung aller Emotionen und ihr Verlöschen in Mittelmäßigkeit.

Ausgeprägt ist seine enorme Beobachtungsgabe von Personen und Ereignissen. Detaillierte Beschreibungen alltäglicher Banalitäten münden durchaus in eigenwillige, skurrile Erkenntnisse. »Es ist diese Wahrnehmung, die meine Melancholie über den vielleicht ausbleibenden Sinn vertreibt und mich wieder ins Leben zurückholt«, lässt er seinen Helden sagen. Genazinos Verfremdungstechnik hilft, die eigene Verzweiflung durch die Situationskomik des Alltags zu betäuben. Aufgelöst wird sie dadurch nicht.

Bitte kommentiere diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Carl Hanser München

Die Tochter

„Jetzt müßt ihr leben, leben, so sehr ihr könnt“, fordert Max Lipschitz‘ Vater nach der Beerdigung seiner Schwester auf dem Ölberg in Jerusalem. Und dann schenkt Max zum ersten Mal im Leben einem fremden Menschen sein Vertrauen: Sabine, der jungen Frau aus dem Amsterdamer Anne-Frank-Haus, die ihm nach Jerusalem gefolgt ist und deren Vater so wie der von Max ein Überlebender des Holocaust ist.

Eine rauschhafte, glückliche Zeit bricht an, die eines Tages jäh zu Ende geht. Sabine verschwindet spurlos, ohne jede Vorwarnung. Ein Brief verkündet lapidar: „Mit Dir und mir kann es einfach nie etwas werden … Mach Dir keine Hoffnungen, such nicht.“ Natürlich macht sich Max dennoch auf die Suche, doch er findet die Geliebte nicht. Sein mit Sabines Hilfe freigelegtes Urvertrauen schwindet rasant. Die alte Unsicherheit macht sich wieder breit, die ihn über Kindheit und Jugend begleitet hat angesichts der alten, düsteren Geschichten von Krieg und Judenvernichtung, die den Familienalltag prägten und unbeschwertes Miteinander kaum zuließen.

Max organisiert sich sein Leben mehr schlecht als recht, wird Verleger statt Schriftsteller und trifft fünfzehn Jahre später auf der Frankfurter Buchmesse Sabine wieder. Sofort brechen die nie verheilten Wunden wieder auf, aber auch die wunderbare Vertrautheit, die er so vermißt hat. Sabine ist inzwischen eine vielgefragte Fotografin und in Begleitung eines berühmten amerikanischen Filmproduzenten. Sie lebt in Los Angeles. Ein zweites Mal lassen sich die beiden mit Haut und Haaren aufeinander ein, und doch steht ein unausgesprochenes, unfaßbares Geheimnis zwischen ihnen …

Die niederländische Autorin Jessica Durlacher offeriert einen Liebesroman von gewaltiger Kraft und Eindringlichkeit. Ruhig und leidenschaftlich zugleich entfaltet sich eine mitreißende Geschichte voller Überraschungen. Durlacher schafft es, das heikle, unbequeme Thema Holocaust zu thematisieren und dennoch die Liebe in den Mittelpunkt zu stellen und sich bei allem Tiefgang eine feine Leichtigkeit zu bewahren.


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Wolkenatlas

Am Anfang war die Verwirrung: Das sollte ein Roman sein? Kaum hatte man sich in die Geschichte eingelesen, begann schon eine neue und noch eine und noch eine … Ein fesselnder Roman war versprochen worden, und nun dieses: ein Band abrupt abbrechender Erzählungen ohne inneren Zusammenhang!? Immerhin war die Sprache brillant und die Handlung durchaus spannend … wenn sie nur nicht dauernd abbrechen würde!

Es beginnt mit dem Pazifiktagebuch eines amerikanischen Notars, der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer Erbschaftsangelegenheit auf Reisen ist und dabei an die Grenzen seiner moralischen und körperlichen Kraft stößt.

