Der Problembär: Am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn

Der Problembär. Der Wiener Grind. Das popkulturelle Phänomen, das vor allem vom deutschen Feuilleton heubeigeschrieben wurde, bestand damals am Höhepunkt, 2015, vor allem aus Wanda, Nino, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Der Floridsdorfer Tausendsassa Stefan Redelsteiner, Musikmanager und Verleger, hatte beim Erfolg aller vier die Finger im Spiel.

Wiener Grind und Kind

In einer bisher so wohl noch nie dagewesenen Doppelconference legen der Falter-Musikjournalist Gerhard Stöger und Stefan “Plattenboss aus dem Plattenbau” Redelsteiner nun eine Erzählung vor, die “am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn” angelegt ist. Der eine erzählt, der andere schreibt auf und so entsteht eine authentische Geschichte, die so harmlos wie aufregend begann: 2008 tauchte das doch sehr eigenwillige Label “Problembär Records” auf, das mit “Der Nino aus Wien” erste Erfolge in der Wiener Indie-Szene feierte. Während sich dieser durchaus mit dem alten Austropop eines Wolfgang Ambros oder André Heller identifizieren konnte, legte Redelsteiner großen Wert auf Abgrenzung zu diesem Genre. Zu provinziell und Stadtrand, fast schon Land war dem aus der Vorstadt Floridsdorf stammenden Redelsteiner der Austropop. Nino stammt zwar ebenso aus “Transdanubien” wie Redelsteiner, nur der eine von der schöneren Seite, der Donaustadt, 1220, der andere eben aus Floridsdorf, dem proletarischen Flächenbezirk 1210. Anfangs wurden beide belächelt als Redelsteiner begann, Nino als österreichischen Bob Dylan zu präsentieren.

Rock`n´Roll mit Wiener Charme

Mittlerweile hat der schrullige Liedermacher mehr als ein Dutzend Alben veröffentlicht und ohne seine Vorarbeit würde es heute Bands wie Wanda oder Voodoo Jürgens wohl nicht geben, vor allem aber nicht das popkulturelle Phänomen namens Wiener Grind, das sich vor allem in Deutschland wie “warme Brötchen” (nicht Semmeln) verkaufte. “Bussi” hin oder her, aber: “Eine Gitarre richtig halten kann schnell wer”, verrät Redelsteiner sein Erfolgskonzept, “aber gebucht und gehypt wirst du über persönliche Beziehungen – die Wanda nicht hatten”. Eine echte deutschsprachige Rockband – das hatte bis dahin noch nicht gegeben. Und bei Wanda kam der Machismo des Rock`n´Roll mit Wiener Charme rüber, etwas das die Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheits-Scham niemals zusammengebracht hätte, so Redelsteiner. Wenn einem so etwas einmal gelingt, dann kann es ja auch nur purer Zufall sein. Oder doch nicht?

Ausgebootet aber nicht ausgelotet

Stefan Redelsteiner gelang es gleich mehrmals hintereinander: Nino, Wanda, Voodoo Jürgens und Stefanie Sargnagel. Dennoch lebt er heute ein eher bescheidenes Leben, denn im entscheidenden Moment, als Wanda, die er aus ihrem Kunstuni-Milieu rausgeholt hatte, durchzustarten begannen, zerlegte er sich mit dem Schlagzeuger und wurde von seiner Ko-Managarin – quasi intrigant – ausgebootet. Die Freundschaft zwischen dem aus gutbürgerlichen Verhältnissen stammenden Bandleader und ihm, dem Floridsdorfer Indie-aner, nützte ihm letztendlich nichts, da dieser gerade selbst eine persönliche Krise hatte. Die Verträge, die aufgrund der Freundschaft der beiden aber nur mündlich bestanden, mussten gar nicht erst gekündigt werden, da sie nicht offiziell nicht existierten. Und so bekam Redelsteiner nicht einmal Tantiemen für die Wanda-Alben, an denen er beteiligt war. Aber das große Geld war für ihn ohnehin nie das treibende Motiv, ganz im Gegensatz zu Wanda himself, der die Band immer schon in der größten Wiener Konzerthalle, der Wiener Stadthalle (14.000 Plätze), sah.

Wiener Grind von innen

Dass Wanda aber aus ihrer Kunstblase über den Indie-Typen Redelsteiner im klassischen Mainstream landeten, gehört zu den unglaublichsten Popwundern, die wohl nur in der Walzerstadt Wien möglich sind. Davon und von noch viel mehr erzählt die vorliegende Geschichte, die vom Herausgeber Stöger in der Ich-Form wörtlich aufgeschrieben und von Redelsteiner erzählt wird. So erfährt man viele Details über die Senkrechtstarter Wanda, das soziokulturelle Milieu der Wiener Zehnerjahre und auch einige Intimitäten über andere Popschaffende wie Rudi Dolezal oder den Hintergrund des Sargnagel-Artikels in der Süddeutschen Zeitung damals, der hohe Wellen schlug in der kleinen Wiener Grind Welt.

Ach ja, und übrigens hat Marco Wanda immer noch die DVD-Sammlung der Fernsehserie “Columbo” von Redelsteiners Freundin, die der Band zu ihrem Hit “Columbo” verhalf. Das Buch erscheint in Zusammenarbeit mit dem Verlag RDE (Redelsteiner Dahimène Ed.), Redelsteiners Buchverlag, den er gemeinsam mit Ilias Dahimène immer noch leitet.

Die andere Seite kann man sich hier anhören!

Gerhard Stöger
Der Problembär
Die Abenteuer des Musikmanagers Stefan Redelsteiner am Rande von Wien, Wanda und Wahnsinn
2025, 304 Seiten, Softcover
ISBN: 978-3-99166-029-3
Falter Verlag
€ 24,90


Genre: Biographie
Illustrated by Falter

Tinkers

Ein Roman vom Sterben

Für seinen Debütroman «Tinkers» erhielt der US-amerikanische Schriftsteller Paul Harding den Pulitzer Prize for Fiction des Jahres 2010. Der Autor hat sich damals in einem Radio-Interview als «modernen neu-englischen autodidaktischen Transzendentalisten» bezeichnet. Ähnlich kompliziert wie diese Selbsteinschätzung ist sein Roman selbst! Konkret geht es darin um die Reflexionen eines sterbenden Uhrmachers in den letzten Tagen und Stunden vor seinem Ableben. In denen erinnert er sich an sein eigenes Leben im Staate Maine und an das des Vaters und Großvaters zurück, wobei er sinnierend auch die Natur als prägendes Element in seine Rückschau mit einbezieht.

Auf dem Sterbebett, umgeben von Frau, Kindern und Enkeln, schwelgt George Washington Crosby als alter Mann in Erinnerungen, spult quasi den Faden seines Lebens noch mal rückwärts ab. Er denkt an frühere Geschehnisse, Erfahrungen, Glück und Unglück, reflektiert über seine Identität, über Sterblichkeit und das Dasein als solches. Dabei wechselt sein Bewusstsein immer wieder zu idealisierenden Traumphasen hinüber, in denen die Natur als übergeordnete Instanz einen breiten Raum einnimmt. Der Roman überspannt zeitlich drei Generationen. Sein an Epilepsie leidender Vater, den er wegen seiner Gefühle eigener Unzulänglichkeit als gequälte Seele erlebt hat, gehörte zu den titelgebenden «Tinkers», den früher bei den armen Leuten auf dem Lande regelmäßig tätigen Kesselflickern. Howard zog mit seinem Wägelchen herum, bot neben der Reparatur von undichten Metalltöpfen auch andere Dienste an und verkaufte zudem als fahrender Händler diverse Kurzwaren, die er immer mit sich führte. George war traumatisiert durch die epileptischen Anfälle seines Vaters, die seine Mutter aber vor den kleinen Kindern immer zu verbergen suchte. Er jedoch musste mithelfen, ihn in seinen Krämpfen zu bändigen, wurde einmal sogar schwer verletzt dabei, seine Gefühle für den Vater changieren zwischen inniger Liebe und finsterem Groll.

