Martin Suter ist ein Autor, der meisterhaft erzählen kann. Sein Roman »Melody« steht für dieses handwerkliche Vermögen. Mit geschickt belegten Häppchen fördert er den Appetit des Lesers und lockt ihn vordergründig in die Geschichte einer großen Liebe. Seine auf den ersten Blick melodramatische Schilderung der unerfüllten Liebe eines alten Mannes zu einer bildschönen jungen Frau aus einem anderen Kulturkreis entwickelt er mit vielen geschickt eingebauten Cliffhangern und Wendungen durchaus spannend bis zur letzten Seite und beleuchtet dabei sein Thema immer wieder neu. Weiterlesen
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Melody
Allein
Allein. Der Susan-Sontag-Biograph (Geist und Glamour, 2007) und Autor vieler Beiträge für die Zeit, Deutschlandradio Kultur und die taz war auch in der Pandemie nicht untätig. Nach “Nüchtern” (2014) und “Zuhause” (2017) erscheint nun ein weiteres sehr persönliches Buch. Dessen Thema erfüllt immer noch viele Menschen mit Unbehagen. Dabei muss sich jede/r ihm stellen. Nicht nur einmal im Leben.
Allein: Einsamkeit als Chance
Das Thema Allein-Sein ist so alt wie die Menschheit und sicherlich kein Phänomen der Moderne oder allein von Krisenzeiten wie eben Pandemien, Kriegen oder anderen Apokalypsen: “Niemand von uns kann der Einsamkeit entkommen. Sie ist eine unabwendbare, eine existentielle Erfahrung. Vielleicht auch eine notwendige.” In seinem Bestseller (SPIEGEL, FOCUS, stern und Börsenblatt) erzählt Schreiber, wie er sich gerade in der paradoxen Situation der Einsamkeit auf eine Insel (Fuerteventura) flüchtete, um dort zu schreiben und schließlich zu sich selbst zu finden. Schreiber zeigt, dass gerade Menschen in Einsamkeit ihren Egoismus schließlich besiegen lernen, sich reorganisieren und damit zu neuem Wachstum finden. “Das Erleben von Einsamkeit bringt, mit andren Worten, eine Form der Selbstwahrnehmung mit sich, die wir anders nicht erlangen können. Gerade der Schmerz, der der mit ihr einhergeht, sorgt dafür, dass wir eine neue Art des Mitgefühls in uns entdecken, für uns selbst und andere Menschen. Uns neue Lebenswege erschließen und innere Auseinandersetzungen zulassen, die sonst ausblieben.”
Allein: Praktiken der Selbstreparatur
Mit seinen Gedanken über das Allein-Sein befindet Schreiber sich übrigens in bester Gesellschaft, schon Roland Barthes, Hannah Arendt, Sartre oder andere Choryphän des abendländischen Denkens haben sich in ihrem Schreiben damit beschäftigt. Oft hätte er sich unvollkommen gefühlt, weil er keine Zweierbeziehungen führen hätte können, jedenfalls keine auf Lebenszeit. Vor allem die Rituale, die den Alltag, das Leben zusammenhalten, würden einem abgehen, wenn man alleine ist, gerade in Zeiten einer Pandemie. Ähnlich wie die traditionellen kollektiven Rituale in westlichen Gesellschaften (Hochzeit, Taufe Beerdigungen, etc.) als rites de passage in neue Lebensabschnitte führen, habe nun aber auch die Pandemie einen solchen Schwellenzustand, eine Liminialität, geschaffen, die, wie zu befürchten ist, zu einem permanenten zu werden droht.
Das Narrativ von der Apokalypse
Denn die Welt ist nicht erst seit der Pandemie aus den Fugen geraten und die Apokalypse wieder in aller Munde. Aber selbst das ist nur Teil der ewigen Wiederkehr des Gleichen, denn die Menschheit hat immer schon von ihrem Untergang geschwärmt, seit Anbeginn der Zeit. Schreiber bezieht sich auf viele Autorinnen und Autoren der Gegenwart oder Antike und stellt einen Zusammenhang her mit seinem eigenen persönlichen Leben als homosexueller Mann, dem sich herkömmliche Glücksversprechen von Eigenheim und Kleinfamilie vorerst verwehren, er sich dann aber bewusste dafür entscheidet, eben nicht dazuzugehören: “Ich gehörte nicht mehr zu diesen Menschen, und wollte auch nicht mehr zu ihnen gehören.” Er entscheidet sich dafür, “uneindeutige Verluste” als eben solche stehen zu lassen und mit der Ambivalenz zu leben, da manche Fragen eben unbeantwortet blieben. So wie Derek Jarman auf seinem Prospekt Cottage: “Er nahm ein paar Samen, Stecklinge und etwas Treibholz und begann dieses Gefühl vom Ende der Welt in Kunst zu verwandeln und so dessen Schrecken zu lindern.”
Liminalität: der neue Schwellenzustand
Aber mehr noch als das, ist “Allein” vor allem auch ein äußerst lesenswertes Buch über die Segnungen von Freundschaft und das eigentliche Wesen dieser wohl größten menschlichen Tugend. Wer sich nämlich nicht in einer von der Gesellschaft vorgegebenen patriarchalisch-normativen Kleinfamiliensituation in der Mitte seines Lebens wiederfindet, wird ebenfalls dankbar sein für dieses so wertvolle Buch, das Einblicke gewährt, mit dessen Abgründen sich jeder einmal in seinem Leben wird auseinandersetzen müssen. Spätestens nach einer Scheidung, einem Verlust oder wenn die Kinder erwachsen sind und das Haus verlassen. Die wohl prägendste Erfahrung im Leben eines Menschen ist nämlich gerade diese Einsamkeit, deren Potential und heilsamer Charakter erst noch entdeckt werden muss. “Paare” gälten oft als dominantes Lebensmodell, während sie doch eigentlich oft “patriarchale Horrofilme” ähnelten, wie Hannah Black etwa meint. Black beschreibt Paare als “reduktionistischste, ausgrenzendste und prekärste Methode, um das wahrscheinlich universale Bedürfnis nach Nähe zu stillen”.
Liebe vs. Freundschaft
Auch queere Paare würden dies oft nur reproduzieren, dabei liege das wahre Glück doch in der Freundschaft und der Auflösung jedweder Arten von Herrschaft und Macht. Freundschaft beruhe ja gerade auf Freiwilligkeit und sei deswegen losgelöst von Verpflichtungen und Normierungen wie etwa Familie, Verwandtschaft oder Ehe. Aber oft würden sich Freunde oder Freundinnen dann doch in eine Zweierkiste verabschieden und man bliebe alleine zurück. Dabei sei Liebe ohnehin nur eine Illusion, die für einige Jahre vielleicht “die Angst vor dem Sterblichen und dem Tode” zu bannen vermöge. Es ist kein Geheimnis, dass Liebe tatsächlich sehr viel der Kraft unserer Fantasten bedarf. “Erst unsere Vorstellungskraft schenkt uns die Magie der Hingabe“, zitiert Schreiber Lauren Berlants “Desire/Love“. In der Einsamkeit lässt sich die Nähe zu Gott und zu seiner/m Nächsten. erfahren. Die Liebe kommt dann von ganz allein. Denn sie genügt sich selbst.
Ein beflügelndes, inspirierendes Essay, das nicht nur über die Pandemie, sondern noch so manchen anderen Schmerz hinwegtrösten kann. Das Buch zur Apokalypse.
Daniel Schreiber
Allein. Essay
2023, Broschur, 160 Seiten
ISBN: 978-3-518-47318-4
suhrkamp taschenbuch 5318
12,00 € (D), 12,40 € (A), 17,90 Fr. (CH)
Als wir Vögel waren
Als wir Vögel waren. Trinidad ist für Calypso, Chutney, Limbo, Rapso und Soca und den nach dem in Rio de Janeiro zweitbedeutendsten Karneval der Welt bekannt. Aber nun wird die Karibikinsel auch für “Als wir Vögel waren” bekannt werden, die Heimat der 1980 dort geborenen und heute in London lebenden Autorin Ayanna Lloyd Banwo. Bisher erschienen zwar erst Kurzgeschichten in verschiedenen Publikationen, aber mit ihrem Romanerstling wird dies wohl bald anders werden.
Fidelis oder ein neuer Anfang
Dabei ist die Geschichte, die sie erzählt, so gar nicht ins Klischee des karibischen Flairs der Lebenslust und bunten Freude passend. Banwo erzählt darin zwar eine Liebesgeschichte, die zwischen dem jungen Rastafari Darwin und Yejide, einer Seherin, die sich auf höchst ungewöhnliche Weise kennen und lieben lernen, aber eine, die völlig frei von herkömmlicher Romantik und Hollywood-Schmafu ist. Emmanuel Darwin, der bei seiner Mutter ohne Vater aufwächst, findet nach langer Suche endlich einen Job, allerdings ein Job, den ihm seine Religion verbietet. Auch seine Mutter hat einiges dagegen einzuwenden, und so muss er sich von ihr, die außerhalb der Stadt lebt, trennen und in die Stadt (“Babylon”) ziehen, in die Nähe des Friedhofs Fidelis. Er hat dort als Totengräber angeheuert und seine neuen Kollegen und sein Chef sind abgebrühte Jungs, die gerne mal einen trinken, auch das etwas, was ein Rastafari niemals tun würde.
Darwin und Yejide
Darwin raucht lieber ab und zu von dem heiligen Kraut, aber auch das in Maßen, schließlich ist die Arbeit, die er annimmt, nicht nur körperlich, sondern auch psychisch schwer zu verarbeiten. Eines Tages lernt er in der Verwaltung dieses Friedhofs eine Frau kennen, die darauf besteht, dass ihre Mutter auf demselben Grab wie ihre Tante begraben wird. Allerdings gibt es dabei die Schwierigkeit, dass ihre Tante damals nicht tief genug gelegt wurde und sich zwei Särge übereinander nicht ausgehen könnten. Darwin nimmt sich – trotz des Gespötts seiner Kollegen – dem Anliegen der jungen Frau, Yejide, an. Vielleicht auch deswegen weil er sich sofort in sie verliebt. Aber das darf natürlich niemand wissen.