Sodann findet ein junger englischer Komponist auf der Flucht vor seinen Gläubigern Unterschlupf und Inspiration bei einem einstmals genialen Berufskollegen in Belgien, der durch Alter und Syphillis alle Lebens- und Schaffenslust verloren hat und nach anfänglicher Wiederbelebung mitansehen muss, wie der hilfsbedürftige Assistent sich selbst zum Meister mausert.

Eine junge amerikanische Journalistin ist einem Atomskandal auf der Spur, ein abgehalfterter Verleger landet irrtümlich in einem geschlossenen Altenheim, eine geklonte Koreanerin der Zukunft will ein richtiger Mensch werden, und ein vom Schicksal gebeutelter alter Mann erzählt in hinterwäldlerischstem Jargon aus seiner dramatischen Kindheit, die in ferner Zukunft „nach dem Untergang“ verlief, als man die letzten Reste von Zivilisation zu bewahren suchte.

Erst lange nach der Hälfte des Buches bekommen die Geschichten des Anfangs ihre Fortsetzung und ihr Ende, und immer deutlicher verknüpfen sich die einzelnen Handlungsstränge. Immer steht der Mensch im Mittelpunkt, der Mensch in seinem zu allen Zeiten egoistischen Streben nach Macht, Geld und Einfluss im Großen wie im Kleinen. Dieses Streben bringt ihn vorwärts und richtet dabei grässliches Unheil an. Jene Menschen, die andere Ideale verfolgen und / oder aufs Gemeinwohl bedacht sind, müssen aus dem Weg geräumt werden – Wurzel fast allen Übels dieser Welt und genug Stoff für Romane von gestern, heute und morgen. Stoff auch für einen so vielschichtigen und bei aller Dramatik witzigen Roman wie den „Wolkenatlas“, den der anfangs skeptische Leser am Ende doch gefesselt und daher höchst ungern aus der Hand legt. Wie gern würde er zum Finale das so plastisch beschriebene Wolkenatlas-Sextett hören, das der junge Assistent des alten Künstlergenies komponiert hat und das fast verlorengegangen wäre …

David Mitchell präsentiert einen aus verschiedenartigsten Materialien gewebten, eigenwilligen und raffinierten Roman, der bei rororo unlängst als Taschenbuch erschienen ist, sodass sich experimentierfreudige Leser kostengünstig auf ihn einlassen können. Bibliophile werden sich an solchen Bonmots wie dem folgenden erfreuen: „Bücher bieten keine wirkliche Rettung an, aber sie können den Geist davon abhalten, sich wund zu kratzen.“

Ebenfalls bei rororo zu haben und unbedingt empfehlenswert ist ein weiterer Roman des britischen Autors: „Der dreizehnte Monat“, ein literarisches und psychologisches Meisterwerk, das von den Gemeinheiten und Wonnen des Erwachsenwerdens und Menschseins berichtet.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Die unglaubliche Reise des Smithy Ide

Ein Buch geschenkt zu bekommen, ist in etwa so, wie ein Parfüm geschenkt zu bekommen. Es ist ein Risiko! Ein Parfüm kann ganz gut auf dem Teststreifen riechen, aber tut es das auch auf meiner Haut? Ein Buch kann ganz interessant aufgemacht sein, aber wird mich sein Inhalt beim Lesen wirklich faszinieren?

Also ich bin das Risiko eingegangen und habe das mir geschenkte Buch „Die unglaubliche Reise des Smithy Ide“ aufgeschlagen und angefangen zu lesen …

Es hat mich schnell eingesogen, denn wer könnte sich nicht mit der Hauptfigur Smithy identifizieren. Smithy ist über die Jahre bequem und unzufrieden geworden, von Selbstzweifeln geplagt und hat sich scheinbar in sein Schicksal ergeben …

Der fast gleichzeitige Tod seiner Eltern und seiner Schwester Bethany reißen ihn aus seinem Trott. Er tritt eine skurrile Reise an …

Falls Sie Lust haben auf ein zutiefst menschliches Abenteuer, lassen sie sich dieses Buch doch einfach schenken und lesen Sie selbst! Es ist (k)ein Risiko!