Der Großvater war ein psychisch kranker Prediger, in seinem Hause herrschten strenge Sitten, es wurde viel gebetet. Im Alter ist er dann zusehends dem Wahnsinn verfallen und wurde schließlich auf Betreiben seiner Frau, die mit der Pflege total überfordert war, in die Irrenanstalt eingewiesen. Für George sind seine geliebten Uhren Symbole der Vergänglichkeit, sie bestätigten als bedrückendes Trauma seine Ängste vor der eigenen Vergänglichkeit. Auch fragt er sich, ob es eine über Generationen andauernde, familiäre Beständigkeit denn überhaupt gebe. George reflektiert auf dem Sterbebett zudem über das Erbe, das er ja nun bald hinterlassen wird und das als Einziges von ihm noch für eine gewisse Zeit zurückbleiben wird.

Mit seiner lyrisch anmutenden Prosa schreibt Paul Harding eine an endlose Gedankenströme erinnernde Erzählung, die sich mit nichts weniger als den großen Fragen der Menschheit auseinander setzt, – eine Art letzte Meditation vor dem Exitus. Deren kontemplative Tiefe wird scheinbar konterkariert durch diverse banale Einschübe über das Reparieren und die Technik von Uhren, in denen sogar auf fachliche Texte verwiesen wird. Aber auch Auszüge von Predigten werden eingeschoben, und es wird auf die Schwierigkeiten beim Verfassen derselben angespielt. In diesem Gegenüber von profaner Materie und hochfliegendem Geist werden stilistisch viele narrative Konventionen missachtet, die Zeitlinien und Perspektiven werden unerwartet und oft auch schwer verständlich gegeneinander verschoben. Das fördert nicht gerade den Lesefluss, und auch wenn der Autor eine sehr poetische Form gefunden hat für seinen Roman, passt dessen Stil nicht wirklich überzeugend zur schwierigen Thematik vom Sterben. Ohne Zweifel aber regt «Tinkers» zu eigenem Nachdenken an, wenn man nicht gerade zu der Sorte Leser gehört, die ohne eigenes Zutun leicht und angenehm Lesbares suchen zur Unterhaltung und Entspannung.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Tristram Shandy

Satire als grandioses Vexierbild

Der siebenbändige Roman «Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentlemen» von Laurence Sterne, in der Literaturszene üblicherweise verkürzt als «Tristram Shandy» bezeichnet, löste 1759 beim Erscheinen der ersten beiden Bände einen Skandal aus. Der anglikanische Pfarrer hatte damit allerdings auch einen Jahrhundert-Roman geschrieben, dessen letzter Band 1767 erschienen war. Er wird als zeitloser Klassiker seither auch in jedem literarischen Kanon an prominentester Stelle genannt. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1774, zu den Subskribenten gehörte unter vielen maßgeblichen Autoren dieser Zeit auch Goethe, der ein großer Bewunderer des Autors war und ihn als «freiesten Geist» seines Jahrhunderts geehrt hat. Ein Jahrhundert später hat niemand geringerer als Friedrich Nietzsche Sternes Aufsehen erregende, narrative Methoden in einem Artikel ausführlich gewürdigt.

Aus wechselnden Perspektiven in einer Abfolge von einzelnen Skizzen realisiert, ist «Tristram Shandy» erzählerisch ganz unorthodox ein wildes Durcheinander ohne erkennbaren Plan. Der Roman ist ein mit gelehrsamen Gedanken üppig durchsetztes Konstrukt von Betrachtungen, Anmerkungen und Kommentaren, in dem Postulate nichts gelten. Der Autor selbst bezeichnet es an einer Stelle, den Leser direkt ansprechend, als «ein sorglos gemachtes, artiges, unsinnvolles, gutgelauntes Shandysches Buch, das allen Ihren Herzen gut tun wird. – Und auch allen Ihren Köpfen, – vorausgesetzt, Sie verstehen es!» Erzählt wird abwechselnd aus der Perspektive eines ungemein humorvollen Geistlichen namens Yorik und aus der des titelgebenden Protagonisten und Ich-Erzählers. Der will die Geschichte seines Lebens erzählen, beginnend bei seiner Zeugung, die er mit zwingender Logik sogar auf den Tag genau zu terminieren weiß. Und er erzählt auch, wie eine harmlose Bemerkung seiner Mutter den Vater dabei so irritiert habe, dass er als Krüppel geboren wurde, – als schlagenden Beweis zieht er dafür die Theorie John Lockes von der «Assoziation der Gedanken» heran.

Weiter berichtet er vom Ehekontrakt seiner Eltern, von seinem Onkel Toby und dessen Steckenpferd und Liebesabenteuern, von der Hebamme und der Art und Weise, wie diese als weise alte Frau durch Protektion des Pfarrers nachträglich auch eine offizielle Zulassung für diesen Beruf erhalten hat. Sich in Details verlierend erzählt er dann auch noch, warum der Pfarrer auf so einem armseligen Klepper herumreitet. Um schnell die weitab wohnende Hebamme herbei rufen zu können, habe man ihn immer wieder um sein rassiges, schnelles Pferd gebeten, das dabei aber oft zu Schanden geritten wurde in der Eile, er musste jedes Jahr ein neues kaufen. Weshalb er irgendwann beschlossen habe, den stolzen Gaul durch einen weniger stolzen zu ersetzen und sich an dessen gemächliche Gangart zu gewöhnen, auch wenn er sich damit nun dem Gespött aussetzt.

Der umfangreiche Roman wirkt wie das groß angelegte Vexierbild eines unkonventionellen Autors, in dem so ziemlich alles einen verborgenen Hintersinn hat, dem der Leser auf die Spur kommen muss, will er all die subtilen Botschaften darin gebührend würdigen. Weder von dem im Titel als Inhalt apostrophierten «Leben» noch von den «Ansichten» des Helden ist im Roman wirklich die Rede. Es ist vielmehr eine experimentelle Form des Erzählens, die, als «unendliche Melodie» bezeichnet, gerade davon lebt, ständig gebrochen zu werden und ins Unbestimmte abzugleiten, sich im permanent Mehrdeutigen zu verlieren, immer wieder zwischen untrennbar ineinander verwobener Posse und erstaunlichem Tiefsinn. All das ist durch eine umfassende Menschenkenntnis gekennzeichnet, die in jedem Detail durchschimmert. Gleichwohl wird der «normale» Leser kläglich scheitern, wenn er sich an einer plausiblen Deutung des «Tristram Shandy» versucht, und das besser den Literatur-Wissenschaftlern überlassen, die Veröffentlichungen dazu sind ja Legion. Man sollte diesem «freiesten Schriftsteller», wie er oft bezeichnet wurde, als nicht minder freier Leser folgen, alle narrativen Konventionen hier also einfach mal beiseite lassen und sich an den skurrilen Gedanken dieses satirischen Romans rückhaltlos erfreuen!

