Iowa. Ein Ausflug nach Amerika

Iowa. Ein Ausflug nach Amerika. Nach “Statusmeldungen” und “Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin” schon das dritte Buch der österreichischen Self-Made-Autorin Stefanie Sargnagel aus Wien beim renommierten Rowohlt Verlag. Mit dabei ist dieses Mal auch Christiane Rösinger besser bekannt durch ihre Bandprojekte Lassie Singers und Britta, sowie viele andere kulturelle Aktivitäten im Berliner Underground.

Iowa: Fette Malls, ranziges Essen

Stefanie Sargnagel hat sich im deutschsprachigen Raum bereits einen gewissen Kultstatus erworben. Ihr Ausflug nach Amerika glänzt durch bissigen Humor und Selfbashing – entwaffnend ehrlich eben. Auf Einladung eines amerikanischen Colleges in Grinnell, Iowa fliegt die muntere Autorin mit ihrer Freundin Christiane kurzerhand in die USA. Sie soll dort Creative Writing unterrichten und das ausgerechnet in einem 8000-Seelen Dorf. Das College erweist sich dann aber als multikultureller und diverser als der Ort und Iowa fortschrittlicher als man es erwarten würde. “Über die Realität legt sich ab jetzt ein beugebräunlicher Schleier. Das ist der vergilbte Teil der USA“, sind zwar ihre ersten Gedanken nach der Landung, aber bald bemerkt sie, dass das Örtchen keine Kulisse ist und dort tatsächlich richtige Menschen leben, auch wenn sie oft Klischees entsprechen, die man aus US-amerikanischen Serien selbst zu kennen glaubt. Tumbleweed. Vieles ist ihr dann auch tatsächlich schon bekannt, aus eben diesen Serien oder Filmen. Aber sie entdeckt auch bald die Segnungen des Kapitalismus: Dass ausgerechnet Walmart eine soziale Ader hat und arme Leute auf den Parkplätzen seiner Malls campen lässt, ist doch überraschend. Skurriler noch als unsere westeuropäischen Vorurteile sind auch Sargnagels Beschreibungen der Amish, Amana und Maharishi-Sekten, um nur drei der unzähligen Glaubensgemeinschaften dort zu nennen, auf die sie bei ihren Ausflügen stößt. Die Autorin hat darüber eigene Reportagen eingebaut, auch Chicago und L.A. besucht sie kurz im Mietwagen mit ihrer Mutter und auch wenn der eigentliche Höhepunkt des “Ausflugs nach Amerika” ausbleibt (oder ist es der Abschied von Christiane?) ist das eigentliche Thema ein ganz anderes.

Ausflug nach Amerika: Genug vom “Rumspringa”

Denn es wäre kein Buch von der Sargnagel, wenn man nicht auch sehr viel über sie selbst erfahren würde. So lernt man etwa den Alkoholmissbrauch der Österreicher von dem der Deutschen zu unterscheiden oder begreift endlich den Unterschied zwischen einem Egozentriker und einem Narzissten: “Nur der erstere ist zu wahrem Idealismus in der Lage“. Christiane und Stefanie erkunden die Umgebung im Mietauto oder mit dem Greyhound: Des Moines, die Hauptstadt Iowas, wird durch die Iowa State Fair und den zweitgrößten Skywalk nach Minneapolis beschrieben, der Mississippi durch einen Pelikanflug und Dubuque durch seine Zahnradbahn, die älteste Amerikas. Das Hundebashing und die Macht der Waffenlobby sind noch ein paar Roadside Attractions auf diesem munteren Ritt durch den Midwest der USA. “Wochenlanges zielloses Reisen empfinde ich aber seit ich nicht mehr jugendlich bin eigentlich als stumpfen Konsum privilegierter IdiotInnen“, schränkt sie ihre Neugierde dann aber doch etwas ein und ist dann irgendwie wieder froh, nach Grinnell zurückzukommen. “Aber mit dem Abschied vom Exzess bricht ein ganzer Teil der Wirklichkeit weg. Der Irrsinn der Nacht.”Dafür kann man sich dann – am Ende der Strasse – vielleicht nur noch für Mukbang interessieren? Bei den Amish dürfen die geschlechtsreifen Jugendlichen mit 16 Jahren auf die Pfalz, sie nennen das “Rumspringa“, erzählt Sargnagel und in dieser Zeit dürfen sie alles ausprobieren, was sie wollen: Sex und Drugs und R’n’R. Davon dürfte die Sargnagel, 1986 geboren, inzwischen wohl genug haben. Denn mit kaum etwas mehr als 37 Jahren hat sie schon ihr reifes Alterswerk geschrieben: Iowa. Ein unterhaltsamer, lesenswerter Roadtrip voller Sarkasmus bei gleichzeitig sehr viel Sympathie. Unaufgeregt, abgeklärt und unheimlich witzig.

Zu Lesungen des Buches mit der Autorin lädt der Rowohlt Verlag ab Januar 2024 in Wien, Graz, Köln und vielen anderen deutschsprachigen Städten!

Stefanie Sargnagel
Iowa. Ein Ausflug nach Amerika
Mit korrigierenden Fußnoten von Christiane Rösinger
2023, Hardvoer, 304 Seiten
ISBN: 978-3-498-00340-1
Rowohlt Buchverlag


Genre: Autobiografie, Gegenwartsliteratur, Reise, Reiseabenteuer
Illustrated by Rowohlt

Turbulenzen

Mutter Kanadierin, Vater Ungar, geboren in Montreal, aufgewachsen in London, Literaturstudium in Oxford, viele Jahre wohnhaft in Budapest – das sind die passenden kosmopolitischen Voraussetzungen, die der 49jährige Schriftsteller David Szalay mitbringt, um einen global vernetzten Roman wie „Turbulenzen“ zu schreiben.

Das Grundprinzip unterschiedlichster Schauplätze rund um die Welt hat Szalay bereits in seinem Werk „Was ein Mann ist“ sehr erfolgreich umgesetzt, was ihm für jenes Buch 2016 zurecht eine Nominierung auf der Shortlist des „Man Booker Prize“ einbrachte.

In „Turbulenzen“ nimmt Szalay diesen Modus noch konsequenter wieder auf. Man erwirbt mit dem Buch sozusagen ein Round-the-world-Ticket. Die einzelnen Kapitel bestehen aus ineinandergreifenden Flugstrecken, die zugehörigen Titel bestehen einzig und allein aus den internationalen IATA-Codes der Airports, eine Herausforderung für alle Vielreisenden. Oder hätten Sie spontan gewusst, von wo nach wo es bei GRU – YYZ geht?

Doch das sind nur die formalen Rahmenbedingungen. Eigentlich stellt jedes Kapitel eine eigene Kurzgeschichte dar, allerdings hat Szalay diese genial ineinander verwoben, indem sich immer neue menschliche Schicksale entlang dieser Flugetappen rund um die Welt aus der vorhergehenden Geschichte ergeben. Eine Randfigur in dem einen Kapitel wird plötzlich zur Hauptprotagonistin im nächsten.

Mit präziser, adäquater Sprache, eindrucksvollen, aber nie schwülstigen Bildern gewährt der Autor Einblicke in unterschiedlichste Leben und Kulturen rund um den Globus. Durch den kontinuierlichen Wechsel der Hauptfiguren vollzieht sich immer wieder ein für den Leser erstaunlicher Perspektivenwechsel. Eine literarische Technik, durch die es Szalay gelingt, die Ambivalenz einer Figur messerscharf und lebensecht herauszuarbeiten. Da ist der indische Ehemann gerade noch der gewalttätige Tyrann seiner Familie, erscheint dann aber im Folgekapitel plötzlich in einem ganz neuen Licht, wenn man plötzlich erfährt, dass auch er Opfer gesellschaftlicher Konventionen ist.