Genre: Romane
Illustrated by Goldmann München

Eine Frage der Zeit

Die Geschichte beginnt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, als die Kaiserliche Kolonialverwaltung bei der Papenburger Meyer-Werft ein Schiff bestellt. Sinn und Zweck dieses Schiffes, der “Götzen”, ist es, direkt nach der Fertigstellung im November 1913 wieder auseinander genommen zu werden, in einige tausend Kisten verpackt und auf dem Land- und Seeweg nach Afrika verschickt zu werden. Dort soll es in Kigoma am Tanganikasee erneut zusammen gebaut werden. Danach soll es durch seine Präsenz mithelfen, die kaiserlichen Kolonialinteressen in dem von Belgiern und Briten beherrschten Gebiet sicherzustellen.

Begleitet und zusammengebaut wird die “Götzen” von den drei Papenburger Schiffbauern Anton Rüter, Hermann Wendt und Rudolf Tellmann. Mit Freude gehen die Drei an ihre Arbeit, denn je früher die “Götzen” zusammengebaut ist, um so schneller ist man wieder in der Heimat. Abseits des kolonialen Alltags gewinnen sie Freunde unter den Einheimischen und genießen ihr Leben in Deutsch-Ostafrika. Das alles endet am 1. August 1914, als das Deutsche Reich in den Krieg eintritt und als über Nacht Freunde und Nachbarn zu Gegnern und Feinden wurden.

In England befiehlt in dieser Zeit der zuständige Minister Winston Churchill, zwei Kanonenboote auf dem See- und Landweg nach Afrika zum Tanganikasee zu bringen. Angeführt wird diese Expedition vom Commander Geoffrey Spicer Simson, einem Luftikus und Hallodri, einer Figur, die aus einem Roman von Charles Dickens stammen könnte. In ungeheurer Härte bricht der Krieg aus und jeder versucht, mit heiler Haut davon zu kommen.

“Eine Frage der Zeit” ist großartig recherchiert und wunderbar erzählt – ein wirkliches Lesevergnügen.


Genre: Romane
Illustrated by Knaus München

Vincent

Mit »Vincent« seziert Joey Goebel die Popindustrie und zeigt auf, wie Stars und Sternchen in den Himmel geschossen werden und dort rasch verglühen: Harlan Eiffler bekommt den Job seines Leben: Ein millionenschwerer Medienunternehmer will als Krönung seines Lebens eine Nachwuchsakademie ins Leben rufen, um künstlerische Genies zu fördern. In deren Auftrag soll Harlan lediglich ein einziges Talent betreuen. Geld spielt dabei keine Rolle.
Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Die italienischen Schuhe

Fredrik Welin, ein ehemaliger Arzt, hat sich vor vielen Jahren nach einem medizinischen Kunstfehler auf seine Schären-Insel zurückgezogen. Bei einer notwendigen Operation hatte er einer jungen Patientin den falschen Arm amputiert! Hier in der Einsamkeit teilt er sein Leben mit Hund und Katze und hat nur noch selten Kontakt mit der Außenwelt. Es scheint, dass er kein Interesse mehr am Leben hat. Das ändert sich schlagartig, als an einem eisigen Wintertag plötzlich seine Jugendliebe Harriet, die er vor vielen Jahren ohne Angabe von Gründen verlassen hat, scheinbar aus dem frostigen Nichts auf seiner Insel auftaucht.

Harriet, die schwer an Krebs erkrankt ist, bittet ihn um einen letzten Gefallen. Gemeinsam mit Fredrik möchte sie einen verwunschenen Waldteich aufsuchen, jenen Ort, von dem er ihr vor fast vierzig Jahren erzählt hatte. Nach anfänglicher Empörung über diese Ruhestörung und die Erinnerung an sein schändliches Verhalten in der Vergangenheit willigt er in den Plan ein und sie beginnen ihre gemeinsame Reise in den Norden des Landes. Dort erfährt er von Harriet, dass er eine Tochter hat. Louise, ihre gemeinsame Tochter, wohnt tief versteckt in den Wäldern Nordschwedens. Hier lernt er auch Freunde und Bekannte seiner Tochter kennen, unter anderem einen alten italienischen Schuhmachermeister, der vor dem lauten Leben der Städte Italiens in die Einsamkeit und Ruhe der Wälder geflohen war. Diese Reise in den Norden verändert Fredrik so sehr, dass er bereit ist, sein Leben zu überdenken und zu ändern.

