Nachts ist unser Blut schwarz

Bei der Wahrheit Gottes

Der zweite Roman des französisch-senegalesischen Schriftstellers David Diop mit dem bezeichnenden Titel «Nachts ist unser Blut schwarz» erregte 2018 in Frankreich große Aufmerksamkeit, er wurde mit dem Prix Goncourt des lycéens ausgezeichnet. In Übersetzung folgte dann 2021 auch noch der britische International Booker Prize. In Deutschland hingegen blieb er weitgehend unbeachtet. Was erstaunlich ist, denn dieser Kurzroman ist eine literarisch anspruchsvolle Abrechnung mit dem Krieg, hier mit dem bis dato schrecklichsten, dem Ersten Weltkrieg. Wie der Autor in seiner «kurzen historischen Anmerkung» erklärt, ist er durch 1998 veröffentlichte Feldpostbriefe französischer Soldaten auf das Thema aufmerksam geworden. Über Feldpost von Senegalschützen, von denen bei den großen Schlachten gegen die Deutschen ca. 30.000 getötet wurden, gibt es hingegen keine Informationen. Ihnen fiktional eine Stimme zu geben war sein Ansporn für diesen Roman.

Als der senegalesische Protagonist Alfa Ndiaye im Kugelhagel eines Angriffs seinen neben ihm liegenden, durch einen Bauchschuss schwer verletzten Freund töten soll, kann er das nicht, so sehr der todgeweihte Freund ihn auch bittet. Die von den weißen Kameraden «Schokosoldat» genannten Senegalesen haben für den Nahkampf statt dem Bajonett alle eine Machete, mit der sie die Gegner niedermetzeln sollen. Sein bester Freund aus Kindheitstagen fleht ihn an, aber er kann ihn nicht von seinem Leiden erlösen, kann ihm nicht die Kehle durchschneiden! Als der Freund wenig später qualvoll gestorben ist, schleppt er ihn unter Lebensgefahr durch das Niemandsland zum französischen Schützengraben zurück. Dieses Erlebnis, seine Ohnmacht der Tötung auf Verlangen gegenüber, macht ihn derart wütend, dass er fortan wie ein Racheengel über das Schlachtfeld zieht, feindliche Soldaten tötet und jeden Abend mit dem Gewehr eines Deutschen zurückkehrt, – und mit einer abgetrennten Hand von ihm. Die bewahrt er dann, ähnlich dem Skalp bei den Indianern, als Trophäe auf. Er bekommt einen Tapferkeits-Orden, der ihm rein gar nichts bedeutet, sein Antrieb ist Rache. Bei der vierten Hand beginnt die Bewunderung der Kameraden und des Kommandanten in Abscheu umzuschlagen, und bei der siebten schickt ihn der Kommandant schließlich, gegen Alfas Willen, in einen vierwöchigen Heimaturlaub.

Eine längere Rückblende gilt seiner Jugendzeit in einem Dorf im Senegal, die von der Entführung seiner Mutter überschattet wurde. Ihr Schicksal blieb ungeklärt, ein Trauma, das ihn lebenslang verfolgen wird. Eine weitere Rückblende gilt der ersten Liebe des Ich-Erzählers, der sich sechzehnjährig in ein gleichaltriges, schönes Mädchen verliebt, das seine Liebe zwar erwidert, sich ihm aber nie hingegeben hat. Vier Jahre später, am Abend vor seiner Abreise an die Front, wurde im Kreis der Freunde Abschied gefeiert. Die Schöne verließ nach einem tiefen Blick in seine Augen schon früh das Fest. Er folgte ihr, sie ging in den Wald, wo sie sich ihm hingab. Ein letzter Liebesbeweis, sie würden sich wahrscheinlich nie wiedersehen. Denn die jungen Männer hatten nur geringe Chancen, überhaupt je wieder heimzukommen, und Alfa würde nach Dakar gehen und studieren.

Sowohl von seiner Thematik her als auch von seiner Stilistik ist dieser grausam anmutende Roman über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten alles andere als leichtverdaulich. Kann man seine Menschlichkeit verlieren? Hat allein die rasende Wut den Protagonisten in den Wahnsinn getrieben? David Diop hat sich für die Innenschau als stilistisches Mittel entschieden, «um den Schock eines Senegalschützen zu veranschaulichen», wie er im Nachwort schreibt. Dementsprechend ist dessen simple Sprache sprunghaft, kurzatmig, traumatisch, zudem auch mit in Schleifen ständig wiederholten Phrasen durchsetzt. Von denen ist «Bei der Wahrheit Gottes …» die häufigste. Verstörend zu lesen, aber bereichernd und sogartig mitreißend bis zum Ende!

Fazit:  erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Aufbau Berlin

Was man sät

Der Debütroman «Was man säht» der holländischen Autorin Marieke Lucas Rijneveld bekam 2020 den hochdotierten International Booker Prize für fremdsprachige Romane. Die geografisch im niederländischen Bibelgürtel und zeitlich in den späten neunziger Jahren angesiedelte Geschichte berichtet von den Verstickungen einer orthodox kalvinistischen Bauernfamilie aus der Sicht eines der vier Kinder. Ich-Erzählerin ist Jas, die oft auch Jacke genannt wird, weil sie Tag und Nacht die gleiche Jacke trägt. Eine hartnäckig verteidigte Marotte, die sie angeblich vor Gefahren und den Anfeindungen ihrer Umgebung beschützt. Lapidar lautet denn auch der erste Satz: «Ich war zehn und zog meine Jacke nicht mehr aus.»

Ihre Erzählung beginnt kurz vor Weihnachten, als sie bemerkt, dass ihr Vater ihr geliebtes Kaninchen mästet. Offensichtlich, weil es als Festbraten auf dem Esstisch landen soll. Sie versucht vergebens, ihren Vater davon abzubringen. Insgeheim fleht sie zu Gott, er möge ihr Kaninchen verschonen und stattdessen ihren ältesten Bruder zu sich nehmen. Auf den ist sie gerade sauer, weil er sie nicht mitgenommen hat zum Schlittschuhlaufen. Ihr Wunsch erfüllt sich auf makabre Weise, der Bruder bricht ins Eis ein und ertrinkt! Und Weinachten fällt komplett aus für dieses Jahr, das Kaninchen bleibt also unbehelligt, es gibt nichts zu feiern. Für die Familie ist der Tod des Ältesten eine Strafe Gottes, die man geduldig zu ertragen hat. Diesem erzählerischen Paukenschlag gleich zu Beginn folgen Schilderungen des harten Lebens auf dem Bauernhof mit hundertachtzig Kühen, wo auch die Kinder mithelfen müssen. Es ist kein Lobgesang auf das idyllische Landleben, ganz im Gegenteil, und Jas flüchtet sich in ein Traumleben hinein, welches von dem entbehrungsreichen Alltag geprägt ist, dessen extreme Anspruchslosigkeit durch die Bibel vorgegeben ist. Für jedes Problem, für alle Lebens-Situationen haben die bibelfesten Eltern stets und ständig einen frommen Spruch parat. Auch den Kindern sind diese Pseudo-Weisheiten in Fleisch und Blut übergegangen, auch sie können für jede Situation eine passende Bibelstelle zitieren. Sie nehmen sie spöttisch vorweg, wenn es darum geht, was denn die Eltern oder der Herr Pfarrer zu bestimmten Ereignissen jetzt gleich sagen werden. Hier profitiert die Autorin offensichtlich von eigenen Erfahrungen, sie selbst wuchs in einem streng religiösen Heim auf.

