Wie durch ein dunkles Glas.

Verseuchte Schönheit

Es funktioniert mittlerweile wie ein Familientreffen: Man möchte erfahren, wie sich die beiden Kinder des sympathischen Kommissars entwickelt haben und was seine belesene Gattin Paola treibt. Geht es Vianello, dem mittlerweile zum Inspektor beförderten Kollegen von Brunetti gut? Sogar der spießig-schleimige Vize-Questore Patta ist einem über die Jahre ans Herz gewachsen. Ganz zu schweigen von der ebenso klugen wie durchtriebenen Signorina Elletra. Man möchte fast glauben, Donna Leon habe extra für ihr deutsches Lesepublikum das Personal für eine venezianische “Lindenstraße” entwickelt. Gäbe es da nicht den Einbruch der Realität in diese Puppenstube, wäre diese Krimireihe mittlerweile allerdings eher zum Gähnen.
So sehr Venedig als Bühne für Leon´s Geschichten sowohl Klischee als auch Realität ist, so sehr sind die Krimis mit dem Kommissar Brunetti zugleich harmlose „Sittengemälde“ und -glücklicherweise – bissige, zum Teil sarkastische Kommentare der hinter den Fassaden waltenden Wirklichkeit. Bitterböse fallen diese Kommentare in der Regel allerdings nicht aus – Leon ist eben nicht Highsmith.
Lesegenuss entsteht unzweifelhaft bei fortgesetzter Lektüre der Abenteuer des braven Commissario. Dies ist sowohl dem Gefühl von Zugehörigkeit zu einer „Gemeinde“ von treuen Leserinnen und Lesern geschuldet, als auch durch das Lokalkolorit, das Geschichten aus Venedig zweifellos zu vermitteln in der Lage sind. Spannung entsteht durch die mit politischer Aktualität und Brisanz angereicherte Stimmung eines Kriminalfalls nebst allen denkbaren “italienischen” Verwicklungen, Verstrickungen und bürokratischen “Besonderheiten”.
Dieses Mal erfahren wir von Verunreinigungen, ja Verseuchungen der Lagune von Venedig. Diese werden durch den petrochemischen Großbetrieb in Mestre, dem Industriestadtteil Venedigs, der auf dem Festland liegt, verursacht. Aus der Produktion dieser Mammutfabrik fließen seit Jahrzehnten unterschiedlichste, zum Teil hochgiftige Stoffe in die Lagune und verpesten sie nach und nach.
Aber auch die venezianischste aller Industrien gerät im neuesten Buch von Donna Leon unter einen bösen Verdacht: Die Glasproduktion in Murano. Dort spielen die Inhaber zweier Glasmanufakturen eine unrühmliche Rolle. Einer ihrer Angestellten forscht nach Ursachen für die Behinderung, mit der eines seiner Kinder geboren wurde – und glaubt sie in toxischer Verunreinigung durch die Glasproduktion gefunden zu haben. Eines Nachts wird dieser als Nachtwächter arbeitende Angestellte tot vor den höllisch heißen Glasöfen vorgefunden…


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Diogenes Zürich

Italienische Verhältnisse

Von wegen “bella figura”

„(…)Mit Hilfe seiner Zeitungen, seiner Fernsehstationen, seiner Abgeordneten (er hatte nämlich eine Partei gegründet) entfesselte der Cavaliere eine wilde Kampagne gegen die Staatsanwälte, die gegen ihn ermittelten, und bezichtigte sie, ein parteiisches Recht auszuüben. Er selbst bezeichnete sich als politisch Verfolgten.
Er tat so viel und sprach so viel, daß viele Italiener ihm Glauben schenkten.
Dann, eines Tages, geschah, was allen widerfährt: er starb. Im Jenseits wurde er in ein schmuckloses Zimmer geführt. Dort stand ein wackliger Tisch, hinter dem auf einem Strohstuhl ein heruntergekommenes Männlein saß.
„Du bist der Cavaliere?“ fragte das Männlein. „Mit Verlaub“, sagte der Cavaliere verwirrt durch diesen vertrauten Ton. „Sagen Sie mir zuerst einmal, wer Sie sind.“ „Ich bin der Höchste Richter“, sagte das Männlein leise. „Und ich lehne Sie ab!“ schrie der Cavaliere umgehend, der zwar sein gesamtes Haar, sein Fleisch, seine Knochen verloren hatte, nicht aber sein Laster.“