H. Mankell hat ein interessantes Buch über das Älterwerden, die Einsamkeit und die verlorenen Momente des Lebens geschrieben und das in einer Anschaulichkeit, dass man bei der Lektüre zum Nachdenken über das eigene Leben angeregt wird.


Genre: Romane
Illustrated by Zsolnay München

Die Erbschaft

Heribert Odelshausen, Mitarbeiter im Rat der Stadt Dresden, wird mit einer geheimnisvollen Erbschaft gesegnet. Aus erheblichem Anlagevermögen stehen ihm jährlich eine Million Westmark Zinserträge zu, und dieser Devisensegen verändert den braven DDR-Bürger gründlich und schnell. Es zieht ihn aufs Land, in die Welt seiner Kindheit. Dort errichtet er eine Prachtvilla, mietet Dienstboten an und lässt die begehrte Westkohle auf seine Familie und Umgebung regnen.

Der Arbeiter- und Bauernstaat hegt und pflegt den frisch gebackenen Multimillionär, denn der Geldsegen kommt letztlich dem sozialistischen Staat zugute und belebt dessen Wirtschaftskreislauf. Entscheidungen werden mit Hilfe von Farbfernsehern und anderen begehrten Luxusgütern vorangetrieben, ein Anruf »in Berlin« beseitigt Materialengpässe und erwirkt Genehmigungen, die dem normalsterblichen DDR-Bürger unerreichbar wären. Doch die Zeiten ändern sich, anno 1989 bricht das Land aus seinen Fugen, und auch für Heribert Odelshausen wendet sich das Schicksal.

Rolf Floß, Jahrgang 1936, hat eine Realsatire auf die längst versunkene DDR-Wirklichkeit geschrieben. Er siedelt seine Geschichte, wie aus zarten Andeutungen vermutet werden darf, in der Oberlausitz am Fuße des Hutberges im Naturraum Westlausitzer Hügel- und Bergland an. In dieser zu Honeckers Amtzeit im medialen Schatten liegenden Gegend nahe der Lessingstadt Kamenz lässt Floß seinen Protagonisten eine Geldsturzflut über die Dorfbevölkerung niedergehen und beschreibt das feine Geflecht der Beziehungen der mehrheitlich bäuerlichen Bevölkerung untereinander.

Stilistisch fühlt sich der Rezensent bei der Lektüre an ein klassisches Stück Gebrauchsliteratur aus der guten alten DDR erinnert. Der Roman liest sich, als sei ein Stück bislang unentdeckte DDR-Literatur ans Tageslicht geschwemmt worden. In betulich plätscherndem Stil wird emotionslos und ruhig der Handlungsfaden gewoben. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen wird stets behutsam und fast lapidar eingeflochten. Dennoch oder gerade deshalb kann sich derjenige, der die Verhältnisse von damals erinnert, durchaus eines gelegentlichen Schmunzelns nicht erwehren.

Floß legt einen Roman vor, der in dieser Form auch in der ausklingenden DDR hätte erscheinen können. Denn es gab durchaus Werke in ähnlichem Duktus, die dort publiziert wurden. Erinnert sei an »Die Entgleisung« von Inge von Wangenheim. Insofern kommt der Text anderthalb Jahrzehnte zu spät. Unter heutigen Bedingungen lässt sich deshalb nur eine Zielgruppe für das Werk vermuten: es sind alt gediente DDR-Leser, die sich in Sprache und Stil wieder finden können.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Das Neue Berlin Berlin