Fazit:   erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Insel Taschenbuch

Die Leiden des jungen Werthers

Im Werther-Fieber

Von der Lichtgestalt deutscher Literatur, Johann Wolfgang Goethe, wurde 1774 mit «Die Leiden des jungen Werthers» zur Leipziger Buchmesse ein Briefroman veröffentlicht, den er in vier Wochen geschrieben hatte. Er wird als sein bedeutendstes Prosawerk angesehen. Dem grandiosen Erfolg im Inland folgte ein ebenso überragender europäischer Erfolg, das Werk wurde in alle damals literarisch bedeutsamen Sprachen übersetzt. Zeitlich fiel die Veröffentlichung in die literarische Periode des «Sturm und Drang», dem Geniekult jener kurzen Epoche. Die vorliegende Ausgabe des vielfach ergänzten und überarbeiteten Romans folgt der Urfassung, stammt nach 250 Jahren also orthografisch aus einer noch dudenfreien Zeit, was das Lesen heutzutage ziemlich mühsam macht. Mit Hilfe einer Fülle von Randbemerkungen des Verlags jedoch bleibt nichts jemals unverständlich. Erfreulicher Weise sind im Anhang auch umfangreiche Kommentare, Goethes eigene Anmerkungen zum «Werther», die verschiedensten Interpretations-Ansätze sowie ausführliche Wort- und Sach-Erläuterungen beigefügt.

Zwei autobiografisch bedeutsame Ereignisse hat Goethe für seine Handlung herangezogen, seine eigene, hoffnungslose Liebe zur bereits verlobten Charlotte Buff und der Suizid eines Bekannten aus der Gesandtschaft in Wetzlar. Gleichwohl ist dieses Werk rein fiktional und kein Schlüsselroman. Sein junger Held hat zur Regelung einer Erbschaft in einem idyllischen Dorf Quartier bezogen und lernt bei einem Tanzabend Lotte kennen, Tochter des dortigen Amtmanns, die sich als älteste Tochter nach dem Tod ihrer Mutter rührend um ihre acht Geschwister kümmert. Werther und Lotte kommen sich schnell näher, sie sind verwandte Seelen und verstehen sich bestens. Er bewundert ihren Sanftmut, ihre Liebe zur Natur, ihre Musikalität, und er wird Dauergast im Hause des Amtmanns. Die kleinen Geschwister von Lotte mögen ihn von Anfang an und freuen sich immer sehr, wenn er kommt. Aber Lotte ist nicht frei, sie ist so gut wie verlobt mit Albert, der schließlich von einer Geschäftsreise zurückkommt und sich als ein äußerst sympathischer, besonnener Mann erweist, mit dem Werther schnell Freundschaft schließt. Auch wenn nur platonisch, belastet ihn nun seine schwärmerische Liebe zu Lotte seelisch dermaßen, dass er fluchtartig den Ort verlässt, ohne sich zu verabschieden.

Im zweiten Teil des Romans arbeitet Werther eine Zeitlang für einen Gesandten am Hofe, fühlt sich dort aber als Außenseiter und wird sehr deutlich auf seinen bürgerlichen Stand verwiesen. Er fühlt sich wie zerstört in seiner Existenz und kehrt auf Umwegen wieder in das Dorf zurück, wo Lotte und Albert inzwischen geheiratet haben. Bald schon beginnt er Lotte wieder zu besuchen, die unbewusst mit ihm kokettiert und seine Leidenschaft dadurch erneut entfacht. Bis sie ihn auf Wunsch von Albert kurz vor Weihnachten auffordert, vier Tage zu warten, bis er erneut zu Besuch kommt. Doch Werther besucht sie schon am nächsten Tag wieder, liest ihr aus seiner hoch emotionalen Ossian-Übersetzung vor und beginnt sie zu umarmen und zu küssen. Lotte flüchtet verstört ins Nebenzimmer und schließt sich dort ein. In einem letzten Brief verabschiedet er sich von ihr, leiht sich von Albert für eine bevorstehende Reise dessen Pistolen aus und erschießt sich an gleichen Abend. Er wird in einem abgelegenen Teil des Friedhofs ohne geistlichen Beistand anonym beerdigt.

Eine stilistische Besonderheit dieses Romans ist die Ergänzung und Weiterführung des Stoffes durch einen fiktiven Herausgeber, der den hoch-emotionalen Briefen Werthers in einer sachlichen Diktion folgt. Dieser Wechsel der Erzählperspektive war schon deshalb geboten, weil der traurige Held in seinen Briefen vom eigenen Tod, dem novellenartigen Höhepunkt der Handlung, ja nicht hätte berichten können. Die konträre Rezeption dieses zeitlosen Bestsellers mündete ein in eine regelrechte Lesesucht, die den einen oder anderen suizidalen Nachahmer hervorgebracht hat im damaligen «Werther-Fieber».

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Jenseits der Hitze

Möglicherweise wenden sich die etablierten Koryphäen der Lesekultur mit einem snobistischen Hochziehen der Nase ab, wenn sie das Stichwort „Liebesroman“ hören. Doch Halt! Bevor Sie von Ihrem – wahrscheinlich über Generationen vererbten – Recht auf Deutungshoheit in der Literatur Gebrauch machen, sollten Sie eines bedenken: Der Anteil der Liebesromane am globalen Belletristik-Markt liegt irgendwo zwischen 25 und 30 Prozent. Quantität ist nicht gleich Qualität, werden Sie jetzt vielleicht sagen. Nochmals Veto! Schaut man die nun schon lange ziemlich schwindsüchtige Buchszene an, trägt genau dieses Genre mit einer Vielzahl an innovativen Ansätzen zu fast 70 Prozent zum neuen Wachstum in der Erwachsenen-Belletristik bei. Zu diesen Ansätzen gehören neben vielen andern auch mehr Orientierung an diversesten Altersgruppen und entsprechende Niveau-Anpassungen, also punktuell mehr Tiefgang.

Interesse geweckt. Und dann taucht da auf einmal aus dem Nichts ein Debütroman auf und wird schon kurz nach seinem Erscheinen in den sozialen Medien als Geheimtipp des Sommers 2025 gehandelt – „Jenseits der Hitze“. Also warum nicht?

Und tatsächlich kann man bereits nach wenigen Seiten eine gewisse Überraschung nicht verhehlen. Da schreibt jemand, der eine unglaublich poetische Ader hat. Es wird mit wohlgesetzten, feinsinnigen Worten Atmosphäre erzeugt, Stimmung geschaffen. Im Kopf entsteht tatsächlich ziemlich schnell eine Filmszenerie. Der Roman hält sich nicht mit langen Dialogen auf, die man in seinen Liebesroman-Klischees abgespeichert hat („Ich liebe Dich, aber liebst Du mich so wie ich Dich? Kannst Du mich immer lieben? Wird unsere Liebe immer halten? Und was, wenn nicht? Liebst Du dann einen anderen/eine andere?“ und so weiter, üblicherweise geht das so den ganzen Julia-Roman durch), nein, die Handlung ist zielstrebig, ohne zu rasen, so wie man es zum Beispiel bei einem Ken Follett kennt oder bei einem Peter Stamm. Und es kommt noch besser – es wird spannend und es wird interkulturell. Ohne zu viel zu verraten, geht es natürlich auch um ein Paar, er aus München, sie aus Kabul, aber es geht auch um viel mehr, unter anderem um ungewöhnliche Lebens- und Beziehungsmodelle und um ganz aktuelle geopolitische Ereignisse. Und es bleibt durchaus spannend, da die Auflösung gewisser rätselhafter Umstände gut versteckt und den Roman hindurch transferiert wird. Sogar die übliche Frage, ob sie sich denn nun kriegen oder nicht, bleibt bis zum Schluss offen. Weil das Leben eben so ist, wie es ist – man weiß nie, was kommt.

