Bauern Sterben – wie die globale Agrarindustrie unsere Lebensgrundlagen zerstört

Der Autor wurde 1954 als „Bauernbub“ in Bayern geboren, in seiner Kindheit erlebt er die Veränderungen der Landwirtschaft, die er dann in den Jahrzehnten seiner journalistischen Tätigkeiten durch investigative Reisen weltweit verfolgte.

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Siedler München

SCUM: Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer

“scum” bedeutet eigentlich Abschaum oder Schmutz. Aber Valerie Solanas machte daraus das Akronym S.C.U.M.: Society for Cutting Up Men. Ihr “S.C.U.M. Manifesto” – so der Originaltitel – schrieb Geschichte, nicht zuletzt, weil dessen Autorin ihre Anliegen kurzerhand selbst in die Tat umsetzte. Sie erschoss am 3. Juni 1968 Andy Warhol.

scum: inspirative Lektüre

Andy Warhol, der die New Yorker Künstlerkommune “Factory” gegründet hatte, starb zwar erst runde 20 Jahre später an den Folgen des Attentats, aber dennoch wäre es wohl zu dem Ereignis geworden, wäre nicht wenige Tag später auch Robert Kennedy erschossen worden. Valerie Solanas wurde in eine Anstalt für abnorme Rechtsbrecher eingeliefert und starb nur ein Jahr später, 1988, nach Warhol. Ihr Manifesto wird seither dennoch mit Andy Warhol und seiner Factory verbunden und inspirierte eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Sogar Nick Cave findet auf dem Buchrücken der neuen Ausgabe des renommierten MÄRZ Verlages einfühlsame Worte für die Autorin. Der Originaltext in der deutschen Erstausgabe erschien übrigens erstmals bei MÄRZ, 1969. Damals noch mit der Autorin am Cover.

S.C.U.M.: Aufruf zur Satire?

Solanas kam aus einem sog. zerrütteten Elternhaus, wurde sowohl von ihrem Vater als auch Verwandten schon sehr früh missbraucht und landete schließlich wie alle Dropouts* jener Zeit in New York City, wo sie standesgemäß im Künstlerhotel “Chelsea Hotel” Unterkunft fand. Dort verkaufte sie ihr Manifest als Hektographie vorerst selbst auf der Straße, schaffte an und lernte die bekannte Drag Queen Candy Darling aus der Factory kennen, die sie auch mit Warhol bekannt machte. Als ihr Manuskript eines Drehbuchs mit dem vielversprechenden Titel “Up your Ass” aus dessen Büro spurlos verschwindet, macht Solanas Warhol persönlich für den Verlust ihres Textes verantwortlich. Der Rest der Geschichte ist bekannt. Ein persönlicher Rachefeldzug, der die Veröffentlichung ihres Manifests in Buchform wesentlich beschleunigte und die Verkaufszahlen erhöhte.

Manifest zur Vernichtung der Männer

Das Manifest selbst liest sich wie eine moderne Satire, ist scheinbar auch an Jonathan Swifts “Modest Proposal” angelehnt, in dem die Kinder der Armen zu Wurst verarbeitet und verspeist werden. Solanas geht mit den “Herren der Schöpfung” zwar auch sehr streng ins Gericht, aber nicht ganz so weit wie Swift. Ihre Hasstiraden auf die Männer, die sie allesamt als Versager verflucht (sowohl Hippies als auch Durchschnittsmänner) sind durchwegs nachvollziehbar und lesenswert. Nicht nur aufgrund ihrer persönlichen Biographie. Denn der Text liest sich unterhaltsam und amüsant und gehört zur feministischen Pflichtlektüre, deren Thesen alle durchdiskutiert gehören.

scum-Neuausgabe mit umfangreichen Extras

Das besondere an der Neuausgabe des MÄRZ Verlages sind nicht nur die Faksimiles von Originalbriefen von Solanas an Jörg Schröder vom MÄRZ Verlag, den sie kurzerhand zum “contact man of the mob” erklärt hatte, sondern auch das informative Nachwort desselben, der über einige Eigentümlichkeiten der wilden Zeit, den Sechzigern, Aufschluss gibt. Anmerkungen im Anhang geben auch Auskunft darüber, was unter *Dropouts zu verstehen ist: “eine moderne Form des Klassenkampfes durch Vorenthalten der Ware Arbeitskraft“.

Valerie Solanas
Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer
(Originaltitel: S.C.U.M. Manifesto)
Aus dem amerikanischen Englisch von Nils Lindquist, mit einem Nachwort von Jörg Schröder,
hrsg. von Barbara Kalender.
2024, 132 Seiten, gebunden,
ISBN: 978-3-7550-0005-1
MÄRZ Verlag
18,– €


Genre: Feminismus, Politik und Gesellschaft
Illustrated by März

“Cancel Culture” – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken

Was veranlasst uns dazu, jemanden einer Plattform zum Meinungsaustausch zu berauben? Warum bestehen so viele Unstimmigkeiten bei der Definition des Begriffs „Cancel Culture“? Verstößt „Cancel Culture“ tatsächlich gegen den demokratischen Toleranzgedanken? Oder weist gerade die Demokratie gesetzliche Lücken auf, derer sich verschiedene politische Lager mithilfe des Cancelns schamlos bemächtigen? Ist jede Form der Meinungsverweigerung als „Cancel Culture“ klassifizierbar, ist sie jemals gerechtfertigt?

Der Philosoph und Ex-SPD-Kulturminister Julian Nida-Rümelin widmet sich in seinem neuen Sachbuch „Cancel Culture – Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken“ u. a. den obigen Fragen.

Expertokratie, Szientismus – das Ende der Demokratie?

Nida-Rümelin untersucht Phänomene der „Cancel Culture“ avant la lettre in unterschiedlichen Zeitepochen. Er nennt Bedingungen für den Erhalt einer demokratischen Gesellschaft sowie Umstände, unter denen er diese gefährdet sieht. All das untermauert er mit philosophisch-politischen Ansätzen: Von Plato und Aristoteles bis hin zu Thomas Hobbes, John Locke, Immanuel Kant und John Rawls.