Obwohl sein Schreibstil sehr eingängig und leicht ist, macht es der Autor seinen Lesern inhaltlich nicht einfach. Er stellt Themen unserer Zeit in den Fokus und fasst dabei zuverlässig in offene Zeitgeist-Wunden. Wie reagiert die Familie auf ein behindertes Neugeborenes? Wie geht man offen mit einer neuentdeckten Liebe um, die die Ehe im höheren Alter gefährdet? Was ist, wenn man bei der Heimkehr spürt, dass in der heilen Familienwelt etwas Furchtbares passiert sein muss, aber die Gewissheit sich erst ganz langsam ins Bewusstsein schleicht? Da wirkt eine leichte Episode wie das Tinder-Date eines Piloten zwischen zwei Flügen trotz der durchaus psychoanalytisch interessanten zwischenmenschlichen Interaktion fast schon lapidar.

Durch sein literarisch innovatives Konzept nimmt David Szalay einen mit auf eine Reise um die Welt, die in London beginnt und dort auch wieder endet. Szalay schreibt sehr fliessend, ist angenehm zu lesen, baut aber nach kurzer Zeit diese verheissungsvolle Spannung auf, weil er in seinen Stories unberechenbar ist. So wie das echte Leben auch. Eben voller Turbulenzen.


Genre: Gesellschaftsroman, Kurzgeschichten und Erzählungen, Reisen, Roman
Illustrated by Hanser Verlag München

Narziss und das Glück im Bild

Cover NarzissChristoph Adam Carl von Imhof wird 1734 als dritter Sohn des Rittmeisters Christoph Albrecht Carl von Imhof geboren. Seinem großen Namen und der vorbestimmten Militärkarriere wird der Junge nicht gerecht. Als Linkshänder versagt er beim Kampf mit Degen, Säbel und Florett, auch mit Pferden kommt er schlecht zurecht. Dafür zeigt er ein ausgeprägtes Talent im Umgang mit Zeichenstiften, Kreide und Wasserfarben. Bannt er seine sieben Geschwister und die Arbeiter auf dem Gutshof zu Papier, gibt es begeisterten Applaus. Derart inspiriert wird Baron von Imhoff Porträtmaler. Weiterlesen


Illustrated by SALONLiteraturVERLAG

Andalusien. Eine literarische Einladung

Andalusien. Eine literarische Einladung. Die reiche Kulturlandschaft Andalusiens bot sogar dem Spaghetti-Western Platz. Denn neben großen Städten bietet eine der abwechslungsreichsten Regionen des Kontinents einen über die Jahrhunderte hinweg gewachsenen Schmelztiegel der Kulturen und ist und bleibt ein Sehnsuchtsort romantischer Reiselust.

Sonne, Strand um mehr

Costa del Sol, Skifahren in der Sierra Nevada oder Wochenendtrip, die “literarische Einladung nach Andalusien” bietet auch mal einen guten Sherry, Kobolde und andere Flamenco-Fans, den Traum eines jungen Marokkaners an der Straße von Gibraltar sowie das Córdoba der Kalifen und das der Touristen an. Aber auch die Verwirrungen einer Austauschstudentin in Sevilla kommen hier zur Sprache. Andalusien war lange Zeit auch Heimat des Islams und eben dort entstand auch eines der eindrücklichsten Traktate über die Spielarten der menschlichen Liebe, wie die Herausgeber im Vorwort betonen.

Andalusien. Eine literarische Einladung

Von Andalusien aus wurden auch die amerikanischen Häfen erstmals in der Geschichte angesteuert, um dort das sagenumwobene Eldorado zu finden. Literarisch kann Andalusien immerhin mit der Erfindung des Schelmenromane (novela picaresca) punkten oder später in der Romantik mit einem Boom an Texten über Gitanos, Stierkampf wie etwa “Carmen”, das später auch als Oper umgesetzt wurde. Eine weitere Blütezeit war die Zeit vor dem Bürgerkrieg und später Jahrzehnte nach dem Krieg. Die vorliegende Anthologie ist nach den unterschiedlichen Provinzen Andalusiens geordnet und beginnt mit Sevilla, Cadiz, Huelva, Cordoba, weiter über Malaga, Granada, Jaén bis Almeria und Coda.

Andalusien: In vino veritas

Ein Brief von Nancy an Betsy, einer amerikanischen Austauschstudentin, von Ramon J Sender zeigt humorvoll Missverständnisse zwischen beiden Kulturen auf, die zumeist auf Stereotypen beruhen. Aber immerhin lernt Nancy warum es in Spanien keine Gorillas braucht, um Guerilla-Kriege zu führen. In “begnadetem Zustand” wandeln die Protagonisten in Arturo Perez-Reverte’s Geschichte über die Brücken Sevillas hinein in die Kneipen, von einer zur anderen, “wie ein Rudel Wölfe in der Finsternis der Nacht”. Federico Garcia Lorca klärt uns auf, warum kein Flamenco-Künstler Südspaniens jemanden “berühren” kann, “solange sich der Kobold nicht zeigt”. Die mythische Figur ist eine Art Muse auf dessen Existenz alle Künstler Andalusiens schwören. Bei Maria Duenas erfährt man, was einen guten Wein ausmacht. Es sind die fünf F: fortia, formosa, fragantia, frigida et frisca (Stärke, Schönheit, Duft, Frische und Reife).

Bellavista auf Stadt und Land

In “Punta Marroqui” von Nieves Garcia Benito pfeift der Protagonist Hilario ununterbrochen dasselbe Lied, wenn er fischen geht. Seine Frühpension erlaubt ihm bei weniger Geld ein angenehmes Leben, wenn nur die Möwen nicht so schreien würden. “Nicht ein einziges Mal hörte ich jemanden das Wort Liebe aussprechen”, beklagt eine Stimme in “Bellavista” (Juan Cobos Wilkins). Es sei das einzige Wort, das wirklich heile. Liebe. Juan Eslava Galan beschreibt in seinem Beitrag Cordoba als Stadt mit einem Naturschutzgebiet mitten im Zentrum, das Isabella I. anlegen habe lassen. Der Ritter Dia Sanchez de Jaen soll allerdings darin im Wasser ertrunken sein, obwohl er Zeit seines Lebens nur Wein getrunken haben soll. Auch die Frauen kommen zu Wort. Maria Sanchez beschreibt in “Land der Frauen” warum diese das Land meiden und die Stadt bevorzugen. Im Anhang befinden sich Kurzbiografien und Werkangaben zu den zitierten Autor:innen. Mit weiteren Texten von María Dueñas, Ildefonso Falcones, Federico García Lorca, Almudena Grandes, Sara Mesa, Antonio Muñoz Molina, José F. A. Oliver, Arturo Pérez-Reverte, María Sánchez, Ramón J. Sender und vielen anderen.

Marco Thomas Bosshard (Hrsg.), Volker Jaeckel (Hrsg.)
Andalusien
Eine literarische Einladung
SALTO [279].
2023, 144 Seiten. Rotes Leinen. Fadengeheftet
ISBN 978-3-8031-1378-8
Wagenbach Verlag
22,– €


Genre: Anthologie, Literatur, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Revanche

Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel. Das schon 2023 zum Bestseller avancierte Sachbuch des außenpolitischen Korrespondenten der ZEIT wird 2024 mit einem neuen Kapitel zur Stabilität von Putins Herrschaft nach dem Aufstand und Tod Prigoschins neu aufgelegt. Michael Thumann ist einer der besten Russlandkenner und lebt in Moskau.

