Wilhelm Genazinos durch Frankfurt latschender Protagonist ist gut zu Fuß. Der Flaneur, der häufig das Gefühl empfindet, ohne seine innere Genehmigung auf der Welt zu sein, ist Meistertester der Schuhmanufaktur Weisshuhn. Im Auftrag des expandierenden Unternehmens prüft er handgearbeitetes Schuhwerk, schreibt darüber umfangreiche Gutachten und hält sich mit diesem Minijob mehr schlecht als recht über Wasser.
Seine langjährige Gefährtin und Geldgeberin Lisa hat den Schuhtester inzwischen verlassen, um ihn zu zwingen, sich endlich um einen besseren finanziellen Hintergrund zu bemühen. Die früh pensionierte Grundschullehrerin, »die sich für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat«, meint damit seine »mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt«.
In ständigem Gedankenfluss wandert der namenlose Ich-Erzähler durch die Stadt. Er erlebt die Zerbröckelung, Zerfaserung und Ausfransung seines Lebens als Prozess, den er »Verflusung« nennt. Er stört sich an Kindern, die Schokolade essen ebenso wie an Autos, die am Straßenrand parken. Während er ziellos durch die Landschaft schlendert und sich vom Leben abzulenken versucht, beobachtet er unterschiedlichste Gestalten und notiert in Gedanken ihre Bewegungen, Eigentümlichkeiten und Eigenschaften. Es scheint ihm dabei so, dass der Auftritt einer Person, der es offenkundig noch schlechter geht als ihm, in ihm das Verhalten eines guten Menschen hervorruft.
Gelegentlich trifft er weibliche Bekannte, die ihn an seine Kindheit und Jugend erinnern. »Man wird die Leute nicht mehr los, denen man einmal von seiner Kindheit erzählt hat«, klagt er und kehrt in einen Frisiersalon ein, mit deren Inhaberin ihn ein gelangweiltes Gelegenheitsverhältnis verbindet. Auch eine Freundin aus der Jugendzeit rührt ihn nicht wirklich an, wenn er zum wiederholten Mal ihrem verpatzten Traum von einer Schauspielerkarriere lauscht.
Seine »Tagesverdammnis« will es, dass die Schuhmanufaktur sein Honorar für die Berichte auf ein Viertel kürzt. Er beschließt, den Job aus Verachtung aufgeben, doch er ist zu matt und erfindet künftig lieber aus Rache die Gutachten. Sein Dünkel besteht aus einem fast permanenten Zusammenstoß von Demut und Ekel. Die Demut gemahnt ihn, auch die dümmsten Geschichten seiner Mitmenschen anzuhören. Der Ekel stachelt ihn an, zu fliehen, um nicht in den Ausdünstungen seiner Mitmenschen unterzugehen.
Beiläufig stößt er auf den Redakteur des Generalanzeigers, für den er einstmals bereits tätig war. Obwohl er es eigentlich ablehnen möchte, nimmt er dann doch dessen Angebot an, für das Blatt lokale Berichte zu schreiben. Zudem erklärt er Leuten, die ihm ein Gespräch aufdrängen, er leite ein Institut für Gedächtnis- und Erlebniskunst. Zu ihm kämen Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein lang gezogener Regentag geworden sei. Sein Institut versuche, Klienten zu Erlebnissen zu verhelfen, die wieder etwas mit ihnen selber zu tun haben, jenseits von Fernsehen, Urlaub, Autobahn und Supermarkt. Verstört reagiert er, als sich Menschen von seiner Notlüge angesprochen fühlen und sich ihm als Kunden aufdrängen.
Genazinos Roman besteht aus dem endlosen Monolog eines intellektuellen Stadtstreichers, der sich und seine Umwelt ständig beobachtet. Der Autor beschreibt haargenau Menschen, die sich im Alltag bewegen und lässt sich, genau wie im richtigen Leben, federleicht ablenken von Figuren, die wie Treibgut in sein Blickfeld schwimmen. Dabei fällt die ungeheure Kraft des Erzählers auf, den Leser nur durch Beobachtungen am Geschehen teilhaben zu lassen. Genazino verzichtet nahezu vollständig auf den Einsatz anderer Sinne, wie es den Teilnehmern jedes »Kreativ-Schreiben«-Kurs bereits in den ersten Lektionen ins Hirn gehämmert wird. Höchst selten findet ein Riechen, Schmecken, Hören oder Tasten statt, ein Geruch »fällt ihm auf«, aber dabei lässt er es auch schon bewenden.
Die lakonische Erzählweise Genazinos und das dabei entstehende Gemälde einer Persönlichkeit am Rande des Scheiterns sind eindrücklich. Der Autor arbeitet photographisch exakt, er belichtet ausgewählte Details und vergrößert sie für seine Prosacollage im »Gestrüpp, Geröll, Geraschel, Geschluppe, Geschlappe« des Lebens. Sein Roman über ein im Gleichmass verlaufendes «Ablenkungsleben» ist ein Buch für Leser, die zuweilen auch das Gefühl haben, dass ihr bisheriges Leben lediglich ein lang gezogener Regentag ist und «ihr Körper der Regenschirm für diesen Tag».
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