Frühlingsnacht

Coming-of-Age-Geschichte voller Rätsel

Mit «Frühlingsnacht» wurde Anfang des Jahres bereits den vierten Roman des norwegischen Schriftstellers Tarjei Vesaas in einer gelungenen deutschen Übersetzung herausgebracht. Der Autor zählt in seinem Heimatland zu den bedeutendsten Schriftstellern überhaupt und wurde mehrfach auch für den Nobelpreis vorgeschlagen. Die deutsche Ausgabe wird durch ein wenig informatives, eher ärgerliches Nachwort ergänzt, in dem die hierzulande weitgehend unbekannte, norwegische Schriftstellerin Hanne Ørstavik weit ausholend mehr über sich selbst schreibt als über das Buch, um das es ja eigentlich geht.

Im Mittelpunkt dieser Coming-of-Age-Geschichte steht der 14jährige Hallstein, der mit seiner vier Jahre älteren Schwester Sissel über Nacht allein ist in ihrem abseits gelegenen Haus. Seine Eltern sind zu einer Beerdigung gefahren und werden erst am nächsten Tag zurück sein. Voller Freude über die «sturmfreie Bude» haben sie sich gerade gemütlich zum Abendessen niedergesetzt, als es plötzlich überraschend laut an der Tür klopft. Draußen im Regen stehen zwei Männer und zwei junge Frauen, die mit ihrem Auto liegen geblieben sind und dringend um Hilfe telefonieren wollen, weil die etwas ältere der beiden Frauen, Grete, schwanger ist und die Wehen schon eingesetzt haben, sie steht kurz vor der Niederkunft. Im Haus gibt es zwar ein Telefon, aber Anfang der 1950er Jahre sind dort nur handvermittelte Gespräche möglich, und die Vermittlung ist schon geschlossen um diese Uhrzeit.

Sissel stellt das Schlafzimmer der Eltern für Grete zur Verfügung, und Hallstein wird von Karl, Gretes Mann, aufgefordert, schnell mit ihm auf Fahrrädern in das nächste Dorf zu fahren und die Hebamme herbeizuholen. Karls Vater Hjalmar kommt Hallstein ziemlich komisch vor, weil er viel wirres Zeug spricht und beim Sprechen immer wie wild mit den Armen herumfuchtelt. Er will nun schnellstmöglich seine Frau Kristine aus dem Auto holen, sie sei stumm und könne nicht laufen, er müsse sie seit einem Jahr immer tragen. Sie wird im Zimmer von Sissel untergebracht und fängt, als sie mit Hallstein allein ist, plötzlich überraschend doch an zu sprechen. Sie bittet ihn um Hilfe, falls sie ihn rufe, sagt aber nicht, wobei er denn helfen soll. In Karls Halbschwester Gudrun meint Hallstein die Traumfrau wieder zu erkennen, die ihm nächtens häufig am Fenster erscheint, er hatte ihr den Namen Gudrun gegeben in seiner blühenden Phantasie. Die Hebamme ist da und holt nachts das Baby von Grete und Karl auf die Welt, während Kristine am nächsten Morgen tot im Bett liegt, – warum bleibt offen. Es stellt sich schließlich auch heraus, dass Hjalmar während der Autofahrt Kristine in einem heftigen Streit verboten hat zu sprechen, was sie ebenso strikt befolgt hat wie sein Verdikt von vor einem Jahr, sie könne nicht mehr laufen.

Die nächtlichen Besucher tragen dramatische Konflikte hinein in das stille Haus von Hallstein und Sissel, die nicht wissen, was ihnen geschieht in den Turbulenzen, die sie wie ein Gewitter mit Blitz und Donner überziehen. Die friedliche Frühlingsnacht hat sich jäh in ein Drama verwandelt, mit dem sich Hallstein als der Jüngste in diesem kammerspiel-artigen Geschehen plötzlich erschrocken und ungewollt wieder findet. Für ihn als naiven Protagonisten vollzieht sich in dieser einen Nacht schlagartig der Wandel vom Kind zum Erwachsenen. Er erlebt ein Abenteuer, in dem Geburt und Tod direkt aufeinander folgen. Das bringt auch viel Ungeklärtes ans Licht und hat all die merkwürdigen Figuren am Ende nachhaltig verändert. Für seine verstörende Geschichte hat der Autor eine dem szenischen Wirrwarr stakkatoartig angepasste, stockende und reduzierte Sprache gefunden, in der Vieles nur angedeutet und fast nichts begriffen wird. Legitime Erwartungen der Leserschaft dürften sich mit diesem eigensinnig unkonventionellen Roman wohl kaum erfüllen, – Andeutungen allein aber werden der anspruchsvollen Thematik partout nicht gerecht!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Guggolz-Verlag Berlin

Die Wut ist ein heller Stern

Weder bereichernd noch unterhaltend

Die Schriftstellerin Anja Kampmann thematisier in ihrem Roman «Die Wut ist ein heller Stern» das Erstarken des Nationalsozialismus, das schlagartig mit der so genannten Machtergreifung am 30. Januar 1933 begann. In fünf Teilen, die mit den Jahreszahlen von 1933 bis 1937 betitelt sind, wird darin erzählt, wie in der Hamburger Hafenstadt das Leben der randständigen und auch der jüdischen Bevölkerung zunehmend schwieriger und bedrohter wird. Horden von randalierenden Braunhemden stoßen mit den kommunistisch orientierten «Roten» zusammen, Mord und Totschlag werden alltäglich und bleiben ungesühnt, ein rechtsfreier Raum entsteht mit der Zeit. Der Roman spielt im Milieu des weltbekannten Rotlichtviertels rund um die Reeperbahn, in zwielichtigen Etablissements, in den kommunistischen Boxvereinen, in einer trügerischen Glitzerwelt. Dem stehen im Privaten die armseligen Stuben und dunklen Hinterhöfe des Prekariats gegenüber. Es sind die Frauen, die im Fokus dieses Romans stehen, all die Tänzerinnen, Akrobatinnen und Halbweltdamen, von denen nicht wenige zumindest gelegentlich auch der Prostitution nachgehen, ohne dadurch wirklich aus dem nicht nur finanziellen Schlamassel heraus zu kommen. Für all diese Frauen verwendet die Ich-Erzählerin Edda im Roman immer nur den Begriff «Rita», sie sind Ritas allesamt.

Hedda arbeitet als Akrobatin im Varieté «Alcazar», wo sie am Seil turnt, während unter ihr in einem Wasserbecken zwei Kaimane herumdümpeln. Die müssen vorher gut gefüttert werden, sonst wäre bei einem Fehlgriff am Seil das Risiko viel zu groß. Als einmal die Fleischlieferung ausbleibt, beauftragt der Varieté-Chef deshalb einige Kinder, ihm zehn fette Ratten zu bringen als Futterersatz. Er ist eine allseits respektierte Größe der schillernden Halbwelt und gebietet über eine «Finken» genannte Truppe von Schlägertypen aus einem Boxverein, die sich durchzusetzen gewöhnt sind. Aber auch deren Macht schwindet, sie geraten zunehmend mit den Nazitrupps von SA, SS und Gestapo aneinander. Die profitieren davon, immer die Staatsmacht hinter sich zu wissen, sie bleiben ungeschoren auch bei den schwersten Verbrechen. Wenn Edda voller Wut über die wachsende Bedrohung spricht, verwendet sie für diese Schläger nur den Begriff «Keiler», für sie Inbegriff des Unheimlichen und Gefährlichen.