Cancel Culture – so der Autor – behindere das Projekt der Aufklärung. Diesem zufolge besitze jeder Mensch die Fähigkeit , sich unabhängig vom Staat ein politisches Urteil zu bilden. Obwohl sich Nida-Rümelin da eher skeptisch zeigt, plädiert er dennoch für die Förderung eines Vernunftverständnisses. Dieses müsse weniger auf wissenschaftlicher Expertise und mehr auf alltäglicher Lebenserfahrung basieren.

Nida-Rümelin übt Kritik an Expertokratie und Szientismus aus. Wissen und empirische Wissenschaften dürften keineswegs von Eliten für politische Zwecke instrumentalisiert werden. Stattdessen müssten sie in verständlicher Sprache in die öffentliche Zivilgesellschaft eingebettet werden, um populistische Bewegungen oder Hetzkampagnen einzudämmen. Nur so könnte man freies und kritisches Gedankengut ermöglichen. Der Hang zur Expertokratie habe spätestens seit Corona an Bedeutung gewonnen. Am Szientismus bemängelt der Autor von „Der Akademisierungswahn: Zur Krise beruflicher und akademischer Bildung“ die nach wie vor existente „naive“ Vorstellung, außerhalb des Wissenschaftlichen liege kein Wahrheitsanspruch.

Leicht verklausuliert

Über Nida-Rümelins Implikation, bei der Leugnung von per se nicht widerlegbaren Selbstverständlichkeiten wie „Das ist ein Baum“ handle es sich schon um eine ungewollte, wenn auch nicht behebbare Form der Cancel Culture, lässt sich streiten. Und zwar dann, wenn der Behauptende für diese Aussage gesellschaftlich geschnitten wird. Man fragt sich, ob der Autor mit dieser Verklausulierung den kontroversen Gender-Diskurs im Sinne hatte. Immerhin nennt er am Ende der Abhandlung im Rahmen einer eigens aufgestellten „Cancel-Culture-Kasuistik“ den Fall Kathleen Stock. Stock ist eine britische Philosophin, die sich gegen eine Relativierung des männlichen und weiblichen Geschlechts aussprach, dafür als transphob gebrandmarkt und als Universitätsprofessorin gekündigt wurde.

Nicht unvoreingenommen

Während Nida-Rümelin der Cancel Culture vorwirft, unbeliebte und nicht übereinstimmende Meinungen zu unterdrücken, muss man beim Lesen dennoch die Stirne runzeln. Die – nicht ganz unvoreingenommene – Annahme des früheren SPD-Politikers, die „aktuell größte“ Gefahr für die Demokratie gehe weniger von einer linken Cancel Culture aus, lässt sich widerlegen: Das Verschwinden kanonischer Werke wie William Shakespeares „Sommernachtstraum“, August Strindbergs „Fräulein Julie“ oder Colson Whiteheads „Underground Railroad“ (einer POC!) von akademischen Leselisten und Bibliotheken oder das Umschreiben von Roald Dahls Kinderbüchern und Ian Flemings Spionage-Romanen (James Bond) sind Beispiele gefährlicher linker CC. Sie verzerrt das Verständnis kultureller Sachverhalte zugunsten politischer Indoktrination. Das „Umschreiben“ von Geschichte durch Anachronismen und eine geistige Verhätschelung junger Studierender sind nicht weniger radikal als Xenophobie, religiöser Fanatismus oder die Forderung eines Verbots von Trans-Lesungen für Kinder. Derartige Formen des Cancelns begünstigen solche Entwicklungen sogar.

Auch Joe Biden als „middle of the road“-Kandidaten zu bezeichnen, der „jeder radikalen Intellektulität“ fernstehe, ist nicht ganz unproblematisch. The New York Times und The American Presidency Project haben über Bidens stark schwankende LGBTQI+-Politik berichtet: U. a. von seiner Stimme für den Defense of Marriage Act 1996. Oder seinen Einsatz dafür, die finanziellen Bundesmittel für US-amerikanische Schulen zu streichen, an denen Akzeptanz von Homosexualität gelehrt wurde. 1973 argumentierte Biden, die Aufnahme Homosexueller ins Militär oder in die Regierung berge Sicherheitsrisiken. 1993 stimmte Biden für einen Änderungsantrag zur Kodifizierung des Verbots der dauerhaften Einwanderung von HIV-positiven Migranten durch das Gesundheitsministerium.

Thematisierung unterschwelliger Formen des Cancelns als Stärke

Das Plädoyer für Toleranz mutet etwas banal an. Das mag vielleicht daran liegen, dass der Autor hauptsächlich das Problem unterschiedlicher Auffassungen von Demokratie beleuchtet: Demokratie als Realisierung individueller Rechte und Freiheiten vs. Einschränkung derselbigen durch eine kollektive Entscheidungsinstanz. Eine der Stärken der Streitschrift ist dennoch die Frage nach einer möglichen Existenz einer berechtigten Form von Cancel Culture, z. B. in Form des Arco Costituzionale in Italien nach dem Ende des 2. WK. Dazu gehört auch die Frage, inwiefern die subtilere „Cancel Culture“ zensorische Kontrollmaßnahmen toppt und warum sie sich gesetzlich so schwer fassen lässt. Man denke nur an Facebooks inkonsistente community rules und den Fall des Whistleblowers Julian Assange. Oder an Till Lindemann und die Versuche der Wiener Grünen, Rammstein-Konzerte zu boykottieren.


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Piper Verlag München

SCHMERZAMBULANZ

Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie ist Kranksein zu einem Privileg geworden. Nicht nur wird dieses Privileg immer kostspieliger. In einem intransparenten Gesundheitssystem, das von bürokratischen, wirtschaftlichen und politischen Machtrochaden sowie von mangelnder Kommunikation und Logistik heimgesucht wird, gehen viele Entscheidungen oft auch auf die gesundheitlichen Kosten der Patienten – ohne, dass sie sich dessen bewusst sind oder sich dagegen zur Wehr setzen können.

Der im März 2023 erschienene Roman „Schmerzambulanz“, für den die österreichische Autorin Elena Messner 2022 mit dem Theodor Körner Preis für Literatur ausgezeichnet wurde, nimmt sich dieser Problematik an. Zwischen fiktiven Krankenberichten, erlebten Reden und inneren Monologen changierend, spürt Messner mit einem gnadenlosen Röntgenblick den Lücken und Tücken eines ‚krankenhausreifen‘ Systems nach, dem auch das Krankenhauspersonal zum Opfer fällt.