Großmama packt aus

„Jener Teil von meinem eigenen Fleisch und Blut, den ich Enkeltochter nannte, ging eines Tages verloren“, schreibt Großmama. Und da sich solche schauderhaften kleinen Geschichten des öfteren ereigneten, scheint es der alten Dame an der Zeit, der kapriziösen Enkelin das ganze Wie und Warum ihres Lebens, eine Art Beichte, aufzuzeichnen.
Irene Dische, die Enkeltochter, wurde 1953 in New York geboren. Ihre Familie aber stammt aus Deutschland, aus einer oberschlesischen Kleinstadt. Großmama freilich kommt aus den besten katholischen Kreisen des Rheinlandes, das sie der Liebe wegen verlassen hat. Dr. Carl Rother wiederum hat seinen jüdischen Glauben aufgegeben, um für sie zum glühenden Katholiken zu werden. Ein Leben in Wohlstand und Anerkennung erwartet die beiden leidenschaftlichen Glückskinder. Dummerweise kommen die Nazis dazwischen, und nichts ist mehr, wie es einmal war. Rother muß nach Amerika fliehen, Frau und Tochter folgen später nach. Schon beim Empfang in New York beginnt das Elend: Statt mit einem prachtvollen Blumenstrauß empfängt der Familienvater seine beiden Frauen mit schnöden Pampelmusen. Während daheim alle anderen Rothers umkommen, beginnt für die Einwanderer der Kampf um das harte amerikanische Brot. Hartnäckig und effektiv verfolgen die ehrgeizigen Deutschen ihren Weg, und auch ihre eigenwillige Tochter gelangt, wenngleich auf Umwegen, ans Ziel. Schade nur, dass sie sich den unmöglichen Dische zum Wegbegleiter auserkoren hat, einen für den Alltag ungeeigneten, genialen und geizigen Wissenschaftler. Ihre gemeinsame Tochter Irene muß nun die genetisch bedenkliche Suppe auslöffeln, die ihr die verblendeten Eltern eingebrockt haben. Wenngleich sie schon als Kind mit der Mutter Leichen seziert und ihre Schulkameraden mit eingelegten Föten schockiert, gerät sie später auf die schiefe Bahn der Literatur. Doch bis dahin ist es eine lange Geschichte, und die erzählt Großmama trotz aller Katastrophen mit solchem Witz, solch unterhaltsamen Plattitüden und solcher Leidenschaft, daß die Lektüre ein wahres Vergnügen ist. Denn diese Großmutter hat es in sich: Noch mit Siebzig liebt sie das Tempo so, daß sie dafür sieben Strafzettel für ihren alten Studebaker in Kauf nimmt und mit aller Macht aus dem Koma zurück ins Leben prescht, wo es gerade am schönsten ist, denn der Kampf zwischen den Geschlechtern ist in eine Friedenszeit übergegangen. Näher kommt man auf Erden dem Paradies nicht, meint sie, und sowieso ist sie doch noch so neugierig! Leider aber hat die Zeit ihre Röcke gerafft und jagt einfach weiter. So übernimmt irgendwann die wilde Irene das Regiment in der Familie, nachdem sie Europa, Asien und Afrika unsicher gemacht hat und schließlich einen Mann wegen seiner kleinen Nase heiratet, damit Großmama im Himmel endlich zufrieden sein kann und wenigstens ihre Urenkel einmal zierliche Näschen bekommen …
Irene Dische aber hat den richtigen Riecher gehabt, wie Bücher flott und fesselnd werden: durch trockenen Humor, starke Charaktere, originelle Episoden und die geschickte Mischung von Tragik und Komik, Naivität und Respektlosigkeit, untermalt von einer umwerfend unsentimentalen Warmherzigkeit.


Genre: Romane
Illustrated by dtv München

Ausgebrannt

Blutrote Fässer zieren den Titel von Andreas Eschbachs Roman „Ausgebrannt“. Wer die 750 Seiten des Wirtschafts-Thrillers gelesen hat, der weiß: sie sind leer. Eschbachs Thema ist der viel diskutierte »Peak-Oil«, jener Punkt, an dem die Ölreserven erschöpfen und die Nachfrage nach Öl größer ist als das mögliche Angebot. Von diesem Punkt an verliert die Wirtschaft ihre Antriebskraft, und die Welt beginnt sich zu ändern. Die Handlung des Romans geht dabei von der Prämisse aus, dass dieser Punkt sehr viel näher liegt als gemeinhin angenommen. Weiterlesen


Genre: Romane, Thriller
Illustrated by Bastei Lübbe Bergisch Gladbach

Der Goldblütenpalast

Am Set einer extrem erfolgreichen Weltraum-Seifenoper treffen sich drei Abkömmlinge berühmter und erfolgreicher Eltern. Sie wollen sich einerseits aus dem Schatten ihrer Eltern lösen und imitieren sie andererseits mit aller Macht. Leider sind alle drei derart unbegabt, dass dies selbst ihren Erzeugern nicht verborgen bleibt. Es ist ein Trio der Verlorenen.