Besondere Sorgen macht sie sich um ihren rachitischen Bruder, der plötzlich nicht mehr am Unterricht teilnehmen darf, weil er ein Risiko sei für den «gesunden Volkskörper». Ihre Freundin, mit der sie sich ein Zimmer teilt, leidet als Prostituierte unter der rücksichtslosen Verrohung der Freier, insbesondere der aus dem Nazi-Milieu, für die sie als Untermensch gilt. Hedda schöpft Hoffnung, als ihr Bruder Jaan, der bei ihrem Onkel in dessen Schmiede arbeitet, als Harpunen-Schmied auf einem der vielen neuen Walfänger Arbeit findet. Mit dem Walfett will das Dritte Reich den akuten Fettmangel beseitigen. Sie glaubt an die Chance, dass sie und der kranke Bruder mit Jaans Schiff aus dem Land flüchten könnten. Denn auch «der Graue», ihr Stammfreier, kann ihr als ehemaliger Kolonialoffizier keinen Schutz mehr bieten. Ihr rachitischer Bruder wird in ein fragwürdiges «Heim» verbracht, ihr bester Freund verschwindet spurlos, und sie selbst wird schließlich zwangssterilisiert. Der Roman endet abrupt, das Ende bleibt offen.

Das von einer wütenden Hedda subjektiv Wahrgenommene wird von ihr in einer sachlich kargen Sprache erzählt. Anja Kampmann erklärte: «Ich wollte eine Stimme finden, die davon erzählt, aber die vor allem eine starke Lebendigkeit hat». Dieser komplexe Roman, der ohne historische Verweise bleibt, lebt weitgehend von seinen schillernden, zuweilen auch ambivalenten Figuren, die allerdings wenig Empathie zu erzeugen vermögen. In der Flut ähnlicher Romane bleibt als literarisches Alleinstellungs-Merkmal hier letztendlich nur die eigenwillige, poetisch anmutenden Stilistik der Autorin. Die erscheint aber weder thematisch angemessen noch als Prosa wirklich lesenswert, der Roman stellt also mitnichten eine unterhaltende oder gar eine bereichernde Lektüre dar!

Fazit:   miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald

Eine Dystopie mit Wumms

Der Debütroman der Schriftstellerin Fiona Sironic mit dem ellenlangen Titel «Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft» hat es auf Anhieb auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Eines jener aktuell prämierten Bücher, wie die Juryvorsitzende anmerkte, das «in psychologische, gesellschaftliche und politische Abgründe“ blicke. Wobei der Abgrund hier die sich bereits deutlich abzeichnende Klima-Katastrophe ist. Damit gehört es zu einem neuartigen literarischen Genre, das man als realistische ‹Climate Fiction› bezeichnen kann, also als vom Klimawandel inspirierte, in der Regel dystopische Belletristik. Zu den Vorreitern dieses vieldiskutierten Genres gehört insbesondere Margaret Atwood. Eine Besonderheit des vorliegenden Romans ist der nerdige Jugendsprech, in dem er verfasst ist, ein in den asozialen Medien gebräuchlicher, hier aber auf die Spitze getriebener Kauderwelsch. Dieses geradezu archetypisch für viral gehende Texte benutzte Fachchinesisch wird für Leser, denen diese Szene fremd ist, zu einer ärgerlichen Hürde, an der nicht wenige kläglich scheitern dürften.

Der Plot ist in einer gar nicht so fernen Zukunft angesiedelt. Die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Era lebt mit ihrer Mutter in einer Hütte am Waldrand, sie dokumentiert dort akribisch das Aussterben vieler Vogelarten. Im Internet verfolgt sie in Echtzeit zudem aufmerksam den Stream ihrer 18-jährigen Schulkameradin Maja und deren jüngerer Freundin Merle, die auf einer Lichtung im Wald öffentlich Festplatten in die Luft sprengen. Ihre Aktion richtet sich gegen ihre Mütter, die gegen Geld als «Momfluenzerinen» dafür gesorgt haben, dass ihre gesamte Kindheit viral gegangen ist. Mit ihren ebenso radikalen wie hilflosen Zerstörungsaktionen versuchen sie nun verzweifelt, alle digitalen Spuren an ihre öffentlich gewordene Kindheit auszulöschen. Was allerdings zum Scheitern verurteilt ist, denn «das Internet vergisst nie», wie jeder weiß. Era hält alle ihre Beobachtungen und Erkenntnisse – altmodisch analog – in Notizbüchern und Zeichnungen fest, sie bildet damit einen thematischen Gegenpol zur Zerstörungswut von Maja und Merle. Was die Drei eint, das ist ihre Suche nach Intimität, sie wollen ihren Lebensraum zurück erobern. Und sie teilen das Interesse an dem fast ganz in den Hintergrund gerückten Geschehen in der realen, der analogen Welt. Während dort die Turteltaube ausstirbt, verlieben sich Maja und Era als Mädchen des Digitalzeitalters ineinander! Schließlich zerstört symptomatisch ein Waldbrand den bisherigen, noch einigermaßen intakten Lebensraum der Mädchen.

Neben den ökologischen Abgründen sind politische Bezüge in dem Roman eher vage abgedeutet. An einer einzigen Stelle wird darin als ein politischer Verweis auf «das Internet vor den Konzernen» hingewiesen, welches in der vollkommen digitalisierten Welt dann zu einem «nach den Konzernen» geworden ist. Unzählbare Streams laufen jetzt als Dauerberieselung rund um die Uhr, ein Privatleben ist quasi unmöglich geworden. Damit einhergehend hat sich eine allgemeine Kultur der permanenten Achtsamkeit entwickelt, die dazu zwingt, lückenlos über alles öffentlich Publizierte informiert zu sein.

Alle Orte dieser feministischen Geschichte sind nur vage als Land oder Stadt benannt. Die Folgen des Klimawandels sind allgegenwärtig, tropische Temperaturen fordern jede Menge Hitzetote, private Räume werden zunehmend beengter. Eras Hang zum Analogen wird im Roman von ihrer Tante als Hinweis gedeutet, sie sei dabei, zur «Sozial-Legasthenikerin» zu mutieren. Dieser Roman strotzt nur so von solcherart Neologismen als Kennzeichen eines unbeirrt eigenwilligen, «dystopischen?» Schreibstils. Seine Wirkung in der aktuellen Literatur dürfte geradezu als ein «Wumms» wahrgenommen werden, es ist keine Mahnung zum Umweltschutz mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher mit der drohenden Faust. Darin liegt ohne Zweifel der Verdienst dieses Romans!

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Ecco Verlag

Die Sprache meines Bruders

Kafkaeske, ich-bezogene Unbehaustheit

Lange zehn Jahren nach ihrem Debüt als Schriftstellerin ist mit «Die Sprache meines Bruders» der zweite Roman von Gesa Olkusz erschienen, er wurde für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert. Der schmale Band erzählt in sieben Kapiteln die ebenso einfache wie absurde Geschichte zweier Brüder, die in ihrer Rätselhaftigkeit und mit ihren Leerstellen unwillkürlich an Franz Kafka erinnert. Der im Februar erschienene Roman hat in den Feuilletons praktisch keine Beachtung gefunden und wurde auch in Leserkreisen eher skeptisch beurteilt. Zu Recht?