Leeres Versprechen

Dr. Judit Kasparek, leitende Ärztin der internen Abteilung eines Krankenhauses und hoffnungslose Optimistin, wird mit einem leeren Versprechen um den Finger gewickelt: Sie hat ihren Ausbildungsplatz an der besten Klinik des Krankenhausverbundes verlassen, um an ihrer neuen Arbeitsstelle eine Schmerzambulanz mit diversen Therapieangeboten aufzubauen. Aber der Weg dorthin ist noch lange nicht geebnet. Die Stolpersteine häufen sich nur so an.

Messner beschreibt ein – nicht beim Namen genanntes – österreichisches Krankenhaus als rentable Betreibergesellschaft, die lieber auf geliehene Ärzte und Pflegekräfte statt auf fix angestelltes Personal setzt. Seit geraumer Zeit wird vergeblich bei diversen Medizinmessen wie Arab Health neues medizinisches Equipment angefragt. Auch bei der Produktion und Lieferung von Medikamenten ist man auf externe Pharmakonzerne angewiesen – Stichwort China und Indien als neue Weltapotheke. Antibiotika und Erkältungsmedikamente gehören in Österreich schon seit Monaten zur Mangelware. Vielversprechende Studien zu neuen Schmerztherapien werden nicht zur Kenntnis genommen oder unter den Teppich gekehrt. Pflegekräfte werden nicht in die ärztliche Beratung miteingebunden. Dann wären da noch die Unstimmigkeiten bei der Vergabe von Medikamenten, und, und, und. Die Liste ist unerschöpflich.

Der Fall der 78-jährigen Barbara Steindl bringt das Pulverfass endgültig zum Explodieren: Nach einer nicht eindeutig erklärbaren Verschlimmerung des Gesundheitszustandes der Patientin sieht sich Judit dazu verpflichtet, ein Ethik-Konsil einzuberufen, womit sie den Groll all jener Angestellten auf sich zieht, die die Patientin betreut haben. Die Autorin lässt dabei die Frage offen, ob es sich um einen schlecht getarnten Racheakt wegen des nicht eingehaltenen Versprechens handelt, oder ob Judit den Fall der Patientin, in deren Alter ihre Kollegen die Ursache für deren „Gebrechlichkeit“ sehen, einfach nicht über einen Kamm scheren will.

Gleichzeitig versäumt Messner es nicht aufzuzeigen, wie das gesamte Personal unterschiedlicher sozialer Klassen auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und Schuldzuweisungen und die Instrumentalisierung der Patientin Vorrang gegenüber gemeinsamen Lösungen haben. So nimmt die Freundschaft zwischen Judit und der Anästhesistin Asja einen Kollateralschaden. Die Paranoia von Krankenpfleger Jovo wird zum Nährboden für fatale Missverständnisse. Vor ihnen ist auch nicht Judits Mentor, der Oberarzt Tom Trattner, gefeit. In ihm sieht wiederum der Bettenschieber Cveto, dem die Ausbildung zum Pfleger fehlt, eine Möglichkeit, sich beruflich über Wasser zu halten.

Wissenswertes und Sarkasmus

Messner gelingt es, in 226 Seiten viel Wissenswertes und selbst Recherchiertes über das (österreichische) Gesundheitssystem zu packen. Man erfährt unter anderem, dass die Richtlinien privater Krankenkassen im Krankenhaus Behandlungsmaßnahmen erzwingen, die der Patientin Steindl aber nicht zugutekommen. So werden nicht unbedingt notwendige Infusionen nur deswegen verabreicht, weil sie abrechenbar sind und die alleinige Einnahme von zu schluckenden Medikamenten finanziell nicht in der Krankenkasse inbegriffen ist. Da verwundert dann auch ein fiktiver Chirurg nicht, der angeblich die Kosten für einen Eingriff am Körpergewicht seiner Patienten misst.

Ein flüssig geschriebener, gelegentlich auch poetisch angehauchter Roman, der für notwendiges Unbehagen sorgt. Allerdings wird das Aufbrechen konventioneller Geschlechterrollen im Gesundheitswesen eher belächelt denn befürwortet, etwa wenn ein junger Krankenpfleger eine On-Off-Beziehung zu einer älteren Ärztin führt oder ein homosexueller Bettenschieber dem Oberarzt während des Ethik-Konsil unterstützend zujubelt. Trotz mancher Unwahrscheinlichkeiten wie der befürchteten Kündigung von Pflegern, auf die die Spitäler im Jahr 2023 mehr denn je angewiesen sind, überzeugt „Schmerzambulanz“ mit wahrheitsgetreuen Schilderungen.


Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Edition Atelier

Eurotrash

Christian Kracht ist Schweizer mit deutschen Wurzeln. Er sieht sich selbst als Kosmopolit. Nach eigener Aussage begreift er seine Romane eher „humoristisch“, löst mit seinem Werk und Leben allerdings häufig heftige Kontroversen aus. Ein Mensch und Autor, der nicht einzuordnen ist, und der in Eurotrash offensichtlich immer noch nach seinem eigenen Platz und Stellenwert in einem Leben sucht, dessen materielle Rahmenbedingungen andere bei einem flüchtigen Blick neidvoll als beste Voraussetzungen für unbeschwertes Glück ansehen würden. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Erinnerungen, Gesellschaftsroman, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Kakerlake

Zuallererst: Nicht überall, wo Ian McEwan drauf steht, ist auch Ian McEwan drin. Wer als Leser also das übliche, flüssig-harmonische Gleiten einer bisweilen pointierten, aber immer eingängigen Handlung wie in „Honig“ oder „Solar“ erwartet, sei vorgewarnt. Surrealistische Trends wie in „Der Tagträumer“ haben bereits aufblitzen lassen, dass der Autor auch anders kann, wenn er will. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Humor und Satire, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Diogenes

Material Girls: Warum die Wirklichkeit für den Feminismus unerlässlich ist

Anfang des Jahres blieb ich beim Zappen bei einem Interview der BBC mit Kathleen Stock hängen, die gerade ihre Stelle als Philosophin gekündigt hatte, weil sie von den Studierenden wegen Transphobie gemobbt worden war. Das also war Transphobie? Sie berichtete, sachlich und empathisch, auch von Diskriminierungen, die Transmenschen erfahren.