Neuauflage zur Ukraine-Krise in Europa

Russland kennt Michael Thumann schon aus Studienzeiten, als er u.a. an der Moskauer Lomonossow Universität studierte. Schon die grundlegend überarbeitete und aktualisierte Taschenbuchausgabe enthält bislang unveröffentlichte Einsichten über Putins Verhältnis zu den radikalen Nationalisten im eigenen Land und die Stabilität seiner Herrschaft nach dem Aufstand und dem Tod seines Widersachers Prigoschin. Im März 2024 erscheint eine erweiterte Neuauflage, die den Absturz Russlands in eine zunehmend totalitäre Diktatur und den Weg in Putins imperialistischen Krieg aus nächster Nähe nachzeichnet. Der Titel des Buches, Revanche, beschreibt das eigentliche Motiv des russischen Präsidenten, nämlich Rache zu nehmen für die demokratische Öffnung nach 1991. Die vermeintliche Demütigung durch den Westen hat Putins Herrschaft weiter radikalisiert. “Unter Wladimir Putin verabschiedet sich Russland, das eigentlich größte europäische Land, aus Europa. Erneut senkt sich ein Eiserner Vorhang quer durch den Kontinent. Reise ich in dieses Land, werde ich am Flughafen in aller Regel aufgehalten. Der Grenzbeamte hält meinen Pass fest und telefoniert lange mit seinen Vorgesetzten. Ein Mensch im dunklen Anzug, wahrscheinlich Geheimdienst, holt mich ab und führt mich in einen Kellerraum. Darin ein Schreibtisch, eine alte Matratze mit Sprungfedern, kaputte Stühle, Staub in den Ecken. Ich muss Fragen beantworten: Wo wohnen sie? Was denken sie über die Militäroperation? Was haben sie vor in Russland? Ich antworte knapp und frage mich selbst: Komme ich überhaupt noch in das Land? Und komme ich wieder heraus?”, so Michael Thumann.

Revanche: “Wir haben uns geirrt”

“Revanche” liest sich wie ein moderner Thriller. Es waren vor allem westliche Gutgläubigkeit, Kumpanei, ein riesiger Vertrauensvorschuss, die Putin groß gemacht hätten, schreibt Thumann. Eine wichtige Rolle spielte dabei der deutsche Kanzler Gerhard Schröder der Putin noch 2004 einen “lupenreinen Demokraten” genannt hatte. Ob er dafür den Aufsichtsratjob bei Gazprom bekam? 2014 überfiel Putin die Krim und der Ukraine-Krieg nahm seinen Anfang. Die “militärische Operation” in der Ukraine wie es formell heißt ist Russland “bewaffnete Reaktion auf den Fall der Berliner Mauer”, so Thumann. Aber die Allianzen Russlands mit Deutschland haben schone eine lange Tradition. Man erinner sich an das 18. Jahrhundert als die beiden sich Polen teilten oder an Rapallo nach dem Ersten Weltkrieg. Aber auch schon vor dem Krieg: “Das junge Sowjetrussland half damals der Reichswehr ihre Schlagkraft aufzubauen, dafür holte Berlin die Bolschewiki aus der internationalen Isolation”, so Thumann wörtlich. Der Traum der Deutschen dabei: sich die unvorstellbaren Rohstoffreserven Russlands am Westen vorbei für sich allein zu sichern. Deutsche Technik und russische Rohstoffe sollten die Welt verändern. Mit Nord-Stream 2 wurde nichts anderes als die Abhängigkeit der EU von Russland zementiert. Die Ukraine verlor dabei Transitgebühren.

Mit viel Insiderwissen und spannend erzählt zeigt Michael Thumann die deutsche Verantwortung und den Zusammenhang zwischen dem Putsch von Sommer 1991 und dem Russland von heute: “Heute wird Russland ganz im Geist der Putschisten regiert.” Thumann erzählt von den neuen Nationalisten in Europa, den Autokratien und der wirklichen Macht der Apparate. Spannende Zeitgeschichte gut erzählt.

Michael Thumann
Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt
geschaffen hat. Mit einem neuen Kapitel.
2024 | 304 Seiten mit
16 Abbildungen | Broschiert
€ 16,–[D] | € 16,50[A] (bp 6553)
C.H.Beck Verlag


Genre: Geschichte, Politik
Illustrated by C.H. Beck München

Blumen unterm Weihnachtsbaum: The Garden at Eichstätt

The Garden at Eichstätt. 367 handkolorierte Kupferstiche des Hortus Eystettensis werden in dieser TASCHEN Prachtausgabe präsentiert und entsprechend gewürdigt. Der ehemalige Schlossgarten von Eichstätt beherbergte einen Pflanzenreichtum, der als Meilenstein der botanischen Illustrationskunst durch Basilius Besler für die Ewigkeit festgehalten wurde. Die vorliegende Faksimile-Ausgabe umfasst detaillierte Beschreibungen der Pflanzen entsprechend der modernen Taxonomie und erläutert dieses Juwel der barocken Gartenliteratur anhand wissenschaftlicher Begleittexte. Ideal als Blumen unterm Weihnachtsbaum für Freunde der blühenden Flora.

Juwel der Gartenkunst

Die vollständige Faksimile-Edition des dreibändigen Hortus Eystettensis von 1613 gilt als das Juwel barocker Gartenkunst. Aber auch der Garten selbst natürlich. Der Eichstätter Fürstbischof Johann Konrad von Gemmingen (1561–1612) ließ Anfang des 17. Jahrhunderts durch den Nürnberger Apotheker, Botaniker und Verleger Basilius Besler (1561–1629) einen prachtvollen Lustgarten anlegen. Die Gewächse wurden von Besler nach Jahreszeiten geordnet und in Beschreibungen und Kupferstichillustrationen dokumentiert. Der erste Druck, “Hortus Eystettensis”, war damals schon ein dreibändiger Prachtkatalog mit 367 handkolorierten Pflanzenillustrationen und detaillierten botanischen Beschreibungen von insgesamt 90 Pflanzenfamilien und 340 Gattungen. Einige davon auch von exotischer Herkunft.

Blumen unterm Weihnachtsbaum

Carl von Linné, der schwedische Naturforscher, der die Grundlagen der modernen botanischen und zoologischen Taxonomie definiert hatte, pries den Hortus Eystettensis als “unvergleichlich”. Es liegt in der Natur der Sache, dass Beslers Pflanzenkatalog deutlich länger Bestand hatte, als der Eichstätter Garten selbst, der im Dreißigjährigen Krieg 1643 von Schwedischen Truppen zerstört wurde. Erst 1998 – also mehr als 350 Jahre später – konnte an historischer Stätte mit dem Eichstätter Bastionsgarten ein Nachfolgeort seine Pforten öffnen, an dem auch zahlreiche Gewächse aus dem ehemaligen Hortus Eystettensis versammelt wurden.

Meilenstein der botanischen Illustrationskunst

Die nun in vorliegender TASCHEN Publikation wiederauferstandenen hochwertigen Reproduktionen dieser Faksimile-Edition wurden nach einem Originalexemplar aus den Beständen der Universitätsbibliothek Eichstätt-Ingolstadt erstellt. Sie werden ebenso wie die auf ihnen dargestellten Gewächse in botanischer, heilkundlicher und symbolischer Perspektive fachkundig erläutert. Im Anhang wird anhand ausführlicher Texte die historische Bedeutung des Gartens von Eichstätt und des ihm gewidmeten Hortus Eystettensis erklärt. Ein Meilenstein der botanischen Illustrationskunst im Format 24.3 x 30.4 cm mit 6.54 kg und 1096 Seiten. Die Originaldrucke werden übrigens bereits im Millionenbereich gehandelt. Die beiden Autoren Klaus Walter Littger und Werner Dressendörfer haben auch schon (im TASCHEN Verlag) zum Thema publiziert. So sind von letzterem bereits Der Garten von Eichstätt, Leonhart Fuchs: Das Kräuterbuch von 1543, Pomona Britannica, The Tempel of Flora und The Vegetable Garden erschienen. Klaus Walter Littger wiederum leitet die Manuskript-Sammlung der Universität Eichstätt und ist Herausgeber einer Zeitschrift und weiterer Publikationen über die Geschichte Eichstätts.