In Rückblenden und aus verschiedenen Perspektiven rollt Gesa Olkusz die Vorgeschichte ihrer Erzählung auf. Zusammen mit ihrer Mutter kamen Kasimir und Parker aus Polen in die USA, sie sollten es im eigenen Haus einmal besser haben, den American Dream für sich selbst erleben. Ihr Vater blieb zurück, ein frühes Trauma für die Söhne, er fehlte den Brüdern als Bezugsperson. Die Mutter verfiel in Lethargie, kaum das sie angekommen waren, und hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Jegliche Verbindung in die Heimat wurde von ihr abgebrochen, sie pflegt auch keinen Kontakt zu den Nachbarn, spricht allenfalls mal ein paar Worte mit der aufdringlichen Mrs. Carpenter von nebenan. Und auch die Brüder hegen eine tiefe Abneigung gegen die Nachbarn, sie sind mental nie richtig angekommen in ihrer neuen Heimat. fühlen sich nicht zugehörig in dem fremden Land. Diese Vereinsamung zweier junger Männer eskaliert nach dem Tod der Mutter in fast völlige Sprachlosigkeit untereinander. Wobei Kasimir dumpf in seinem Schweigen verharrt und nur bewundernd seinen stets agilen Bruder beobachtet. Ihre Sinnsuche, die Frage nach ihrer eigenen Identität, wirft unwillkürlich beim Lesen Fragen auf nach den tieferen Ursachen, die aber im Roman ganz bewusst unbeantwortet bleiben: Was war der Grund für die Auswanderung? Warum ist der Vater in Polen geblieben? War geplant, dass er nachkommen würde? Warum gibt es keinerlei Kontakte zu den anderen Verwandten in Polen? Die Brüder haben sich nie getraut, danach zu fragen, ihre Mutter hat das Geheimnis dieser dysfunktionalen Familie mit ins Grab genommen.

Soweit die Ausgangslage dieser lethargischen Geschichte einer vergeblichen Identitäts-Suche. Daran ändert sich dann auch nichts, als Parkers vergleichsweise lebenslustige, neue Freundin Luzia in das Zimmer der verstorbenen Mutter einzieht, sie hat sich notgedrungen schon bald an die allgemeine Sprachlosigkeit im Hause angepasst. Parker arbeitet als Chauffeur, während Kasimir gedankenverloren zu Hause bleibt, den Haushalt führt und ansonsten antriebslos den Tag vertrödelt. Eines Tages hat Parker einen mysteriösen Fahrgast, der seinen sich sträubenden Chauffeur in ein Gespräch hineinzieht und ihn schließlich sogar dazu überreden kann, seinen Job kurzzeitig aufzugeben. Er soll gegen ein äußerst großzügiges Honorar für ihn tätig werden, ihm behilflich sein. Durch das viele Geld verlockt, quittiert Parker seinen Job und verlässt ohne Abschied oder irgendeine Erklärung das Haus. Am nächsten Tag zieht auch Luzia aus, sie emigriert kurz entschlossen in südliche Gefilde. Kasimir bleibt allein zurück und wacht schließlich, ganz am Ende der Erzählung, aus seiner Lethargie auf.

Die fehlende Kommunikation ist zentrales Thema dieses psychologisch feinsinnigen Romans, dessen Stilmittel darin besteht, die Interaktion zwischen den wenigen Figuren auf unterhaltsame Weise kafkaesk absurd erscheinen zu lassen. Die von den Akteuren geübte Rücksichtnahme erweist sich als völlig falsch, sie ist der eigentliche Grund für die seelischen Verwerfungen, an denen die Brüder mit ihrer gegenseitigen Hassliebe leiden und dann letztendlich auch daran scheitern. In stilistischer Strenge wird nichts erklärt in diesem verstörenden Roman von der ich-bezogenen Unbehaustheit seiner Protagonisten, wobei es gerade dieses Unausgesprochene ist, das nachhallt beim Leser. Die Ignoranz der Feuilletons ist hierbei also völlig unverständlich!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Residenz Verlag

Tar Baby

Auf der Suche nach Identität

Der vierte Roman der amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison mit dem Titel «Tar Baby» ist in der aktuellen deutschen Ausgabe mit einem Vorwort der Autorin ergänzt worden. Darin schildert die erste farbige Nobelpreisträgerin die familiären Umstände, die sie dazu gebracht hätten, dieses Buch zu schreiben. Auslöser war demnach eine uralte Geschichte aus Afrika von einer Puppe aus Teer, die den Gruß eines Kaninchens nicht erwidert hat. Als das Kaninchen die Puppe wütend tritt, bleibt es an dem klebrigen Teer hängen und kann sich nicht mehr davon befreien. Dieses Teerbaby ist für die Autorin das Sinnbild einer toughen, schwarzen Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, wie sie im Interview erklärt hat.

Im ersten von zehn Kapiteln wird die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht erzählt, die einen farbigen Seemann auf eine abgelegene Karibikinsel verschlägt. Son ist von einem vorbeifahrenden Schiff gesprungen und wäre beim Schwimmen an Land beinahe ertrunken. Unterschlupf findet er in einem einsam gelegenen Haus, in das er sich nachts einschleicht. Wobei er beinahe erwischt worden wäre, er konnte sich gerade noch in die Kleiderkammer der Hausherrin retten. Der mehr als siebzigjährige Valerian Street hat vor Jahren seine Bonbonfabrik in Amerika verkauft und sich mit Margaret, seiner deutlich jüngeren Frau, in ein großes, feudales Landhaus zurückgezogen, sein karibisches Refugium. Betreut wird das weiße Ehepaar von dem farbigen Butler Sydney und dessen Frau, die als Köchin fungiert. Als die Hausherrin überraschend auf Son stößt und schreiend um Hilfe ruft, will Sydney den Eindringling auf der Stelle erschießen, wird in letzter Sekunde aber vom Hausherrn daran gehindert. Der lädt den Farbigen vielmehr zu einem Drink ein und bietet ihm schließlich sogar großzügig auch noch Unterkunft an.

Im Haus wohnt besuchsweise seit einigen Monaten auch Jadine, die 25jährige, ebenfalls farbige Nichte des Butler-Ehepaares. Sie wurde nach der Schule vom Hausherrn gefördert, er hat ihr ein Studium als Kunsthistorikerin in Paris finanziert, das sie inzwischen erfolgreich abgeschlossen hat. In Paris wurde die äußerst attraktive junge Frau als farbiges Model entdeckt und hat sich deshalb entschlossen, zunächst nicht als Dozentin an der Universität zu bleiben. Sie ist stattdessen nach New York gegangen, um dort als gut bezahltes Model zu arbeiten. Nach anfänglichem Streit kommen sie und der Eindringling Son sich schnell näher und haben bald schon rauschhaften Sex miteinander. Er erzählt ihr schließlich sogar den kriminell bedingten Grund für seine Flucht aus den USA. Es ist kurz vor Weinachten, der erwachsene Sohn der Streets wird sehnsüchtig erwartet. Wegen widriger Wetterverhältnisse sind aber kurzfristig alle Flüge gestrichen worden, und auch andere Gäste müssen absagen. So sitzen schließlich nur die Streets, das Butlerehepaar sowie Jadine und Son beim Festschmaus am Esstisch zusammen, wo der traditionelle Truthahn aber ausnahmsweise diesmal durch eine Gans ersetzt ist. Es kommt zum Eklat, als gesprächsweise durch die Köchin, die für den einzigen Sohn wie eine zweite Mutter war, angedeutet wird, dass Mrs. Street ihn als Baby und Kleinkind mit Nadeln gestochen und ihm sogar Brandwunden zugefügt hat. Überstürzt reisen Jadine und Son nach New York ab.