Ihr Buch, im Mai 21 erschienen, kam im Frühjahr 22 auf Deutsch heraus, mit einem Interview, welches die Übersetzerin Vojin Sasa Vukadinovic führte. Frau Stock konnte schon zurückblicken auf weitere Entwicklungen in der universitären Welt, die die Ihre war: Es ist hinderlich für die Karriere, Aussagen wie: „Eine Transfrau ist eine Frau, ein Transmann ist ein Mann.“ zu hinterfragen.

Frau Stock führt uns durch die Entwicklung des Feminismus der letzten Jahrzehnte. Sie argumentiert als Philosophin mit Thesen und Gegenthesen, die jeweils durch Zitate unterfüttert sind: von den knapp vierhundert Seiten des Buches sind über dreißig Literaturangaben. Sie beschreibt, wie sich in den letzten zwei Jahrzehnten der Umgang mit Transmenschen geändert hat, auch deren Zunahme.

Ausgang der Arbeit sind die gesetzlichen Änderungen im Vereinten Königreich, die die gefühlte Geschlechtsidentität in den Vordergrund stellen. “Die Theorie der Geschlechtsidentität behauptet nicht nur, dass Geschlechtsidentität existiert, für Menschen fundamental ist und rechtlich und politisch geschützt werden soll. Sie besagt auch, dass das biologische Geschlecht irrelevant ist und keines solchen rechtlichen Schutzes benötigt. So wie es aktuell steht, würde Geschlechtsidentität in einem direkten Kampf mit Geschlecht gewinnen. Und deswegen muss ich über Geschlecht sprechen.“

Sie stellt verschiedene Modelle vor, mit ihren Stärken und Schwächen. So gibt es die Vorstellung, dass Geschlecht „ein Kontinuum sei“, oder, wie bei Facebook, dass es siebzig Geschlechter gäbe.

Zwei Aspekte mochte ich in der Rezension herausstellen:  die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über menschliche Körper und die Auswirkungen, am Beispiel des Leistungssports, wenn das biologische Geschlecht durch die gefühlte Geschlechtszugehörigkeit ersetzt wird.

Während in der Medizin bis vor etwa 50 Jahren der männliche Körper als Bezugsgröße für Therapien, insbesondere Dosierungen der Medikamente galt, war es dann neuartig, dass weibliche Körper anders sind: Krankheiten anders entwickeln, in Art oder Anzahl. Diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen. Dabei geht es nicht nur um Geschlechtsorgane (primäre wie sekundäre), sondern um alle Funktionen. Diese Binärität wird nun, auf Betreiben der „Transaktivisten“, durch die selbst gewählte Geschlechtsidentität ersetzt. Frau Stock bezeichnet dies als Fiktion, ist doch die Beschaffenheit jeder einzelnen Körperzelle nicht durch eine freie Entscheidung zu verändern.

Vornehmlich beim pubertären Körperbau führt die Produktion von Testosteron zu mehr an allem: Lunge, Herz, Knochen und Muskel. Dies führt zu erhöhter Leistungsfähigkeit bei körperlicher Arbeit. Natürlich gibt es Frauen, die stärker sind als manche Männer, aber auch schwächere Männer können vielen Frauen überlegen sein.

Mehrere Organisationen haben im Vereinten Königreich die Meinungsführerschaft übernommen, und verbreiten diese Fiktion als Realität, ein Beispiel ist Stonewall. Sie sind medial aktiv, schreiben auch Universitäten an und bieten ein PR-freundliches Branding an, wenn bestimmte Dinge eingehalten werden: “Sie sollten jeder Person Zugang zu Einrichtungen, Räumen und Gruppen ermöglichen, die mit der jeweiligen Geschlechtsidentität übereinstimmen.“ (zum Beispiel Sportgruppen) Lehrkräfte, müssen „LGBT Themen sensibel und akkurat behandeln.“ Was akkurat ist, gibt Stonewall vor.

Im Vereinten Königreich ist es deshalb nicht passend, von Frauen zu sprechen. Alternativen wären: „nicht-Prostataträger“ „Menstruierende“ oder, aus den USA kommend: „Vorderlöcher“. Männliche Attribute, wie der Penis, können weiter traditionell benannt werden. Dass dies bei gesundheitlichen Einrichtungen, etwa Schwangerschaftsberatungsstellen, nicht zur verbesserten Kommunikation mit den Klientinnen beiträgt, wird, von den dort Tätigen, bestätigt: Viele von ihnen können noch nicht einmal gut Englisch.

Frau Stock beschreibt die Situation in Frauengefängnissen, in denen Transfrauen einsitzen. Ihre gefühlte Geschlechtsumwandlung hat nicht dazu geführt, dass die durch sie verübten Straftaten, denen der Cis-Frauen ähnlicher geworden wären. Diese klagen über gewalttätige Übergriffe.

Die Situation im Leistungssport in dieser Rezension hervorzuheben, hatte ich schon beschlossen, bevor Donald Trump sie für seinen Wahlkampf entdeckt hatte. Es gibt im Buch viele Beispiele von Sportkämpfen im angelsächsischen Raum, wo Transfrauen Siegerinnen sind.

Was mir nicht so klar war: Was dies für Studienplätze und Stipendien bedeutet. Und das IOC plant, Transfrauen dann als Frauen starten zu lassen, wenn sie zwei Jahre lang Testosteronhemmer zu sich genommen haben. Der Blutspiegel des Testosterons kann dann immer noch „6-12mal höher sein“, als bei anderen Frauen. Selbst wenn in allen Gesellschaften Frauen und Männer gleichberechtigt wären, welche Cis-Frau hat dann noch Chancen beim Leistungssport?

Ich wollte dieses Buch lesen, um endlich etwas von der Debatte, und die dabei verwendeten Begriffe zu verstehen. Sven Lehmann, der Queer Beauftragte vertritt, ganz akkurat, die Stonewall Position: „Eine Transfrau ist eine Frau, und ein…“

Das Buch hat mir geholfen, eine Meinung dazu zu entwickeln.