Man muss sich am Schluss wirklich fragen, ob man gerade „nur“ einen Liebesroman gelesen hat. Diese poetische Sprache, die schön konstruierte Geschichte mit historischem und emotionalem Tiefgang wäre auch eines Michael Ondaatje oder einer Anne Michaels würdig.

Und das führt zum Schluss direkt zu einer anderen spannenden Frage: Wer ist Ellis Marant? Der Roman ist unter diesem Pseudonym erschienen und wie im Nachgang des Romans erwähnt, wohl ganz bewusst. Resümiert man nach den schnell zu lesenden 176 Seiten verwundert über den unerwarteten Stil und Inhalt, fallen einem unweigerlich Stephen King, J.K. Rowling, Mark Twain, Lewis Carroll und einige andere ein, die aus Lust an einem Experiment unter anderem Namen Werke meist in anderen Genres publiziert haben. Aber vielleicht ist das bei aller Überraschung dann doch zu viel der Ehre. Man wird sehen, ob da in der Zukunft noch mehr kommt, was diese Überlegungen rechtfertigt.


Genre: Liebesroman, Roman
Illustrated by tredition

Gute Ratschläge

Entlarvend und ungebeten

Dreiunddreißig Jahre nach seinem ersten Erscheinen in Großbritannien ist unter dem Titel «Gute Ratschläge» voriges Jahr ein bemerkenswerter Roman von Jane Gardam auch auf Deutsch erschienen. Die vor drei Monaten im hohen Alter von 97 Jahren verstorbene britische Autorin hat für ihre feministische Geschichte um eine zutiefst frustrierte, 51jährige Diplomatengattin die Form des Briefromans gewählt. Wobei diese Briefe einseitig bleiben bis zum Schluss, die Adressatin schickt nie eine Antwort, was die Schreibwut der Protagonistin allerdings nur noch mehr steigert. Aus den ungebetenen guten Ratschlägen aber, die sie mit wachsendem Eifer an die ehemalige Nachbarin Joan schickt, mit der sie kaum jemals Kontakt hatte – allenfalls mal einen Gruß über die Straße hinweg – werden allmählich immer mehr Selbsterkenntnisse, die zum Ende hin ungewollt in regelrechte Geständnisse münden.

Die Frau aus dem Haus gegenüber hat ihren Mann und die erwachsenen Kinder überraschend verlassen, das Konto leer geräumt und sich mit unbekanntem Ziel Richtung Asien abgesetzt, ohne eine Nachricht zu hinterlassen, niemand wusste von ihren Absichten! In den anfänglich kurzen Briefen von Eliza Peabody mit der Aufforderung an Joan, doch besser zurück zu kehren, mischen sich Geschichten aus ihrem eigenen Leben ein, die allmählich immer mehr zu Klagen und Bekenntnissen werden über ihr eigenes, unerfülltes Leben. Sie schreibt sich zusehends um Kopf und Kragen, offenbart ungewollt ihr unerfülltes Leben. So berichtet sie zum Beispiel von ihrer einstigen Fehlgeburt, nach der sie keine Kinder mehr bekommen konnte, oder von ihrem unerfüllten Sexualleben an der Seite von Henry, ihrem Mann, der ständig in diplomatischen Missionen unterwegs ist und mit dem sie sich völlig auseinander gelebt hat. Sie hat ehrenamtlich eine Arbeit in einem Hospiz angenommen, um die Langeweile zu bekämpfen und etwas Sinnvolles zu tun. Dort aber wird sie als Küchenhilfe eingesetzt und hat nur selten mal selbst Kontakt zu den Sterbenden, was sie in ihren Briefen beklagt. Auch die Mitgliedschaft in einem Lesezirkel und ihre Teilnahme bei verschiedenen anderen Aktivitäten befreundeter Damen aus der gehobenen Mittelschicht, die alle gleichermaßen frustriert seien, empfinde sie als weitgehend sinnlos, bekennt sie.

Charles, Joans verlassener Ehemann, wird von Elisa und Henry aus Mitleid häufig eingeladen und befreundet sich schnell mit ihnen, die Männer führen lange Gespräche miteinander und verstehen sich bestens. Bis Henry eines Tages überraschend verkündet, dass er mit Charles zusammenzieht. Elisa steht vor einem Nerven-Zusammenbruch, ihr soziales Umfeld kollabiert ebenso wie ihre Psyche, sie steht vor den Trümmern ihres unerfüllten Daseins als Frau. Die guten Ratschläge für ein richtiges Leben, mit denen sie Joan in ihren vielen Briefen geradezu bombardiert hat, hätte sie lieber selbst befolgen sollen. Man fragt sich als Leser irgendwann, ob es die Adressatin denn überhaupt gibt. Ganz bewusst setzt Jane Gardam in diesem Roman das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers in Person ihrer als Figur eher unsympathischen Protagonistin voller Hirngespinste ein, was dem teils absurden, auch surreal angereicherten Plot eine psychologisch nachvollziehbare, narrative Struktur verleiht.

Die nervenden Briefe der Besserwisserin Joan werden immer länger und sind beim Lesen schließlich kaum noch als solche zu erkennen angesichts seitenlanger Dialoge. Es stellt sich daher schon bald die Frage, ob die Briefform wirklich optimal ist für die feministische Intention der britischen Erfolgsautorin. Der Roman steckt voller satirischer Seitenhiebe auf die saturierte, dekadente Mittelschicht in der gehobenen Londoner Vorstadt, in der diese Geschichte angesiedelt ist mit ihren ebenso wohlhabenden wie frustrierten Gattinnen aus der englischen Oberschicht zur Zeit des Thatcherismus. Diese satirische Färbung macht den Roman letztendlich zu einer amüsanten Lektüre, die allerdings an den Erfolg der «Old Filth» Trilogie nicht anknüpfen kann.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hansa Berlin

Sputnik

Die beiden ersten Bücher der Trilogie über Berkels Familie hatte ich gelesen und auf dieses Buch gewartet. Wie Berkel, war ich in Frohnau aufgewachsen, bin als kleines katholisches Mädchen beim Pfarrer Krajewski in die Messe und zehn Jahre vor ihm auf das französische Gymnasium (FG) am Kutschi gegangen; so nannten wir den Kurt-Schumacher-Damm.

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Genre: Roman
Illustrated by Ullstein

Zwischen zwei Welten

Versöhnlich-feministisches Manifest

Nach ihrem Debütroman von 2016 ist jetzt unter dem Titel «Zwischen zwei Leben» ein zweiter, ins Deutsche übersetzter Roman der finnischen Schriftstellerin Minna Rytisalo erschienen. Thematik ist auch hier wieder das schwierige Verhältnis der Geschlechter zueinander. Erzählt wird auf eine sehr originelle Weise eine feministische Emanzipations-Geschichte, bei der eine 48jährige Frau im Mittelpunkt steht, die sich, wie schon der Titel verrät, zwischen zwei Leben befindet, nicht nur zwischen zwei Lebensphasen. Eine entscheidende Zäsur also, die hier mit gedanklicher Tiefe aus vielerlei Perspektiven erzählt wird, und die damit derzeit auch, als spezielles Genre, literarisch voll im Trend liegt.