In Person der auf einem derart speziellen Gebiet wie der Mode erfolgreichen, schwarzen Protagonistin  kumulieren die unterschwellig vorhandenen, rassistischen Töne, die der Plot thematisiert und der Buchtitel symbolisiert. Sie fühlt sich von den konventionellen Vorstellungen und sozialen Bedingtheiten anderer farbiger Frauen bedrängt. Und auch die heiße Affäre mit Son scheitert schließlich an derartigen rassisch geprägten, konträren Lebens-Einstellungen und -Bedingungen. Nicht nur die Farbigen in diesem Roman befinden sich auf der Suche nach ihrer Identität, alle müssen sich letztendlich fragen, ob sie denn wirklich authentisch handeln. Stilistisch überzeugend ist die poetische Sprache der Autorin, mit der sie – auch in kontemplativen Dialogen – starke Bilder erzeugt beim Lesen ihrer extrem breit angelegten, interessanten Rassismus-Story.

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Tage in August

Hier erscheint die deutsche Übersetzung einer Neuauflage, die 2021 erschien. Geschrieben hatte die Autorin das Buch 1953, mit siebzehn Jahren. Sie legte die Handlung in die letzten Jahre des 2. Weltkrieges. Es erschien dann 1962 und wurde ein Erfolg. Im Vorwort von 1998 schreibt die dann über Fünfzigjährige, dass sie es nun wie ein Jugend Foto betrachte.

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Genre: Roman
Illustrated by Unionsverlag

Mystique. Auf der Jagd

Mystique. Auf der Jagd

Autor und Zeichner Declan Shalvey präsentiert in vorliegendem Band die komplette Spionage-Miniserie mit der bekannten Gestaltwandlerin. Mystique trat erstmals in einem Ms. Marvel Comic vom April 1978, #16, auf und ist seither nicht mehr aus der Marvel Comic Welt wegzudenken. Denn wie man weiß, kann sie vielerlei Gestalten annehmen. Mit dabei: Nick Fury, der sein Bestes tut, Mystique zu jagen.

Vom Jagen der Jäger

Mystique hatte auch schon in einigen X-Men-Kinofilmen ihre Auftritte. Sie wurde schon von Rebecca Romijn und von Jennifer Lawrence verkörpert. Ihre charakteristischen Merkmale wie blaue Hautärzte Haare und gelbe Augen machen sie zur wohl exotischsten Mutantin des Marvel Multiversums. Als Raven Darkholme ist sie besonders gut im Nahkampf, weiß aber auch mit diversen Waffen umzugehen. Als Ziehmutter von Rogue und leiblicher Mutter von Nightcrawler sowie des Präsidentschaftskandidaten Graydon Creed hat sie auch Verantwortung. Mystique ist eine brillante Hackerin und war Anführerin der zweiten Inkarnation der „Bruderschaft der bösen Mutanten“ (Brotherhood of Evil Mutants). Diese führte später auch für die US-Regierung als Spezialeingreiftruppe unter dem Namen Freedom Force Einsätze durch. In vorliegender Spionage-Miniserie von Autor und Zeichner Declan Shalvey (Moon Knight, Deadpool) als deutsche Erstveröffentlichung attackiert Mystique ein Black-Operation-Team in Frankfurt, was den tief gefallenen SHIELD-Agenten Nick Fury auf den Plan ruft. Nick Fury Jr. ist nämlich an einen einfachen Schreibtisch-Job gebunden. Doch als sein Vater Nick Fury Sr. auftaucht und ihm eine Akte zu Mystique zuspielt beginnt er, den Vorfall in Frankfurt zu untersuchen. Seine Recherchen führen ihn bald zu Ravens Frau Irine Adler aka Destiny, die er nun als Köder für Mystique benutzt.

Die mystische Comic-Figur Mystique

Nach dem Untergang Krakoas wurden die Karten der Geheimdienste neu gemischt und Mystique machte sich in Frankfurt auf die Jagd nach dem mysteriösen Protozoa-Programm. Das Black-Ops-Team rund um Maverick wurde dort aktiv, um einen gefährlichen Mutanten, Sabretooth, auszuschalten. Als Mystique, die die Mission schon längst manipuliert hat, auf den Plan tritt, geht sie über Leichen, denn sie will alles über Protozoa wissen. In “Mystique. Auf der Jagd” zeigt die blaue Gestaltwandlerin Raven Darkholme, dass einem nicht fad werden muss, wenn man verheiratet ist. Vor allem wenn die Braut noch dazu Destiny heißt. Die Mutant:innen, die von der Insel Krakoa aus operierten, brauchen nun ein neues Zuhause, aber sie befinden sich auf der Fahndungsliste von SHIELD, das seinerseits von Hydra unterwandert wurde. Dass Nick Fury und Mystique in vorliegendem Abenteuer so heftig aufeinanderprallen ist den exzellenten wenn auch etwas zu blassen Zeichnungen und der packenden Story zu verdanken. Keine Gegner waren wohl jemals kontroversieller. Außerdem mit dabei: Magneto, Destiny, Fabian Cortez, Maverick und Avalanche. Aber das Beste kommt noch. Ihren gemeinsamen Sohn Nightcrawler, also von Destiny und Mystique, soll letztere in einer ihrer männlichen Formen gezeugt haben. Und das im Alter von bereits mehr als 100 Jahren! Was beweist, wie unnütz Männer im 21. Jahrhundert doch schon geworden sind. Als Anti-Heldin ist Mystique vielleicht nicht unbedingt als weibliche Identifikationsfigur geeignet, jedoch kann man sie sicherlich als bemerkenswerte und starke Mutantin bezeichnen, der sicherlich noch eine blühende Zukunft bevorsteht. Im Film. Und im Comic!

Declan Shalvey
Mystique. Auf der Jagd
(Original Storys: Mystique (2024) 1-5)
2025, Klebebindung, 17X26cm, 128 Seiten,
ISBN: 9783741644924
Panini Comics
17,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Batmans grösste Gegner

Batmans grösste Gegner

Scarecrow, Two-Face, der Pinguin, Catwoman und der Joker gehören wohl zu den größten Feinden des Dark Knight. Zumindest was die Vintage-Zeit betrifft, in der diese bunten Geschichten erschienen sind. Zudem gibt eine Diorama-Zeichnung mit einem Einblick ins Innere der Bat-Höhle Aufschlüsse über den Lebensstil der berühmten Fledermaus. Aber auch weiteres Zusatzmaterial wie Detailaufnahmen des famosen Bat-Gürtels verraten einige der Geheimnisse, die seine größten Gegner besser nicht wissen sollten.