Genre: geschlechtliche Vielfalt, Politik und Gesellschaft
Illustrated by edition TIAMAT

Der Unruhestifter
by Ha Jin

Eigentlich ist die Story schnell erzählt. Ein chinesisches Ehepaar träumt von einem gesellschaftlichen Aufstieg, am besten mit dem Sprungbrett eines Studiums oder einer beruflichen Karriere in den USA. Die Ehefrau Haili bekommt früher eine Ausreisegenehmigung. Der Kontakt zum Ehemann Danlin in China wird – wie bei so vielen Long-Distance-Love-Affairs – spärlicher und als er schließlich auch in den USA ankommt, überreicht sie ihm die Scheidungspapiere. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Romane
Illustrated by Arche Zürich

Diese Fremdheit in mir

Knapp 600 Seiten Print- oder 5.200 KB eBook – ein gewaltiges Werk, das wahrscheinlich schon per se einen Literatur-Nobelpreis wert wäre, hätte man diesen dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk nicht bereits 2006 verliehen. Diese “Fremdheit in mir” erschien erst 2014, also 6 Jahre nach der Aufnahme in den Literatur-Olymp.
Erscheinungsdatum wirklich 2014? Man stutzt und will es kaum glauben. So jung? Eigentlich doch so zeitnah und modern, aber…? Aber der Reihe nach.

Pamuks Buch ist eine Familien-Saga mit allem, was dazu gehört. Ein Epochen übergreifender Generationen-Roman mit der zentralen Figur des Boza-Verkäufers Mevlut (Wiki: „Boza ist ein leicht alkoholisches, süßlich-prickelndes Bier, ursprünglich aus Hirse, das auf dem Balkan und in der Türkei, in Zentralasien und im Nahen Osten konsumiert wird“).
1954 kommt Mevlut, wie so viele, als kleiner Junge mit seinem Vater aus Anatolien nach Istanbul. 60 Jahre lang begleitet der/die LeserIn Mevluts Schicksal und das seiner Eltern, Onkel, Tanten, Cousins, Frau(en), Schwiegereltern, Töchter, Schwiegersöhne, Enkel, SchwägerInnen, Freunde. Und das alles vor dem Hintergrund der türkischen Historie und insbesondere der Entwicklung Istanbuls. Da bedarf es in der Tat schon einer vierseitigen Chronologie im Anhang, um den Über- und Durchblick nicht zu verlieren. Vor allem, wenn man ins Kalkül zieht, dass man Pamuks Schreibstil durchaus als detailverliebt bezeichnen darf.
Das Positive an dem Buch lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Es ist ein relativ authentisches Spiegelbild der türkischen Gesellschaft über sechs Jahrzehnte und insbesondere der vielen einfachen Menschen vom Land, die in der Metropole Istanbul ihr Glück versuchen.
Lässt man allerdings auch nur ein wenig literarische Kritik walten, handelt es sich um eine türkische Telenovela, die in jedem TV-Kanal nach vier Wochen abgesetzt würde. Zu zähflüssig, zu langweilig, zu vorhersehbar ist die von einem türkischen Mann konstruierte Handlung. Das Geschriebene plätschert vor sich hin, man erfährt nichts, was man bei halbwegs ausgebildeter Beobachtungsgabe nach zwei bis drei Türkei-Urlauben nicht eh schon wüsste. Selbst literarische „Kunstkniffe“, wie der Wechsel vom außenstehenden Erzähler zum Monolog agierender Darsteller, laufen ins Leere, da es Pamuk versäumt, in diesen Passagen den Erzählstil zu ändern und zu profilieren.
Orhan Pamuk ist der vielleicht beliebteste und erfolgreichste, männliche türkische Schriftsteller unserer Zeit. Die türkisch-maskuline Weltsicht sprießt so auch aus allen Poren. Ein Mann ist der Hauptdarsteller, Männer dominieren den Alltag, die Sicht auf die Frauen ist männlich-traditionell. Und genau deshalb wieder der ungläubige Blick auf das Erscheinungsdatum. Bei aller Liebe zur authentischen Darstellung der Realität – wo bleibt die wenigstens angedeutete Kritik zum Beispiel an der Stellung und Rolle der Frau in dieser gesellschaftlichen Umgebung? Dürfte man das 2014 von einem Nobelpreisträger nicht verlangen? Warum durchgehend diese rosarote Wolke, diese naive Zufriedenheit, die sich vom Protagonisten auf die ganze Atmosphäre des Romanes überträgt? Selbst wenn Armut und Leid geschildert werden, bleiben diese immer systemimmanent.
Schwer erklärlich bleibt bis zum Schluss der Titel des Buches. „Diese Fremdheit in mir“ kommt als Terminus zwar immer mal wieder in unterschiedlichsten Zusammenhänge vor, wird aber auch im Kontext nicht klarer. Vielleicht ein Übersetzungsproblem? Im Originaltitel “Kafamda Bir Tuhaflık” bedeutet Tuhaflik eher Eigenheit, Marotte, Verschrobenheit, was dem eigenbrötlerischen Charakter des Mevlut schon eher entspricht.
So bleibt auch in mir als Leser am Schluß eine Art von Fremdheit oder besser Befremdlichkeit ob des preisgekrönten Erfolges dieses Autors. Über den politischen Background des Literaturnobelpreises hatte ich bereits bei Olga Tokarczuk spekuliert. Orhan Pamuk lässt in mir die Ahnung aufkommen, dass dieser Preis auch eine Art Fleißkärtchen sein könnte.