Jas wird von Schulgefühlen geplagt, auf die sie durch Gewalt gegen sich selbst reagiert. So drückt sie sich, zur Strafe quasi für das heraufbeschworene Unheil, eine Reiszwecke in den Bauchnabel, die dort auch bleibt, als ständige Mahnung! Überhaupt prägt offene, aber auch unterschwellige Gewalt das Familienleben. Der Bruder von Jas nimmt eines Tages seinen geliebten Hamster aus dem Käfig und drückt ihn in einer Schüssel unter Wasser. Ungerührt sieht er zu, wie das Tierchen strampelt und sich dann nicht mehr bewegt. Bald darauf muss der Hahn dran glauben, mit einem Hammer schlägt der Bruder ihn tot, als Mutprobe. Zu den ständigen Ängsten von Jas gehört auch ein vom Balken herabhängender Strick, sie fürchtet, die depressive Mutter könne sich damit erhängen. Und Vater droht öfter mal, dass er fortgehen werde und nicht mehr zurückkommt, – der reinste Psychoterror für die Geschwister!

In einer der Erzähler-Figur Jas angepassten, naiven Sprache werden in diesem Roman unzählige, teilweise poetische Bilder herauf beschworen. Die wirken anfangs sogartig, werden mit der Zeit aber langweilig, weil im Grunde wenig passiert, Landleben halt! Tod und erwachende Sexualität hingegen prägen, immer wieder geschickt eingestreut, die Gedanken der jugendlichen Protagonistin. Sie sind denn auch bestimmend für den Plot, der zielgerichtet auf ein apokalyptisches Ende hinsteuert, welches man sich, weil es listiger Weise geradezu beiläufig erzählt wird, dann schockierender kaum vorstellen kann!

Fazit:  lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum. Vor 100 Jahren starb Franz Kafka an einer Lungentuberkulose im Sanatorium in Kierling, Österreich, kurz vor seinem 41. Geburtstag. Zum traurigen Jubiläum erscheint eine Vielzahl an Kafka Publikationen in den unterschiedlichsten Verlagen und in vielen Ausführungen. “Kafkas Familie. Ein Fotoalbum” sticht heraus und zeigt den Einzelgänger als Familienmenschen, der er zwar nicht sein wollte, aber dennoch war.

Kafka, der (Anti-)Familienmensch?

…sonst hätte sich ja das gewöhnlichen Denken der Sache bemächtigt und mir auch andere Männer gezeigt, welche anders sind als Du (…) und doch geheiratet haben und darunter wenigstens nicht zusammengebrochen sind, was schon sehr viel ist und mir reichlich genügt hätte“, schreibt Franz über seinen Onkel Richard Löwy, nachdem er noch sehr viele andere Ähnlichkeiten zu ihm festgestellt hatte. In einer Tagebucheintragung vom 4. September 1912 bedauert der leidgeprüfte Autor: “Ich gehe nachhause und bedaure nicht geheiratet zu haben. Natürlich verwischt sich das wieder, sei es, daß ich es zu Ende denke, sei es daß sich die Gedanken verlaufen. Aber bei Gelegenheit kommt es wieder.“, fügt er kryptisch hinzu und meint sein Onkel Alfred Löwy in Spanien sei ihm “der nächste Verwandte, viel näher als die Eltern, aber natürlich nur in einem ganz bestimmten Sinn“. Aber Kafka ist zwar ebenso unverheiratet geblieben, aber an weiblicher Aufmerksamkeit fehlte es ihm dennoch nicht. Abgesehen von seinen drei Schwestern war da noch seine Mutter und seine Freundinnen Milena Jesenská, Felice Bauer, Dora Diamant u.a.

Lärm aus allen Räumen

Gewohnt hatte der Autor der Weltliteratur – bis auf die letzten Monate – aber immer bei seinen Eltern über die er sich gerne beschwerte: “Lärm aus allen Räumen” heißt es da über die gemeinsame Wohnsituation, in der er entweder versuchte einen Mittagsschlaf zu halten oder schlichtweg nachts, wenn er versuchte zu an seinen Werken zu arbeiten. Tagsüber war er in der Versicherung. Aber wie die vorliegende Erzählung bestätigt, war Franz Kafka durchaus auch viel auf Reisen. Bei einem dieser Ausflüge besuchte er auch den Wiener Prater, wovon eine abgedruckte Postkarte zeugt. Franz Kafka ist darauf in einem Kulissenflugzeug zu sehen. Neben ihm Albert Ehrenstein, Otto Pick und Lise Weltsch, im Hintergrund das Wiener Riesenrad. Das vorliegende Fotoalbum zeigt Kafka umrahmt von seiner Großfamilie. Das erste Kapitel widmet sich Julie und Hermann, dann Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen, die Familien der drei Schwestern, Kafka auf Ausflügen und Reisen, in der Sommerfrische und im Sanatorium.

Kafkas Familie. Ein Fotoalbum

Jedes Kapitel wird vom Herausgeber eingeleitet und die Fotografien werden mit passenden Zitaten aus dem Werk oder aus Briefen Kafkas ergänzt. Das letzte Kapitel widmet sich dem wohl traurigsten Kapitel aus Kafkas Leben. In “Was aus Kafkas Familie wurde” werden die Lebensläufe der Verwandten nachgezeichnet, jene, die zur Flucht vor dem Nationalsozialismus gezwungen wurden und auch jene, die in Konzentrationslagern zu dessen Opfer wurden. Insgesamt sind es mehr als 100 Fotografien der Familie Kafka, von denen ein großer Teil bislang unveröffentlicht blieb. Die Fotos zeigen den Autor der “Verwandlung” und seine Verwandtschaft – in der Stadt, in der Sommerfrische aber auch fein zurechtgemacht im Fotoatelier. Die Nachkommen der Schwestern haben einige der Fotos aufbewahrt, die nun erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Der Herausgeber Hans-Gerd Koch hat im Verlag Klaus Wagenbach in der SALTO Reihe u.a. auch “Kafka in Berlin” veröffentlicht. Er gilt als Spezialist von Franz Kafka und der Prager deutschen Literatur.

Hans-Gerd Koch (Hrsg.), Franz Kafka
Kafkas Familie. Ein Fotoalbum
Mit Texten von Franz Kafka
2024, Sachbuch, 208 Seiten. Mit etwa 100 Fotografien
ISBN 978-3-8031-3738-8
Wagenbach Verlag
38,– €


Genre: Biographie, Deutsche Literatur, Fotobuch
Illustrated by Wagenbach

Natur auf dem Teller. Weil Pizza und Pommes nicht auf Bäumen wachsen

Natur auf dem Teller. Die Lausanner Illustratorin und Naturliebhaberin Lisa Voisard hat sich Gedanken darüber gemacht, was täglich vor uns auf unseren Tellern liegt. Obst, Gemüse, Gewürze, Getreide: wächst das alles auf Bäumen oder woher kommen unsere Lebensmittel eigentlich?