In den TASCHEN Stores in Berlin und Köln wird von Mittwoch, 31. Januar, bis Samstag, 3. Februar, und auf www.taschen.com von Donnerstag, 1. Februar, bis Sonntag, 4. Februar, ein ONLINE SALE für Toptitel mit bis zu 75 % Rabatt angeboten.

Basilius Besler

The Garden at Eichstätt
2023, Hardcover, 3 Bände im Schuber, 24.3 x 30.4 cm, 6.54 kg, 1096 Seiten
Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch (Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 7.500 Exemplaren)
ISBN 978-3-8365-9433-2
TASCHEN Verlag
€ 200


Genre: Anthologie, Bibliothek, Kunst, Pflanzen
Illustrated by Taschen Köln

Sandman – Albtraumland 1

Sandman – Albtraumland . “Aber jetzt wird alles immer nur noch schrecklicher. Alles fällt auseinander, und am besten man betäubt sich…“, resümiert Flynn und schwelgt im Auftakt gleichzeitig in ihren Erinnerungen. Schließlich ist es das, was am Ende von uns allen überbleibt: Erinnerungen.

Neues aus dem Reich der Träume

Dream, der Herr der Träume, schuf einst den Korinther, einen lebenden Albtraum mit Zähnen statt Augäpfeln, der zum brutalen Serienkiller in der realen Welt wurde. Nun soll genau dieser Albtraum einen anderen Albtraum aufhalten, den lächelnden Mann, der Jagd auf Menschen macht, darunter die junge Künstlerin Madison Flynn. Aber hinter der sind ausgerechnet auch die höllischen Killer Mr. Agony und Mr. Ecstasy her. Ein bißchen erinnern die beiden an die Killer aus Pulp Fiction, Vincent Vega und Jules Winnfield, kommen sie doch ebenfalls in geschniedelten, schwarzen Anzügen daher. Die junge Madison scheint von einem Albtraum zum andern zu wandeln, ein wahres “Albtraumland” eben. Dabei kommen gleich mehrere Zeichner:innen zum Einsatz, aber das Skript stammt von James Tynion IV, der schon mit dem Batman franchise at DC Comics, der DC Black Label Serie The Nice House on the Lake und der Serie The Department of Truth and Something Is Killing the Children glänzte. 2022 gewann er drei he Eisner Awards für sein Werk.

Für Fans des Horrors und schwarzen Humors

Kann man einen Traum töten? Kann man eine Idee töten“, fragen Mr. Agony und Mr. Ecstasy zurecht. Rund 35 Jahre ist es nun her, dass Neil Gaiman seinen SANDMAN erschuf, der zweifellos einer der revolutionärsten und besten Comics der Moderne war. Jetzt präsentiert Bestsellerautor James Tynion IV (BATMAN, DER JOKER) mit Zeichner Lisandro Estherren (Redneck) und anderen namhaften Künstlern wie Yanick Paquette (SWAMP THING) und Andrea Sorrentino (Old Man Logan, ICH, DER VAMPIR) eine neue Geschichte aus dem Sandman-Kosmos, der inzwischen auch als Netflix-Serie durch den Äther geistert. Besonders hervorzuheben ist noch die Zeichnerin Maria Llovet, die das letzte Kapitel des vorliegenden Bandes gestaltete. Sie stammt aus Barcelona und ihr Portfolio umfasst Faithless von Brian Azzarello, There’s Nothing There, Heartbeat, Spera: Ascension of the Starless, aber auch ihre eigenen Graphic Novels Loud! und Eros/Psyche. Eine Leseprobe befindet sich hier.

James Tynion IV/Lisandro Estherren
Sandman – Albtraumland 1 – Der Lächelnde Mann
Original Storys: Sandman Universe: Nightmare Country 1–6
2023, Softcover, 164 Seiten
ISBN: 9783741629778
Panini
19,00 €


Genre: Comic
Illustrated by Panini Comics

Geschichten und Gedichte für die kalte Jahreszeit

Geschichten und Gedichte für die kalte Jahreszeit. “Der Winter soll mein Frühling sein“, schreibt jubelnden Herzens Johann Christian Günther in seinem Gedicht “Lob des Winters“. Schließlich dient er auch zu “Amors Jubelfest“, also alles gar nicht so schlimm. Ganz im Gegenteil. Denn der Winter gilt zu Unrecht als “kalte Jahreszeit”.

Zu unrecht “kalte” Jahreszeit: Amors Jubelfest

Der durchwegs winterliche Leseschatz als Geschenkbuch mit Goldfolienprägung wärmt mit Gedichten und Kurzgeschichten oder Auszügen aus anderen Texten die Herzen seiner Leser:innen. Es sind Geschichten über Abende am Kamin, weiße Winterlandschaften und Sport und Spiel im Schnee, Erzählungen von Schneemännern, Eisköniginnen und verzauberten Winterwäldern. Aber auch einige der bekanntesten Winterlieder kommen zu Wort und Ton (mit Noten) sowie Rezepte zu Nussecken, Eierpunsch und Co. Die Texte stammen u. a. von Annette von Droste-Hülshoff, Hans Christian Andersen, Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz, Hermann Hesse, Tove Jansson und Erich Kästner u.v.a.m. Aber auch die kleinen Kätzchen, deren Pfoten im Winter erkalten, haben ihre Freude an der Winterzeit, weiß Heinrich Heine, der fröhlich reimt: “Und ein Kätzchen sitzt daneben, /Wärmt die Pfötchen an der Glut;/ Und die Flammen schweben, weben,/Wundersam wir mir zu Mut”. Wer wird da noch behaupten, der Winter sei eine kalte Jahreszeit, wenn innen wie außen, im Herzen und im Hause, weit sichtbar ein Feuer brennt?

Gedichte & Geschichten: Wärme von innen

In Andersen’s Geschichte einer Mutter tauscht diese ihr schwarzes gegen weißes Haar und jeder weiß, wozu Mütter noch bereit sind, wenn es um ihre Kinder geht. Ganz besonders zu Weihnachten oder im Winter allgemein, sind die Opfer besonders groß, aber auch die Freuden. Diese werden etwa im Kapitel “Winterfreuden” u.a. von Erich Kästner lebendig beschrieben: “Wintersport”, heißt es da, “Die Leute fahren Bob und Ski/am Hange hinterm Haus.(…) Das Publikum ist möglichst laut./Was tut das der Natur?/Sie wurde nicht für es gebaut./ Und schweigt. Und lächelt nur.” Zu Eis-Hockey lädt Joachim Ringelnatz in seinem gleichnamigen Gedicht, zu “Eislauf” Gerhart Hauptmann. Da taucht zwischen die Zeilen ein weiteres Rezept auf, dieses Mal ein Winterlicher Eierpunsch. In der Form eines Eiszapfens schreibt Leopold Kammerer sein gleichnamiges Gedicht, das auf “Au!” endet. Aber die Schmerzen sind nur kurz, bleibt doch das Gedicht! Ein anonymer Zeitzeuge schreibt eine Wintergeschichte in der es am 8. Dezember das erste Mal schneit. Am 8. Januar nimmt der Erzähler gerne die Pillen. Aber warum ist er nur an das Bett gefesselt?