Karibische Melancholie und Hoffnung
Die kriminellen Machenschaften seiner Kumpane und die Suche nach seinem verschwundenen Vater sind nur zwei von vielen Schwierigkeiten gegen die die junge und neu erwachte Liebe der beiden ankommen muss, aber sie können es schaffen, wenn sie zusammenhalten und mutig genug sind. Ayanna Lloyd Banwo holt in ihrem ersten Roman weit aus, erzählt von einer Zeit als wir Vögel waren und die Corbeaux (Raben) alles überwachten. Ganz so wie in der Erzählung von Yejides Großmutter, aus einer Zeit vor der Zeit. Sie erzählt auch von der Trennung des Sohnes von der Mutter, der trotz seiner Trennungsschmerzen weiß, dass er nicht ewig bei ihr bleiben kann und gehen muss. Nicht nur um seinen Vater zu finden, sondern vor allem um sich selbst zu finden. Der Abschied des Sohnes von der Mutter ist ein Aufbruch in eine Welt, in der niemand sich um seine Seele kümmern wird, ruft sie ihm nach. Aber Darwin selbst wird nun zum Herr seines Schicksals und dem Kapitän seiner Seele. Das wird auch für seine Mutter Früchte tragen, wie wir am Ende des Romans erfahren.
Als wir Vögel waren
“Trauer hat keine Ende – sie ist kein Seil“, aber dennoch gelingt es Darwin, draußen in der Welt zu bestehen und seinen Weg zu gehen, der ihn auch zu seinem Vater führt, ein Mann, der ihm gar nicht so unähnlich ist. Ayanna Lloyd Banwo erzählt ihre Geschichte in einer wunderbaren Sprache, frei von Schnörkeln und voller Hoffnung für die Zukunft. “Weißt du, ich glaub an das Leben, und das Leben ist ziemlich einfach – gut leben, hart arbeiten, Leuten helfen, wenn man kann, sich ein reines Herz bewahren, positiv denken, aber die letzte Zeit… Irgendwie hab ich mich auf die Weg verirrt und weißt nicht mal warum.” Aber mit der Liebe als Kompass wird Emmanuel Darwin auch dieses Problem lösen. Er ist nun ein Mann und Yejide seine Frau.
Ayanna Lloyd Banwo
Als wir Vögel waren. Roman
Aus dem trinidad-kreolischen Englisch von Michaela Grabinger
2023, Hardcover Leinen, 352 Seiten
ISBN: 978-3-257-07224-2
€ (D) 24.00 / sFr 32.00* / € (A) 24.70
diogenes
Der Minnesang des Frosches
Gerhard Spiller verbringt seine Freizeit gern an seinem Gartenteich im niedersächsischen Ilsede und lauscht dem Minnesang der Frösche. Ursprünglich nur zur Zierde mit Pflanzen angelegt, nutzen ihn die Vögel als Tränke und Badeteich. Schon nach einem halben Jahr siedelte sich auch ein Frosch an und ließ seinen Gesang erklingen. Das Echo blieb nicht aus: Schnell wuchs die Froschpopulation auf acht Tiere an, deren Quaken sogar die Nachbarschaft erfreute. Nun hat der Autor den Teichmusikanten einen Gedichtband in Haiku-Form gewidmet. Weiterlesen
Naturzauber durchs Jahr – Zauberhafte Deko-Ideen aus Naturmaterial
Die Autorin
Die Autorin studierte Werbegrafik und Kunst und ist im Bereich der Illustration und des Designs für Kinder unterwegs. Sie unterrichtete lange Zeit Kunst und Werken. Mittlerweile leitet sie Kurse für Lehrer und interessierte Erwachsene und unterrichtet Kunst und Musik. Außerdem war sie als Kind und später als Erwachsene viel im Wald/ in der Natur unterwegs, reist und fotografiert gern.
Naturdeko im Landhausstil
Das Buch beginnt mit Vorabinformationen, bevor es mit den Jahreszeiten losgeht, nämlich mit einer Auswahl an Materialien, mit denen man mit Fundstücken aus der Natur basteln und werken kann. Dann folgt eine Anleitung, wie man Naturmaterialien grundiert, wie man sie bestempelt, schattiert und schabloniert.
Den Großteil des Buches nehmen die verschiedenen Jahreszeiten ein und was man mit den dann vorhandenen Naturmaterialien kreativ machen kann. Frühlingszeit ist Osterzeit, also präsentiert die Autorin z.B. Häschen aus Baumscheiben, witzige Eierköpfe, ein Osternest aus Palmkätzchen, ein Gesteck mit Holzhase und Eiern, einen Hasen aus gebogenen Zweigen. Aber auch Holzvögel, Wiesenblumenkränze und andere frühlingshafte Bastelleien hat sie im Gepäck. Sommerliche Motive kann man basteln aus Steinen (z.B. Kakteen, Pilze); des Weiteren gibt es Holzhäuschen, Lavendel-Mäuse, Kirschkernkissen, Fischketten aus Holzfischen, Muscheln usw. und Leuchttürme aus Holzstäbchen. Der Herbst findet kreativen Ausdruck in Holzeulen mit Federn, Moosen, Zapfen, sowie Eichhörnchen aus Holz, Blätter-Mobile, Kürbisschnitzen, Engeln aus Mohnkapseln. Für den Winter präsentiert die Autorin Schneekristalle aus Ästen, Gräsern, Disteln, Sternanis, sowie Holzsterne, mit Serviettentechnik dekorierte Holzscheiben, Filzkugeln, Eisdeko, Bäume und Sterne aus getrockneten Orangen usw. Außerdem gibt sie am Ende des Buches Tipps für den Umgang mit Wiesenblumen (diese sind auch bebildert und beschriftet). Auch zu Gartenblumen und was man aus ihnen machen kann, gibt sie Tipps, ebenso für Blätter, Beeren, Früchte, Wald- und Strandmaterial. Im Buch ist auch ein Vorlagenbogen enthalten.
Insgesamt ist Pedevilla sehr bedacht darauf, reichlich Tipps zu geben, damit ihre Ideen beim Nachbasteln und Werken gut gelingen. Die Erklärungen und Anleitungen sind verständlich, übersichtlich und mit großen, schönen, stimmungsvollen Fotos der fertigen Werke gestaltet. Die Deko selbst ähnelt dem Landhausstil und ist für diesen natürlich eine tolle Ergänzung. Überhaupt sieht die Deko nicht wie eine Bastelei aus, sondern wie etwas, das man auch kaufen könnte. Vieles kann man mit den entsprechenden Materialien – die man z.T. aber erst besorgen muss, weil man sie nicht immer im Haus hat – gut nachbasteln, aber für manche Holzdeko sind Sägen und entsprechende Grundkenntnisse mit den einzelnen Sägen nötig. Die Ideen sind vielfältig und regen zu eigenen Kreationen an. Bei manchen, ansonsten sehr gut durchdachten Anleitungen habe ich mich allerdings das ein oder andere gefragt, was dann nicht erklärt wird, z.B.: Wie werden Orangen so getrocknet, dass sie nicht faulen oder schimmeln? Reicht eine gekaufte Alternative? Wie geht man mit einer Dekupiersäge um? Was muss man da beachten?
Die Werke sind z.T. auch zum Nachbasteln für größere Kinder geeignet. Kleinere können und wollen nicht einfach nachbasteln, was man vorgibt, deshalb sind diese Ideen für Familien mit kleineren Kindern nicht so geeignet. Sehr schön: Der Bezug zur Natur wird durch das Suchen und Verwenden von Naturmaterialien gefördert und vertieft, v.a. wenn man nach den Jahreszeiten bastelt.
Fazit
Für Bastelfans
- die relativ einfach, aber stilvoll basteln wollen.
- die die Natur und den Landhausstil lieben.
Asterix: Im Reich der Mitte
Asterix in China
Eines Tages kommen eine chinesische Prinzessin, ihre Leibwächterin und der Neffe des phönizischen Händlers Epidemais, Genmais, in das kleine gallische Dorf. Sie suchen die Hilfe der unbesiegbaren Gallier, weil Prinzregent Deng Zin Qin einen Umsturz plant. Die chinesische Kaiserin und ihre Tochter Wun Da sollen gestürzt werden, weil Wun Da den Prinzregenten nicht heiraten will. Die Kaiserin selbst befindet sich in Gefangenschaft und ihre Tochter will sie retten. Aber Majestix stellt sich erst einmal quer, weil er es satt hat, jedem X-Beliebigen zu helfen – bis Gutemine ihm den Marsch bläst.
Auch Cäsar hat Schwierigkeiten mit seiner Kleopatra, weil er ihr nicht bekannt genug ist. Deshalb beschießt er, China zu erobern. Das gelingt ihm auch – bis auf die Eroberung eines Gebiest, das dem Eindringling immer noch Widertand leistet. Nach einer längeren Reise mit einigen Prügelleien erreicht die Gruppe um Asterix Shanghai und verhindert die Hinrichtung der Kaiserin. Auf der Flucht erreichen sie das widerständige Gebiet und helfen Prinz De Bi Li, sich gegen Deng Zin Qin und Cäsar zu wehren. Aber kann eine Armee von 10.004 gegen 80.000 Römer bestehen?