Vorhang auf: Lebensmittel im Fokus

Mehr als 150 Lebensmittel stellt die Grafikerin in den Mittelpunkt ihres Buches. Informationen über die Herstellung und Verarbeitung werden ebenso präsentiert wie einfache Rezepte zum Nachkochen und Aktivitäten: Parmesan mit Walnüssen, Schnee-Eis, Erdbeerpflücken, Kompostieren und so wird die Sensibilisierung für Ökologie, Food-Waste und Verschwendung auch inspiriert zum Nachahmen. Denn wer auf den Planeten acht gibt, gibt auch auf sich selbst acht und allein deswegen ist es gar nicht früh genug damit anzufangen. Das Buch richtet sich schon an junge Menschen ab 6 Jahren, aber auch ältere haben ihren Spaß damit. Denn wer hat schon mal eine blaue Banane gesehen? Sie wächst auf Java und ist neben ihren anderen Verwandten ebenso süß, aber zusätzlich mit einer Note Vanille zu genießen. “Banan” bedeutet im arabsichen eigentlich Finger und bezieht sich auf die Bananenstauden, die dann wie Hände aussehen. Auf den Philippinen gibt es sogar ein Bananen-Ketchup, das sicherlich gesünder ist, als das bei uns verbreitete Tomantenketchup. Apropos Tomate: sie gehört ebenfalls zu einer sehr großen Familie. Ihr Name leitet sich von der in Neapel gebräuchlichen Form “pomodoro” (goldener Apfel) ab. Waren Tomaten damals gelb? Jedenfalls gehören sie zur Gruppe des Obstes und nicht Gemüses, wie Voisard erklärt und gleich zu einem selbsgemachten Ketchup mit eigenem Rezept auffordert.

Manege frei: Natur auf dem Teller

Pesto Anti-Tonne ist eine weiteres spannendes Rezept, das die Illustratorin vorschlägt. Tatsächlich ist beim Gemüse nämlich alles essbar und kommt bei ihr nicht nur in den Mixer, sondern auch in den Kochtopf. Oder in den Zauberwagen von Charles Cretors, der als Erfinder des Popcorns gilt. Die rot-weißen Streifen der Popcorntüten erinnern heute noch an die Markisen der einstigen Verkaufswagen. Aber auch die Geburstagstorten haben eine abenteuerliche Vorgeschichte. Schon die Alten Griechen buken ihrer Mondgöttin Artemis zu Ehren runde Honigkuchen, die an den Vollmond erinnerten. Die kleinen Kerzen brachten diesen süßen Teigmond dann zum Erstrahlen. Das Ausblasen dieser Kerzen soll aber erst von Goethe selbst wieder popularisiert worden sein. Denn im Mittelalter feierte man gar keine Geburtstage, da man das eigene Geburtsdatum nicht einmal kannte. Vielleicht ein Schnee-Eis zum Selbermachen? Auch dieses Rezept finden wir in vorliegender anregender Lektüre, die auch gegen Lebensmittelvernichtung und -verschwendung mobil macht. Die vielen liebevollen und ansprechenden Illustrationen zeigen, dass Lernen auch Spaß machen kann. Für Jung und Alt.

Nach ihren drei erfolgreichen Naturbüchern “Ornithorama”, “Arborama” und “Insektorama”, ebenfalls bei Helvetiq erschienen, sensibilisiert Lisa Voisard mit “Natur auf dem Teller” Kinder ab sechs Jahren für Ökologie, Ernährung und Food-Waste und porträtiert die wunderbaren Pflanzen, die uns Tag für Tag ernähren und satt machen.

Lisa Voisard
Natur auf dem Teller. Weil Pizza und Pommes nicht auf Bäumen wachsen
Übersetzung: Silv Bannenberg
2024, 128 Seiten, Größe (cm) 18 x 25 cm, Alter: 6+
ISBN: 9783039640645
Helvetiq
SFr29.90


Genre: Kinderbuch, Kochen, Natur, Naturkunde

Kommt ein Pferd in die Bar

Lachen und Weinen

Das Original des erfolgreichsten Romans von David Grossman wurde 2014 in Israel veröffentlicht und zwei Jahre später sowohl ins Englische als auch, unter dem Titel «Kommt ein Pferd in die Bar», ins Deutsche übersetzt. Der Roman wurde 2017 als bester fremdsprachiger Roman mit dem Booker International Prize ausgezeichnet, dessen Preisgeld von 80.000 Pfund sich Autor und Übersetzer teilen. Während das Buch in seinem Heimatland Israel recht unterschiedlich bewertet wurde, war das Echo im deutschen Feuilleton einhellig positiv. Alleiniges Thema des Romans ist ein Auftritt des Komikers Dov Grinstein in einer israelischen Stadt am Mittelmeer, es ist der Tag seines 57ten Geburtstags.

Zu diesem Abend hat er Avischai Lasar eingeladen, einen gleichaltrigen Freud aus seiner Kindheit, die Beiden haben sich seit 40 Jahren nicht mehr gesehen! Der ehemalige Richter wurde vor drei Jahren vorzeitig in den Ruhestand versetzt, weil den Vorgesetzten seine scharfsinnigen, immer exzellent begründeten Urteile nicht mehr gepasst haben, sie gaben häufig Anlass zur Revision. Der Stand-up-Comedian hatte große Schwierigkeiten, den auch in den Medien bekannten, hohen Richter a. D. zum Kommen zu bewegen. Sein alter Freund Avischai hat es sich nämlich als Pensionär gemütlich gemacht und ist mental inzwischen auch über den Tod von Samanta hinweg, seiner ehemaligen Freundin. Aber was ihn schon gar nicht interessiert, das sind solche Comedy-Shows, und dann soll er Dov auch noch berichten, wie er seinen Auftritt bewertet! «Das, was von einem Menschen ausgeht, ohne dass er Kontrolle darüber hat – das sollst du mir erzählen.» Er habe ja in seiner Zeit als Richter bewiesen, welch glänzender Formulierer er ist, – und schließlich gibt Avischai nach.

«Einen wun-der-ba-ren Guten Abend» heißt es am Anfang, «Gute Nacht» sind die Schlussworte nach gut 250 Seiten, chronologisch sind es zwei, drei Stunden später, dazwischen wird von Dovs denkwürdigem Auftritt berichtet. Er beginnt mit den üblichen Späßen, erzählt viele Witze, erweist sich als schlagfertig, wenn er Leute aus dem Publikum mit einbezieht, ist mimisch und gestisch virtuos. Immer öfter aber schweift er zu seiner leidensvollen Kindheit ab und provoziert damit sein Publikum, das zum Lachen hergekommen ist. Dov reagiert aggressiv, die Proteste werden lauter, man will keine Leidens-Geschichten hören, erste Gäste verlassen den Saal. Mit seinen Witzen gelingt es ihm immer wieder, die Leute zu beruhigen, die lauter werdenden Buh-Rufe für kurze Zeit zum Verstummen zu bringen, aber der Abend wird zusehends zum Fiasko. Mit «Ein Pferd kommt in die Bar» beginnt er einen Witz, den er nicht zu Ende erzählt, er hat sich buchstäblich vergaloppiert, verliert dauernd den Faden. Er ist als Comedian am Ende, bei aller Gelenkigkeit ein körperliches Wrack, sein Freund erkennt aber die Sehnsucht, die da aus seinem total missglückten Auftritt mit der schonungslosen Lebensbeichte überdeutlich spricht. Verstörend ist insbesondere die Einbeziehung des Holocausts in seine Erzählung, sein Vater habe ihn als Einziger in der Familie überlebt. Die Mutter wurde hochgradig traumatisiert, weil sie sich in Todesangst ein halbes Jahr lang unter prekären Verhältnissen vor den Nazis verstecken musste. Sie hat sich nie mehr davon erholt, blieb ihr Leben lang schwer davon gezeichnet. Dov wollte sie aufheitern, unterhielt sie mit Späßen und wurde so zum Comedian wider Willen.