Vintage in XL-Format

Neben den klassischen Zeichnungen ist an dieser Publikation vor allem auch das Format für Sammler sehr anziehend. Mit immerhin  25.5 X 35.5cm  spielt der Bildband schon in der Sonderliga XL-Format. Die besonders bunten und schrillen Zeichnungen tun ihr übriges, diese Geschichten in ein echtes Vintage-Abenteuer zu verwandeln. Die Entstehungsgeschichte eines Superschurken widerspricht allerdings dem gängigen Kanon der bisher bekannten DC-Comics. Doppelgesicht, besser bekannt als Two-Face, hat in der hier vorliegenden Version den Namen Harvey Apollo und bezeichnet sich vor Gericht als Wandermime, Barde und Schauspieler, bis sein Widersacher, Lucky Sheldon, ihm eine Säure ins Gesicht schüttet. Und das vor dem Gericht, wo die Verhandlung gegen Lucky stattfindet! Eine Gesichtshälfte von Harvey wird durch die Säure völlig entstellt und der Mensch hinter der nunmehrigen Maske zum Monster verunstaltet. Denn von nun an nennt er sich Two-Face und unterwirft alle seine Entscheidungen dem Wurf einer Münze, deren eine Seite er ebenso verunstaltet, wie sein Gesicht es bereits ist. Landet diese Seite nach einem Wurf auf seiner Handfläche, gewinnt das Verbrechen, seine böse Seite bekommt die Oberhand und Harvey ist durch nichts mehr aufzuhalten. Außer natürlich durch – Sie ahnen es bereits – Batman!

Batmans grösste Gegner und Gegnerinnen

In den vorliegenden Vintage-Abenteuern, die erstmals als Limited Collector’s Edition 37 1975 in den USA erschienen, ist übrigens stets auch The Boy Wonder, Robin, an der Seite des dunklen Ritters.  Er rettet ihm gleich mehrmals das Leben, wie wir es auch im Scarecrow Abenteuer mitverfolgen können. Professor Jonathan Crane aka Scarecrow arbeitet an der Universität und wird von dieser aufgrund seiner unkonventionellen Lehrmethoden alsbald ausgeschlossen resp. suspendiert. Dieser Schicksalsschlag holt auch aus ihm das ungebremste Böse hervor, denn auf Ablehnung folgt stets Rache. Crans besorgt sich ein Kostüm und bietet sich als gedungener Erpresser diversen Geschäftsmännern an. Bis Batman und Robin ihm auf die Schliche kommen und ihm schließlich das Handwerk legen. Eine besonders lustige Geschichte ist auch das letzte Abenteuer in diesem XL-Band, der in der “Hall of Infamy” (Saal der Niedertracht) auch die weiblichen Exponentinnen der grössten Gegnerinnen Batman präsentiert. Catwoman überfällt eine Theatervorstellung eines Odysseus-Stückes und fordert von der Hauptdarstellerin die Perlen. Auf einem bereitgestellten Segelboot, das der Aufführung dienen hätte sollen, flieht Catwoman mit dem Schatz und versenkt sogar noch ihre Verfolger: “Circe verwandelte Männer mit einem Trank in Schweine, ich Getränke sie und schicke sie zu den Fischen! Hahaha!

Bill Finger, Bill Woolfolk, u.a.
Batman Klassiker – Batmans grösste Gegner
Zeichnungen: Bob Kane, Jim Mooney, Jack Burnley, Charles Paris (pencils), Jerry Robinson, George Roussos, Ray Burnley, Win Mortimer, Charles Paris (inks)
(Original Storys: Limited Collector’s Edition 37)
2025, Hardcover, 64 Seiten, XL-Sonderformat (Format: 25.5X35.5), Farbe
ISBN: 978-3-7416-4576-1
Panini Comics
29,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Die blutige Kammer

Gruselige Täter-Opfer-Umkehr

Als Neuauflage ist nach 56 Jahren der Sammelband «Die blutige Kammer» der britischen Autorin Angela Carter jetzt wieder in einer neuen Übersetzung auf Deutsch erschienen. Das Buch gehört zum Genre der Horrorliteratur, wobei das Besondere darin besteht, dass hier klassische Märchen in radikaler Weise in feministische Schauerliteratur umgewandelt wurden. «Es ging mir nicht darum», hat sie erklärt, «‹Versionen› oder … ‹Erwachsenen-Märchen› zu schreiben, sondern den latenten Inhalt der traditionellen Geschichten zu extrahieren und ihn als Ausgangspunkt für neue Geschichten zu verwenden›». Märchen sieht sie nicht als zeitlos an, sondern als in ihrer jeweiligen Zeit verankert. Als kämpferische Feministin empfindet Angela  Carter die Rolle der Frauen im Märchen als generell prekär und dreht in ihren Geschichten den Spieß deshalb radikal um, lässt also gequälte junge Mädchen in die Rolle derjenigen schlüpfen, die das Böse verkörpern und nun ihrerseits quälen. Vielleicht trägt diese Neuerscheinung ja dazu bei, dass die britische Schriftstellerin nun in Deutschland wiederentdeckt wird.

Beginnend mit der titelgebenden und mit Abstand längsten der zehn Geschichten, eine Anverwandlung des «Blaubart»-Themas, ist deren Ich-Erzählerin ein blutjunges Mädchen, dessen Vater beim Spielen sein gesamtes Vermögen verliert und als letzten Einsatz seine Tochter anbietet. Prompt verliert er wieder! Daraufhin muss sie nun den deutlich älteren Gewinner des Spiels heiraten und kommt dann schicksalsergeben in sein Schloss. Dort ist sie als Hausherrin von immensem Reichtum umgeben, der Furcht einflößende Mann aber kostet nun genüsslich ihre Unerfahrenheit. Als er schon am nächsten Tag verreisen muss und seiner frischgebackenen Ehefrau alle Schlüssel anvertraut, entdeckt sie die für sie strengstens verbotene, titelgebende Folterkammer. Dort findet sie die einbalsamierten Leichen ihrer Vorgängerinnen und ruft entsetzt ihre Mutter an. Die kommt in letzter Sekunde angeritten und erschießt beherzt den vorzeitig zurückgekehrten, bösen Schwiegersohn, der ihre Tochter bedroht. Kein Wunder übrigens, schließlich hatte die Mutter ja auch schon mal einen Löwen erschossen, der ihr gefährlich geworden ist. Die beiden Frauen obsiegen also, nicht der mörderische Blaubart!

Weitere Erzählungen adaptieren Märchen vom «Gestiefelten Kater», «Rotkäppchen», «Schneewittchen» und «Die Schöne und das Biest» bis hin zu Goethes «Erlkönig», variieren in drei Erzählungen aber auch genüsslich das Gruselthema «Werwölfe». Wobei letztere natürlich das längst widerlegte Klischee vom blutrünstigen Wolf bedienen und ihm eifrig weitere Facetten hinzufügen. Unbekümmert verwandeln sich in diesem ambitionierten Band Menschen zu Tieren und umgekehrt, so wie dabei auch oft das Gute und das Böse die Rollen tauschen. Und die geschundenen weiblichen Figuren, egal ob Heldinnen oder Antiheldinnen, sinnen hier stets auf Rache, gerade weil sie andererseits, oft vergeblich, alle auch auf Liebe hoffen. Typisch für die Orte der Handlungen sind verfallene, unwirtlich kalte Schlösser mit gruseligen Schlossherren als Bewohner, oder aber armselige, schmutzstarrende Hütten im dunklen Wald.