Frohe literarische Weihnachten bei Reclam

In ähnlicher Ausstattung und Ausführung ist bei Reclam auch das “Weihnachtsbuch” erschienen, wo sich ebenfalls in Broschur mit Goldfolienprägung viele Geschichten und Gedichte rund um die seligste Jahreszeit tummeln. Von der Bibel bis Urs Widmer geht es um Weihnachten, die stillste und doch wärmste Zeit des Kalenderjahres, denn die Temperatur kommt von innen. Weitere Weihnachtstipps bei Reclam sind der Adventskalender, der 24 literarische Episoden schildert, also für jeden Tag des Dezembers eine. Und das in jedem Jahr, immerwährend! Oder Janoschs “Der alte Mann und der Bär. Eine Weichnachtsgeschichte.” Letztere beiden Titel werden zwar erst wieder am 8. Auguste 2024 neu aufgelegt, aber die Buchhandlung ihrer Wahl hat sie bestimmt rechtzeitig bestellt und noch vorrätig. In diesem Sinne: Frohe literarische Weihnachten!

Reclams Winterbuch
Geschichten und Gedichte für die kalte Jahreszeit
Broschur mit Goldfolienprägung
Format 12 × 19 cm
175 S.
ISBN: 978-3-15-020737-6
Reclam Verlag
12,00 €

 


Genre: Anthologie, Gedichte, Geschichten, Rezepte
Illustrated by Reclam Verlag

O Stern und Blume, Geist und Kleid… 75 Blumenbilder und Gedichte

Zu Ehren der Übersetzerin, Herausgeberin, Autorin die neue Marianne Schneider Reihe des Schirmer/Mosel Verlages

75 Blumenbilder und Gedichte. “Vor einer Blütenwand saß ich beim Zechen;/Der Becher schlug mein Herz in süßen Bann./Da war mir Angst, die Blumen könnten Sprechen:/Wir blühen nicht für einen alten Mann.”, bangte es Liu Yü-hsi schon im 8. Jahrhundert.
Zum 50. Geburtstag des Schirmer/Mosel Verlags 2024 erscheint schon jetzt die Jubiläumsausgabe der
Blumenbilder und Blumengedichte aus fünf Jahrhunderten.

Blumen und Gedichte durch die Jahrhunderte

Das vielleicht “poetischste Buch aus 50 Jahren Schirmer/Mosel Verlagsgeschichte” stellt Kostbarkeiten der deutschen Lyrik – vom Hohelied Salomos in der Übersetzung Martin Luthers über Walter von der Vogelweide, Goethe, Eichendorff und Trakl bis zu Paul Celan, Ingeborg Bachmann und Ernst Jandl – neben Kostbarkeiten der Kunstgeschichte, von Leonardo über Dürer, Runge, van Gogh, Matisse, Beuys und Cy Twombly bis zu Man Ray, Robert Mapplethorpe, Nick Knight und Thomas Struth vor. Aber es geht eben nicht nur um die Gedichte, sondern auch um die Blumen selbst, deren Darstellungen über die Jahrhunderte stark variierten. Im 20. Jahrhundert kam durch Man Rays Technik der Solarisation und Rayographie Experimentierfreudigkeit ins Geschehen, aber auch die Rosenphotographien von Edward Steichen oder Tina Modotti, Imogen Cunninghams weiße Callas oder Georgia O’Keefe gemalte Petunias stehen im Mittelpunkt dieser bibliophilen Publikation. Das Pflanzliche ist schließlich untrennbar mit der Dichtung verbunden, das beweist schon der Ausdruck “Anthologie”, schreiben die Autoren, denn “anthos” bedeutet Blüte.

An Leib und Seele grünen

Ich kam gegangen/zuo der ouwe:/do was min Frieder kommen e./da wart ich enpfangen,/here frouwe,/daz ich bin saelic iemer me“, dichtete einst Walther von der Vogelweide in “Unter den linden”, schon um 1200. Seinem Gedicht wird eine Abbildung Albrecht Dürers aus dem Jahre 1503 gegenübergestellt, “Das große Rasenstück” in Aquarell- und Deckfarben. Fröhlich dichtet auch Paul Gerhardt auf die Blumenpracht, in “Sommergesang” hofft er auf die schöne Blum, des Garten Ruhm, “erwähle mich zum Paradeis/Und laß mich bis zur letzten Reis/An Leib und Seele grünen“. Clemens Brentano – von dem auch der wiederum bezaubert mit “Hörst du die Blumen rauschen” und entführt die Leser:innen heraus aus einem Wintertraum in einen Sommer, wo die Grillen zirpen und der Mond ein Schlaflied singt. Bloß nicht aufwachen, weiterträumen, weiterlesen, der Frühling, der kommt bald.

75 Blumenbilder und Gedichte

Der vorliegende Band zeigt in Wort und Bild, dass Blumen als universelles Sinnbild für den Rausch der Schönheit und die Macht der Gefühle und damit letztlich auch für alle Abschnitte des menschlichen Lebens von der Geburt bis zur Hochzeit und hin zum Tod stehen. Die Neuausgabe der 2001 erstmals erschienen Anthologie ist gleichzeitig auch der erste Band der neuen Marianne Schneider-Edition des Schirmer/Mosel Verlages zu Ehren der langjährigen Übersetzerin, Herausgeberin und Autorin des Verlages, die im Februar 2023 verstorben ist.

O Stern und Blume, Geist und Kleid …
75 Blumenbilder und Gedichte
Hrsg. v. Marianne Schneider und Lothar Schirmer
184 Seiten, 75 Tafeln in Farbe und Duotone
ISBN 978-3-8296-0993-7
Lp. € 29,80 €(Ö) 30,70 CHF 34,30
Schirmer/Mosel


Genre: Anthologie, Blumen, Gedichte, Pflanzen, Poesie
Illustrated by schirmer/mosel

Fünf Viertelstunden bis zum Meer

Kurzes Buch, kurze Rezension. Wer sich eine Kurz-Version von „Liebe in Zeiten der Cholera“ für ganz Eilige vorstellt, liegt richtig und hat den Inhalt der etwa 95 Seiten schon weitgehend erfasst. Ein über achtzigjähriger Italiener kehrt zu seiner gleichaltrigen Geliebten aus Jugendzeiten nach Apulien zurück. Er hat ein stoisch langweiliges Leben als Apfelpflücker und Melker in Südtirol verbracht. Sie vergnügte sich lange Zeit mit anderen Bekanntschaften, bis sie nach sechs Jahrzehnten merkt, dass sie ihn wohl irgendwie vermisst. Schliesslich erreicht ihn ein Brief von ihr, er kehrt zu ihr zurück. Am Bahnhof von Lecce steht man sich nach mehr als 60 Jahren wieder gegenüber.

Titel und Inhaltsangabe des Mare-Verlages verheißen ein kurzweiliges Urlaubsbuch. Leider ist jedoch ein romatisch-sentimentaler Roman herausgekommen, teilweise mit depressiven Tendenzen. Wenn man sein Bild im Abspann des Buches sieht, kann man sich beim Lesen sehr gut vorstellen, wie der indisch-niederländische Autor van der Kwast mit großen, tränennassen Basset-Augen vor seiner Tastatur sitzt und schluchzend mit seinen eigenen Protagonisten dahin schmachtet. Dabei kann man ihm ein gewisses Maß an Wortgewandtheit gar nicht absprechen, allerdings driften kurze literarische Highlights zu oft wieder ab in eine schwülstige Schwere. Pluspunkte sammelt van der Kwast ein wenig dadurch, dass er doch nicht in alle Klischee-Fallen tappt und Giovanna, die weibliche Hauptdarstellerin, ein für die frühen fünfziger Jahre fast schon emanzipiertes und feministisches Leben führen lässt. Man muss sich ansonsten beim Lesen stetig zügeln, um nicht die Logik und Sinnhaftigkeit der Handlung und des Verhaltens zu hinterfragen. Aber gut, es mag Menschen geben, die sechzig Jahre ihres Leben ungenutzt verstreichen lassen, einfach verschenken. Stellt man sich das in der Realität vor, wird ungläubiges Kopfschütteln über das Buch möglicherweise in einen Frust über das menschliche Dasein umgelenkt.