Der Erzähler des Romans ist der pensionierte Richter, er schildert die Gratwanderung zwischen mit Witzen gewürzter, oft in Klamauk abgleitender Komik und der Leidensgeschichte, die Dov auf der Bühne, unbeirrt vom Protest des Publikums, trotzig von sich gibt. Von einigen Rückblenden abgesehen ist das der alleinige Erzählstoff des Romans, zu dem sein Autor überraschend angemerkt hat, er selbst sei eigentlich gar kein Freund von Witzen. Lachen und Weinen liegen hier sehr eng beieinander!

Fazit:  lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Südstern

Kreuzberg ist überall

Nach fünfzehn Jahren kehrt der vielseitig schreibende Tim Staffel mit «Südstern» zum Genre Roman zurück, und zwar so überzeugend, dass seine Prosa für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde. Es ist ein Berlin-Roman, der im Problem-Stadtteil Kreuzberg angesiedelt ist, worauf schon der Titel hinweist, ein Platz in der Hasenheide mit einer U-Bahn-Station. Der Roman bringt dank seines in Berlin lebenden Autors jede Menge Lokalkolorit mit, und zwar aus dem prekären Teil dieser Metropole, nicht aus dem schicken Berlin, wie es die Touristen zu sehen bekommen. Zudem ist er in der Gegenwart, im Hier und Jetzt angesiedelt und spiegelt den ganz normalen Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen, überforderten sozialen Schicht wieder.

Der männliche Protagonist dieser Geschichte ist Deniz, ein junger Streifen-Polizist mit türkischen Wurzeln, der aufopferungsvoll seinen an Parkinson erkrankten Vater pflegt. Wegen seiner Geldnöte muss er häufig Doppelschichten machen. Als abgeklärter Streifenführer hat er oft Probleme mit seiner übereifrigen Kollegin, die bei den Einsätzen stur alle Vorschriften befolgt, wo Deniz schon mal ein Auge zudrückt. Weibliche Protagonistin ist die Barfrau Vanessa, die nebenbei als angebliche «Pharmakologin» ihre dankbaren Stammkunden mit Psychopharmaka beliefert, also für ‹Erfolg und Glück› sorgt. Als diese Beiden erstmals aufeinander treffen, springt der berühmte Funke über, sie fühlen sich sofort zueinander hingezogen. Ein Liebesroman à la ‹Romeo und Julia› ist «Südstern» deshalb aber nicht, auch wenn diese Beziehung im Roman wie ein schwach sichtbarer, roter Faden wirkt. In erster Linie haben wir es hier mit einem Gesellschafts-Roman zu tun, der die Frage stellt: Wollen wir, müssen wir wirklich so leben?

Vanessa ist schon länger mit Olli zusammen, einem Bundestags-Abgeordneten, sie teilen sich die Wohnung und sind ein gut harmonierendes Paar. Während sich Olli als Politiker zu profilieren sucht, um aus dem Hinterbänkler-Dasein heraus zu kommen, bewegt sich Vanessa in ihrem eigenen Netzwerk. Dem gehört der Barbesitzer an, für den sie arbeitet, viele der urigen Stammgäste ihrer Bar, natürlich auch ihr meist in Amsterdam lebender Lieferant für die Psychopharmaka. Mit denen versorgt sie Sportler, Politiker, Geschäftsleute, Künstler, kurz Menschen, die dem alltäglichen Druck, dem hastigen Leben der Großstadt, nicht standhalten können. Außerdem begegnet man in diesem literarischen Sittengemälde den typischen Themen im Kiez, berufliche Ausbeutung, Wohnungsnot, häusliche Gewalt, Überforderung, Armut, Drogensucht. Zu dieser Tristesse prekärer Lebensumstände gehören aber auch der Pflegenotstand, der Deniz vor kaum zu bewältigende Probleme mit seinem Vater stellt.

Dieser hochaktuelle Roman berichtet aus der doppelten Ich-Perspektive mit dem jeweiligen Umfeld der beiden Protagonisten. Deren Gemeinsamkeit besteht darin, alltäglich mit prekären Lebens-Umständen konfrontiert zu sein. Vanessa mit dem karriere-bedingten Druck der leistungs-orientierten Gesellschaft, Deniz mit alltäglichem Zoff und seiner manchmal auch kriminellen Klientel im Kiez. Der Autor hat erkennbar intensive Recherchen betrieben, sein schonungsloser Blick offenbart stimmig die schwierigen Schicksale und alltäglichen Probleme seiner Romanfiguren. Trotz aller Härte, trotz der Dissonanzen seiner Thematik ist immer auch Menschlichkeit spürbar. Und selbst wenn die Liebe zwischen seinen beiden Haupt-Figuren eher ein zartes Pflänzchen bleibt, scheint sie doch tief verankert zu sein, so ganz ohne den üblichen Seelen-Kitsch. Die ständigen Perspektiv-Wechsel irritieren häufiger mal, denn das erzählende Ich ist oft nur schwer erkennbar. Erzählt wird in einer intensiven, vorantreibenden Sprache, die Dialoge kommen ohne Satzzeichen aus. Man ist ganz nah dran am Geschehen, und man erkennt: Kreuzberg ist überall!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Kanon Verlag Berlin

Monde vor der Landung

Hohlwelt und Hohlkopf

Der durch sein Faible für das Abwegige bekannte Büchner-Preisträger Clemens J. Setz schildert in seinem neuen Roman «Monde vor der Landung» das Leben des Querdenkers Peter Bender, dessen abstruse Theorien in der «Hohlwelt-Theorie» gipfeln. Der 1893 geborene Schriftsteller, Vortragsredner und Religionsgründer war im Ersten Weltkrieg an der Ostfront, wurde verletzt, heiratete eine Krankenschwester und zog mit ihr nach Worms. Lange bevor Donald Trump den sich selbst widersprechenden Begriff der «alternativen Fakten» in sein absurdes Vokabular eingeführt hat, ist der verquere Held dieses Romans jemand, der in seiner Blase lebt und für keinerlei wissenschaftliche Fakten empfänglich ist. Er ist einer, der sich rühmt, Kant widerlegt zu haben, ist selbst aber gegen jede Vernunft immun, bleibt geistig unrettbar in seinem Kokon gefangen. Mit Hohlwelt und Hohlkopf bringt man es auf den Punkt!