Bertie, Sohn des schwer reichen Produzenten der Serie, möchte als Schauspieler brillieren statt lächerliche Rollen in der Serie des Herrn Papa zu übernehmen. Clea lebt im Schatten ihrer übergroßen Mutter, einer früh verstorbenen Hollywood-Diva. Thad wird überall als VIP erkannt, weil er Spross eines weltberühmten Schriftstellers ist, der sämtliche Literaturpreise kassiert hat und Multimillionen verdient, er selbst muss jedoch inzwischen in Maske auftreten.

Die Kinder tragen zwar den bekannten Namen, ihnen fehlen jedoch Talente und Fähigkeiten ihrer Eltern. Einfluss nutzt wenig, um ihre Karrieren nachhaltig zu fördern, zumal sie mit den Engagements, die ihnen vermittelt werden, unzufrieden sind und diese verachten. Sie leben über ihre Verhältnisse, sind bald überschuldet und schwingen sich teilweise nur noch mit Hilfe von Medikamenten und Drogencocktails von einer Illusion zur nächsten.

Bruce Wagner seziert die Scheinwelt Hollywoods und führt sie in ihrer Erstarrung und eigenwilligen Komik vor. Der in Amerika hoch gelobte Autor beleuchtet die Erbengeneration, die jetzt an den Sets steht. Wie durch das Etikett eines berühmten Modeschöpfers der reizlose Fummel mit einem Nadelstich zum Modell avanciert, so werden die Kinder der Stars durch ihre Herkunft geadelt. Leider verbessert das ihre Leistungen nur unwesentlich. So führt die Jagd der drei Freunde nach Anerkennung letztlich in einen tragischen Strudel von Lügen, Selbstbetrug und Chaos.

Pointiert beleuchtet Wagner den Narzissmus des amerikanischen Showgeschäfts. Thema und Stil des Buches sind faszinierend. Allerdings wird vielen deutschen Lesern der Zugang zur Hollywoodwelt schwer fallen. Interna und Details, auf die der Autor abstellt, mögen dem US-Publikum vertraut sein, der europäische Leser tut sich damit schwer. Wem dies keine Hürde bedeutet, kann im »Goldblütenpalast« einen gesellschaftskritischen wie sprachlich anspruchsvollen Lesestoff entdecken.

Bitte kommentieren Sie diese Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins Berlin

Schiffbruch mit Tiger

Der in Kanada lebende Schriftsteller Yann Martel erzählt in seinem wundervollen Roman »Schiffbruch mit Tiger« die Geschichte des indischen Schülers Piscine Molitor Patel, der seinen französischen Vornamen einem prächtigen Schwimmbad verdankt. Es dauert jedoch nicht lange, und der Geistesblitz des Bösen durchfährt einen seiner Mitschüler, der eines grauen Tages ruft: »He da kommt Pisser Patel«. Auf dem Haupte des Jungen lastet fortan eine Dornenkrone. Immer wieder wird er mit der Frage konfrontiert: »Ich muss mal. Wo ist denn hier für Pisser?« Selbst die Lehrer, die ihm nichts Böses wollen, sprechen seinen Namen aus schierer Trägheit falsch aus.