Halbgarer Text, gute Bebilderung
Der vorliegende Band ist kein Comic, sondern eher eine bebilderte Zusammenfassung des neuen gleichnamigen Asterix-Realfilmes, der am 18. Mai diesen Jahres in die Kinos kommen soll. Er mutet mit seiner sehr einfachen Sprache und der groben Zusammenfassung der Handlung wie ein Bilderbuch für Kinder an oder ein Büchlein in einfacher Sprache für Menschen mit geistigem Handicap. Für Erwachsene ist das Ganze definitiv zu simpel gestrickt. Auch die Witze funktionieren in so einem Umfeld nur bedingt, ebenso die Anspielungen. Eine solche ist z.B. am Anfang des Textes Asterix‘ plötzlicher Widerstand, Zaubertrank zu trinken, weil er nicht sicher ist, ob dieser dem Körper schadet. Und die einseitige Ernährung mit Wildschwein, die Asterix ebenfalls anprangert. Das erinnert natürlich an das, was aktuell als gesunde Ernährung gilt und die insgesamt kritische Einstellung zu dem, was andere (v.a. die Nahrungsindustrie) uns als Essen vorsetzen. Allerdings verkommt diese Anspielung hier zu einer eher uninspirierten Episode – es fehlt an Esprit und Tiefgang.
Insgesamt wirkt der Text also eher halbgar und langweilig auf Erwachsene; für Kinder ist er unter diesen Bedingungen eher geeignet. Dagegen sind die Zeichnungen so, wie man sie von den Comics gewohnt ist. Als Comic hätte das Ganze vielleicht besser funktioniert.
Frauen- und Männerbild
Das Männer- und Frauenbild ist gemischt. Dass Männer den schwachen Frauen zu Hilfe eilen und sie retten sollen, ist bis ins Mark patriarchalisch. Leider wird dieser Topos weiter und immer weiter verwendet, was der Frau, die in der Realität alles andere als schwach ist (man denke an die Mehrfachbelastung mit Mental Load, die sie – und nicht der Mann! – tagtäglich stemmen und insgesamt das Leben und das Fundament der Gesellschaft, nämlich alles Soziale, organisieren und meistern muss), immer noch das Genick bricht. Auch körperlich ist die Annahme einer schwachen Frau verfehlt, denn sie schleppt Einkäufe, Kinder und alles, was mit Familie, Kindern und Alltag zu tun hat, durch die Gegend, ganz abgesehen von den Schwangerschaften mit zusätzlichem Blut, Fruchtwasser, Kind und Pfunden – wo der Mann nach einer halben Stunde des Tragens eines Neugeborenen schon unter Rückenschmerzen leidet, ganz zu schweigen von der harten Versorgungs- und Erziehungsarbeit, vor der sich vielerorts die holde und da auf einmal zart besaitete Männlichkeit nur zu gern drückt.
Wenigstens ist die Frau an der Seite der Prinzessin eine Leibwächterin, die sich so auch körperlich zu wehren weiß. Würde man Frauen mehr Selbstbewusstsein zusprechen und die Erziehung entsprechend ausrichten, sähe die Sache auch mit dem körperlichen Sich-zur-Wehr-Setzen ganz anders aus – was das patriarchale System aber überhaupt nicht will; man denke nur an Männer, die vor starken Frauen Angst haben (was wiederum für deren mangelndes echtes männliches Selbstbewusstsein spricht). Leider kann man der Asterix-Reihe auch nur sporadisch eine etwas modernere Weltsicht und v.a. eine gleichberechtigte zusprechen. Oft wird das emanzipatorische Bestreben der weiblichen Figuren eher ins Lächerliche gezogen, anstatt dass echte Gleichberechtigung eine wertvolle Rolle für beide Geschlechter spielt.
Spuk-Orte in der Pfalz. Von Irrlichtern, Geisterhunden und Weißen Frauen
Burgen als Spuk-Orte
Rund einhundert Burgen kann man in der Pfalz besichtigen: keltische Fürstensitze, germanische Fluchtburgen, festungsartige Stadtruinen, Motten (älteste und einfache Burgen), salische und staufische Reichsfestungen, schlossähnliche Anlagen. Allerdings sind diese oft Ruinen, denn sie überlebten Bauernkrieg, lokale Fehden oder den Pfälzischen Erbfolgekrieg nicht. Nur wenige Burgen sind im 19. und 20. Jahrhundert wiederaufgebaut worden. Solche Burgen enthalten reichlich Geschichte(n). Das bedeutet allerdings auch viel Leid – und damit viele Geister. Aber nicht nur Burgen sind Orte, wo es spuken kann, sondern u.a. auch Felsen und Hinkelsteine. Dort begegnete oder begegnet man auch heute noch Weißen Frauen, Geisterprozessionen, Geisterhunden, einem unter der Burg schlafenden König, Raubrittern und Grenzsteinversetzern oder man hört seltsame Geräusche wie Klirren, Schnaufen, Atmen, Heulen.
Auch Spuk kann vielfältig sein
Dämonische Kröten sollen z.B. in der unheimlichen Falkensteiner Schlucht, auch „Hölle“ genannt, leben. Reizbare Kobolde und Geister umschwärmen die Ruine Hohenfels – einmal haben sie einen kaiserlichen Hauptmann in einen Rehbock verwandelt, der dann von einem Förster erschossen wurde. Zur immerwährenden Schlacht stellt sich ein Heer der Burg Leimigen auf: Sie sind dazu verdammt, weil sie ihren Herren verraten haben. Die Nonne Imagina brachte den Leichnam des Königs Adolf von Nassau 1298 nach einer Schlacht ins Kloster Rosenthal. In der Gruft, neben dem Leichnam, soll sie gleich darauf vor Kummer gestorben sein. Waldgeister soll es am Ungeheuersee im Leininger Sporn geben, außerdem lebte dort eine Waldfrau in ihrem Zauberschloss. Am Hochufer zwischen Waldsee und Neuhofen soll eine Weiße Frau umgehen. Auf dem Friedhof in Dannstadt tanzen Irrwische und im damaligen Dorfteich wohnte ein Wassermann.
Einer der Schlossherren von Hallberg war ein Despot und fristet sein untotes Leben als Poltergeist. Im Maudacher Bruch will 2004 ein Angler am Jägerweiher ein unbekanntes Flugobjekt gesehen haben. Im Krick, einem Sumpf zwischen Oppau und Edigheim, spukt ein schwarzer, riesiger Hund mit feurig-glühenden Augen, eine Sau mit Holzklumpen und eine dreibeinige Ziege. Nachdem die Schweden ein prächtiges Kloster im dreißigjährigen Krieg niedergebrannt hatten, spukt am Nachtweidebrunnen bei Mutterstadt ein Mönch herum. In Oggersheim treiben ein Kettenkalb, ein Hüttenhammel und ein schwarzer Hund ihr Unwesen. Im Weilacher Hof spukt ein Schmied, der früher zu einer Räuberbande gehörte. Gegenüber dem Felsen, auf dem die Burg Breitenstein errichtet wurde, wurde 1938 ein Altar für Vosegus ausgegraben: Man kennt ihn auch unter den Namen Pan oder Silvestris. Der Altar steht heute im Museum von Speyer. In der Kleinen Pfaffengasse in Speyer wurden die Bewohner 1756 durch Gespenster und andere ungewöhnliche Erscheinungen, sowie Poltern beunruhigt. Und der Teufelstisch erinnert an die Sage, dass der Teufel einst den dekadenten Schlossleuten der Dahner Burgen etwas auf der Fiedel vorspielte und sie nach einem Ärgernis enthauptete. Anschließend riss er zwei mächtige Sandsteinplatten aus dem Boden und stapelte sie zu einem Tisch auf – dem Teufelstisch.
78 pfälzische Spuk-Orte zählt das vorliegende Buch auf und erzählt knapp und gut verständlich die dazu passenden unheimlichen Geschichten. Die auf schwarzem Grund weiß gehaltenen Texte werden nicht nur durch diese Farbgebung des Hintergrunds, sondern auch durch die großen, atmosphärischen und mystisch wirkenden Schwarz-Weiß-Fotos der entsprechenden Orte sehr gut in Szene gesetzt. Autor und Journalist Ulrich Magin zeichnet sich für die Texte verantwortlich und hat ein Faible für die kuriosen Aspekte der Kulturgeschichte. Fotograf Peter Kauert fotografiert bevorzugt in Schwarz-Weiß. Beide zusammen harmonieren wunderbar und bescheren sowohl ein wohlig-schauriges Lese- als auch Seherlebnis – und wecken die Lust, diese Orte an Halloween/Allerheiligen erkunden zu wollen. Aber selbst wenn man sich das nicht traut, eignet sich das Buch an besagten Feiertagen hervorragend dazu, es in die eigene Halloweenfeier einzubauen und etwas daraus vorzutragen. Und ganz sicher hat nicht nur die Pfalz schaurige Orte zu bieten, sodass man angeregt wird, in der eigenen Heimat solche Spuk-Orte erkunden zu wollen.
Sehr gelungen!
Beth Chattos Kiesgarten: Gärtnern auf trockenem Standort
Nachdem ich verstanden hatte, dass wir gerade hier, im Nordosten Deutschlands, mit immer weniger Wasser auskommen müssen, recherchierte ich in dieser Richtung und hörte immer öfter Beth Chattos Namen: auf der Jahrestagung der Gesellschaft zur Förderung der Gartenkultur 2022 und vorher schon bei N. Kühns Werk zur modernen Staudenverwendung. Ein Kiesgarten ist etwas Anderes als ein Schottergarten, aber was genau?
Nun lese ich seit einigen Monaten immer wieder in diesem umfangreichen Werk und weiß, dass es sorgfältige Planung und umfassende Grabarbeiten voraussetzt. Auf engbedruckten knapp 200 Seiten beschreibt sie ihre Entwicklung als Gärtnerin, ihre Konzepte für Strukturen und Farbzusammenstellungen, warum und wie sie den Kiesgarten schuf und genieße die vielen Bilder der von ihr geschaffenen Farbzusammenstellungen.
Es erschien 2000 in England unter dem Titel Beth Chatto’s Gravel Garden, zu der vorliegenden deutschen Ausgabe von 2022 hat David Ward, ihr Chefgärtner, der die Arbeit seitdem weiterführte, das Vorwort geschrieben. Da fasst er die Richtschnur zusammen: den Wechsel der Blüten einplanen, auch berichtet er über weitere Entwicklungen.