Peter Bender fühlt sich als Schriftsteller, sein einziger Roman, «Karl Tormann – Ein rheinischer Mensch unserer Zeit», wurde aber kaum verkauft, und seither beschränkt sich sein literarisches Tun auf Flugblätter. Außerdem unterhält er eine lebhafte Korrespondenz mit den wenigen Mitstreitern, die es für die «Hohlwelt-Theorie» gibt, über die er in seinen Vorträgen spricht. Sie basiert auf der Gedankenwelt von Cyrus Reed Teed, der sich «Koresh» Teed nannte, dem Gründer der «Koreshan Unity», einer in Florida ansässigen, religiösen Sekte, zu der Bender einen regen Briefkontakt pflegt. Deren zu Lebzeiten von Koresh etwa 4000 Anhänger waren überzeugt, die Welt ist nicht eine Kugel, «auf» der wir leben, sondern eine, «in» der wir leben. Sie sei auf der Innenwand bevölkert, und alle Himmelskörper, die wir sehen, seien in der Mitte platziert. Man würde viel Zeit und Geld sparen können, wenn man irgendwann quer durch die Hohlwelt reist und nicht den Umweg an der Außenhaut entlang nehmen muss. Folglich gründet Bender mit zwei Mitstreitern schon mal die «Wormser kosmologische Vertikalreise-Gesellschaft».

Er ist auch politisch aktiv und beteiligt sich 1918 an der Gründung des «Wormser Arbeiter- und Soldatenrats». Ein Jahr später gründet er die Religions-Gemeinschaft «Wormser Menschengemeinde», wird wegen Gotteslästerung angezeigt und zu sechs Wochen Gefängnis verurteilt, später landet er sogar für kurze Zeit im Irrenhaus. Mit einer abstrusen, durch ein Kreuz symbolisierten «Doppel-Paar-Theorie» handelt er sich auch noch eine Klage wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften ein. ‹Eigene Gedanken wagen› ist Peter Benders Credo, schon beim Militär hat er einen Kameraden zu überzeugen versucht, dass die Überlebenschance bei einem Gasangriff mit Maske geringer sei als ohne Gasmaske. Ähnliches haben die Querdenker und Impfgegner unserer Zeit bei Corona ja auch behauptet, oder etwa nicht? Anfangs ihrer Ehe können die Benders von einer stattlichen Mitgift leben, seine Einkünfte als Vortragsredner hingegen sind kümmerlich. Durch Weltwirtschaftskrise und galoppierende Inflation ist die Mitgift dann aber bald aufgebraucht, sie kommen in finanzielle Nöte und müssen Beide Nachhilfestunden geben, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Die Romanfigur Peter Bender ist ein weltfremder Spinner, ein Möchtegern, der davon überzeugt ist, das «Majorat des Geistes» sei in ihm verkörpert, er sei im übrigen auch der legitime Nachfolger des «Koresh» und damit Führer der «Koreshan Unity». Auffallend ist die fehlende Distanz des Autors zur Romanfigur, erzählt wird das alles nämlich ohne jede ironische Brechung, die hier doch wahrlich angesagt wäre! Bender wird stattdessen geradezu liebevoll behandelt, obwohl er menschlich recht unsympathisch wirkt, ein Egomane, untreuer Ehemann, desinteressierter Vater, eine verkrachte Existenz also auch in emotionaler Hinsicht. So ausufernd, wie der Plot angelegt ist, werden insbesondere die ‹spinnerten› Passagen durch ständige Wiederholung schnell langweilig, ja geradezu lästig beim Lesen. Einzig erfreulich ist die stilistische Seite dieses Romans, er ist angenehm lesbar, sprachlich virtuos und wortgewaltig!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Good News und Lost + Found in Neuausstattung

David LaChapelle. Mit Good News und Lost + Found komplettiert der TASCHEN Verlag die auf fünf Bände angelegte David-LaChapelle-Anthologie. Die beiden neu aufgelegten Bände erweitern das knallbunte Portofolio des fantasievollen Pop-Fotografen aus Hartford, Connecticut, USA.

Fünfbändige Werkausgabe bei TASCHEN

Dass der Fotograf in der Musikvideobranche seine Wurzeln hat, merkt man auch seiner Fotografie an. Andy Warhol hatte ihm damals die Chance gegeben für seine Zeitschrift “Interview” ein Shooting zu machen. Gerne wird LaChapelle mit hyper-realen, subversiven, teilweise surrealistischen Fotosujets in Verbindung gebracht, was ihm auch den schmeichelhaften Spitznamen Fellini der Fotografie eingebracht haben soll. Eine Nähe zum Zirkus, der Manege und anderen ausgeflippten Randerscheinungen der Popkultur werden ihm ebenso attestiert wie Kitsch aus dem Kosmos der Religion, Apokalypse, Porno und Pop zu neuen schillernde Phantasien vermixt zu haben.

Porno, Pop und schrille Phantasien

Mit den beiden Bänden Lost + Found und Good News legt der TASCHEN Verlag die bereits produzierten Fotosammlungen erneut zu einem günstigeren Preis auf. Die vorliegenden Ausgaben kommen ohne die Schmuckkartons der Erstausgabe aus und sind eine ebenso schillernde Erweiterung einer auf Fotografie spezialisierten Bibliothek, wie die Vorgänger. Vom Bilderstürmer und Ausnahmefotografen David LaChapelle sind beim TASCHEN Verlag bereits LaChapelle Land (1996) sowie Hotel LaChapelle (1999) und später Heaven to Hell (2006) erschienen. Die beiden hier vorliegenden Bücher bilden somit den vierten und fünften Teil seiner fünfbändigen Anthologie beim TASCHEN Verlag. Auch wenn der Fokus darin von Titelseiten von Interview, Vanity Fair, i-D oder Vogue hin zu Galerien und Museen ver-rückt sind, ist die Promidichte bei LaChapelle auch in diesen beiden Bänden sehr hoch.

David LaChapelle Promi Liste Lost + Found

In Lost + Found sind u.a. zu sehen: Pamela Anderson, Julian Assange, Isabella Blow, David Bowie, Naomi Campbell, Hillary Clinton, Frances Bean Cobain, Miley Cyrus, Lana Del Rey, Lady Gaga, Sharon Gault, Daphne Guinness, Whitney Houston, Kris Jenner, Kendall Jenner, Bruce Jenner, Kylie Jenner, Dwayne Johnson, Khloe Kardashian, Kim Kardashian, Eartha Kitt, David LaChapelle, Amanda Lepore, Nicki Minaj, Katy Perry, Sergei Polunin, Keith Richards, Rihanna, Chris Rock, Amber Rose, Britney Spears, Uma Thurman, Andy Warhol, Kanye West, Pharrell Williams, Amy Winehouse und viele andere mehr.

David LaChapelle Promi Liste Good News

In Good News sind u.a. zu sehen: frühe Akte aus den 1980ern in NYC, Pamela Anderson, Lana Del Rey, Sharon Gault, Janet Jackson, Michael Jackson, Paris Jackson, David LaChapelle, Amanda Lepore, Miriam Makeba, Sergei Polunin, Tupac Shakur, Elizabeth Taylor und viele andere mehr. Good News steht eindeutig mehr im Zeichen des Sakralen, von frühen Aufnahmen nackter Engel und Liebender aus dem New York der 1980er bis zu ganz aktuellen Bildern, auf denen sich LaChapelles Refugium auf Hawaii in einen trippigen Garten Eden und Celebrities in Heilige verwandeln. Außerdem sind Beispiele aus anderen jüngeren Werkgruppen wie Earth Laughs In Flowers oder Awakened, die die vielen Facetten seiner Kunst widerspiegeln, zu sehen.