In der Mitte ihres Lebens beschließt Jenni Mäki, die lieblose Ehe mit Jussi zu beenden und einen Neustart zu wagen. Ihre Kinder sind aus dem Haus und brauchen sie nicht mehr, finanziell ist alles einvernehmlich geregelt, der untreue Jussi hat schon eine neue Frau, ihrem mutigen Neuanfang nach 24 Ehejahren steht also nichts im Wege. Sie hat sogar einen neuen Namen angenommen und heißt jetzt Jenny Hill, und auch eine neue Wohnung hat sie schon für sich gemietet. In die nimmt sie nur das Allernötigste mit, so wenig wie möglich von dem, was sie an ihr altes Leben erinnern könnte. Die zentrale Frage, die der Roman zu beantworten sucht, indem er seine Heldin durch den schwierigen Prozess einer weiblichen Emanzipation begleitet, stellt sich Jenny immer wieder: «Lebe ich das Leben, das ich wirklich will?» Denn nicht nur ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ist von unliebsamen Konventionen geprägt, deren Ursprünge historisch bedingt sind und sich mental geradezu eingebrannt zu haben scheinen in das Selbstverständnis jedes weiblichen Individuums. Woher das kommt, beantwortet der Roman durch einen genialen stilistischen Trick, indem er als Ergänzung zum auktorialen Erzähler weitere Erzählinstanzen einbindet, einen Chor und sechs Einzelstimmen nämlich von «Ajattaras», den Geistern aus der finnischen Mythologie. Die sind hier aber, weniger martialisch, ersetzt durch «Aschenputtel, Schneewittchen, Dornröschen, Gretel, Rapunzel und Rotkäppchen». Sie verkörpern als Projektionsflächen geradezu exemplarisch die weibliche Unterdrückung und Manipulierbarkeit im harmlosen narrativen Gewand des Märchens, treten hier aber als Kommentatorinnen und Ratgeberinnen von Jennys Entscheidungen auf, einem Chor der Erinnyen vergleichbar.

Eine weitere, häufig eingeblendete Perspektive ist die der Heldin selbst, die auf dringendes Anraten ihrer Psychotherapeutin Briefe schreibt, die sie nicht abschicken soll, die sie aber zwingen, ihre Probleme gründlich zu durchdenken. Nur die Schriftform nämlich bringe Ordnung in das gedankliche Chaos und die unverbindliche Flüchtigkeit der Therapiegespräche. Adressatin der Briefe von Jenny ist Mme Brigitte Macron, die fast 25 Jahre ältere Frau des französischen Präsidenten, deren unkonventionelle Ehe nicht nur durch den Altersunterschied, sondern auch durch das skandalträchtige Lehrerin/Schüler-Verhältnis gesellschaftlich vorgeprägt ist.

Der Leser begleitet die Heldin dieses feministischen Romans in ihrem tapferen Kampf gegen falsche Rollenbilder, und natürlich auch auf ihrer Suche nach Selbstverwirklichung. Dabei nagen ständig Zweifel an ihr, Jenny kämpft, scheitert und steht doch immer wieder auf. Gerade diese Verletzbarkeit und Unvollkommenheit lassen sie sehr authentisch erscheinen. Erzählt werden diese existenziellen Nöte ohne jedes Pathos als ein letztendlich gelingender Aufbruch in ein befreites, zweites Leben. Das Älterwerden verliert hier auf eine sehr subtile Art seinen Schrecken, wobei das unaufgeregte, wohlbedachte Handeln von Jenny typisch ist für sie, was sie als Figur denn auch sehr sympathisch macht. In der Heimat der Autorin wurde dieser Roman, der auch einige Längen aufweist durch mancherlei Wiederholungen und Abschweifungen, als versöhnlich-feministisches Manifest gefeiert, dem die narrativ einbezogenen Märchenfiguren neben ihrem Hintersinn auch einen ganz besonderen, eigenen Zauber verleihen!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Vom Herzasthma des Exils

Frau Krechels Stärke sind präzise Beschreibungen nach aufmerksamer Beobachtung. Zur Verleihung des Büchner Preises nennt der Tagesspiegel dies die „Innenansicht der Klassenverhältnisse“. Und Klassen sind nicht nur Herkunfts- oder Wohlstandsklassen, auch die von Rassen, Religionen oder politischen Meinungen werden beachtet.

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Cotta

Was ich von ihr weiß

Memento mori

Der 2023 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnete Roman von Jean-Baptiste Andrea ist jüngst unter dem Titel «Alles was ich von ihr weiß» auf Deutsch erschienen. Die Jury lobte das Buch als «ein typisches Fresco, eine Meditation über Präsenz und Abwesenheit». Schon vor der Preisverleihung war der Roman in Frankreich ein Bestseller, die Aufnahme hierzulande ist dagegen bisher eher verhalten, das Feuilleton ignoriert ihn weitgehend. Als ein «massentaugliches, professionell inszeniertes Historien-Spektakel» ist der Roman trotz solcherart Kritik eine spannende und bereichernde Lektüre, die den Zeitraum zwischen Erstem Weltkrieg, dem Aufstieg des Faschismus in Italien, Zweitem Weltkrieg und dem politischen Wandel danach umspannt.

Von wenigen auktorialen Einsprengseln abgesehen wird die Geschichte des kleinwüchsigen Bildhauers Michelangelo Vitaliani genannt Mimo von ihm selbst erzählt. Er wurde als Sohn eines Bildhauers in Frankreich 1904 in Armut geboren und nach dem frühen Tod seines Vaters im Weltkrieg von der Mutter zu einem Onkel nach Italien geschickt, weil sie ihn kaum ernähren kann. Dort soll er das Handwerk des Steinbildhauers erlernen, wird aber erbarmungslos ausgenutzt. In dem kleinen ligurischen Dorf Pietra d’Alba lernt er schon bald die auf den Tag genau gleichaltrige Viola kennen, Tochter aus der angesehenen Adelsfamilie der Orsinis. Nicht nur der identische Geburtstag verbindet die beiden Dreizehnjährigen, sie sind auf ihre jeweilige Art auch Außenseiter der Gesellschaft. Mimo wird als Zwerg gehänselt und ist allgemein nur der ‹Franchese›, der nirgendwo so richtig dazugehört. Viola ist ein Freigeist, blitzgescheit, sehr belesen, unkonventionell und voller verrückter Ideen. Sie findet in Mimo einen Gleichgesinnten, der ihr gerne folgt bei ihren Kapriolen und dem sie bildungsmäßig auf die Sprünge hilft, indem sie ihm heimlich Bücher aus der Bibliothek des Vaters zum Lesen bringt. Unermüdlich sorgt sie dafür, dass er geistig aus seinem Milieu herausfindet, diskutiert viel mit ihm, wodurch zwar ihre geistige Verbundenheit immer enger wird, – aber eben auch auf das Geistige reduziert bleibt.