Als Piscine auf die Oberschule wechselt, entschließt er sich zu einer Radikalkur. Der Unterricht beginnt, wie stets am ersten Schultag, mit dem Aufsagen der Namen. Als Piscine an der Reihe ist, springt er auf und läuft an die Tafel. Bevor der Lehrer etwas einwenden kann, greift er ein Stück Kreide und schreibt mit, was er sagt: »Ich heiße Piscine Molitor Patel, besser bekannt als …«, und er unterstreicht doppelt die ersten beiden Buchstaben seines Vornamen, » …Pi Patel«. Um es noch deutlicher zu machen, fügt er hinzu: »Pi = 3,14« und zeichnet einen großen Kreis, den er dann mit einem Strich durch die Mitte in zwei Hälften teilt, damit auch der Letzte begreift, auf welchen Grundsatz der Geometrie der Junge anspielt. So wird der »Pisser« zu Pi, und ein neues Leben beginnt für den jungen Mann.

Pi Patel wächst in einem Paradiesgarten auf: Sein Vater ist Direktor eines gepflegten Zoologischen Gartens, der in der südindischen Stadt Pondicherry betrieben wird. Er erfährt viel über die verschiedenen Tiere und das aus Sicht der Zooleute gefährlichste aller Lebewesen: den Menschen. Im Zoobetrieb geht es darum, die Tiere an den Menschen zu gewöhnen und ihre natürliche Fluchtdistanz zu verringern, das ist der Abstand, den ein Tier zu seinem natürlichen Feind hält. Pi lernt, dass gesunde Zootiere nicht aus Hunger oder Mordlust angreifen, sondern weil der erforderliche Abstand zu ihnen unterschritten wird. Und er begreift die Rolle des Alphatieres: wenn zwei Geschöpfe sich begegnen, wird derjenige, dem es gelingt, den anderen einzuschüchtern, als der Ranghöhere anerkannt, und zu einer solchen Rangentscheidung ist kein Kampf erforderlich, in manchen Fällen genügt eine Begegnung.

Diesem Wissen soll der junge Mann sein Leben verdanken. Denn die Familie entscheidet sich, mit Sack und Pack, einschließlich der meisten Tiere, von Indien nach Kanada auszuwandern. Die weite Reise erfolgt auf einem Überseedampfer, das indes bei Nacht und Nebel kentert und spurlos versinkt. Pi Patel überlebt das Inferno und flüchtet sich in ein Rettungsboot. Wie groß ist jedoch sein Schreck, als aus den Fluten weitere Überlebende auftauchen, die das Rettungsboot als ihre Insel ansehen: eine grässliche Tüpfelhyäne, ein Orang-Utan, ein Zebra und ein bengalischer Königstiger, der auf den Namen »Richard Parker« hört und eine Attraktion im Zoo war.

Die Überlebenden massakrieren sich bald gegenseitig, nur Pi Patel und Richard Parker bleiben zurück. Der Junge versucht anfangs, sich auf ein selbst gebasteltes Floß vor der Bestie zu flüchten. Doch dann beginnt er vorsichtig, seinen eigenen Bereich abzustecken, den das Tier schließlich akzeptiert. Er zähmt den Tiger, der ihm gehorcht, zumal er von ihm mit frisch geangelten Fischen gefüttert wird. Hilflos treiben sie im Ozean. Es beginnt eine monatelange Odyssee, die Martel mit derartig großer sprachlicher Anmut und sensiblem Einfühlungsvermögen erzählt, dass der Leser jede Phase des Zusammenlebens zwischen Mensch und Tier mitempfinden kann.

»Schiffbruch mit Tiger« ist eine sowohl witzige wie auch abenteuerliche Erzählung mit philosophischem Tiefgang. Obwohl die Handlung zwischen permanenter Todesangst und listigen Überlebensstrategien pulst, enthält sie herrliche Szenen voller Komik und Humor. Der Text bietet dem Leser leichten Zugang auf verschiedensten Ebenen und berührt auch Fragen des religiösen Verständnisses. Die Story endet skurril, die Schiffbrüchigen entdecken ein seltsame Insel aus Algen und werden schließlich an Land und in ein neues Leben gespült.