Lost + Found und Good News werden einzeln verkauft. Beide Bände zeigen insgesamt mehrere hunderte Arbeiten des Künstlers, in denen LaChapelle Versatzstücke aus Religion, Porno, Kunst- und Popgeschichte zitiert. Diese verschmelzen zu einer unverwechselbaren, hochartifiziellen Ästhetik, wie es sonst keiner kann. In seinen teilweise fast surrealen Inszenierungen und knallbunten, opulenten Arrangements sind auch zeitgenössische Trigger-Themen wie Konsum- und Körperfetischismus, Genderfragen und Spiritualität neu arrangiert und inszeniert. Perspektivenwechsel inklusive.

David LaChapelle.
Good News
2024, Hardcover, 24.6 x 31.4 cm, 1.67 kg, 284 Seiten
ISBN 978-3-8365-9965-8

David LaChapelle.
Lost + Found
2024, Hardcover, 24.6 x 31.4 cm, 1.68 kg, 286 Seiten
ISBN 978-3-8365-9964-1

Jeweils € 40, TASCHEN Verlag


Genre: Bildband, Fotografie
Illustrated by Taschen Köln

Laufendes Verfahren

Die Beobachter auf der Empore

Selten ist sich das Feuilleton so uneins wie bei der Beurteilung des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla, und ähnlich zwiespältig ist auch das Echo aus Leser-Kreisen. Es handelt sich, worauf ja schon der Titel hindeutet, um eine Geschichte aus dem Gerichtssaal, hier dem Saal A101 des Münchner Oberlandesgerichts. In dem wurde vor dem 6. Strafsenat an 438 Verhandlungstagen der NSU-Prozess abgehalten, eines der spektakulärsten Gerichtsverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Es ging, soviel sei angemerkt, um neunfachen Mord an Migranten, dem Mord an einer Polizistin, 43 Mordversuchen, um 2 Sprengstoffanschläge und um 15 Raubüberfälle, verübt von der Terrorgruppe National-Sozialistischer Untergrund. Kann man auf knapp 200 Seiten einen Roman über einen solch monströsen Kriminalprozess schreiben?

Man kann! Wenn man sich, wie die Autorin das tut, dem Verfahren konsequent aus einer ganz bestimmten Sichtweise widmet, der jener Prozess-Beobachter nämlich, die in München auf der Empore sitzen. Erzählt wird aus einer Wir-Perspektive im Futur II, bei der die Autorin eben gerade nicht im Pluralis Majestatis spricht, wie vielfach fälschlich behauptet wurde. Ihr geht es dabei um die Vermutungen ihrer bunt zusammen-gewürfelten Beobachter-Clique über das zu erwartende juristische Prozedere und das bekanntermaßen oft groteske Hickhack zwischen den Prozess-Beteiligten. Ebenso konsequent werden auch keine Namen genannt in diesem Roman, es gibt den «Vorsitzenden», die «Beisitzer», die «Staatsanwälte», die «Verteidiger», die «Anwälte der Nebenanklage», die «Zeugen». Einzig der Opfer ist im Nachspann des Romans ein namentliches Gedenken gewidmet. Auch für ihre Beobachter hat die Autorin übrigens keine Namen. Sie heißen, entsprechend ihrer Rolle in den Gesprächen unter sich und nach dem wenigen, was man von ihnen weiß, immer nur «Gerichtsopa», «Bloggerklaus», «Omagegenrechts», «O-Ton-Jurist», «Vornamenyildiz», «Die Frau von der türkischen Botschaft». Damit gelingt es der Autorin auf eine raffinierte Weise, ganz verschiedene Typisierungen vorzunehmen, ohne jede einzelne ihrer Figuren psychologisch determiniert zu beschreiben. Sie benutzt dazu vielmehr sehr geschickt ihre verbalen Geplänkel, ihre selbstgespräch-artigen Monologe, ihre gegenseitigen Belehrungen. Aus denen sich übrigens das erzählende Ich komplett heraushält, – es berichtet nur.

Natürlich ist es unmöglich, in einem kurzen Roman wie diesem die hanebüchenen Fehler und unverzeihlichen Versäumnisse bei der Aufklärung der Verbrechen gebührend abzuhandeln. Und auch die juristische Aufarbeitung solch terroristischer, fremden-feindlicher Straftaten kann allenfalls angedeutet werden. Die ganze Thematik ist hier komplett auf die Instanz der Beobachter verlagert, die sich auch über das Ungesagte im Prozessverlauf untereinander austauschen. Die da zum Beispiel über das beredte Schweigen der weiblichen Angeklagten diskutieren, was sie denn auch für einen von den Verteidigern ausgeheckten Verfahrenskniff halten. So ganz nebenbei erfährt man durch all diese Erörterungen ein wenig darüber, wie es in derartigen Strafprozessen zugeht. Dass die engagierten Dispute der Empore-Clique oft auch ausgesprochen komische Züge annehmen, das bewahrt den Roman übrigens davor, nur eine staubtrockene Lektüre aus dem Gerichtsmilieu zu sein.

Trotz aller Vereinfachungen steht die Dokumentation des Prozesses in diesem Roman stets im Vordergrund, auch wenn das durch die unkonventionelle Erzähl-Perspektive nicht erkennbar vorgegeben zu seien scheint. Dieser Chor der Erinnyen, verkörpert durch die Beobachter-Clique auf der Empore, die Stimme des Volkes quasi, kommentiert und bewertet teilweise durchaus kompetent, was sich da abspielt in diesem denkwürdigen Mammut-Prozess. Und dass dabei die Gräuel der Taten, die Trauer der Hinterbliebenen, das Versagen der Polizei, die Rolle des Verfassungs-Schutzes weitgehend außen vor bleiben, das kann einem fiktivem, literarischem Werk wie diesem wahrlich nicht angekreidet werden!

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by S.Fischer Frankfurt am Main

Kochen im falschen Jahrhundert

Du bist, was du isst

Ihre Vorliebe für das literarische Experimentieren ist auch in dem neuen Roman «Kochen im falschen Jahrhundert» von Teresa Präauer das stilistisch prägende Element. Schon der kryptische Titel deutet das an, denn das ‹Kochen› ist hier nur Mittel zum erzählerischen Zweck, und das ‹falsche Jahrhundert› weist erkennbar auf einen sozialen Konflikt hin. Im kammerspiel-artigen Setting dieses Romans wird eine Essens-Einladung gleich in drei Anläufen geschildert, womit auch drei mögliche Entwicklungen eines geselligen Abends im gehobenen Mittelstands-Milieu der Stadt Wien vorgezeichnet werden.