Mit der Zeit entwickelt sich Mimo zu einem gefeierten Künstler, die Auftraggeber stehen Schlange bei ihm. Er wird ein wohlhabender Mann, geht nach Florenz und später auch nach Rom. Immer enger werden seine Verbindungen mit der Familie Orsini, deren ältester Sohn Karriere in der Kirche macht und am Ende sogar Kardinal wird. Durch ihn bekommt Mimo dann auch lukrative Aufträge aus dem Vatikan, während der andere Bruder sich den Faschisten anschließt. Viola animiert Mimo zu nächtlichen Ausflügen auf den Friedhof, um auf einem Grabstein liegend den Stimmen der Toten zu lauschen. Sie ist mit einer Bärin befreundet und besucht sie in deren Höhle, realisiert schließlich an ihrem sechzehnten Geburtstag den Traum vom Fliegen mit einem selbstgebauten Flugobjekt, was fatal endet. Im Gegensatz zum Ich-Erzähler Mimo ist sie eher eine Randfigur, von der man wenig erfährt, auch wenn die Beiden ein Leben lang eng verbunden bleiben, von gelegentlichen Auszeiten unterbrochen, in denen sie sich jahrelang nicht mehr begegnen, weil Mimos Leben sich in Florenz oder Rom abspielt.

Der Roman endet mit dem Tod des 82jährigen Mimo in einem Kloster, in dem auch seine von der Kirche für die Öffentlichkeit verborgene Pieta seit langem schon lagert, sie war für den Klerus mit ihrer selbstbewussten Ausstrahlung ein Ärgernis gewesen und wurde nie gezeigt. Die vom Plot her raffiniert aufgebaute Geschichte eines Bildhauers bildet über den Zeitraum von 82 Jahren hinweg die Höhen und Tiefen eines ungewöhnlichen Menschen ab, dabei zwischen Traum und Realität oszillierend. Alle Figuren sind anschaulich beschrieben, ohne dass ihr Wesen allerdings in die Tiefe gehend ausgeleuchtet wird, vieles bleibt im Dunkeln. Gleichwohl ist die Lektüre dieses nie langweiligen Romans lohnend, auch wenn er, Buchpreis hin oder her, mit seiner Thematik des ‹Memento mori› nicht gerade gute Laune erzeugt, -muss er ja auch nicht!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Der Schwindel

Haben Sie zufällig eine in der Öffentlichkeit stehende Person in Ihrer Familie? Oder ist gar Ihr Lebenspartner berühmt? Dann kennen Sie das Phänomen. Sie sind immer der Mann von oder die Frau von, egal was Sie tun. Und nun stellen Sie sich vor, Juli Zeh ist Ihre Frau und Sie sind Schriftsteller. Dann können Sie sich selbst mit durchschnittlicher Empathie voll und ganz in David Finck hineinversetzen. Wird er in Interviews nach seiner Rolle in dieser Konstellation gefragt, strotzt er vor Lebenszufriedenheit. Da gibt es die beiden Kinder, den Reiterhof in Brandenburg, die beratende Tätigkeit für Juli und ja, auch die eigene Schriftstellerei. Die allerdings schon rein numerisch eher ein Schattendasein fristet.

Nach 2014 hat David Finck nach zehn Jahren mit „Der Schwindel“ seinen zweiten Roman veröffentlicht. Aber keine vorschnellen Urteile. Gut Ding will ja manchmal Weile haben.

Der Plot. Der juvenile Rasmus B. Freeden entflieht in den späten 80er Jahren auf einem Mofa dem Mobbing seines Bruders und seinem kleinbürgerlichen Umfeld und lernt auf dem Weg ans Meer im Zug Natalie kennen. Die Tochter eines schwerreichen Franzosen wird zu seiner ersten großen Liebe. Auf dem Familienanwesen in Südfrankreich wird er jedoch von ihr tief enttäuscht, als er sie nächtens in flagranti mit ihrem Cousin erwischt. Noch während er über eine Trennung von ihr sinniert, kommt es zu einem tragischen Unfall, dessen Auswirkungen ihn in den nächsten etwa  dreißig Jahren wortwörtlich verfolgen. Nach dem analogen Zeitsprung spielen im Buch die anderen beiden Handlungsstränge, die Finck im Jahr 2023 in die Pyrenäen und in die Bretagne lokalisiert.

Was vielleicht etwas verwirrend klingt, wurde vom Autor sehr schön konstruiert und ineinandergefügt. Der Roman ist unterhaltsam, weist sehr schöne Formulierungen auf, hat eine gewisse durchgehende Spannung und ist nicht arm an überraschenden Einschüben. In Anbetracht der gebotenen Kurzweil und Unterhaltung schaut man gerne darüber hinweg, dass einzelne unlogische Abläufe und Vernetzungen leichte Stolpersteine beim Lesen sind.

So schön, so gut. Bis unmittelbar vor dem Ende des Romans hätte sich David Finck vom tiefenentspannten Leser ein „Ganz nett“ oder ein „Ist wirklich ok und lesenswert“ und zudem vielleicht vier Bewertungssterne verdient gehabt. Und in Summe kommt ein Großteil der Leserschaft sicher zu dem Resümee, dass der Mann von Juli Zeh den Vergleich mit der berühmten Ehefrau nicht zu scheuen braucht.

Aber halt. Nicht immer kommt das Beste zum Schluss, aber bei David Finck trifft das absolut zu. Da packt der Autor plötzlich einen Knalleffekt vom Allerfeinsten aus, der jeden Lesenden mit einem Schlag aus seiner dahinplätschernden Lethargie reißen muss. Was für ein Finale furioso! Man muss die Wendung der Story auf den letzten fünf Seiten schon fast als genial bezeichnen. So als wenn ein mittelmäßiger Schachspieler eine unaufgeregte Partie, bei der er vielleicht sogar leicht im Hintertreffen liegt, mit einem völlig unerwarteten Zug aus dem Nichts zum Schachmatt-Sieg wendet. Fast ist man ob der Wendung geneigt, den Roman nochmals von vorne zu beginnen. Wow und Chapeau, David Finck! Da muss auch ein Vielleser den Hut ziehen und seine Bewertung nachbessern.


Genre: Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Woher ich kam

Woher ich kam. Ausgehend von ihrer Urururururgroßmutter Elizabeth Scott, die 1766 geboren wurde, rollt die Schriftstellerin Joan Didion (1934-2021) die Geschichte ihrer Familie – vor allem aber die Kaliforniens – neu auf. Zumeist ging der vielgerühmte “Pioniergeist” der Erschließung des amerikanischen Kontinents bis in den äußersten Westen allerdings auf Kosten der amerikanischen Regierung, wie Didion ernüchternd feststellt.