In Summe hat sich van der Kwast bemüht, hat sicher auch ein gewisses Talent für tragisch-blumige Literatur, aber letztendlich reichte es nur zu einem Liebesroman auf leicht höherem Niveau. In etwa fünf Viertelstunden ist man durch.


Genre: Graphic Novel, Kurzgeschichten und Erzählungen, Roman
Illustrated by marebuch-verlag Hamburg

Gottfried Helnwein

In “Encounter 2 (The Man who Laughs)” aus dem Jahre 2014 lächeln sich Minnie Mouse und Adolf Hitler gegenseitig freundlich an. Im Hintergrund vermutet man ein zerstörtes Berlin, die Trümmer des Führerbunkers. So plakativ und provokativ das hyperrealistische Gemälde des österreichischen Malers Gottfried Helnwein auch erscheinen mag, es steckt viel mehr dahinter als man zu glauben vermag.

Helnwein blickt hinter die Fassade

“Ich will in meiner Arbeit Bereiche ansprechen, über did die Gesellschaft so gerne hinweggeht. Ich will Dinge sichtbar machen, die die Menschen lieber verdrängen und unsichtbar lassen würden. Ich will sie dazu verführen, diese Dinge anzusehen.” Tatsächlich war Adolf Hitler ein großer Fan von Micky Mouse und anderen Disneyfiguren und bekam Weihnachten (!) 1937 18 Micky Mouse Filme von Joseph Göbbels, seinem Reichspropagandaminister, für Privatkonsum geschenkt. Es ist kaum vorstellbar, dass sich ein Mann wie Adolf Hitler über Micky Mouse amüsieren konnte und doch ist es bittere Realität. Der Untertitel des Bildes spielt auf genau das an. Micky Mouse Filme liefen im Deutschen Reich bis 1940 aber auch im Kino. Ebenso unglaublich ist das gesellschaftliche Klima in Österreich, in dem der junge Gottfried Helnwein aufwuchs. In Graz wurde 1963 Franz Murer, der “Schlächter von Wilna”, der nachweislich mehrere Menschen ermordet hatte, freigesprochen und dafür sogar noch gefeiert. Wie Klaus Speidel in seinem Betrag zur vorliegendem Katalog schreibt, wurde dieses Erlebnis zu einer Art Schlüsselerlebnis für den jungen Gottfried Helnwein.

Jubiläumsausstellung zum 75. Geburtstag

Das Vertrauen in das “System und die Welt seiner Eltern” war gebrochen, “ich wusste, ich war ein Außenseiter und will es sein“. Seither lernte er auch die traditionelle Kunst ab, denn es war die Kunst seiner Eltern. Er bevorzugte die realistisch Erzählkunst von Malern wie Matthias Grünewald, Francisco de Goya oder George Grosz. Vor allem wollte Helnwein aber, etwas sichtbar machen, verhindern, dass das Unerhörte geschieht und alles dennoch weiter geht wie bisher. Seit seiner Kindheit beschäftige ihn Gewalt und damit verbunden die Unschuld des Kindes, das dieser Gewalt hilflos ausgeliefert ist. “Die Helden meiner Geschichten sind die Kinder, als Metapher für eine potentielle Unschuld und eine im Innersten des Menschen vorhandene Unverletzlichkeit und Unbesiegbarkeit. Das war der Grund, warum ich zu malen begonnen habe. Ästhetik war nicht meine erste Motivation.” Und so malt Helnwein Bilder von verletzten Kindern oder mit Kindern assoziierte Mangas, die in der japanischen Kultur als Kawaii bezeichnet gerade das Kindliche verherrlichen aber gleichzeitig ad absurdum führen.

Helnwein: Die Unschuld im Fokus

Das Kind wird in Helnweins Bildern zum Stellvertreter für den wehrlosen, abhängigen und ausgelieferten Menschen”, schreibt Elsy Lahner in ihrem Beitrag “Von Hitler bis Micky Maus. Realität und Fiktion im Werk von Gottfried Helnwein”. “Es sind nicht meine Bilder, vor denen sich die Leute fürchten, sondern es sind ihre eigenen Bilder in ihren Köpfen. Meine Arbeiten sprechen offensichtlich etwas an, das im Unterbewusstsein des Betrachters schon vorhanden ist. Wenn es mir gelingt, den Finger manchmal an die richtige Stelle zu legen, habe ich das Gefühl, meine Arbeit hat einen Sinn.” Zum 75. Geburtstag von Gottfried Helnwein findet in der Wiener Albertina eine große Werkausstellung statt, bei der man sich überzeugen kann, dass sein Werk tatsächlich sehr viel Sinn macht, wenn man hinter die Fassade blickt. Der vorliegende Ausstellungskatalog gibt eine Vorschau.

Gottfried Helnwein
Hg. Elsy Lahner, Klaus Albrecht Schröder
Mit Beiträgen von E. Lahner, K. Speidel
2023, 152 Seiten, 130 Abbildungen in Farbe, 24,5 x 28,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-4207-5
Hirmer Verlag
34,90 € [D] | 35,90 € [A]


Genre: Kunst, Malerei
Illustrated by Hirmer

Der Kurfürstendamm Geschichte des Berliner Boulevards

Dass der Ku’damm seine Glanzzeiten hinter sich hat, wusste die Autorin, als das Buch 2021 erschien, und hofft: „Die Mitte der City-West könnte wieder ein Zentrum des Berliner Lebens werden—anders vielleicht als einst, aber doch aufregend und liebenswert. Der Kurfürstendamm hätte es verdient.“

Davor geht es auf über 200 reichbebilderten Seiten um die Glanzzeiten, beginnend mit der Entstehung vor 150 Jahren. „Vom Knüppelpfad zum Prachtboulevard“, zum Treffpunkt der Berliner Bohème, und nach dem Abbau im Nationalsozialismus wieder zum Schaufenster des Westens.

Dazu gibt es viele Gemälde, zeitgenössische Postkarten, aber auch Fotos, etwa mit von Bismarck hoch zu Pferde: Er hatte sich brieflich an den König gewandt, er möge die Verbindung vom Schloss nach Potsdam verbessern, vielleicht auch, weil ihn seine täglichen Ausritte dahin führten.

Das Buch ist umfassend recherchiert mit Quellenangaben, flott geschrieben, immer wieder mit balinahten Einschüben. Neben den Abbildungen erfreuen auch die Zitate der Zeitgenossen: Mit den Gründerjahren kommen die „Geldsackgesinnung“ wie Fontane schreibt: “Die Stadt wächst und wächst, die Millionäre verzehnfachen sich…“

Damals war Paris das Vorbild, der Kurfürstendamm sollte die Pracht der Champs-Elysées bekommen, aber das Kaiserreich war nicht in der Lage, sich finanziell zu beteiligen, es reichte nur für die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die dann 1895 mit Pomp und Gloria eröffnet wurde. Fortan ließ man sich dort trauen, bis zu sechs Trauungen pro Tag gab es. Die Häuser wurden von den Geldsäcken gebaut, jedes nach dem Geschmack des jeweiligen Bauherrn.

Im zwanzigsten Jahrhundert entwickelten sich die Stätten der Künste: Die Maler der Sezession hatten ihre Treffpunkte, die Künstler Bohème ihre Cafés: das Café des Westens, das Café Größenwahn und später das Romanische Café. Dazu empfehle ich das Büchlein von Geza von Cziffra, Das Romanische Café.

Nicht jeder Künstler der Bohème konnte sich die Cafébesuche leisten, vielen wurden von Sponsoren unterstützt, oft waren es jüdische Geschäftsleute. „Unser Hintern fährt dritte Klasse, unser Haupt ragt über die Wolken“ sagt einer von ihnen.