Im Mittelpunkt des Abends steht die «Gastgeberin», ein Frau Mitte vierzig, berufstätig und vor zwei Jahren erst in die elegante Wohnung eingezogen. Der «Freund der Gastgeberin», mit dem sie seit zwanzig Jahren zusammen ist, der aber nicht bei ihr wohnt, hilft ihr bei der Vorbereitung der Dinnerparty. Es gibt Quiche Lorraine als Hauptspeise, ein bewusst einfaches Menü für diesen ersten Dinner-Abend, der quasi auch als Einweihungs-Party für ihre Wohnung gedacht ist. Denn sie hat die elegante Wohnung zunächst mit viel Engagement eingerichtet, auch mit Antiquitäten, die sie selbst wieder aufgearbeitet hat. Nach einem Jahr aber ließ ihr Elan merklich nach, es wurde ihr plötzlich alles zuviel mit der stilvollen Einrichterei. Und so stehen auch immer noch Möbelkisten in der Wohnung herum, sie konnte sich nicht aufraffen, das alles mal auszupacken. Pünktlich ‹wie eine Schweizer Uhr› ist der «Schweizer» als erster Gast eingetroffen, ein Universitäts-Professor. Er kommt allein, seine Freundin ist leider verhindert, sie hat unaufschiebbare Arbeiten zu erledigen. Als weiter Gäste sind ein befreundetes Ehepaar eingeladen, und als die Beiden nach dem ‹akademischen Viertel› noch nicht eingetroffen sind, wird mit der ersten Flasche Crémant angestoßen. Die Verspätung beträgt schließlich eine volle Stunde. Das Ehepaar war zwar frühzeitig  aufgebrochen von zuhause, hatte aber unterwegs noch einen Aperitif getrunken und auch einen Happen gegessen. Dort hätten sie die Bekanntschaft mit einem netten amerikanischen Touristen-Paar gemacht und sich dann leider total ‹verplaudert.›

Das namenlos bleibende, ebenso sympathische wie versnobte Figuren-Ensemble, zu dem sich uneingeladen später auch noch die «Amerikaner» hinzugesellen, führt im Verlaufe des Abends endlose Gespräche über ‹Gott und die Welt›, wobei im Hintergrund ständig die von der «Gastgeberin» angelegte Spotify-Playlist mit Frauen-Jazz läuft. Immer wieder werden im Roman Interpretin und, kursiv gesetzt, der Songtitel genannt, letzterer oft mit Bezug zum gerade aktuellen Gesprächs-Gegenstand. Zwischen die vielen kurzen Kapitel des Romans sind jeweils, quasi als Überschrift, Lebensmittel, Gewürze oder Getränke eingeschoben. «Romana, Rucola, Eichblattsalat» sind da zum Beispiel untereinander aufgelistet, meist ohne Bezug allerdings zu dem, was gerade auf den Tisch kommt. Die Runde der arrivierten Mittvierziger spricht über längst vergangene Studienjahre, lästert über «Foodporn», debattiert über regionale Küche, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Politik, soziale Medien und anderes mehr.

Ohne Zweifel ist dieser Roman von einer subversiven Intention der Autorin geprägt, indem sie ironisch eine Gesellschaft beschreibt, die mittels Kulinarik, mit exquisitem Geschmack auf Distinktion bedacht ist. Geradezu zynisch wird diese snobistische Haltung im Verlaufe des Abends Stück für Stück ad absurdum geführt, zerbröckelt die trügerische Fassade hedonistischer Selbsterhöhung. Der beim Essen und Trinken als sinnstiftend hochstilisierte Geschmack wird in dieser soziologischen Milieustudie kritisch hinterfragt. Stilistisch wird überwiegend in der dritten Person erzählt, wobei in den Rückblenden in die Du-Form gewechselt wird. Es passiert nicht viel in diesem akribisch durchgeplanten Plot, die belanglosen Gespräche der Gäste plätschern ohne Höhepunkte dahin, und damit kommt auch beim Leser schnell eine gepflegte Langeweile auf, wirklich bereichernd ist das alles nämlich nicht!

Fazit:  mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Wallstein Göttingen

De Subtilitate. Von der Feinheit der Welt und des Denkens

Wir leben in einer Welt zunehmender Spezialisierung, eine Entwicklung, die dem rasant wachsenden Wissensstand in Wissenschaft und Technik geschuldet ist. Doch während Spezialisten in ihren engen Fachgebieten brillieren, sind die Risiken und Nebenwirkungen dieser Spezialisierung weithin bekannt. In dieser Zeit des Wissens-Turms zu Babel blicken wir mit ehrfürchtigem Staunen auf jene seltenen Persönlichkeiten, die ein umfassendes Weltverständnis verkörpern. Weiterlesen


Genre: Naturwissenschaften, Philosophie
Illustrated by Martin Regenbrecht

Unschärfen der Liebe

Thema verfehlt

Mit ihrem neuen Roman «Unschärfen der Liebe» hat Angelika Overath ihre Geschichte zweier schwuler Männer fortgeführt. Eine dreißigstündige Zugfahrt von Chur nach Istanbul bildet den äußeren Rahmen ihrer Erzählung, deren eigentliche Thematik die titelgebenden «Unschärfen» einer homosexuellen Beziehung sind, deren mentale Seite sich als brüchig erweist. Einerseits deshalb, weil plötzlich eine Frau unerwartet die Beziehung stört, andererseits aber auch, weil Untreue die schwule Liebesidylle stört.

In einer vorgeschalteten Landkarte ist die Reiseroute des Protagonisten Baran abgebildet, die ihn auf den Spuren vom Orient-Express quer durch den Balkan von einem Besuch in der Schweiz zurück nach Istanbul führt, wo er mit seinem Lebensgefährten Cla wohnt. Diese Reise gibt ihm Gelegenheit, Ordnung in seine plötzlich gestörte, schwule Beziehung zu bringen. In Chur hatte er Alva besucht, die ehemalige Freundin von Cla, mit dem sie ein Kind hat. In drei Tagen, die er als Gast bei ihr verbringt, verliebt er sich völlig unerwartet in sie, und ebenso unerwartet haben sie auch Sex miteinander, was ihn total ratlos macht. Mutmaßlich, das wird im Roman aber nicht deutlich, weil es der erste hetero-sexuelle Kontakt für ihn war. Unvermittelt ist er da jedenfalls in ein Liebes-Dilemma hinein geschlittert, eine Schaden anrichtende Amour fou womöglich. Alva weiß natürlich von der homosexuellen Beziehung der Beiden. Ihre Liaison mit Cla, dem Vater ihres Kindes, ist inzwischen aber beendet. Er ist damals zu Baran, seinem schwulen Geliebten, nach Istanbul gezogen. Wie soll Baran ihm das nun erklären, wenn er in Istanbul ankommt? Und wo soll das hinführen?

In eine Mènage à trois, könnte man denken! Aber da geht die schmutzige Phantasie des Lesers weit über das dröge Sinnieren des Zugreisenden hinaus. Der nämlich reflektiert nur, ausgiebig und in Rückblenden, die Geschichte seiner Beziehung mit Cla. Deshalb hat er ja die extrem langsame Eisenbahn gewählt und ist nicht wie Cla in drei Stunden nach Istanbul geflogen, er wollte Zeit haben zum Nachdenken. Seine Gedanken und Erinnerungen wechseln sich permanent ab mit banalen Beobachtungen während der langen Bahnfahrt. Es sind nicht nur die vielen Menschen, die er im Zug beobachtet und zu denen er sich Gedanken macht, ausführlich wird auch die vorbeiziehende Landschaft beschrieben, deren klimatisch bedingte Veränderungen in den dreißig Stunden der Reise augenfällig werden. Ergänzt werden diese Episoden durch historische Ereignisse, berühmte Figuren und bemerkenswerte Bauten in den durchreisten Gebieten. Diese häufigen, fragmentarischen Einschübe ohne jeden inneren und äußeren Zusammenhang reichen von Exkursen über das Bergsteigen, über das Massaker von Vukovar und historisch bis zum römischen Kaiser Konstantin oder zu Atatürk, dem Staatsgründer der Türkei. Sie sind aber auch philosophisch, zum Beispiel wenn er über den Gottesbegriff bei Cusanus nachdenkt.