Genre: Belletristik, Politik und Gesellschaft, Roman
Illustrated by Fischer Verlag

Erfüllendes Mutterglück oder kinderlose Freiheit – Mein Weg zur Entscheidung

Soviel vorneweg – auch wenn im Titel von „Mutterglück“ die Rede ist, so ist das Buch der deutschen Autorin Ellen Kuhn nicht nur an Frauen adressiert, sondern unbedingt auch etwas für Männer. Denn wie oft schlittern wir Männer in eine Familien- respektive Vater-Situation hinein, nur weil es Konvention und Tradition so vorgeben und/oder weil es für uns mal wieder einfach bequemer so ist. Dazu gehört sicher auch, dass viele Männer gerade die Kinderentscheidung nicht wirklich überdenken und sich der Tragweite für ihr eigenes Leben nicht bewusst sind. Das Scheitern ist statistisch fast schon vorprogrammiert. Selbst moderne Männer gründen heutzutage bei Misslingen des Ehe- und Kinderprojekts keine „I regret“-Gruppen, sondern wählen auch da den ganz traditionellen Weg, also Flucht, Trennung, Geliebte. Nur erfährt dieses männliche Verhalten im Gegensatz zu den Müttern bis heute keine auch nur ansatzweise ähnlich ausgeprägte Ächtung in unserer Gesellschaft.

Also tut so viel Information wie möglich im Vorfeld Not, nein, sollte sogar unabdingbare Pflicht sein. Für Frauen und (!!) Männer. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by tredition

Infokratie

Politiker würden durch Experten und Informatiker ersetzt, die die Gesellschaft jenseits ideologischer Interessen vertreten, warnt der renommierte Philosoph und Autor Byung Chul Han in seinem neuesten Werk „Infokratie“. Weiter schreibt er, dass Politik durch datengetriebenes Systemmanagement abgelöst werde. Ich denke, das gilt wohl auch für die Corona-Krise, wenn alles auf die Prognosen der Modellrechner starrt. Oder entsetzt und panisch den Behauptungen der Virologen folgt, man bräuchte dringend einen Lockdown, 1 G etc., weil sonst bräche alles zusammen. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Matthes & Seitz

Die Selbstgerechten

Sahra Wagenknecht hat ein Buch geschrieben. Über unsere Gesellschaft, durch die ein Riss geht, die sich in unterschiedliche Filterblase aufteilt, und in der immer öfter nicht mehr diskutiert, sondern nur noch moralisiert wird.
Ich bin moralisch und jeder der meine Meinung nicht teilt, folglich minderwertig. Ganz neu ist dieser Effekt nicht, schon vor zweitausend Jahren sagte ein Pharisäer: »Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin, wie dieser Zöllner neben mir.«
Schon damals waren viele Intellektuelle voller Verachtung für die unteren Schichten der Bevölkerung. Sie liebten das Volk, hassten aber die Bevölkerung. FB und Internet haben diesen Effekt verstärkt und vor allem ist es mittlerweile »in« geworden, Menschen danach zu beurteilen, ob sie die gerade gängigen Worte benutzen, ob sie den letzten Schrei an moralischer Empörung teilen. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Campus Verlag

Der Fall Julian Assange. Geschichte einer Verfolgung

WikiLeaks-Gründer Julian Assange ist einer der bekanntesten politischen Gefangenen unserer Zeit. Seit elf Jahren interniert, feiert er am 3. Juli 2021 als »Untersuchungsgefangener« seinen 50. Geburtstag im britischen Hochsicherheitsgefängnis. Wer sich näher mit der Geschichte seiner Verfolgung befassen möchte, liest den spektakulären Report des UNO-Sonderberichterstatters für Folter, Nils Melzer, der jetzt in Buchform vorliegt. Weiterlesen


Genre: Politik und Gesellschaft, Sachbuch
Illustrated by Piper Verlag München

Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang

Der Untertitel des Buches Bauern, Land: Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang von Uta Ruge verspricht viel, aber, um es gleich zu sagen, nach der Lektüre der 470 Seiten weiß ich wirklich mehr über Land, Leute und globale Zusammenhänge in der Landwirtschaft. Es gibt auch ein Glossar.

Uta Ruge wurde als Tochter eines gut bestellten Bauern auf Rügen geboren, die Familie floh, als die Höfe zu LPGs vergesellschaftet wurden. So bald wie möglich bewarb sich der Vater um einen freiwerdenden Hof in der Nähe der Nordsee und wurde Moorbauer. Es wird detailliert vom Aufwachsen auf dem Lande gesprochen, von langen Arbeitstagen und von Armut bei den Bauern. Zu den Berichten aus ihrer Kindheit heißt es im Klappentext: „Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.“

Dazwischen gibt es zeitgenössische Texte von den Zeiten, als Ackerland mühselig der Natur abgerungen wurde, in denen manche Bauern Leibeigene waren. Einzelschicksale aus allen Jahrhunderten werden dargestellt. Es gibt nicht nur Dokumente, auch Goethe kommt zu Wort. Und dazu gibt es eine Zitierweise, so als wäre dies eine wissenschaftliche Arbeit.

Der Aufbau ist so: nach einigen Kapiteln Erfahrungen kommen historische Details. Hier macht Geschichte Spaß: In der Schule hatte ich einen langweiligen Unterricht; es ging um Männer und Zahlen, hier geht es um Menschen und Zusammenhänge, also: wie sie lebten.

Nach etlichen Kapiteln im Wechsel zwischen Erfahrungen und Historie kommt ein „Zwischenspiel“, es werden vier: Mit ihrem Freund Krischan, der mit ihr aufgewachsen war, trifft sie sich und sie besprechen, wie die jeweiligen Epochen die Kunst prägten. Für Kunstausstellungen ist ihnen kein Weg zu weit und wir erfahren, dass auf Brueghels Bildern die Gemetzel der Kriegszeiten, in denen er lebte, zu erkennen sind. Am meisten beeindruckt sie Van Gogh, dessen Bilder muss ich mir daraufhin nun nochmal angucken …

Bruder Waldemar hat den väterlichen Hof geerbt, obwohl er jünger ist, ein bisschen gewurmt hat sie das schon, aber dafür hat und hatte sie ein bunteres Leben. Waldemar bewirtschaftet den Hof mit Anna und Sohn Hannes. Uta Ruge fährt mehrmals im Jahr hin und verfolgt so die Entwicklung. Natürlich führen verschiedene Lebensentwürfe zu  Wahrnehmungsunterschieden zwischen Städtern und Landwirten etwa zum Vermaisierungs-oder zum Wolfsblick.