Was das Thema Sexualität anbelangt, hat die britische Autorin in ihre phantasievollen Geschichten beherzt erotische Szenen eingefügt, die ihre jugendfreien historischen Vorbilder in eine zwar auch schaurige, aber weniger märchenhaft naive Gegenwart transferieren. Damit verschafft sie ihren unverkennbar ironischen Schilderungen einen gewissen Drive, der durchaus passend wirkt und all dem Horror auf wohltuende Weise sogar etwas von seinem Schrecken nimmt. Stilistisch sind diese burlesken Erzählungen allerdings deutlich überfrachtet mit Metaphern, was andererseits für Märchen ja nicht ganz untypisch ist. Die von Maren Kames in ein adäquates, leicht lesbares Deutsch übersetzten Geschichten sind eine angenehme Lektüre, – allerdings nur, sofern man, angesichts des täglichen Horrors in den Nachrichten, dieser literarischen Genre-Nische denn überhaupt etwas Positives abgewinnen kann!

Fazit:   mäßig

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Cabo de Gata

Magerer Plot und stilistisches Können

Mit dem Roman «Cabo de Gata», der eher als eine zielgerichtete Novelle anzusehen ist, hat Eugen Ruge ein autobiografisches Buch geschrieben, in dessen Widmung geschrieben steht: «Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war». Und so beginnen denn auch beinahe alle Sätze der Novelle mit den Worte «Ich erinnere mich». Ein angehender Schriftsteller (sic) mit Schreib-Blockade berichtet darin von seinem Selbstfindungstrip. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler, der nach der Scheidung von seiner Frau in einer tiefen Sinnkrise steckt, schildert darin eine spontane Reise in den Süden, die ein Ausbruch aus seinem bisherigen Leben darstellt. Er will in der Einsamkeit eines fremden Ortes völlig ungestört einen Roman schreiben.

In dem Wahn, sich von allen Fesseln zu befreien, geht der Vierzigjährige so weit, seine bescheidene Wohnung zu kündigen, alle Möbel zu verkaufen oder zu verschenken, alle Zahlungen zu stoppen und dann sein schmales Konto vollends leer zu räumen. Er reist mit kleinem Gepäck, alles hinter sich lassend, mit einigen kurzen Zwischenstopps und ohne konkretes Ziel Richtung Mittelmeer. Erst unterwegs wird er mit Hilfe eines Reiseführers auf den Naturpark im Süden Spaniens aufmerksam und landet kurz entschlossen, nach beschwerlicher Anreise mit einem klapperigen Bus, von Almeria kommend, im titelgebenden Naturpark «Cabo de Gata». Dort sucht er in einem kleinen Fischerdorf ein bescheidenes Quartier, was sich als ziemlich schwierig erweist, weil diese Gegend touristisch noch völlig unerschlossen ist. Das merkt er daran, dass der kleine Ort und auch sein Strand total vermüllt sind, was allerdings dort niemanden zu stören scheint. Schließlich kommt er als einsamer Gast in der Pension einer alten Witwe unter, deren Mann Fischer war. Die Tochter, deren gewaltiges Hinterteil immer wieder seinen Blick anzieht, ist ebenfalls mit einem Fischer verheiratet und arbeitet bei der Mutter als Bedienung. Die Wirtin, aber auch die anderen Dorfbewohner, sind äußerst wortkarg, sogar die Tochter spricht kein Wort mit ihm und knallt ihm mittags nur wortlos sein Essen auf den Tisch.

Die Landschaft ist öde, es weht ein kalter Wind, die Bewohner sind ausgesprochen unfreundlich, gleichwohl beschließt der Ich-Erzähler, dort zu bleiben. Er kämpft mit seinen Notizen, die er vormittags aufschreibt und meist am Nachmittag schon wieder verwirft, sein Romanprojekt kommt nicht von der Stelle. Dabei geht es ihm wie den drei Fischern, Söhne seiner Wirtin, die er oft beobachtet bei seinen Spaziergängen am Strand. Die rufen ihm dann immer zu: «Mucho trabajo, poco pescado», – viel Arbeit, wenig Fisch! Zu den auffallend wenigen Figuren der Erzählung gehören auch zwei Kurzzeit-Touristen, ein Engländer und ein Amerikaner. Außerdem einige Sonderlinge aus dem Ort, die er beobachtet: Zwei Männer in Schlafanzügen, die jeden Morgen vor ihre Haustür treten, eine Frau mit Gipsbein, die dann irgendwann keines mehr hat, sowie ein wortkarger Barmann. Zuletzt freundet er sich dann mit einer rot getigerten, scheuen Katze an, die er langsam an sich gewöhnt, indem er sie füttert. Er sieht in ihr die Inkarnation seiner Mutter, die ihm mit ihrer Anwesenheit etwas sagen will, davon ist er überzeugt. Dass er vergebens hier sei, der Erfolg mit seinem Buch würde sich nämlich von selbst einstellen, «sobald die Welt aufgehört hat, mich durch Wandel zu stören». Er bleibt 123 Tage in Gabo de Gata, bis er schließlich einen im flachen Wasser sterbenden Rochen beobachtet und spontan abreist.

Mit dem Vorhaben, für sein Buch aus nichts als aus Erinnerungen zu schöpfen, nutzt Eugen Ruge bewusst die Schwächen des Gedächtnisses und gibt absonderlichen Assoziationen und irrealen Zusammenhängen einen breiten Raum. Damit bezweckt er, zu einer anderen, zu einer ‹poetischen› Wahrheit zu gelangen. Das mag über den langweiligen, äußerst mageren Plot hinweg täuschen, was hier allein durch stilistisches Können ein wenig kompensiert wird. Ob das denn reicht, muss letztendlich jeder Leser für sich allein beantworten!

Fazit:   mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Aber?

Max Goldt begleitet mein Leben seit Jahrzehnten: Die kurzen Erzählungen mit ihren Wortschöpfungen, die menschliche Begegnungen beschreiben, in ihrer Kürze Spannung erzeugen, die dann durch eine kurze Pointe aufgelöst wird. Davon gibt es im Band Aber? Einiges, was zum Lachen bringt. Weiterlesen


Genre: Biographien
Illustrated by dtv

Sister Europe

Parodie auf den Literaturbetrieb

Mit «Sister Europe» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Nell Zink einen literarisch unkonventionellen Roman vorgelegt, in dem sie grundverschiedene, skurrile Figuren in einer einzigen regnerischen und kalten Nacht ungebremst aufeinander treffen lässt. Die  am 21. Februar 2013 spielende, originelle Geschichte einer ominösen, zufällig entstandenen Gemeinschaft «schräger Vögel» stellt eine auf hohem intellektuellem Niveau angesiedelte, subtile Gesellschafts-Kritik dar, die äußerst gewitzt vorgetragen wird. Als seit dem Jahr 2000 in Deutschland lebende Autorin hat Nell Zink ihrem in Berlin angesiedelten Roman viel Lokalkolorit beigegeben. Seine Handlung spielt sich im renommierten Hotel Intercontinental ab, Anlass ist die feierliche Verleihung eines Literaturpreises mit anschließendem Galadiner. Teilweise ist auch der nahe gelegene Tiergarten als großer Stadtpark Schauplatz des Geschehens.