Der Kiesgarten wurde 1991 angelegt, als sie über jahrzehntelange Erfahrungen verfügte, auch Bücher verfasst hatte. Sie beobachtete Pflanzen in ihrer natürlichen Umgebung, interessierte sich für die Soziologie der Pflanzen. Regelmäßig tauschte sie sich mit anderen Gärtnern aus, auch gerne mit Ernst Pagels, dem die oben erwähnte Jahrestagung 2022 gewidmet war. Irgendwo schreibt sie, dass sie nun nicht mehr selbst zupackt, sie dankt den Jüngeren, dass sie die körperlich schweren Arbeiten übernehmen, früher hatte sie diese gerne gemacht. Beim Nachrechnen stelle ich fest, dass sie beim Anlegen des Gartens schon Ende sechzig war, und, als das Buch erschien, Ende siebzig, so etwas beeindruckt mich als Gartenoma!
Sie „lernte, Pflanzengemeinschaften zu bilden, die die Blütezeit verlängern und Bilder ergeben, die uns das ganze Jahr über erfreuen.“ Dazu braucht es genaue Daten über den Boden, über die Niederschlagsmenge, und die Jahrzehnte der Erfahrung mit dieser Mangelsituation.
Das Buch ist in sechs Kapitel eingeteilt, die die Jahreszeiten beschreiben, drei davon im Sommer, und eines heißt: „Der kleine Kiesgarten“. Er wurde später angelegt, um kleinere Kostbarkeiten ins rechte Licht zu setzen, und ist etwa so groß wie ein Tennisplatz.
Bei der Beschreibung geht es mal um Farbkombinationen „Mit Goldfäden durchwirkt“, oder „Ein Dunstschleier aus Violett und Blau“, auch mal „Das Düngeprobleme der Natur“. Oder es werden Pflanzen vorgestellt, mal Sedum, mal die Fritillarien, oder die Euphorbien. Die liebt sie sehr, sie kommen auf vielen Fotos in großen Gruppen vor.
Bei den Strukturen setzt sie immer Senkrechtes und Horizontales in Beziehung zueinander, besonders beachtet sie die Farbzusammenstellungen beim Blühen und Vergehen. Beim Lesen fiel mir auf, dass ich schon lange nicht mehr in einem Frauengarten war, ich glaube, es gefiel mir so gut, weil sie auf die Dinge achtete, die Frauen besonders wichtig sind!
Manchmal fragen Besucher sie, was sie empfehlen würde, dann fragt sie genau nach der Bodenbeschaffenheit, dem Niederschlagsmittel bei ihnen. Und wenn diese andere Pflanzen ermöglichen (Rittersporn, Astern, Phlox!) dann würde sie lieber diese pflanzen. Sie hat aus der Not eine Tugend gemacht und dabei ein Kunstwerk geschaffen …
Nachmittage
Ein neuer von Schirach. Ab dem Erscheinungstag auf Platz 1 der Spiegelbestsellerliste. Ferdinand von Schirach ist derzeit der erfolgreichste und berühmteste Schriftsteller Deutschlands. Aber nicht nur das, seine Geschichten und Romane werden in über 40 Sprachen übersetzt und ganz viele für Leinwand und Fernseh-Serien verfilmt.
Nun sind es sechsundzwanzig Kurzgeschichten, die der Autor an unterschiedlichste Schauplätze lokalisiert (Taipeh, Tokio, Marrakesch, Zürich, Wien, New York, Oxford, Pamplona, Oslo, Paris) und die manchmal auch nur Gedanken über wenige Zeilen sind. Im Gegensatz zu „Schuld“, „Verbrechen“ und „Strafe“ handelt es sich im Wesentlichen nicht (bzw. nur in einer Story) um Kriminalfälle aus seinen Zeiten als Strafverteidiger. In Anlehnung an „Kaffee und Zigaretten“ beinhaltet sein neuestes Buch wieder eine Sammlung von Begegnungen, Beobachtungen, Momenten, Notizen.
Man kann von Schirach lieben.
Für sein unglaubliches Repertoire an Erlebnissen.
Für seinen reduzierten Schreibstil mit dem Herunterbrechen der Sprache auf Hauptsätze (laut der WELT deshalb als der deutsche Raymond Carver bezeichnet). Eine Sprache, die es einem leicht macht, in einem angenehmen Flow zu lesen, zu folgen, zu verstehen, auszumalen und in die Geschichten eigene Farben und Bilder einzubringen.
Für Geschichten, die auf den Punkt kommen und die nach einem gezielten, aber doch unmerklichen Stimmungsaufbau schleichend auf Pointen im genau richtigen Augenblick zusteuern, oft als Finale furioso mit einem Schlüsselsatz oder einem Ein-Wort-Tusch am Ende der Erzählung.
Für Gedanken, die als fast musikalisch-harmonisches Fade-out ausklingen und einen sinnierend zurücklassen.
Für die Offenheit, dass ihm „seine eigenen Bücher fremd werden, wenn er über sie sprechen muss“ oder dass er sich bei Einladungen nicht als der „Ehrengast, sondern als der Hofnarr“ fühlt.
Man kann mit von Schirach leiden.
Wenn er von seiner Jugend in einer vom Nationalsozialismus gezeichneten Familie berichtet (sein Großvater Baldur von Schirach stand als Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal): „Ich war nicht der Sohn aus gutem Haus, weil es kein gutes Haus mehr war.“
Wenn er – völlig untypisch für von Schirach, der sein Privatleben immer schon zum absoluten Tabu-Thema macht – , die Scheidung seiner Eltern und den Tod des Vaters im Alkoholismus erwähnt.
Wenn er – in Analogie zum Zitat des Don Fabricio aus einem seiner Lieblingsbücher „Der Leopard“ von Giuseppe di Lampedusa – zugibt, dass es auch bei ihm im Laufe seines Lebens nur „zwei bis drei Jahre“ waren, „in denen alles stimmte“.
Wenn schemenhaft eine verflossene Liebe auftaucht, die er einmal in New York kennenlernte, die er aber irgendwann verloren hat und offenbar schmerzlich vermisst. Ganz viel Melancholie beim feinsinnigen Juristen, der als Strafverteidiger mit mehr als einem schrecklichen Verbrechen konfrontiert war, von dem man aber auch weiß, dass er in der Vergangenheit unter depressiven Episoden zu leiden hatte. Da ist Thomas Manns Zitat aus dem Zauberberg „Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken“ schon fast eine Affirmation.
Man kann von Schirach hassen.
Wenn er unablässig darüber klagt, wie er sich nach der Theaterpremiere todmüde ins Hotel schleppt, nach einem langen Flug völlig erschöpft ist, nach wieder einer dieser vielen Lesungen mit ach so vielen anstrengenden Fragen keine Lust mehr auf Unterhaltungen jedweder Art hat.
Wenn er seine Freundin, die erfolgreiche Konzertpianistin, doch ach so sehr beneidet, dass sie es geschafft hat, aus dieser Marketing-Maschinerie auszusteigen, die Kunst und Künstler vergewaltigt.
Was für eine elegische Klage in extrem losgelöster Position und auf extrem hohem Niveau. Was für ein divenhaftes Gezeter eines Mannes im Olymp der Literatur. Jeder Jungautor würde liebend gerne sofort mit ihm tauschen und dieses ach so schreckliche Schicksal an seiner Statt erdulden. Und es gibt einen, der dieses schreckliche Autoren-Leben sofort ändern und aus diesem Hamsterrad der Vermarktung ad hoc aussteigen kann – Ferdinand von Schirach.
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde. Die vorliegende Hardcoverausgabe und mit 24 Abbildungen versehene Publikation des Reclam Verlages sticht nicht nur durch ihre Gestaltung hervor. Der gelernte Kulturwissenschaftler Jens Wietschorke, der am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie der LMU München lehrt, beschäftigt sich mit einem Thema, das viel zu oft vernachlässigt wird: der Städtekomparatistik.
Beziehungsgeschichte Wien – Berlin
Die mehr als faszinierende Beziehungsgeschichte der beiden mittel-europäischen Metropolen Wien und Berlin fördert nicht nur amüsante Anekdoten zutage, sondern zeigt auch, wie verwoben die Schicksale der beiden Städte sind und waren. Denn nicht nur das 19. und 20. Jahrhundert – die “klassische Moderne” – nimmt der Autor des ebenfalls bei Reclam erschienen Bandes “Die 1920er Jahre. 100 Seiten.” in den Fokus seiner Betrachtungen, sondern auch die Gegenwart. Oft wurden nämlich gerade diesen beiden Städte als Gegensatzpaar verstanden und diejenigen, die verglichen, stammten meist selbst aus der jeweils anderen Stadt. Denn oft dienen Vergleiche und Zuschreibenden gerade dazu, Kritik an den herrschenden Verhältnissen der eigenen Gegenwart zu äußern. Als “Magnetfeld” verordnet Wietschorke das mentale Minenfeld zwischen Wien und Berlin. Eine spannende entangled history oder histoire croisée hat er verfasst, wenn er über das “Spannungs- und Gravitationsfeld” Wiens und Berlins enthüllt, dass es sich geradezu um “Dauerbrenner des Feuilletons” gehandelt hab, gerade zwischen 1870 und 1930, die beiden Städte zu vergleichen. Wien spielte bei diesen Vergleichen oft die gemütliche alte Dame, während Berlin ganz vom “modernen Amerikanismus in Besitz genommen” dargestellt wurde.