Als Städterin und Leserin grün/ökologischer Schriften bin ich (die Rezensentin) gut informiert, wie wichtig die Rückkehr der Wölfe auf deutschen Landen wäre. Und dass Geschädigte Ausgleichzahlungen erhalten. Nun weiß ich, aus Gesprächen, die Frau Ruge mit Betroffenen führte, dass Bauern es anders sehen: Sie müssen Zäune errichten, dann beweisen (mit DNA Analysen), dass das gerissene Tier nicht etwa vom bäuerlichen Hofhund angegriffen wurde, und nur wenn der Zaun hoch genug ist, gäbe es Zahlungen. Zunehmend werden nicht nur Schafe und Ziegen, sondern auch Rinder gerissen, für sie wird es bald keine Weidehaltung mehr geben.

Zurück in die Vergangenheit: Eine weitere gute Quelle sind Jahresberichte der Dorflehrer, die über Jahrhunderte gesammelt wurden. Anfangs hielten die Bauern, so wie Krischans Vater, Lesen für Zeitverschwendung. Während des 2. Weltkriegs wurde die Schule geschlossen, und danach, als viele Flüchtlinge in den Dörfern untergebracht wurden, zeitweise über 60 Personen, gibt es als Beruf der Mütter: Witwe, oder auch Flüchtling. Irgendwann gibt es keine Chroniken mehr, 1957 hört der Lehrer auf, in dem Jahr, als es den ersten Trecker gab. Und dann wird auch die Zwergschule aufgelöst und die Kinder werden mit Bussen zur Schule gefahren, manche von weit her.

Wir lesen von den Reformen vergangener Zeiten, auch gescheiterten, etwa von den Bauernkriegen, bei denen Martin Luther auffordert, Bauern totzuschlagen „wie einen tollen Hund.“ Erstmalig habe ich verstanden, dass die napoleonische Besetzung obskure Macht- und Abhängigkeitsstrukturen der Bauern beendet hatte. Oder dass es Albrecht Philipp Thaer war, der in Preußen in Ansätzen die Landwirtschaft auf wissenschaftliche Basis gestellt hatte, die auch Reformen im russischen Zarenreich beeinflusst hatten. Auch was unter Lenin für Bauern geschah und wie Stalin das wieder zunichte gemacht hatte. Nicht so unbekannt waren mir die Weizenfelder im Mittleren Westen der USA, deren Ackerboden so ausgelaugt war, dass die Erde wegwehte und es zum Dustbowl wurde.

Nicht immer ist es mit diesen Plänen für größere Betriebe und großen Maschinenparks gelungen, die Erträge zu erhöhen, auf den Prärien im Midwest werden jetzt wieder Büffel eingeführt, in Russland ist der Aralsee versandet, mit dessen Wasser bewässert worden war.

Auch die GAP (Gemeinsame Europäische Agrarpolitik) versucht, Landwirtschaft möglichst groß zu machen, wir lesen über Sicco Mansholt, der sie betrieben hatte, später erkannte er, dass kleinere Betriebe eher eine Zukunft hätten.

Das 48. Kapitel 1970er Jahre
Mansholt ist gegen seinen eigenen Plan.
Die Bauern werden weniger, die Kühe mehr

ist das Ahaerlebnis: Nachdem Mansholt auf Steigerung der Produktion landwirtschaftlicher Produkte gedrängt hatte, gab es nun subventionierte Überproduktionen (Butterberg), die Mansholt von nun an verhindern wollte. Seine Vorschläge wurden verwässert, eine Zeit lang gab es Quoten, inzwischen müssen auch EU-Bauern versuchen, zu Weltmarktpreisen zu produzieren. Denn nur die zahlen die Lebensmittelketten.

Heute kann nur der Bauer überleben, der sich die neuesten Geräte anschafft, wahrscheinlich auf Kredit. Googeln Sie mal Melkroboter! Damit kann man etwa 60 Kühe täglich zweimal melken. Preis für neue auf Anfrage, ein fünf Jahre alter bringt es immerhin auf fast €140 000. Und das mit Erzeugerpreisen für Milchbauern, die schwanken, aber nie die 30 Cent pro Liter erreichen, die nach Hannes‘ Meinung den Bauern Sicherheit brächten.

Während ca. 100 Kühe, so wie Hannes sie hält, vor 10 Jahren noch ein Großbetrieb gewesen wären, spricht man heute von Großbetrieb bei mindestens 500 Kühen, die zweimal am Tage vier Stunden lang gemolken werden. Im Beispiel von rumänischen Gastarbeitern, die inzwischen ihre eigenen Stiefel und Schürzen bringen müssen, da sie sie gerne mitgenommen hätten, das wäre dem Besitzer zu teuer gekommen …

Beim letzten Zwischenspiel geht sie mit Krischan in die Domäne Dahlem, wo Städtern und vor allem deren Kindern gezeigt wird, wie schön es auf dem Land sein kann. In einem Saal, gesponsert von Lebensmittelkonzernen (!), erfahren sie, wie schön die Lebensmittel im Laden aussehen. Von den Mühen der Arbeit, oder auch nur von leidenden Tieren ist nichts zu sehen …

Wie sähe der Traummilchbauernhof aus, der nachhaltig Zufriedenheit schaffte? Frau Ruge und Krischan denken an etwa 50 Kühe, die könnte man ohne Hilfskräfte und ohne sich zu erschöpfen, als Bauernfamilie betreiben, wenn dann der Milchpreis stimmte.

Ich würde gerne mal zu so einem Zwischenspiel mitkommen, selbst wenn ich nichts sagen dürfte, nur Zuhören wäre sicher interessant …


Genre: Landwirtschaft, Politik und Gesellschaft, Umwelt
Illustrated by Verlag Antje Kunstmann

Mädchen, Frau etc.

Dieses Buch fesselt von der ersten Seite an, es lebt von der aufmerksamen Beobachtung und Beschreibung der Protagonisten. Wir lernen mit Anteilnahme und Humor ein Dutzend britischer Frauen während der letzten hundert Jahre kennen, alle Generationen sind vertreten, viele kennen sich untereinander.