Der Roman ist mit derlei Exkursen deutlich überfrachtet, seine ja schon im Titel angedeutete, eigentliche Thematik, die «Unschärfen der Liebe», tritt als roter Faden der Geschichte weit in den Hintergrund. Gleiches gilt für die drei Romanfiguren, zu denen man keine Empathie aufzubauen vermag, sie bleiben ebenso blass wie all die namenlosen Zufallsfiguren, die den Weg des Reisenden kreuzen, oder wie die Menschen, die ihm im Leben begegnet sind. Einzig gelungen, aber eigentlich fehl am Platze, da sie rein gar nichts zum Thema beitragen, sind die unzähligen Beschreibungen der vorbeiziehenden Landschaften und Bahnstrecken. Als Reisebeschreibung «Im Orientexpress unterwegs» wäre das Buch aufgrund seiner gelungenen Schilderungen von Land und Leuten sicherlich eine interessante Lektüre. Die problematisch gewordene Schwulenliebe aber wird nur unzureichend thematisiert, sie geht unter in all den oft langweiligen Nebengeschichten. Zu allem Überfluss lässt die Autorin am kitschigen, völlig deplazierten  Ende auch noch alles offen. «Thema verfehlt» hieß so etwas früher im Deutschunterricht!

Fazit:  miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Schaurige Orte in Österreich. Unheimliche Geschichten

In der Anthologie „Schaurige Orte in Österreich“ nimmt Herausgeber Lutz Kreutzer selbst die Feder in die Hand, um eine packende Erzählung aus seiner Zeit als Geologie-Student zum Besten zu geben.

Im Sommer 1984 begibt er sich in die höchsten Berge der Karnischen Alpen, um ungelöste Rätsel der Erdgeschichte zu erforschen und einen weißen Fleck auf der geologischen Karte zu schließen. Mit der Ausdauer eines Pferdes erklimmt der junge Kreutzer den südlichsten Gletscher Österreichs, das Eiskar, um Gesteinsproben aus dem Paläozoikum zu sammeln – einer Zeit, die rund 200 Millionen Jahre vor den Alpen liegt. Weiterlesen


Genre: Anthologie, Gruselgeschichten
Illustrated by Gmeiner

Doppler

Bösartig unterhaltsam

Einer der Nominierten für den Deutschen Buchpreis 2023 ist der Österreicher Thomas Oláh mit seinem Debütroman «Doppler», der vom deutschen Feuilleton, ganz im Gegensatz zu anderen Büchern aus den großen und bekannten Verlagen, völlig ignoriert wurde. Bei Perlentaucher, verlässliche Informations-Quelle über das Echo in den Medien, findet sich einzig eine Buchkritik des Deutschlandfunks. Ganz anders bei den privaten Kritikern im Versand-Buchhandel, aber auch bei Literaturkritik.de, wo der Roman, wie die anderen Nominierten auch, eine durchaus ‹normale› Beachtung und wohlwollende Aufnahme findet. So weit, so (nicht) gut, denn dem Kostümdesigner und Kulturhistoriker ist mit seinem Erstling ein durchaus lesenwerter Roman gelungen, der mehr Beachtung verdient hätte.

In einem turbulenten Plot erzählt ein namenlos bleibender Junge gleich zu Beginn völlig emotionslos, mit einem verstörenden Fokus selbst auf die kleinsten Details, was bei dem Autounfall 1970 passiert ist, den er als Einziger überlebt hat. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder kamen dabei ums Leben, er selbst landete mit Gehirn-Erschütterung im Krankenhaus. Fortan lebt er bei seinen Großeltern auf dem Lande, die in langer Familien-Tradition Weinanbau betreiben. Als nicht-österreichischer Leser lernt man in diesem Roman so einige sprachliche Besonderheiten und viele spezifische Begriffe, zu denen auch der titelgebende «Doppler» gehört. Gemeint ist damit eine Zweiliterflasche, in der landesüblich der Wein abgefüllt wird. Der Autor lässt es sich aber auch nicht entgehen, in einem der Kapitel den von seinem österreichischen Entdecker erstmals theoretisch beschriebenen Doppler-Effekt zu thematisieren und spöttisch, so ganz nebenbei, amüsante Verbindungen zwischen Physik und Wein herzustellen.

Überhaupt spielt der Wein in diesem Roman eine tragende Rolle, es wird hier unglaublich viel getrunken, natürlich auch in der Weinbauern-Familie, wobei dem edlen Getränk ehrfürchtig ‹zugesprochen› wird, es wird goutiert, nicht gesoffen! Die dabei üblichen Rituale permanenter Verkostung werden weitervererbt, sogar der kleine Enkelsohn und Ich-Erzähler bekommt Wein zu kosten und entwickelt nach anfänglichen Schwierigkeiten tatsächlich eine beachtliche Kennerschaft. Er beobachtet, wie auch der Pfarrer das Weintrinken zum andächtigen Ritual erhebt, nicht weniger innig, wie es scheint, als bei der Andacht in seiner Kirche. Religion und Wein, Katholizismus und Alkoholismus gehen hier wie selbstverständlich eine symbiotische Beziehung ein, spottet der Autor. Die Roman-Figuren sind allesamt archetypisch und leben in einer Zeitblase, die keinen Fortschritt kennt. Allein durch ihre Namen schon werden sie vom Autor stimmig charakterisiert, da gibt es den «grausamen Onkel», der die Prügelstrafe wie eine Messe zelebriert, und dessen Söhne sind die «enthusiastischen Cousins», zwei bösartige Volltrottel. Es gibt den «Onkel mit dem wilden Auge», der schielt, oder die «kindische Tante», eine Epileptikerin, schließlich die «lachende Cousine», die, ein paar Jahre älter schon, sich mit dem jungen Ich-Erzähler zum Petting trifft.

«Doppler» ist, ohne erkennbaren biografischen Bezug, offensichtlich eine Abrechnung des Autors mit seiner Heimat zu jener Zeit. Sein Text ist bissig, durch die distanzierte, geradezu lakonische Erzählhaltung aus der Kinderperspektive aber auf bösartige Weise auch unterhaltsam. Der Plot besteht aus lauter erzählerischen Miniaturen, zu denen vor allem die mit beängstigender Phantasie ausgemalten, gewaltgeprägten und saudummen Jungenstreiche zählen. Eine zweite Erzählebene bildet die geradezu mystisch erhöhte Weinwelt mit dem archaischen Leben dort. Dazu gehören auch Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, dessen Ende hier im Ort in einer Rückblende erzählt wird. Die birgt auch Geheimnisse, welche unerreichbar tief im Gedächtnis der Menschen verankert sind. Dieser oft übertrieben bösartige Roman ist vor allem durch seinen schwarzen Humor gekennzeichnet, sein kreativer Wortwitz trägt einiges dazu bei.

Fazit:  3* lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Müry Salzmann