The West is the Best

Der amerikanische Westen, Kalifornien, gehört zum Mythos der ganzen Nation USA. “The Last Frontier” wurde bis an den Pazifik ausgedehnt und galt geradezu als zivilisatorisches Projekt. “Man suchte ein romantisches und entlegenes Land der Verheißung und wurde in der Wildnis der hiesigen Welt oft nur von Zeichen des Himmels geführt”, zitiert Didion Josiah Royce, der um die Jahrhundertwende lebte. Was für die Trecks nach Westen am wichtigsten war, lernte die junge Didion auch von ihrer Familie. “Nimm niemals eine Abkürzung und eile, so schnell du kannst, weiter”, so die Erzieherin Virginia Reed, eine Überlebende des legendären Donner-Trecks. “Sentiment wie Trauer und Unstimmigkeit, kostete Zeit. Ein Zögern, ein Moment des Zurückschauens, und der Gral war verwirkt”, so könnte man das Credo der Siedler in den Worten Didions umschreiben. Die sog. “erlösende Kraft der Überquerung” wurde aber nicht durch Liebe gestaltet, denn sie liebten ihr Land nicht, diese Pioniere. Sie bedienten sich eines eisernen Ungetüms, eines Leviathans, eingedenk, dass der eigentliche Octopus nicht die Eisenbahn, sondern die unbarmherzige und gleichgültige Natur selbst war. Wollten sie deswegen alles aus dem Boden rausholen, was rauszuholen war? Didion zeigt, dass sich schon früh Spekulanten bereicherten, etwa wenn sie staatliche Subventionen abgriffen, um ihren Reichtum zu vermehren. Die “subventionierte Monopolisierung Kaliforniens” geschah genauso, wie sich Chrysopylae (Golden Gate) sich ein Vorbild an der Chrysosokeras (Goldenes Horn) von Byzantium ein Vorbild genommen hatte: durch Raub.

Die Kehrseite des verheißenen Paradieses

Der kalifornische Wohlstand baute vor allem auf Flugzeugherstellern wie Hughes, Douglas, Rockwell auf. Aber “Mongolen, Indianern und Negern” war 1860 vom kalifornischen Landtag der Zugang zu öffentlichen Schulen untersagt. Der kalifornische Land Act von 1913 verbot sogar ausdrücklich allen Asiaten und auch ihren in den USA geborenen Kindern (!) Landbesitz. Im zweiten Teil ihrer Rückschau nimmt sich Didion Lakewood vor, eine aus dem Boden gestampfte Gemeinde, die vor allem von Beschäftigten dieses Wirtschaftssektors, der Rüstungsindustrie, bewohnt wurde. Didion stellt sich die Frage, was aus den Kindern dieser Bewohner wird. Antwort: Spur Posse. Schon ihre Mutter hatte Didion darauf aufmerksam gemacht, dass “dieses Wort” hier nicht gebraucht wird. “So denken wir nicht.” Die Rede ist von “Klasse”. Die Ausschreitungen von 1991 (die sog. “L.A. Riots”) bringt Didion in einen Zusammenhang, den andere nicht zu denken wagten. Denn die Auftragslage in der Rüstungsindustrie (sprich: Flugzeuge) war 1989 eingebrochen und Arbeitslosigkeit weit verbreitet. Zwischen 1988 und 1993 waren 800.000 Arbeitsplätze verloren gehangen, so Didion. Aus dem verheißenen Land wurde Ende des 20. Jahrhunderts ein Eldorado der Sozialhilfeempfänger, das 1998 Menschen, die aussiedeln wollten, sogar Prämien für Umzug etc. zahlte. Arbeitsplätze gab es nur mehr in der California Correctional Peace Officers Association, aber selbst die brachten ihr Personal größtenteils selbst mit. Im Jahr 2000 war das kalifornische Strafvollzugssystem mit 33 Zuchthäusern zum größten in der westlichen Hemisphäre geworden. 1995 gab Kalifornien mehr für seine Gefängnisse als für seine zwei großen Universitätssysteme, die UCLA und die California State, aus.

Joan Didion zeigt die Kehrseite der Medaille und verwebt das Schicksal ihres Bundesstaates und Geburtslandes mit dem ihrer eigenen Familie. Sie schreibt über den Tod: “Als mein Vater starb, machte ich weiter. Als meine Mutter starb, konnte ich das nicht.” Der Traum Amerikas, “die ganze Verzauberung”, schreibt sie, “unter der ich mein Leben zugebracht hatte”, fing an, “abwegig” auszusehen. Ein nachdenkliches Werk der 2021 leider verstorbenen Schriftstellerin und Intellektuellen, das zeigt, dass nicht alles gülden ist, was glänzt.

Joan Didion
Woher ich kam. Roman
(Originaltitel ‏ : ‎ Where I Was From)
Aus dem Amerikanischen von Antje Rávik Strubel
2019, Hardcover, 272 Seiten
ISBN: 978-3550050213
Ullstein Verlag
20.-€


Genre: Roman
Illustrated by Ullstein

100 Jahre The Great Gatsby

In der Reihe Modern Classics erschien dieses Jahr, 2025, die vorliegende Neuausgabe des großen Romans des Jazz Age. Tatsächlich sind es genau 100 Jahre her, dass The Great Gatsby erstmals erschien. Die Handlung spielt im New York des Jahres 1922.

Glitz and Glamour der 20er

James/Jay/Jimmy Gatsby (eigentlich: James Gatz residiert in seinem Anwesen auf Long Island und gibt sagenhafte Feste. Damit hofft er seine Jugendliebe Daisy heranzulocken, um ihr mit seinem neuerworbenen Reichtum, mit Swing und Champagner seine verlorene Liebe zu gestehen. Aber Daisy ist längst selbst liiert und kann ihm nur auf neutralem Territorium begegnen. Dieses bietet sich durch den Nachbarn Gatsbys, dem Junggesellen Nick Carraway. Tom Buchanan ist der Name des Glücklichen, der Gatsbys Jugendliebe Daisy geheiratet hat. Aber er behandelt sie alles andere als gut, wie der Leser:in bald feststellt. Denn Tom hat selbst eine weitere Freundin, Myrtle Wilson, die wiederum selbst mit George Wilson verheiratet ist. Ob das in den Zwanzigern gang und gebe war, verheiratet und dennoch eine/n Liebhaber:in zu haben, bleibt offen. Was aber ganz deutlich und klar feststellbar ist, ist, dass zwischen 17. Januar 1920 und 5. Dezember 1933 in den USA die Prohibition bestand. Dennoch wird im Roman ausgiebig gefeiert und es fließt dementsprechend viel Alkohol. Bei einer dieser “Spritztouren” nach downtown New York, wo ebenfalls nicht nur die Automobile ordentlich getankt werden, kommt es im Verlauf des Romans zu einer großen Katastrophe, einem tragischen Unfall. Myrtle Wilson gerät in einem Streit mit ihrem Ehemann George auf die Autostraße und wird dort von einem Auto erfasst: dem Auto von Gatsby. Aber nicht Gatsby hat das Automobil gelenkt, sondern Daisy und so hat sie – unwissentlich – ihre Rivalin bei Tom getötet.

Crime Fiction oder Autofiction?