Gegensätze, die sich anziehen
Die Hauptstadt der Hässlichkeit nannte Scheffler sie einst, und das war noch lange vor den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges. Auch anfangs des 20. Jahrhunderts war Berlin schon eine “permanente Baustelle”, eine “Stadt für Entrepreneurs, traditionslos, rasant und oberflächlich”. Aber eben auch voller Chancen, die es in Wien nie gab, da es dort nur die Alteingesessenen zu etwas brachten: sie waren ja immer schon wer. Während Wien schon seit Jahrhunderten die Haupt- und Residenzstadt eines Kaisers gewesen war, wurde Berlin quasi from scratch erfunden. Eine Nicht-Landschaft wurde ihr attestiert, auch auf Sand gebaut, wie es in der Bibel lautet. Erst in den Zwanzigern verfügte sie über eine große kulturelle Anziehungskraft für Kunstschaffende aus ganz Europa und der Welt. Berlin war lange Zeit der Parvenu unter den Großstädten, da sie erst durch die Reichsgründung Friedrichs als wirkliche Stadt bezeichnet werden konnte. “Wir nennen den Namen Wien und alle Herzen fliegen ihm zu“, brachte es Rodenberg auf den Punkt, “aber wir sprechen den Namen Berlin nicht aus, ohne Vorurteilen zu begegnen“. Das hing auch mit anti-modernistischen Großstadtklischees zusammen und so wurde Wien von vielen Publizisten als positiver Gegenpol zum Sehnsuchtsort und zur Traumstadt stilisiert. Übrigens auch ein Klischee dem sie später die Nazis sehr gerne bedienten, wie Wietschorke dankenswerterweise in einem eigenen Kapitel ausführt.
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde
Berliner Tempo (“Elektropolis“) und Wiener Gemüt wurden ein Begriffspaar das dem jeweiligen Sprecher Argumente gegen das jeweils Unerwünschte lieferte. Das hatte klarerweise nicht viel mit den wirklichen Städten zu tun, sondern allein mit deren Projektionen und Imaginationen. “Während man Wien immer deshalb liebt, weil es dort viel schöner ist als anderswo, liebt man Berlin obwohl es anderswo viel schöner ist“, wie Wietschorke es pointiert ausdrückt. Aber auch schon Reinhard Mey hatte in Wien “Heimweh nach Berlin” verspürt, wie er im gleichnamigen Lied singt.
Heimweh nach Berlin
Elias Canetti hingegen musst sich von seinem sechsmonatigen Berlinaufenthalt bei mehreren Spaziergängen am Stadtrand seines Wiens erst wieder erholen, bevor er “Die Blendung“, sein Nobelpreisstreich, verfassen konnte: “Offensichtlich hatte Canetti den Rückzug nach Wien gebraucht, um den in Berlin erlebten Irrsinn
aufzeichnen zu können.“, schreibt Wietschorke süffisant. Über weitere Celebrities wie Max Reinhardt oder Bert Brecht und die bis heute zu Unrecht vergessene Schriftstellerin Lili Grün (“Herz über Bord“) weiß Wietschorke ebenso zu berichten wie über “Stars und Sternchen” der Unterhaltungs-industrie die zwischen Wien und Berlin pendelten.
Klischees als Propagandafutter
“Wien lieferte den Stoff, Berlin brachte ihn in Umlauf“, hieß eine damals geltende Formel, die sich beizeiten aber auch wieder umdrehte. Dabei war es allerdings gerade die politische Rechte, die Konservativen und Reaktionäre, die sich ihr traditionelles Wien-Bild nicht vermiesen lassen wollten. Sowohl die Nazis als auch der Heimatfilm der 50iger Jahre hielt an diesem verklärten Bild der “guten alten Zeit” fest und stilisierten Wien gleichzeitig zu einem Bollwerk gegen Amerikanismus und Bolschewismus. Nicht zuletzt Hitler hatte das Klischee vom “volkstümlichen Wien” als Hort und Heiligtum des deutschen Volkes auserkoren, obwohl Wien auch damals schon ganz anders war (und er Wien eigentlich hasste). Und so wurde Wien – die Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Reich – zum “Experimentierfeld für die `Endlösung´”, wie Wietschorke, fulminant geschrieben, herausarbeitet. Aber wie schrieb Polgar in jenen Tagen so treffend an Schnitzler: “Wien, Wien, nur du allein – es ist, um die Seele aus dem Leib zu kotzen“.
Inszenierung eines Traums, Traum der Inszenierung
“Das Reale ist eben relational“, wusste schon Bourdieu, denn erst im Vergleich treten die Charakteristika hervor. Das Typische sei nicht einfach da, es werde gesucht, Klischees sind einfach dauerhafter als soziale Realität, weiß Wietschorke: “Für Wien und Berlin bedeutet das: Das kulturelle Imaginäre folgt einer eigenen Konstruktionslogik. Es übergeht den Wandel und ignoriert die Widersprüche.” Dass die Vorstellung sich aber auch in die Realität einschreibe, bestätigt auch Claudio Magris: Wien sei mit der Inszenierung seiner selbst identisch. 17,4 Millionen Touristen im Jahr 2019 (vor der Pandemie) können nicht irren. Oder sind sie etwa einem Klischee auf den Leim gegangen?
Jens Wietschorke
Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde
2023, Geb. mit Schutzumschlag. Format 13,5 × 21,5 cm, 345 S. 24 Abb.
ISBN: 978-3-15-011442-1
Reclam Verlag
Euphoria
„Spannend… intensiv, verführerisch, erotisch…“, so überschlagen sich Literaturkritiker diverser renommierter Medien bei ihren Rezensionen zu Euphoria. Kombiniert mit dem Wortklang des Titels und dem nach einem fiktiven Pseudonym klingenden Namen der Autorin verführen spätestens Keywords aus der Inhaltsangabe wie „Dreiecksbeziehung in exotischem Setting“ zu völlig unzutreffender Kategorisierung. Also Vorsicht vor voreiligen Schnellschlüssen, denn das Buch bietet aus diesem Genre relativ wenig, aber dafür viel mehr Höherkarätiges. Weiterlesen
Illustrated by C.H. Beck München
Sweeter than fame
Ein Rocksar in einer Kleinstadt?
Die 30-jährige Ani Bennett ist vor Jahren in ihre beschauliche Heimatstadt Wildwood zurückgekehrt – gerade weil sie nach einem traumatischen Vorfall wieder zur Ruhe kommen will. Sie lebt jetzt in einem kleinen Holzhaus und arbeitet ganz unspektakulär in einem Tante-Emma-Laden. Aber mit einem Mal ist es mit der ganzen unspektakulären Lebensweise wieder vorbei, als Ani merkt, wer in das benachbarte viktorianische Anwesen eingezogen ist: der berühmte Rockstar Garret Hayes. Der will nach ebenso traumatischen Vorfällen genau wie Ani nur seine Ruhe haben. Das bekommt Ani sehr schnell mit und beschließt, dem Rockstar Anonymität zu gewähren. Damit hat sie bei dem mürrischen und melancholischen Mann einen Stein im Brett. Außerdem bittet Garrets Freund und Bandkollege Ani, sich um den trauernden Mann zu kümmern. Allmählich entwickelt sich eine platonische Freundschaft zwischen den beiden – bis Ani feststellt, dass sie sich wider jede Vernunft in den Rockstar verliebt hat.
Romantik, Traumata und Heilung
Der in sich abgeschlossene Liebesroman präsentiert eine heil(end)e Welt als Rahmen. Die Kleinstadt mit ihren Bewohner*innen voller Eigenheiten, Macken und trotzdem herzlichen, anteilnehmenden Eigenschaften und die schöne Landschaft werden im Buch liebevoll beschrieben, sodass die Leser*innen sehr gut in diese kleine, heile Welt eintauchen und verstehen können, warum diese als Rückzugsort bei seelischen Schmerzen dient. Man fühlt sich auch als Leser*in eingepuckt in diese Wohlfühlatmosphäre. Und in dieser wird nach und nach, also in verdaulichen Happen, enthüllt, welche Traumata die Hauptfiguren quälen, wie sie bisher damit umgegangen sind und wie sie weiter damit umgehen wollen. Es wird deutlich, dass Heilung ein Prozess ist, der Zeit braucht und auch Irrwege und Sackgassen beinhalten kann. Die Autorin versteht es, die Traumata ihren Leser*innen nicht schockierend hinzuklatschen, sondern eingebettet in eine gute Atmosphäre schrittweise darzubieten und Möglichkeiten aufzuzeigen, wie man damit umgehen kann.
Die Romantik kommt ebenfalls nicht zu kurz. Auch die Liebe ist ein Prozess, wie der Roman schön zeigt. Und er zeigt auch, dass man nicht perfekt sein muss, um eine Beziehung einzugehen, sondern dass auch Unperfektheiten gut zueinander passen und sogar bei der eigenen Entwicklung helfen können. Humor ist sowieso in allen Lebenslagen eine Hilfe, auch in diesem Roman.
Ebenfalls schön: Der Rockstar wird nicht als abgehobene Person dargestellt, sondern als Mensch wie jede*r andere auch (was Stars eigentlich sind, selbst wenn diese oder die Fans das gern mal vergessen). Garrett hat mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen, nimmt dabei aber irgendwann Hilfe von außen an – ab da beginnt seine Heilung. Außerdem merkt er instinktiv, dass er am besten in einer ruhigen Umgebung als normaler Mensch heilen kann. Das ermöglichen ihm Ani und später auch die Dorfbewohner, indem sie Garretts Identität so lange schützen, wie er es braucht. Bei allen Figuren ist eine Charakterentwicklung zu beobachten – sie entwickeln sich zu ihren Gunsten, auch durch die Hilfe der anderen, weiter und finden letztlich ihren Weg.
Fazit
Der New-Adult-Roman bettet eine sehr gut aufgebaute romantische Beziehung in einen Ort mit Wohlfühlatmosphäre ein, der als Ausgangspunkt für die Heilung der Traumata der Hauptfiguren dient. Spannend und sensibel geschrieben.