Die westlichen Teile des Kudamms, auch als „Neuer Westen“ bezeichnet, zogen andere Menschen an als der vom wilhelminischen Staat geprägte Boulevard Unter den Linden.

Mit dem Aufkommen der „Kultur als Massenwaren“ wurden die großen Lichtspielhäuser um die Gedächtniskirche herum gebaut. Die prominenten Schauspieler/innen kamen und konnten vom Publikum gesehen werden, auch Zarah Leander und Astrid Nielsen. Ein anderer Zweig blühte ebenfalls: die Kabaretts und kleine Bühnen.

Nach der russischen Revolution kamen ab 1919 über zwei Millionen Emigrant/innen nach Deutschland, davon 300 000 nach Berlin, man sprach von Charlottengrad, manche träumten weiter vom Zarentum, in andere Richtungen gingen die Pläne der Künstler.

Die träumten eher von New York, vor allem Brecht und Grosz. Dieser suchte dort sein Künstlerglück und ging schon 1932, also vor dem Nationalsozialismus. (Das steht zwar nicht im Buch!)

Bis zur Olympiade 1936, wurde der Berliner Westen geduldet, auch weil viele Diplomaten und ausländische Journalisten dort lebten, die alle namentlich aufgeführt werden. Danach kam dann der Totalitarismus, die Trefforte der Szene wurden geschlossen.

Als gebürtige Westberlinerin habe ich den Kudamm der Nachkriegszeit als „Schaufenster des Westens“ kennengelernt, die Kaffeehäuser waren nun gut bürgerlich, die Mode elegant und mondän, zwei Theater und jedes Jahr die Filmfestspiele. In den Sechzigern dann Studentenproteste mit Wasserschlachten.

Jetzt lese ich bei Frau Stürikow, dass es in den achtziger  Jahren eine Kommission unter Volker Hassemer gegeben hatte, die die verblassende Strahlkraft erhöhen sollte. Einen Höhepunkt gab es dann noch: 1989 beim Mauerfall, wo die Bürger aus der DDR sich die Konsumtempel angucken wollten. Zum Kaufen reichte das Begrüßungsgeld dann aber nicht. Inzwischen, nach Corona, noch mehr Leerstand, nur Ketten können bestehen. Und 2023 will der Senat die weihnachtliche Beleuchtung nicht mehr unterstützen…

Vieles Bekanntes liest man gerne noch einmal und auch Neues, nun weiß ich, warum ein Teil in Budapester umbenannt wurde. Und die Lebensgeschichte von Jeanne Mammen, von der auch zwei große Gemälde abgebildet sind.


Genre: Berlin Geschichte, Der Kurfürstendamm Geschichte des Berliner Boulevards, Unterhaltungskultur
Illustrated by Elsengold

Nero Corleone. Eine Katzengeschichte

Nero Corleone. “Es ist wie bei mir“, dachte er, “wir sind gescheite, prächtige Männer von Welt, aber jeder schleppt eben sein Mädchen hinter sich her“, denkt sich der schwarze Kater Nero Corleone und teilt sein Essen mit seiner Rosa. Der von der Schriftstellerin Elke Heidenreich erfundene und von Quint Buchholz liebevoll illustrierte Mäuseschreck ist zwar in Italien geboren, macht aber bald eine große Reise zum Kölner Dom.

Nero Corleone aus Carlozzo in Köln

Die Verpflegung war gut, die Zuneigung groß, und vielleicht gab es in Köln am Rhein auch Heu, in dem man schlafen konnte“, träumt Nero und schließt sich den Urlaubern Robert und Isolde gleich mit seiner Rosa an. Denn da wo sie sind, ist es schön, “weil sie da sind“. Die lange Autofahrt gefällt zwar weder Nero noch Rosa, nur, Nero lässt es sich nicht anmerken, schließlich ist er der Kater und somit gebiert er sich als kleiner Macho, der keine Angst vor gar nichts hat. Im Haus seiner beiden neuen Besitzer gibt es viele schöne weiche Teppiche und auch geheimnisvolle Schlupfwinkel in denen man sich notfalls gut verstecken konnte, sollte man es doch einmal mit der Angst zu tun bekommen. Aber bald darf er ohnehin schon in den Garten, denn das allzulange Nachdenken liegt ihm ohnehin nicht so. Er ist ja kein Esel, der die Probleme dieser Welt durch blosses Nachdenken zu lösen versucht. In seiner Nachbarschaft ist er ohnehin bald der Mittelpunkt, der König der Vorstadtstraße. Aber dann geschieht etwas, das auch ein großer Kater wie er nicht ohne weiteres verschmerzen kann und er beginnt sich zurück nach seiner Heimat zu sehnen: Carlozzo.

Nero: Schwarzer Kater, rotes Herz

Elke Heidenreich erzählt die Geschichte des schwarzen kleinen Katers Nero Corleone mit der einen weißen Vorderpfote liebe- und lehrvoll. So weiß sie etwa, dass sein Nachname von cuore di leone herrührt, “Löwenherz” und dass Deutsche und Italiener mehr verbindet als nur die Brennerautobahn. Die gemeinsame Liebe zu den kleinen pelzigen Gefährten macht auch aus den erwachsenen Menschen Freunde und aus Nero bald einen Herzensbrecher. Denn um seiner neuen Liebe in Italien, Grigiolina, zu huldigen, kann er nicht mehr in das Auto von Robert und Isolde einsteigen. Aber wie soll er ihnen das nur erklären? Quint Buchholz hat diese Katzengeschichte mit wunderbaren farbigen Bildern versehen und eine Fortsetzung wartet auch schon beim Hanser Verlag sowie viele weitere Bücher der umtriebigen Autorin: Männer in Kamelhaarmänteln (Kurze Geschichten über Kleider und Leute, 2020) und zuletzt Ihr glücklichen Augen (Kurze Geschichten zu weiten Reisen, 2022). Im Kinder- und Jugendbuch veröffentlichte sie u.a. Nero Corleone kehrt zurück (mit Quint Buchholz, 2011)…

Elke Heidenreich
Nero Corleone. Eine Katzengeschichte
1995, Fester Einband, 88 Seiten, illustriert von Quint Buchholz, empfohlen ab 8 Jahren
ISBN 978-3-446-18344-5
Hanser Verlag
Deutschland: 20,00 €
Österreich: 20,60 €


Genre: Deutschland, Illustration, Italien, Katzen, Kinderbuch
Illustrated by Hanser

Boulevard der Helden

Boulevard der Helden. 30 biografische Geschichten von Erfolgsautor Michael Köhlmeier, die zuvor in einem Magazin der zugehörigen Verlagsmutter erschienen, sind hier in einem Buch versammelt. Sowohl berühmte Männer und Frauen stellt der Schriftsteller im Porträt vor und zeigt, was sie so außergewöhnlich macht(e). Mit dabei: Wilma Rudolph, Ignaz Semmelweis, Houdini, Mata Hari oder Marilyn Monroe und viele andere mehr.