Genre: Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Buntschatten und Fledermäuse

Muß man Buntschatten für voll nehmen? fragt sich Axel, der in seiner eigenen Welt lebt. Die Menschen um ihn herum sind für ihn Fledermäuse und Buntschatten, die Geräusche und bestenfalls Klang produzieren, Gefühle und Reaktionen zeigen, die einfach nicht zu begreifen sind. Ihre Sitten und Gebräuche bleiben ihm fremd, wiewohl er zunehmend in der Lage ist, sie zu beachten.

Immer wenn er glaubt, die Buntschattengesetze endlich zu durchschauen, passiert wieder etwas Undurchschaubares. »Dummbart« wurde er als Kind genannt, nun ist Axel ein Muster-Abiturient, dem alle Türen offenstehen. Doch: Warum kann er schwierige Aufgaben der Stochastik mit links lösen, an simplen Fragen des Alltags aber scheitert er kläglich? Er kennt die Hauptstädte aller Länder dieser Erde, aber wie heißt die Hauptstadt von Geselligkeit? Wo liegt die Hauptstadt von Freundschaft? Und wie kommt man in die Hauptstadt von Verliebtsein?

Axel ist enttäuscht von sich. Schlägt denn ein steinernes Herz in seiner Brust? Nur wenn er krank ist, spürt er sich und seinen Körper, ansonsten prägt innere Abwesenheit sein Dasein. Gefühle erreichen ihn nur schwer – man kann sie nicht auswendig lernen. Wie machen Buntschatten das bloß? Axel sorgt für Liebeskummer, ohne ihn selbst spüren zu können.

Als sein Vater stirbt, ist ihm die Traurigkeit der Buntschatten unbegreiflich. Was ist dabei, in die köstliche Ruhe des Friedhofs umzuziehen? Ohne Hilfe der heulenden Buntschatten wäre er nicht auf den Gedanken gekommen, an einem solchen Tag zu weinen. Als er es vergeblich versucht, wurmt es ihn, dass er bei einer so einfachen Aufgabe versagt.

Zu seinem 18. Geburtstag wünscht sich Axel nichts sehnlicher als Vollständigkeit. Endlich würden seine innere Abgeschiedenheit und Benommenheit verschwinden, um Platz zu machen für Klarheit und Einsicht. Doch auch dieser große Tag endet mit Ernüchterung …
Axel Brauns hat einen großen, schlichten Roman geschrieben. Es ist die Geschichte eines Autisten, es ist seine persönliche Geschichte. Er hat sich das Reich der Sprache souverän erobert und schafft es auf bewundernswert einfache und eindringliche Weise, Einblick in sein abgeschiedenes Leben zu gewähren. Am faszinierendsten aber erscheint der so andere Blick auf unsere eigene Welt. Wie absurd erscheint einiges von dem, was wir Buntschatten wollen und tun! Dergestalt eröffnet uns der Autor gleich zwei neue Weltenräume: seinen speziellen und unseren vermeintlich allbekannten.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Der mystische Masseur

In seinem ersten Roman erzählt der mittlerweile auch im deutschen Sprachraum bekannte westindische Autor die witzig-melancholische Geschichte von Ganesh, dem großen Heiler von Trinidad, und liefert das satirische Porträt eines Dorfes, das den ungewöhnlichen und überraschenden Aufstieg eines gescheiterten Lehrers staunend begleitet. Der Protagonist versucht sich als Masseur, und er schreibt ein Büchlein über den Hinduismus. Leider ist er weder als Therapeut noch als Buchverkäufer erfolgreich. Doch Ganesh hat Phantasie, und die setzt er bei der Behandlung eines von einem bösen Dämon besessenen Kindes ein. Er wird zum »mystischen Masseur« und Erfolgsautor und landet schließlich sogar in der großen Politik.

Naipaul schafft mit seinem satirisch reflektierenden Roman ein wundervolles Werk auch über die Rolle des Autors, den Stellenwert des Buches, die Bedeutung von Titelblatt, Aufmachung, Umfang und Widmung sowie über den Sinn, den eingeschlagenen Kurs festzuhalten und an sich selbst zu glauben. Diese Auffassung hat zumindest dem Autor, der 2001 den Literatur-Nobelpreis bekam, geholfen und ihn weit gebracht.


Genre: Romane
Illustrated by List München