Frauen in Speyer. Leben und Wirken in zwei Jahrtausenden. Ein Beitrag von Speyerer Frauen zum Jubiläumsjahr (hrsg. im Jubiläumsjahr der Stadt Speyer 1990)
Zitate zum 8. März (Weltfrauentag)
„Frauen leisten zwei Drittel der Arbeitsstunden, haben ein Zehntel des Einkommens und ein Hundertstel des Eigentums auf der Welt.“ Monika Griefahn
„Einer Frau steht Mut immer gut.“ Antonia Rados
„Ich kann die Stelle in der Bibel einfach nicht finden, in der Gott der Frau die Gleichberechtigung abspricht.“ (Sarah Moore Grimké, geb. 1792)
Spuren von Frauen?
“Wenn wir nun nach konkreten Zeugnissen oder wenigstens Spuren von Frauen suchen, dann erleben wir die Enttäuschung, daß selbst in den ausführlichen und farbigen Schilderungen des Speyerer Reichstages Frauen gar nicht vorkommen. Aber auch die wenigen Kirchenbücher aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die durch die vielfältigen Kriegswirren und Fluchtbewegungen hindurch gerettet werden konnten, bieten nur spärliche Hinweise auf Frauen.” (S. 109)
„Da sind schon wieder keine Frauen drin!“
„Da sind schon wieder keine Frauen drin!“, empörte sich Frauenbeauftragte Friederike Ebli, als sie die neueste Ausgabe der Speyerer Geschichte in Händen hielt. Also beschloss sie, eine eigene Geschichte der Frauen der Stadt Speyer zum Jubiläumsjahr Speyers herauszugeben. Dafür stellte die Stadt aber wenig bis keine Unterstützung bereit, also musste Ebli sehen, wie sie das Projekt auf die Beine stellte und finanzierte. Sie wandte sich also an kompetente Frauen wie Archivarinnen, um die Speyerer Geschichte nach berühmten Frauen und überhaupt nach Frauengeschichte zu durchforsten – und sie wurde fündig. Außerdem arrangierte sie Treffen, an denen an dem Projekt interessierte Frauen teilnehmen konnten. Das erste schon war ein voller Erfolg, denn es kamen viele Frauen von z.T. sehr unterschiedlicher Herkunft und Profession, darunter viele Schwestern, die sagten: „Wir sind auch Frauen!“ Später sind sie zu einem beachtlichen Teil im Buch vertreten und zeigen auf, was die religiösen Frauen für eine tiefgehende nicht nur soziale Wirkung in ihrem Einzugsbereich hatten. Es waren auch Frauen dabei, die aufgrund ihres Berufes Korrektur gelesen oder lektoriert haben und auch sonst ehrenamtlich zu dem Buch beitrugen. Das Cover entwarfen Schülerinnen des Edith-Stein-Gymnasiums im Kunstunterricht. Es zeigt neben dem Zeichen für Weiblichkeit die Krone von Kaiserin Gisela, Gattin von Kaiser Konrad II. – der im Gegensatz zu seiner Frau nicht lesen und schreiben konnte (vgl. u.a. https://www.speyer.de/de/familie-und-soziales/frauen/historische-frauenspuren-in-speyer/kaiserin-gisela/, https://saeulen-der-macht-ingelheim.de/gisela-2/). Entstanden ist so ein Buch, das einen breit gestreuten Blick explizit auf die ignorierte und verdrängte Frauengeschichte wirft und diese wieder aus den Niederungen des Vergessens in das Licht der Erinnerung holt.
Frauen in deutlich mehr Bereichen tätig als in den sozialen
Natürlich fehlt in dem Buch ein Portrait dieser wichtigen Frau nicht, ebenso wenig wie das von anderen kaiserlichen Hoheiten wie Kaiserin Bertha, Beatrix und Agnes. Zunächst beginnt das Buch aber mit einer Spurensuche in der Frühzeit und im römischen Speyer, wo sich leider wenig Spuren finden lassen, auch recht wenig bzgl. einer Göttinnenverehrung.
Es geht weiter mit dem Leben und Wirken katholischer Frauen von den Anfängen bis zur Neuzeit und neuerer Zeit, die oft Frauenbildung fokussiert haben. Es folgt das Leben und Wirken evangelischer Frauen – die ersten Pfälzer Diakonissen stammten aus Speyer. Das Wirken dieser Frauen wird als „umfangreiche und vielseitige christliche Sozialarbeit“ (s. 115) beschrieben. Die evangelischen Frauen seien für die kulturelle und geistige Entwicklung der evangelischen Gemeinden ein wichtiger Schritt gewesen (S. 110).
Auch das Leben und Leiden jüdischer Frauen wird beleuchtet. Danach folgt eine kurze Skizze der Kleiderordnung von 1356 mit dem versuchten Modediktat der Speyerer Ratsherren. Es geht weiter mit dem Erwerbsleben von Speyerer Frauen im Mittelalter, in dem auch die Prostituierten sowie Brotmägde und Brezelfrauen vorkommen und an die wertschätzend und mitfühlend erinnert wird. Ebenso kommen in den Beiträgen Industriearbeiterinnen zu Wort bzw. ihrer und ihrer Lebensumstände wird erinnert (Baumwollspinnerinnen, Zigarrenmacherinnen, Ziegelarbeiterinnen, Frauen in der Konfektionsindustrie und Schuhfabrik, Kampf der Speyerer Frauen bei der VFW-Fokker-Aktion). Ebenso werden Frauen portraitiert, die in den „typischen“ (weil auf sie begrenzten) Frauenberufen tätig waren: Hebammen, Fürsorgerinnen, Lehrerinnen. Aber ebenso gab es Geschäftsfrauen, Künstlerinnen, Politikerinnen, Bademeisterinnen, Schriftstellerinnen, Fotografinnen. Die Frauen werden immer eingebettet in ihre Zeit dargestellt. Als Erziehende werden Lehrerinnen, Philosophinnen, Denkerinnen, Stifterinnen, Gründerinnen und theologisch tätige Frauen (Pfarrersfrauen) genannt.
Ein eigenes Kapitel wird den Frauen im Nationalsozialismus gewidmet. Dort werden sowohl die widerständigen Frauen als auch diejenigen Frauen beleuchtet, die die Nazi-Ideologie mitgetragen haben. Die Nazis wollten die Frauen wieder aus den Berufen und der Politik herausdrängen, um der männlichen Arbeitslosigkeit zu begegnen. Also bauschten sie das Mutterbild einer selbstlosen, opferbereiten Mutter auf, das keine Frau (ohne Schaden zu nehmen) erfüllen kann – und das immer noch in unserer Gesellschaft herumgeistert und Frauen das Leben schwer macht! Mich hat bei dieser Lektüre ein heiliger Zorn gepackt. Ein heiliger Zorn darauf, was Frauen seit der Sesshaftwerdung der Menschheit angetan wurde und immer noch wird. Auch das demonstriert das Buch eindrücklich: die Leidensgeschichte der Frau, die definitiv ohne das Patriarchat nicht in diesem schrecklichen Ausmaß hätte leiden müssen und immer noch leidet (Stichworte: Misogynie, Femizide, Ehrenmorde, Diskriminierung [u.a. auch im deutschen Strafgesetz und im Familienrecht], …)! Aber selbst die Nazis haben es nicht geschafft, die Frau vollständig aus dem Leben zu drängen – trotz gegenteiliger Aussagen wurden Frauen u.a. in der Rüstungsindustrie beschäftigt.
Frauen bleiben über die Jahrtausende im öffentlichen Leben sichtbar, ob man(n) das will oder nicht. Auch das zeigt das Buch: Wie Frauen immer wieder Mittel und Wege finden, trotz z.T. massiver Repressalien präsent zu bleiben und sich gegen die Unterdrückung zu wehren. Es zeigt auch, dass ohne die Frauen die Gesellschaft schon längst zusammengebrochen wäre – und das zeigt es allein durch die Darstellung der Frauenschicksale. Denn diese veranschaulichen sehr gut, dass eine Gesellschaft ohne das weitsichtige Handeln von Frauen zum Scheitern verurteilt ist. Leider wird ebenso deutlich, wie wenig Wertschätzung Frauen für ihre umfassende Wirkweise entgegengebracht wurde und wird. Im Gegenteil: Sie wurde (und wird) auch noch in ihren Tätigkeiten behindert.
Manche Fragen, die ich mir bei der Lektüre des Buches gestellt habe, blieben mir allerdings eine Antwort schuldig: Warum schießen die Stadt und die „hohen Tiere“ quer, wenn die Schwestern versuchen, ihre soziale Mission zu erfüllen? Diese Frage wird im Buch z.B. nicht beantwortet. Ebenso wenig die Frage, warum die berühmte katholische Gläubige Edith Stein ihren Glauben an Gott verloren hat. Und die vielleicht eher banale Frage: Was sammelte der Frauenbund eigentlich?
Bildung der Mädchen – das zentrale weibliche Anliegen
Ansonsten wird das zentrale Anliegen der Nonnen, Schwestern und Frauenbünde immer wieder deutlich: Bildung der Mädchen! Dieser rote Faden zieht sich durch alle Schilderungen von Frauenleben. Aber auch die sichere Vermittlung von Arbeitsstellen an junge Frauen war Thema bei Frauen und die Gewissheit, dass eine Hausfrau eine bessere Mutter ist, wenn sie die Tätigkeiten der Frauenbewegung verfolgt. Die Politik als Sache der Frauen wird von weiblicher Seite aus schon zuvor, aber erst recht nach dem Dritten Reich fokussiert. Auch brisante Themen wie Tschernobyl werden von Frauen angegangen. Es wird immer wieder deutlich, dass Frauen der Schutz der Natur, Frieden, Menschenrechte im Kleinen und im Großen sehr am Herzen liegen. Und genauso wird leider deutlich, dass Chronisten das Leben von Frauen unverständlicherweise für nicht überlieferungswürdig hielten (S. 146).