Helden des Alltags/Albtraums

Die “Mutter Courage des Tabubruchs”, Beate Uhse, war eine der ersten Fliegerpilotinnen der Welt und flog sogar Einsätze für ein Regime, das Gottseidank ein schnelles Ende fand. Dennoch schaffte sie es, sich nach dem Krieg komplett neu zu erfinden indem sie eine Sexartikelshopkette eröffnete. Das verklemmte fast puritanische Nachkriegsdeutschland lernte durch Beate Uhse etwa den Coitus interruptus oder andere Verhütungsmethoden. Auch solche die wirklich funktionierten. In ihrer “Schrift X”, die man in ihren Shops für 50 Pfennig bekam, wurden Herr und Frau Bundesbürger aufgeklärt. Vielleicht bekam sie Jahrzehnte später dafür das Bundesverdienstkreuz? Köhlmeier erzählt pointiert und ohne viel Schnörkel die Geschichte der erfolgreichsten deutschen Unternehmerin und macht Lust auf noch mehr seiner Kurzbiographien, etwa “den Helden schlechthin”. Na, wer könnte da anderes gemeint sein als Humphrey Bogart himself? Köhlmeier beschreibt Bogey als King of Cool, als “Inbegriff der Coolness”, noch bevor es das Wort überhaupt gab. Er stellt ihn auf die Seite von Achill, dem wahren, ungebrochenen Helden, und nicht auf die Seite von Odysseus, dem verschlagenen, listigen Kerl. Das Lied “Don’t Bogart that Joint my Friend” bezieht sich – laut Köhlmeier – übrigens tatsächlich auf Humph. Er hätte sein Zigaretten schon nach ein paar Zügen ausgedrückt, was bei einem Joint doch schade gewesen wäre, so der Liedtext. Laureen Bacall, seine spätere Frau, hätte jedenfalls ordentlich gepfiffen.

Starke Männer und Frauen

Eine kleine Verbeugung vor einem alten Freund ist auch das Porträt über Bilgeri, das Köhlmeier hier vorlegt. Dieser hätte Bärenkräfte entwickelt, als sich in jungen Jahren ein Musikkollege (die beiden spielten damals in einer Band) unter einen Lastwagen legte, der Flügel bekam und abstürzte. Reinhold hätte mit seinen Pranken reingefasst und so ein Leben gerettet. Was wieder beweist, dass wir Menschen zu unglaublichen Taten fähig sind, wenn wir nur wollen. Übermenschliche Kräfte erforderte es wohl auch, als Rudi Dutschke seinen Attentäter in seiner Zelle besuchte. Die Kampagne die die Bildzeitung damals gegen den Studentenführer führte, hatte zu einem Schussattentat geführt, dem Rudi neun Jahre später erlag. Aber er konnte seinem Mörder noch verzeihen. Auch das wohl eine Heldentat im Maßstab Bilgeris. Aber auch unter Diskriminierung mussten viele Helden leiden, wie das Doppelporträt von Ella Fitzgerald und Norman Granz überdeutlich macht. Obwohl die Sängerin Begeisterungsstürme im Orpheum Theatre in New York ausgelöst hatte, durfte sie dort dennoch nicht auf die Toilette. Diese war – wie der ganze Konzertsaal im übrigen – den Weißen vorbehalten. In den USA herrschte damals noch Segregation. Und so wurde für Ella Fitzgerald extra ein Abort auf Rädern organisiert, der hinten im Hof abgestellt wurde.

Boulevard der Helden: 30 moderne Legenden

Michael Köhlmeier erzählt von Stil-Ikonen aus Kunst und Kultur sowie Legenden aus Musik, Sport, Wissenschaft und was sie ausmachte. Eines zeichnete aber wohl alle – ob Sportgrößen, Musiklegenden, Schach-Giganten und Glamour-Stars – aus: sie ertrugen demütig ihr Schicksal. Großes Lesevergnügen eines der besten Erzählerhelden unserer Zeit, Michael Köhlmeier bietet Hintertüren und -treppen zu seinen Ikonen, aber auch Trojanische Pferde. Ein Lesegenuss für Jung und Alt.

Michael Köhlmeier
Boulevard der Helden
2023, 224 Seiten / 120 mm x 200 mm
Benevento Verlag
€ 22.-


Genre: Biographie, Kurzgeschichten, Porträt
Illustrated by Benevento Verlag

Die spürst Du nicht

Der leidige Fluch des Erfolges. Der österreichische Autor Daniel Glattauer landete 2006 einen Megahit. Mit seinem Roman „Gut gegen Nordwind“ stürmte er die Bestsellerlisten und wurde für den Deutschen Buchpreis nominiert. Theateraufführung und Verfilmung waren unausweichlich. Das prägnante Merkmal dieses Überflieger-Romans war, dass die beiden Protagonisten die Story dadurch entwickelten, dass die Konversation einzig und allein über E-Mails erfolgte. Eine grandiose Idee. Literarisch perfekt umgesetzt.

In „Die spürst Du nicht“ spüren zwar die Romanfiguren manches nicht, die Leser dieses Buches spüren jedoch ganz deutlich, dass Glattauer wieder experimentiert. Vielleicht steckt in dem Österreicher ein bisserl was von seinem Landsmann Wolf Haas, der neben seiner erfolgreichen Brenner-Krimi-Reihe gerne einmal innovative Wege geht, indem er beispielsweise dem Leser in seinem Buch „Verteidigung der Missionarsstellung“ die Chance zum Querlesen gibt, indem er Zeilen wirklich quer über das Papier laufen lässt. Aber nein, das sonstige Schaffensrepertoire von Glattauer spricht gegen diese Annahme. Also drängt sich der Verdacht auf, dass mit „Die spürst Du nicht“ der schon etwas verzweifelte Versuch eines Autors vorliegt, mit neuen, aber irgendwie doch wiederum vergleichbaren Stilmitteln einen Follow-up-Roman zu konstruieren.

Herausgekommen ist eine stilistische Mixtur aus Fließtexten, Dialogen, Interviews, Presseveröffentlichungen, Social Media-Postings inklusive Kommentaren der Internetgemeinde und Fotografie-Shots, wobei Glattauer bzw. seinem Lektorat ein kleiner technischer Fehler unterläuft, indem die Foto-Beschreibungen keine Standbilder, sondern bewegte Szenen beinhalten. Unbedeutendes Detail am Rande.

Was den Inhalt anbelangt ist es wie mit den Stilmitteln – fleißig bemüht, aber zu viel gewollt.

Zwei wohlhabende österreichische Familien nehmen gegen den anfänglichen Widerstand der afrikanischen Eltern die Tochter einer somalischen Migrantenfamilie mit in den Toskana-Urlaub. Das unscheinbare und ruhige Mädchen ertrinkt im Pool. In einem  – wegen der politischen Prominenz einer der beiden Mütter sehr öffentlichkeitswirksamen Prozess werden Schuldfrage und Trauerschmerzensgeld wegen Schockschaden verhandelt.

In diesen Rahmen presst der Autor Themen wie Politikethos, Ehekrisen, Fremdgehen, das unmerkliche Abgleiten einer Tochter in die Drogensucht durch eine Internet-Bekanntschaft und natürlich dem Zeitgeist folgend die Darstellung eines erschütternden Migrantenschicksals. Glattauer springt auf alle Trends der Zeit auf, gibt aber keinem Thema den Raum und die Tiefe, die jedes einzelne verdient hätte, indem er fortlaufend Komplexitätsreduktion betreibt. Dadurch sind viele Handlungsstränge eher naive Malerei, welche unserer diffizilen Realität nicht gerecht wird. Daran ändern auch die Stil-Collage nichts. Hinzu kommt, dass man überall seinen erhobenen Zeigefinger zu spüren scheint. Aber leider bleibt es bei der oberflächlich-moralisierenden Geste im Sinne eines Virtue Signalling, womit Glattauer wiederum voll im Trend liegt.

Daniel Glattauer ist ein Profi, an dessen handwerklich fundiertem Können nichts auszusetzen ist. Er kann Menschen abholen, allerdings geschieht dies in „Die spürst Du nicht“ inhaltlich und stilistisch recht effekthascherisch. Man wünscht sich, dass er zurückkehrt zu einer Schaffenskraft, die zum Beispiel „Ewig Dein“ hervorgebracht hat. Davon bitte mehr.


Genre: Belletristik, Gesellschaftsroman, Roman
Illustrated by Zsolnay Wien