Manche kommen aus gutem Hause, andere hatten ledige Mütter, manche entdecken für sich den Feminismus der sechziger Jahre (Betty Friedan!), andere sind oder werden lesbisch, nie verschämt, mal kämpferisch. Amma etwa nimmt sich vor, nur einmal mit derselben zu schlafen, und als sie sich ein Kind wünscht, lässt sie sich von ihrem schwulen Freund Roland (künstlich!) befruchten. Die Tochter Yazz ist inzwischen eine Studentin, strotzt vor Selbstbewusstsein und wickelt ihre Eltern um den Finger; getrennt, versteht sich.

Wir lesen die Geschichte von Hattie, einer Gutsbesitzerin im Norden Englands, andere sind Lehrerinnen an Schulen, die sich in jungen Jahren an der Aussicht erfreuten, etwas zur Bildung gerade sozial Schwacher beizutragen, dies zeigt sich nach Thatcherschen Schul- und anderen Reformen als Illusion und führt zumindest bei Shirley zu Verbitterung. Dass ihre eigene Mutter sie auch noch mit ihrem Mann betrügt, erfährt sie zum Glück nicht. Es werden Vertreterinnen der weiblichen Linie bis zur Urgroßmutter vorgestellt, und die Spannungen zwischen den Generationen gespiegelt.

Das Buch ist geschrieben, wie man spricht, mit spärlicher Interpunktion, und unter Vermeidung direkter Rede. Es ist das Besondere des Stils, dass es weniger Dialoge gibt, aber dafür werden die Gedanken der Protagonistinnen aufgeschrieben, also auch das, was nicht gesagt wird. Ich habe es erst im englischen Original gelesen, die Übersetzerin ist tapfer, nicht immer gelingt es ihr, den frechen Stil der Autorin wiederzugeben, auch weil diese gerne Abkürzungen verwendet, wie bei der SMS Sprache.

Durchgängig ist im Buch Sex wichtig, jede entdeckt für sich, wie sie es am liebsten hat, ohne Details über erotische Techniken. Alter spielt dabei keine Rolle. Als Penelope sich mit über 70 einen neuen Lover sucht, erwägt sie, sich die Schamhaare färben zu lassen, ist dann aber nicht nötig…

Bei den ganz Jungen, wie Yazz, geht es um Gender-, auch Transgenderfragen, es geht auch darum, welchen Pronomina das selbst gewählte Geschlecht verlangt, hier ist die deutsche Sprache deutlich spröder als das Englische.

Der Aufbau des Buches ist folgender: Amma ist trotz ihrer aus Afrika stammenden Eltern eine erfolgreiche Dramaturgin am National Theater geworden. Heute Abend ist Premiere ihres Stückes und die meisten Menschen, die sie in ihren über fünfzig Jahren begleitet haben, werden kommen, auch danach zur Premierenfeier.

Das Theaterstück wurde vor zehn Jahren von Amma geschrieben, (und so lange dauerte es, bis sie es auf inszenieren durfte) über das vorkoloniale Benin, in dem der König, aus Angst vor männlichen Rivalen seine Sicherheitsgarde aus Frauen gebildet hatte. Mehrere Hundert waren es, formal mit ihm verheiratet, und sie durften von keinem Mann gesehen, geschweige denn, berührt werden. Irgendwann wenden sie sich gegen ihn, dann zueinander und genießen ihr lesbisch Sein.

Im Buch folgen nach Ammas Gedanken auf dem Weg zum Premierenabend die Biographien der (sie selbst eingeschlossen) zwölf Frauen, die alle afrikanische Vorfahren haben. Es geht um Kindheiten in Nigeria, auf Barbados und die schwierigen Eingewöhnungszeiten in England, die Diskriminierungen als Schwarze, die manche schon als Kinder, alle als Erwachsenen erfahren haben, werden präzise und ohne Larmoyanz beschrieben.

Die Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen werden aufgeführt, in London werden Stadtviertel gentrifiziert, auf dem Lande erlebt Hattie die Industrialisierung der Landwirtschaft.

Und was ist mit den Männern? Sie gibt es als Väter, Brüder, Ehegatten und (Schwieger)Söhne, wie die Frauen sie wahrnehmen. Auch sie wurden als Kinder des britischen Empire irgendwann Briten. Anders verlief nur die Jugend von Hatties Mann Slim: er war ein US-Soldat aus Georgia, Nachfahre von Sklaven, der wegen Hattie in England blieb und die Engländer als viel respektvoller empfand: Niemand hier hat ihn je Boy gerufen. Ironie des Schicksals: in einem Geheimfach von Hatties Vorfahren findet er Dokumente, die belegen, dass Grundstock des Vermögens Sklavenhandel war. Und Hattie muss beobachten, wie die gemeinsamen Kinder Besuchern erzählen, ihr Vater wäre ein angestellter Landarbeiter.

Nur Rolands Gedanken werden uns, wie die der Frauen, im O-Ton beschrieben. Er ist von sich sehr angetan, immerhin gehört er zum Establishment als TV Promi, Prof. für Soziologie, und das als Einwandererkind, das mit zwei Jahren aus Gambia gekommen war! Leider will keiner der langjährigen Bekannten, die er auf der Premierenparty trifft, seine langen Predigten über das Theaterstück, oder Ergüsse zu anderen Aspekten des Lebens anhören. Es sind Szenen wie diese, die sich mit

Vergnügen lesen, weil Menschenkenntnis und Humor zusammentreffen.

Überhaupt ist die Premierenfeier, auf der reichlich Prosecco fließt, und wo so unterschiedliche Menschen zusammengewürfelt werden, ein Genuss, schon die Beschreibungen der Outfits, viele haben einen afrikanischen Touch. Erfrischend ist, welche Schlüsse gezogen werden, etwa, dass Frauen mit festem Schuhwerk wahrscheinlich lesbisch sind.

Und wir sehen, wie sich Menschen entwickeln können, wie alte Überzeugungen gepflegt, oder eben geändert werden. Nochmal zum Sex: Amma bevorzugt jetzt Dreier, gerne in langjährigen Beziehungen.

Das Buch ist spannend, flott geschrieben und überzeugt durch die klug gewählten und gut getroffenen Persönlichkeiten. Das ist einfach guter Stoff. Zum Schluss gibt es dann noch einen Epilog, mit dem sich ein Kreis schließt …


Genre: Frauenliteratur, Politik und Gesellschaft
Illustrated by Tropen Verlag