Bzgl. jüdischer Vorstellungen wird im Buch der Fokus ebenfalls auf das weibliche Leben gerichtet. Die Leser*innen erfahren, dass ein Ehevertrag sowohl Witwen als auch geschiedene Frauen schützen soll. Ebenfalls als Schutz angesehen wird die Vorstellung, dass die Frau „Königin des Hauses“ sein soll. Haus und Frau sind Zellen des jüdischen Glaubens, die Vielehe ist untersagt, Bildung verhindert eine frühe Verheiratung. Die Frau führt den Haushalt und hilft beruflich dem Mann; sie verdient den Lebensunterhalt oft mit. Die Frau wurde vom Gottesdienst erst durch islamisches „Vorbild“ separiert. Mädchen werden gebildet, um zur Regeneration des Judentums beizutragen, und die Frau bildet sich sowohl jüdisch als auch christlich. Der Anteil von jüdischen Mädchen in Töchterschulen ist hoch. Das Buch übt Kritik an der Speyerer Judenfeindlichkeit in der Vergangenheit.
Demonstrationen für ein besseres, lebenswerteres (weibliches) Leben
„Gegen den Brotwucher“ lautete die Parole 1901, um gegen die Erhöhung der Getreidezölle zu demonstrieren. Auch Frauen wollten demonstrieren; sie taten es bei einer Versammlung schließlich auch. Aber ein Polizeiwachtmeister verbot den Frauen, an der Demonstration teilzunehmen – er hatte zwar Erfolg, aber nur unter erregtem, starkem Protest der anwesenden Männer und Frauen mit dem Ruf: „Es lebe die Freiheit!“ Diese Episode zeigt etwas Exemplarisches: Man(n) versuchte immer wieder, Frauen aus dem öffentlichen und politischen Leben herauszudrängen. Bis heute, und das nicht „nur“ in Ländern wie Afghanistan und dem Iran.
Aber auch wirtschaftlich sieht es nicht besser aus: Frauen arbeiten und arbeiteten unentgeltlich oder für einen Hungerlohn – sie bekommen für die gleiche Arbeit deutlich weniger Geld. Das ist – Schande über jede Gesellschaft, die das zulässt – auch heute noch so. Im Buch wird anschaulich beschrieben, welchen Arbeitsbedingungen Frauen ausgesetzt waren. Das ist hart zu lesen, denn die Ausbeutung war enorm, ebenso der gesundheitliche Schaden für die Frauen. Und die Ausbeutung geschah in allen wirtschaftlichen Bereichen! Es tut sich ein Abgrund an unfassbar schlechten Arbeitsbedingungen auf. Im Buch heißt es z.B.: „Die Art und Weise, wie Lehrlinge in der Zigarrenindustrie eingestellt und ausgebildet wurden, spricht allen Begriffen von Lehrling und Lernen Hohn. […] In dieser Lehrzeit, in der von Ausbildung keine Rede sein konnte, bekamen sie nur einen sehr geringen Lohn.“ (S. 209) „Ich atmete die dicke, beißende Tabakluft und übergab mich zum Erbarmen.“ (S. 209) Tabakdunst und Tabakstaub legte sich auf die Arbeiterinnen und in die Lungen. Die vornübergebeugte, sitzende Arbeitsweise mit den Gesichtern direkt über den Händen verursachte das Zusammendrücken der Atmungs- und Geschlechtsorgane und das Einatmen von beträchtlichen Mengen an Tabakstaub – bei geschlossenen Fenstern! Es gibt keine Bestimmungen zum Schutz der Arbeiterinnen.
Auch die Arbeiterinnen in den Ziegelwerken waren unterbezahlt: Sie verdienten an einem Arbeitstag von 6 Uhr morgens bis 19 Uhr abends nach einem Streik wegen immer niedriger werdender Löhne 1, 60 M! Die jüngsten Mädchen von 14 bis 17 Jahren z.B. mussten 5000 Ziegel mit Schiebkarren eine 100 Meter weite Strecke schieben. Außerdem gab es zwar fließend Wasser, das aber unter Strafandrohung nicht zum Waschen benutzt werden durfte. Essen konnte nicht aufgewärmt werden, eine Umkleide gab es nicht.
Dafür bewirkten Ehefrauen durch konsequentes Durchhalten und Kämpfen, dass ihre Männer nicht von VFW-Fokker entlassen wurden, obwohl besagte Ehefrauen kein Stimmrecht hatten. Da zeigt sich, was eigentlich immer gilt: Wenn frau lautstark und konsequent für eine Sache eintritt, stehen die Aussichten auf Erfolg gut. Weswegen Vertreter des Patriarchats immer wieder versuchen, sie in mehrfacher Hinsicht stimm- und mundtot zu machen.
Insgesamt werden in dem Buch Frauen aller Couleur vorgestellt, wie oben schon erwähnt Bademeisterinnen, Fotografinnen, Geschäftsfrauen, Mundartdichterinnen ebenso wie die bekannte Schriftstellerin Sophie von la Roche und Henriette Feuerbach, die für den Maler Anselm Feuerbach wie eine zweite Mutter war. Aber wer kennt heute noch Franziska Möllinger, die erste Fotografin überhaupt? Sie leistete auf zwei Gebieten Pionierarbeit. Zum einen war die Arbeit des Fotografen in den ersten Jahrzehnten eine fast reine Männerarbeit. Frauen waren lediglich Assistentinnen, v.a. wegen der umständlichen, aufwändigen und z.T. gefährlichen technischen Seite des Berufs, denn die belichteten Platten wurden mithilfe von Quecksilberdämpfen entwickelt. Möllinger starb infolgedessen an Lungenschrumpfung. Möllinger war zum anderen die erste Reisefotografin, die die Strapazen des Reisens auf sich nahm.
Fazit
Das in sich abgeschlossene Buch versucht eine möglichst breite Darstellung von Frauenleben in vergangener Zeit zu bieten. Dafür musste aber z.T. tief in der Geschichte gegraben werden. Zudem wird deutlich, dass Frauen zwar vornehmlich im sozialen Bereich tätig waren (auf den sie nach männlicher Sicht auch beschränkt bleiben sollten), es aber immer wieder geschafft haben, aus diesem einengenden System auszubrechen und ihrer eigenen Berufung nachzugehen – unter deutlich mehr Mühen, als Männer auf sich nehmen mussten. Und es wird deutlich, dass Arbeit, die von Frauen verrichtet wird, geringgeschätzt und somit gering oder gar nicht bezahlt wurde – was bis heute ein unsäglicher Zustand ist. Das Buch verschweigt auch nicht die Diskriminierungen, denen Frauen immer wieder ausgesetzt waren, und dies allein durch die Darstellung der einzelnen Frauenschicksale. Sehr gelungenes Buch; es müsste deutlich mehr Bücher dieser Art geben, um das ignorante Schweigen zur Geschichte der Frauen zu durchbrechen. Schön zu hören: Anscheinend ist schon ein Folgeband in Planung.
Ausstellung in Schifferstadt
Dazu schreibt die Stadt:
Vernissage zur Ausstellung “Aus dem Schatten ins Licht” – starke Frauen aus 1000 Jahren Pfälzer Geschichte
Im Rahmen der Frauenwochen anlässlich des Internationalen Frauentags, haben die Gleichstellungsbeauftragten der Stadt die eindrucksvolle Ausstellung nach Schifferstadt geholt.
“Aus dem Schatten ins Licht – starke Frauen aus 1.000 Jahren Pfälzer Geschichte” stellt schlaglichtartig die Lebensbedingungen und Leistungen von 23 ausgewählten Frauen aus gut 1.000 Jahren Geschichte dar. Alle porträtierten Frauen haben einen Bezug zur Pfalz oder zu Gebieten, die historisch einmal mit der Pfalz verbunden waren. Die vorgestellten Frauen stehen exemplarisch für viele andere, meist namenlos gebliebene Heldinnen der Ereignis- und Sozialgeschichte.
Eröffnet wird die Wanderausstellung “Aus dem Schatten ins Licht – starke Frauen aus 1.000 Jahren Pfälzer Geschichte” am Montag, 27. März um 18.30 Uhr im Foyer des Rathauses der Stadtverwaltung Schifferstadt.
Zur Ausstellung:
Obwohl die Gender-Forschung in den letzten Jahrzehnten große Fortschritte gemacht hat und die Leistungen von Frauen in Politik, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft und Alltag in den Fokus gerückt sind, finden sich nur mühsam belastbare Hinweise auf “starke” Frauen in der Geschichte. Denn: Je weiter die Zeiten zurückgehen, desto schlechter ist die Quellenlage. Zu sehr war die Geschichtsschreibung männlich dominiert, zu sehr standen die Frauen im Schatten der Männer, zu sehr lagen ihre Leistungen in wenig öffentlichkeitswirksamen Bereichen: hinter Klostermauern, im Bereich von Haus- und Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe, Kindererziehung und Krankenpflege. Die Schriftstellerin O Zuge der Französischen Revolution 1791 eine “Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin”. Es war ein langer Weg bis ihr Artikel I zur gesellschaftlichen Realität wurde: “Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne ebenbürtig in allen Rechten.” 1903 wurden in der damals bayerischen Pfalz zum ersten Mal Frauen zum Studium zugelassen, 1918 erhielten sie das Wahlrecht. Seit dem Grundgesetz von 1949 sind Männer und Frauen zumindest rechtlich gleichberechtigt. Allerdings brauchten Frauen noch bis 1977 die Zustimmung ihres Ehemannes, wenn sie berufstätig sein wollten. Angesichts der rechtlichen Unterordnung ist es nicht verwunderlich, dass die Lebensleistungen von Frauen entweder nicht wahrgenommen oder als selbstverständlich angesehen wurden.
“Aus dem Schatten ins Licht” wurde von den Stadtmuseen Ludwigshafen und Zweibrücken gemeinsam als Wanderausstellung konzipiert und produziert und ist ab 27. März bis einschl. 21. April zu den Öffnungszeiten im Foyer des Rathauses zu sehen.