Das illustre, zu Selbstinszenierungen neigende Figuren-Ensemble besteht aus dem Kunstkritiker Demian und seinem transsexuellen, 15jährigen Sohn Kilian. Der ist gerade dabei, eine «Nicole» zu werden, – oder vielleicht doch lieber nicht? Während der Vater Kilians Pläne ablehnt, was er sich aber nicht anmerken lässt, weil es «uncool» wäre, ist der Mutter die geplante Geschlechts-Umwandlung ihres Sohnes ziemlich egal. Ferner gehört Demians Freund Toto zum Personal des Romans, ein alternder Lebemann, und außerdem auch dessen deutlich jüngere Internet-Bekanntschaft Avancia, sie treffen sich dort zum ersten Mal. Mit von der Partie ist als Grande Dame auch noch die attraktive Livia, eine alte Freundin von Demian. Und auch deren imposanter Großpudel und verlässlicher Beschützer, der auf den Namen Mephisto hört, spielt nicht nur eine Nebenrolle in dem turbulenten Plot, denn sein Name deutet ja unverkennbar auf den Pudel in Goethes «Faust» hin. Geehrt wird an dem als Veranstaltung quälend langweiligen Abend der arabische Schriftsteller Masud, den kaum einer kennt.

Der Literaturpreis ist von der Witwe eines Emirs gestiftet, die sich bei der Feierstunde von ihrem Neffen Prinz Radi vertreten lässt. Sie hat auf ihre Einladungen enttäuschend wenige Rückmeldungen bekommen. Denn in ihren Kreisen jetten die Leute in der kalten Jahreszeit rund um die Welt, bloß ab ins Warme ist die Devise, – Umweltschutz und Klimawandel hin oder her! Sie bittet Demian deshalb, so viel wie möglich Leute aus seinem Bekanntenkreis mitzubringen, damit das offensichtliche Desinteresse an dem Preisträger nicht gar zu peinlich wird. Prinz Radi versucht dann prompt, mit der attraktiven Nicole anzubandeln, die schon vor dem geplanten medizinischen Eingriff äußerlich als junge Frau auftritt, geschminkt und aufreizend gekleidet. Sie will unbedingt ihre erste sexuelle Erfahrung als Frau machen. Prinz Radi jedoch zögert, – so weit will er denn doch nicht gehen!

Ein wesentliches Stilmittel der Autorin sind die glänzend formulierten, treffsicheren und  mitreißenden Dialoge, die vor allem durch kontemplative Einschübe und philosophische Erörterungen gekennzeichnet sind. Schwach dagegen sind die zu Selbstinszenierungen neigenden Figuren gezeichnet, verkrachte Existenzen allesamt, deren Wesensart weitgehend verborgen bleibt, man bekommt kaum einen Zugang zu ihnen. Gleichwohl tragen sie mit ihrem ausufernden Geplauder den ansonsten weitgehend ereignislosen Plot, der ziellos vor sich hintreibt. All das gibt dem üppig mäandernden Roman etwas zutiefst Trostloses! Aus den Kritiken der Feuilletons wie auch aus Leser-Kommentaren ergibt sich ein auffallend zwiespältiges Bild dieses ironisch erzählten Romans, der letztendlich nichts anderes ist als eine gelungene Parodie auf den aktuellen Literaturbetrieb.

Fazit:   lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Der talentierte Mr. Ripley

Der talentierte Mr. Ripley

Der talentierte Mr. Ripley. Eine sensationelle Neuverfilmung des 1955 erstmals erschienenen Romans der Texanerin Patricia Highsmith wirft die Scheinwerfer wieder auf das eigentliche Original. Der Roman, der 2024 in einer Neuübersetzung bei Diogenes erschien, legte eine Steilvorlage für die Miniserie “Ripley” von Steven Zaillian.

Doppelmord und Doppelleben

Tom Ripley lebt in New York. Vielleicht sollte man besser sagen “überlebt” in NYC, denn er hält sich durch Steuerbetrügereien und andere Gaunereien mehr oder weniger über Wasser. Außerdem ist ihm die Polizei auf den Fersen und es wird immer enger um ihn. Da bietet sich ihm eine einzigartige Gelegenheit. Herbert Richard Greenleaf, der Vater eines alten Freundes, “Dickie”, setzt sich mit ihm in Verbindung und bittet ihn um einen Gefallen. Dickie hat sich nämlich nach Europa abgesetzt und lebt irgendwo in der Nähe von Neapel, in einem kleinen Ort namens Mongibello. Dort will er Maler werden und dem Dolce Vita oder vielleicht eher doch dem dolce far niente frönen. Seine Mutter hat Leukämie und nur mehr ein Jahr zu leben und deswegen bittet sein Vater nun Tom Ripley seinen verlorenen Sohn wieder in die Heimat zurückzuholen. Er zahlt ihm dafür ein ordentliches Salär und natürlich sind auch die Reiskosten und andere Spesen mitinbegriffen. Greenleaf Sen. ist ein steinreicher Reeder und will, daß sein Sohn in seine Fußstapfen tritt und das Familienimperium übernimmt. Tom übernimmt den Auftrag vorerst ohne böse Gedanken, im Gegenteil, er offenbart sich sogar Dickie, dass sein Vater ihn geschickt habe und ihm auch alles bezahle. Diese Ehrlichkeit bricht das Eis zwischen dem zuerst reservierten Dickie und Tom und bald beginnen sie eine Männerfreundschaft, die die ebenfalls in Mongibello lebende amerikanische Schriftstellerin Marge ganz schon eifersüchtig macht. Denn eigentlich erwartet sie von Dickie, dass er ihr den Hof macht. Doch dann kommt alles ganz anders.

“A Month of Sundays”

Mit stilsicherer Brillanz beschreibt Patricia Highsmith das Innenleben eines – so viel darf verraten werden – Mörders, der immer mehr in seine Rolle hineinwächst und sich darin sogar selbst übertrifft. Seine Schizophrenie führt ihn sogar in eine Maskerade (“Travestie”), ein Doppelleben, das sich am Ende genau als das beste Werkzeug herausstellt, die Behörden zu überlisten. Einfühlsam beschreibt Highsmith wie sich der Emporkömmling in der Rolle des reichen Reedersohnes fühlt und beginnt, sein Leben als “ein anderer” endlich zu genießen. Er füllt die Rolle so gut aus, dass selbst der Vater und Marge, die Dickie am nächsten Stehenden und sogar seine Freunde von ihm an der Nase herumgeführt werden. Die homoerotische Spannung und leicht homophobe Stimmung passt perfekt in das Milieu der Zeit in der die Handlung spielt. Der Roman “Der talentierte Mr. Ripley” habe – so Paul Ingendaay im Nachwort – “durch Charme und Skrupellosigkeit die moralische Wertskala der Suspense-Gattung auf den Kopf gestellt” und ihn, Ripley, als “Traum aller Schwiegermütter” inszeniert. Denn er ist stets aufmerksam und höflich, ganz weltmännisch wie ein Kosmopolit. “Als müsste sie für das Los der lesbischen Liebe mildernde Umstände finden, kritisiert die Autorin bei heterosexuellen Paaren Bequemlichkeit, Selbstbetrug und erstarrte Rituale“, fasst Ingendaay ihre gesellschaftspolitische Perspektive zusammen. Mit “Der talentierte Mr. Ripley” hat Patricia Highsmith zudem einen ersten Serienhelden erschaffen, dessen Abenteuer sämtlich bei Diogenes in einer erweiterten Neuauflage erschienen sind. Ursprünglich hätte der Roman übrigens nach seinem Leitmotiv “A Month of Sundays” heißen sollen.