Denn Ennui der Reichen und Gutgestellten hat F. Scott Fitzgerald – wohl auch aus eigener Erfahrung – treffend wie kein anderer geschildert. Dennoch war seinem großen Roman, heute ein “modern classic” bei Erscheinen gar kein Erfolg beschieden. Während Fitzgerald mit seinen Kurzgeschichten im selben Zeitraum für acht Erzählungen 30.000 Dollar von der Saturday Evening Post bezahlt bekam, schlug sich der Große Gatsby mit gerade einmal 5,10 Dollar zu Buche. Beim Verfassen seines posthum größten Erfolges war Fitzgerald gerade einmal 27 Jahre alt und hatte noch gute 13 Jahre schriftstellerisches Schaffen vor sich. 160 Kurzgeschichten hat Fitzgerald insgesamt verfasst, bis er 1940 das Zeitliche segnete. Er starb 1940 in Hollywood an seinem dritten Herzinfarkt – gerade einmal 44 Jahre alt. Als “world’s most misunderstood novel” bezeichnete unlängst die BBC den größten Erfolg Fitzgeralds. Dass Gatsby ein bootlegger war, der bis zum Hals in kriminellen Machenschaften steckte, sowie ein Stalker, wie man es ihn heute in PC-Zeiten nennen würde. Nix mit Romantik und so. Denn Gatsby hat sich sogar seine Villa vis a vis von Tom und Daisy bauen lassen. Freier Blick auf’s Mittelmeer oder die Manhasset Bay besser gesagt. Dass Fitzgerald’s Frau, Zelda, während F. Scott an seinem Roman arbeitete, einen Selbstmordversuch unternahm und nach einer Affäre mit einem Franzosen Schlaftabletten genommen hatte, zeigt wie lebensnah die Crime Fiction am Alltag des Autors war und dass das Jazz Age vielleicht sogar noch wilder war, als wir es in unseren Vorstellungen ausmalen wollen.

F.Scott Fitzgerald
Der große Gatsby
Mit einem Nachwort von Min Jin Lee. Aus dem amerikanischen Englisch von Bettina Abarbanell
2025, Hardcover, 256 Seiten
ISBN: 978-3-257-07337-9
Diogenes Verlag
€ (D) 19.00 / sFr 26.00* / € (A) 19.60


Genre: Roman
Illustrated by Diogenes

Tatjana

Der vor allem in der Filmbranche als Drehbuch-Schreiber und Schauspieler bekannte Curt Goetz hat während seines Exils in den USA 1944 die Novelle «Tatjana» geschrieben. Die von ihm als «Eine Legende» bezeichnete Erzählung teilt mit dem gleichzeitig erschienenem, einzigen Roman aus seiner Feder das Motiv ‹älterer Mann liebt blutjunges Mädchen›. Zehn Jahre später ist, sicher nicht durch Zufall, «Lolita» von Vladimir Nabokov erschienen, der als großer Verehrer von Curt Goetz gilt und «Tatjana» gekannt haben dürfte. Neben dem Grundmotiv und der männlichen Erzählperspektive haben beide Erzählungen allerdings keine Gemeinsamkeiten. Lolita nämlich nutzt den frischgebackenen Ehemann ihrer Mutter schamlos aus, ohne ihn zu lieben, und verlässt ihn schließlich mit einem gleichaltrigen Liebhaber, während Tatjana sich Hals über Kopf in den deutlich älteren Mann verliebt und ihn schließlich sogar heiraten will.

Curt Goetz baut in seine Novelle eine Rahmenhandlung ein, in der er von einer Autofahrt erzählt, bei der er einen Anhalter mitnimmt. Dieser wortkarge Mitfahrer lässt sich von ihm an einem Friedhof absetzten und betritt den wie ein Park wirkenden Gottesacker, in dem Amerika-typisch keine Gedenksteine oder Kreuze zu sehen sind, sondern nur kleine, ins Gras eingelassene Tafeln. Kurz entschlossen fährt der Autor mit seinem Auto in den Friedhof hinein, – denn selbstverständlich haben alle US-amerikanischen Friedhöfe einen großen Parkplatz, wie er süffisant anmerkt. Er will sich in der Kapelle das berühmte «Last Supper Window» ansehen, die von einer Italienerin als Glasmalerei geschaffene Replik des «Abendmahl»-Freskos von Leonardo da Vinci. Es gäbe schließlich sogar Leute, die jeden Tag vorbeikommen und das Bild betrachten, erklärt er. In der Urnenhalle trifft er den Anhalter wieder, der eine Urne mit der Aufschrift «Tatjana 1920-1933» betrachtet, und lädt ihn spontan zum Essen ein. Nachdem sie gut gegessen haben, lockern die Drinks seinem Begleiter allmählich die Zunge, und was folgt ist «eine der seltsamsten Geschichte, die ich je gehört habe», – das eigentliche Thema der Novelle.

Er sei Arzt von Beruf, berichtet er, und habe in jungen Jahren Cello gespielt, ohne Erfolg allerdings. Nun habe er sich anlässlich eines Konzerts in Kolberg an der Ostsee in die junge, russische Cellistin Tatjana verliebt, ein dreizehnjähriges Wunderkind, dem er als zufällig im Konzertsaal anwesender Arzt bei einem Schwächeanfall habe helfen können. Vertrauensvoll bittet Sie ihn flüsternd, für sie in Berlin etwas sehr Dringendes zu erledigen, noch in dieser Nacht, wozu er sofort bereit ist. Ihre Mutter sei aus Berlin schon vorgereist nach Kolberg, und sie habe die leere Wohnung nutzen können für ein Rendezvous mit ihrem Freund. Der sei aber plötzlich tot umgefallen, und sie habe die Wohnung in Panik verlassen. Der Arzt setzt sich ins Auto und fährt nach Berlin, setzt den Toten nachts auf eine Parkbank und ist am frühen Morgen wieder zurück in Kolberg. Tatjana weicht ihm nicht mehr von der Seite, sie hat sich unsterblich in ihn verliebt und will ihn heiraten, – auch die Mutter kann sie davon nicht abhalten.

Curt Goetz erzählt seine «Legende» von der in jenen Zeiten noch als strenges Tabu angesehenen Mesalliance in einem lockeren, fast amerikanisch knapp anmutenden Ton, leicht lesbar und mit feiner Ironie unterlegt. Dabei konzentriert er sich formal streng auf das Besondere seiner Geschichte, die Unmöglichkeit einer solchen Beziehung, die er auf die Spitze treibt, wenn sein Held alle familiären Brücken hinter sich abbricht, mit Tatjana auf Konzertreise geht und sie, in den USA angekommen, dann tatsächlich auch heiraten will, was nur dort möglich ist. Als Musikfreund liest man auch gern die mitreißenden Passagen, wo es um das Genie der kindlichen Tatjana geht, die mit wahren Begeisterungs-Stürmen gefeiert wird wegen ihrer ebenso virtuosen wie jugendlich vorwärts stürmenden Spielweise. Nach über achtzig Jahren wird diese grandiose Novelle immer wieder neu aufgelegt und findet begeisterte Leser, – literarisch ein Klassiker also!

Fazit:   erfreulich

Meine Website: https://ortaia-forum.de


Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Zukunft unseres Wassers Was kann es? Wo fehlt es? Wem gehört es?

Die Autorin, deren Namen auf dem Titel vergrößert geschrieben ist, hat in einem flotten Stil von ihrer Arbeit als geschäftsführende Vorständin von Viva con Agua e.v. berichtet und alle Fragen, die auf dem Titel gestellt werden, beantwortet; gerne mit Ich-Botschaften.

Rüdiger Braun, der Mitautor, hat als Wissenschaftsjournalist die naturwissenschaftlichen Anteile beigetragen.

In zehn Kapiteln werden auf knapp 300 Seiten mit Quellenangaben Leser*innen mitgenommen, und es macht Spaß! Ich habe mich daraufhin an meine Wassererfahrungen in Tansania vor 45 Jahren erinnert und in meinem Blog von meiner aktuellen Tätigkeit als Wassermanagerin berichtet. Es beginnt mit:

„Wasser ist Leben. Wasser ist magisch. Wir sind Wasser.

Lasst uns die Wucht der gemeinsamen Welle zusammen entdecken…“

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Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Ludwig Buchverlag