Laufzeit der Ausstellung: 27. März bis 21. April 2023
Interessante weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_Guy-Blach%C3%A9
https://de.wikipedia.org/wiki/Frauen_in_der_Wissenschaft
Walt Disneys Mickey Mouse
Walt Disneys Mickey Mouse. Kleine Maus ganz groß. TASCHENs XXL-Ausgabe zu Walt Disneys Mickey Mouse ist die wohl umfangreichste Publikationen über das Disney-Universum einer kleinen Maus aus New York. Über 1.250 Illustrationen, darunter die allerersten Entwürfe, Animationszeichnungen, Storyboards, Hintergründe, Plakate und zahlreiche Fotografien sowie Informationen über alle rund 122 Zeichentrickfilme und die zeitlosen Comicabenteuer in einem Band.
Alles begann mit einer Maus
Zudem werden alle Künstler, die Mickey je Leben eingehaucht haben – ob im Trickfilm oder Comic – vorgestellt. Denn seit der kleine Mäuserich das erste Mal, am denkwürdigen Abend des 18.11.1928, in dem Cartoon Steamboat Willie in New York über die Kinoleinwand flimmerte war sein Siegeszug nicht mehr aufzuhalten. Aber eigentlich stammt die Maus gar nicht aus der großen Stadt, sondern aus Kansas City, Missouri. Denn dort wurde ihr Schöpfer Ub Iwerks 1901 geboren. Übrigens ein Name,
Der sich aus seinen ostfriesischen Wurzeln erklärt, denn sein Vater war in die USA ausgewandert. Ub Iwerks war ein Jahrgänger des berühmten Walt Disney und auch sein erster Angestellter. Ihm wurde 1999 auch der Dokumentarfilm “The Hand Behind the Mouse: The Ub Iwerks” gewidmet, denn er war maßgeblich am Erfolg der Disney-Studios beteiligt, obwohl er sich 1930 von Disney getrennt hatte. Nach dem Misserfolg seines Iwerks-Studios kehrte er aber 1940 zu Disney zurück. “Steamboat Willie” (1928) gilt als der erste vertonte, öffentlich aufgeführte Zeichentrickfilm mit einer Cartoonfigur.
Micky Maus, der Musterknabe
Der Erfolg von Micky Maus und seine Freunden könnte aber auch damit zusammenhängen, dass viele Menschen währende der Großen Depression Trost in den lustigen Abenteuern der kleinen Maus suchten, denn bereits 1935 war Disney ein millionenschweres Unternehmen. Das war aber nicht nur den Filmen, sondern auch den Comic-Strips zu verdanken, die auch in Deutschland schon ab 1930 erschienen. Diese “Parallelaktion”, die mit der Filmabteilung bei Disney nicht abgesprochen war, sei vor allem dem Zeichner Floyd Gottfredson zu verdanken gewesen, wie Brancheninsider verlauten ließen. Das Erfolgsrezept der Figur beruht übrigens auf einer einfachen Wahrheit: Der vormals leichtfertige Mickey wurde immer mehr seiner jugendlichen und wilden Eigenschaften beraubt und diese dann neuen Figuren, meist Gegenspielern überschrieben. So konnte die Zensur umgangen werden und es entstanden Pluto als Prügelknabe, Goofy als Dummerchen, Donald Duck als Choleriker und Faulpelz oder Kater Karlo als Bösewicht. Übrig blieb Micky Mouse als Musterknabe und Identifikationsfigur für die amerikanische und europäische Jugend.
Walt Disneys Mickey Mouse: Inhalt
Die vorliegende TASCHEN XXL-Publikation feiert (fast) 100 Jahre der berühmtesten, pfiffigsten und charmantesten Maus der Welt mit einer Neuausgabe einer der umfangreichsten illustrierten Biografien, die es je zu dieser Comicfigur gegeben hat. Aus dem Inhalt: Mickey im Zeichentrickfilm, Mickey im Comicstrip, Mickey im patriotischen Einsatz während des Zweiten Weltkriegs, sein Auftritt als Zauberlehrling in dem abendfüllenden Spielfilm Fantasia, einer ambitionierten und unvergesslichen Visualisierung klassischer Musik, Mickey im Radio, im TV (The Mickey Mouse Club) u.v.m. Der Disney-Konzern (ursprünglich als Disney Brothers Cartoon Studio gegründet) besteht inzwischen aus Disneylands in der ganzen Welt und macht sowohl Kinder als auch Erwachsene glücklich. Nicht nur in Zeiten der (Großen) Depression. Einen Umsatz von 74,8 Milliarden US-Dollar ist der Konzern schwer, bei einem Gewinn von 10,4 Milliarden US-Dollar. Einer der fünf größten Medienkonzernen der Welt und laut den Forbes Global 2000 auf Platz 36 der weltgrößten Unternehmen (Stand: 2020). „Ich kann nur hoffen, dass wir eine Sache nie aus den Augen verlieren: dass es alles mit einer Maus begann.“, soll Walt Disney einmal rückblickend auf sein Imperium gesagt haben.
David Gerstein, J. B. Kaufman, Daniel Kothenschulte
Walt Disneys Mickey Mouse. Die ultimative Chronik
Hardcover, 25 x 34 cm, 3,16 kg, 496 Seiten
ISBN 978-3-8365-8356-5 (Deutsch)
ISBN 978-3-8365-8355-8 (Englisch)
Taschen Verlag
€ 60 | CHF 60
Großmutters Haus
Großmutters Haus. Der aus dem Waldviertel stammende Autor ließ zuletzt (2023) mit einem amüsanten Roman über zwei alte Männer aufhorchen, die sich ihren Lebensabend mit der Gesellschaft einer gewissen Julia versüßen. Aber auch zuvor schon hat sich der fleißige Essayist immer wieder interessanten Außenseitern unserer Gesellschaft gewidmet. Darunter etwa ein ein Roman über die Jenischen, die fahrenden Gesellen, in “Fuchserde” (2008), aber auch der Hanf anpflanzenden Großmutter von Malina, seinem alter ego.
Großmutters Haus: Refugium der Triebe
Für “Großmutters Haus” schlüpft der Erzähler Sautner in die Rolle einer Frau, der jungen Malina, die von ihrer tot geglaubten Großmutter, Kristyna, eines Tages ein großes Paket bekommt. Bald findet sie heraus, warum ihre Großmutter in ihrer Verwandtschaft eine “persona non grata” angesehen wird und gerne totgeglaubt wurde, aber im Gegenteil sehr lebendig ist. Sie ist nämlich zu genau jener verrückten alten Frau geworden, die schon Brecht in seiner Kurzgeschichte “Die unwürdige Greisin” 1939 beschrieb: Eine Frau, die sich über alle Konventionen hinwegsetzt und einfach das tut, was sie will. So nimmt sie sich nicht nur mehrere Liebhaber, sondern pflanzt in ihrem Haus im Wald auch noch ein Kraut an, das für manche Spießbürger einige Offenbarungen bereithält. Wenn wir hier von “Trieben” sprechen, sind also durchaus auch pflanzliche und nicht nur menschliche gemeint.
Zeit: eine physikalische Wechselbeziehung
Drei Sorten sind es sogar, die sie eigenhändig kreiert: die “Godfather5000”, die “Sputnik” und die “Able”. Alle drei haben unterschiedliche Auswirkungen und natürlich hängt es auch von dem ab, der sie raucht, was mit ihm oder ihr dann passiert. Malina zum Beispiel verliebt sich in Jakob, den schweigsamen Besucher ihrer Großmutter, der ihr immer wieder unter die Arme greift. Manchmal noch mehr. Aber es gibt ja auch noch andere Männer, die Kristyna besuchen, während Malina über die Literatur, das Bücher lesen und den Sinn des Lebens nachdenkt. An einer Stelle setzt sie sich etwas mit der Zeit auseinander und begreift, dass diese ein Teil von uns ist. “Ich denke, dass die Zeit uns ausmacht” beschließt sie eines abends, es sei wie eine physikalische Wechselbeziehung, denn auch wir würden sie beeinflussen, nicht nur sie uns. “Wenn ein Bild, ein Buch, eine Lebenszeit glückte, waren Inhalt und Form eins“. Form follows function, FFF, der Designleitsatz aus dem Produktdesign und der Architektur wird für Marina zum Lebensmotto. “Die Form folgt immer der Funktion, und dies ist das Gesetz. Wo die Funktion sich nicht ändert, ändert sich die Form nicht.“, wusste Louis Sullivan schon 1896. Aber was bedeutet das Sullivan-Axiom für das Leben im Allgemeinen und für Malina im Speziellen?
Anker in stürmischer See
Die durchwegs amüsante Geschichte von Krystina und ihren unterschiedlichen Liebhabern wird für ihre Enkelin Malina zum formgebenden Erlebnis ihrer Adoleszenz, ihrem “Coming of Age”, wie dieser Lebensabschnitt in dem sie sich befindet gerne genannt wird. Denn es sind vor allem die Freunde und das soziale Milieu der Großmutter, die Marina für ihr Leben prägen werden und einen wichtigen Einfluss auf ihre Genese haben. Malina hat Glück, dass sie eine so coole Großmutter hat, denn das ist eine Ressource, die ihr immer wieder nützlich sein wird. Der Generationenvertrag sollte noch einmal neu überdacht werden, neu geschrieben werden. Vielleicht sind “Zwei alte Männer” (2023) und “Großmutters Haus” (2019) beide ein Plädoyer dafür, alte Menschen wieder mehr in unseren Alltag zu integrieren. Denn sie sind eine unglaubliche Ressource für uns alle. “Der Mond stand am Himmel wie eine Schüssel dampfende Vanillemilch”, schreibt Thomas Sautner. Sie, die “Alten”, sind die eigentliche “Tätowierung”, die sich unser Fleisch eingebrannt haben, die “ein Anker (sind), der sie (uns) während der Fahrt auf das offene Meer an daheim erinnerte, an den sicheren Hafen, den es gab, geben musste, irgendwo“. Gut immer wieder daran erinnert zu werden, dass man wo hingehört.
Thomas Sautner
Großmutters Haus. Roman
2019, Hardcover, 252 Seiten
ISBN 978-3-7117-2076-4
Picus Verlag
€22,00