Fortsetzungen und Verfilmungen

Darunter: Ripley Under Ground, Ripley’s Game, Ripley Under Water, Der Junge, der Ripley folgte, etc. Übrigens soll auch die kongeniale Verfilmung von Steven Zaillian mit Andrew Scott fortgesetzt werden. Material an Steilvorlagen hat Patricia Highsmith auf hohem Niveau jedenfalls bereits geliefert, schön, dass die filmische Umsetzung so gut gelungen ist. 20 Jahre nach der Verfilmung mit Matt Damon übertrifft “Ripley” von Steven Zaillian mit Andrew Scott in der Hauptrolle alle Erwartungen an eine gelungene Literaturverfilmung. Auch Highsmiths Romanerstling “Zwei Fremde im Zug” wurde übrigens verfilmt: von Alfred Hitchcock. Er machte sie über Nacht berühmt.

Patricia Highsmith
Der talentierte Mr. Ripley
Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta.
Aus dem amerikanischen Englisch von Melanie Walz.
Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay und einer editorischen Notiz von Anna von Planta
2024, Taschenbuch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-257-24764-0
Diogenes
€ (D) 14.00 / sFr 19.00* / € (A) 14.40


Genre: Literaturverfilmung, Roman
Illustrated by Ansata / Penguin Random House, Diogenes Zürich

Panikherz

Wenn man den Cover-Text von „Panikherz“ liest, befürchtet man, dass da jemand mit Promi-Voyeurismus den schnellen Euro machen will. Aber ist nicht schon der Erwerb des Buches ein untrügliches Indiz dafür, dass man für diese Marketingstrategie empfänglich ist? Ok, erwischt. Weiterlesen


Genre: Autobiografie, Belletristik, Popliteratur, Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Das stille Haus

Ein gar nicht stiller Roman

Der zweite Roman des türkischen Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträgers Orham Pamuk erschien 2009, erst 26 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, unter dem Titel «Das stille Haus» auch in deutscher Übersetzung. Nach eigenem Bekunden zählen hauptsächlich westliche Schriftsteller zu seinen Vorbildern, unter anderem auch Thomas Mann, an dessen «Buddenbrooks» dieser vergleichsweise kurze Familienroman auch tatsächlich erinnert. Allerdings weicht Pamuk stilistisch sehr deutlich von dessen altväterlich konventioneller, chronologischer Erzählweise ab. Er lässt nämlich multi-perspektivisch gleich fünf Ich-Erzähler abwechselnd und über drei Generationen hinweg in vielerlei Rückblenden auftreten.

Die Rahmengeschichte handelt von einem siebentägigen Treffen der Familie im Juli 1980, das im Haus der 90jährigen Großmutter in Cennethisar am Marmarameer stattfindet. Dabei wird ein sehr differenziertes Bild der türkischen Gesellschaft gezeichnet. Das Spannungsfeld zwischen orientalischer Tradition und europäischer Moderne wird sehr anschaulich am Beispiel dieser Familie aus dem Mittelstand gespiegelt. Beginnend bei der Geschichte des Großvaters Selâhattin, der als Arzt ein dem Regime unangenehmer Aufklärer war und deshalb aus Istanbul in die Provinz verbannt wurde, um ihn mundtot zu machen. Dort in der Provinz verfällt er dem Alkohol, vernachlässigt seine Arztpraxis und muss mit dem Verkauf des Familienschmucks seiner Frau den Lebensunterhalt finanzieren. Geradezu besessen widmet er sich als nihilistischer Aufklärer einer «Enzyklopädie» zur Reform der türkischen Gesellschaft, die sein Lebenswerk werden soll, bei seinem Tod aber unvollendet bleibt. Selâhattin war mit Fatma verheiratet, der gastgebenden Großmutter, die aus dem traditions-bewussten, konservativen Großbürgertum von Istanbul stammt und seine politische Orientierung strikt ablehnt. Aus einer außerehelichen Beziehung zu seinem Dienstmädchen stammen die zwei Söhne des Großvaters, der kleinwüchsige Recep und der nach einem Beinbruch hinkende Ismail, der als Losverkäufer arbeitet. Außerdem nehmen an dem Treffen während der Sommerferien kurz vor dem Militärputsch von 1980 auch drei Enkel teil: Faruk, Dozent für Geschichte, ferner die Soziologie-Studentin Nilgün und der Gymnasiast Metin.

Ein Großteil der Familiengeschichte wird von der vereinsamten Großmutter Fatima erzählt, die kaum noch ihr Schlafzimmer verlässt und in schlaflosen Nächten endlos ihre Vergangenheit Revue passieren lässt. Dabei sinniert sie auch über die früheren Konflikte mit den beiden unehelichen Kindern ihres Mannes, und folglich werden diese Reminiszenzen der alten Dame im Roman auch durch den kleinwüchsigen Recep ergänzt. Der berichtet als unerwünschter Halbverwandter über sein problematisches Leben als Lakai und beklagt sich über die Hausherrin, die einst recht ruppig mit ihm und seinem humpelnden Bruder umgegangen ist. Das würde Fatima am liebsten ungeschehen machen und schweigt sich reuevoll darüber aus. Während der gemeinsamen Ferienwoche am Marmarameer diskutieren die Besucher vehement untereinander und mit der Großmutter, wobei sich die politischen Gräben quer durch die Familie ziehen und so Generationen übergreifend den soziologischen Wandel in der Türkei veranschaulichen.

Stilistisch arbeitet Orhan Pamuk in seinem vielschichtigen, sehr sprunghaft angelegten und dadurch nicht immer leicht nachvollziehbaren Plot mit lebhaften, stimmigen Dialogen. Zudem benutzt er neben der multi-perspektivischen, rein personalen Erzählweise häufig auch die Innere Rede als Stilmittel für seine Figuren, die dann oft auch noch in Form des Bewusstseinsstroms seine Erzählung thematisch vorantreiben. Der historische Kontext dieses Romans wird von den zwei Militärputschen der Jahre 1908 und 1980 markiert, ohne dass hier allerdings diese politischen Aspekte im Vordergrund stehen. Eine  arabeskenartig ausgeschmückte, dabei aber auch historisch und soziologisch aufschlussreiche Lektüre – aus einem gar nicht so «stillen Haus» übrigens – wartet auf wissbegierige und aufnahmefähige Leser!

Fazit:   erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München