Wer da als „Cavaliere“ daherkommt, ist niemand anderer als der zweifache Ministerpräsident Italiens, Medienmoguls und notorische Gerichtsbeschimpfer und nun bald wieder-Ministerpräsident Italiens, Silvio Berlusconi. Der Autor dieser oben zitierten Zeilen wiederum niemand geringeres als der derzeit wohl berühmteste, lebende Autor Italiens, Andrea Camilleri.
Dem deutschen Lesepublikum ist Camilleri vor allem als Schöpfer des überaus beliebten „Commissario Montalbano“ bekannt, jener Kriminalromane, die Sizilien auf unnachahmliche Weise in ein Licht stellen, dass zumindest partiell nicht von Mafia und anderen Furchtbarkeiten dominiert wird.
Andrea Camilleri gehört aber auch zu den engagiertesten und wortmächtigsten Kritikern Berlusconis. In vielen Ausätzen, Artikeln, Parabeln und Kurzgeschichten, die zumeist in Zeitschriften erscheinen, geißelt er nicht nur die geradezu „schulbübische Dreistigkeit“ des Medienmoguls Berlusconi. Camilleri zeichnet mit seinen Texten auch ein Bild seines Vaterlandes und seiner Landsleute, das zumindest schlaglichtartig in der Lage ist, die mehr als berechtigte Frage zu beantworten, wie es denn sein kann, dass die Bewohner eines der schönsten Länder Europas, in dem Wert gelegt wird auf gute Küche, geschmackvolles Design und eine „bella figura“ so ein Parvenü nun dreimal zum Regierungschef gewählt werden konnte.
Wer die Geschichten in dem hier ohne Vorbehalte empfohlenen, schon 2006 erschienen Band „Italienische Verhältnisse“ von Andrea Camilleri liest, wird ein Panoptikum italienischer Skurrilitäten, Lebensentwürfe, Verhaltensweisen und Realitäten vor Augen geführt bekommen. In dieser bunten Vielfalt, zum Teil liebenswerten Skurrilität aber auch in der Widersprüchlichkeit liegt der Schlüssel zum Verständnis. Italien ist das Land, in dem die Zitronen blühen. Italien ist aber auch das Land, in dem Senatoren im Parlament Schampusflaschen köpfen, weil der politische Gegner eine Abstimmungsniederlage erlitten hat oder auch schon mal nicht sprichwörtlich, sondern im Wortsinne handgreiflich werden.

In dem Taschenbuch, das im Wagenbach-Verlag erschienen ist, werden insgesamt 22 Texte Camilleris, sortiert in vier Kapitel, dem deutschen Publikum erstmals in deutscher Übersetzung zugänglich gemacht. Ein Text mit den Lebensdaten Camilleris, Anmerkungen zu Namen und Fakten, die in den Texten eine Schlüsselrolle spielen, sowie ein ausführliches Quellenverzeichnis helfen, dem Text-Verständnis auch noch eine politisch-historische Einordnung hinzuzufügen.


Genre: Politik und Gesellschaft
Illustrated by Klaus Wagenbach Berlin

Vita Nuova

Tiefe Abgründe auf den Hügeln von Florenz

Salva Guarnaccia, Maresciallo der Carabinieri in Florenz, ermittelt in einem Mordfall, der in einer der herrschaftlichen Villen verübt wurde, die auf den Hügeln rund um Florenz liegen. Auf den Hügeln oberhalb Florenz leben jene vermögenden Fiorentiner, die sich den für gute Luft und soziale Distinktion notwendigen Abstand zur Toscana-Metropole leisten können. Müssen die normalen Einwohner von Florenz im Sommer in ihrer im Talkessel gelegenen Stadt mit Smog, Touristenüberfall und Bruthitze leben, so können die Anderen Sommerfrische, Swimmingpool und Aussicht auf die Renaissance-Stadt genießen. Dass aber diese vormaligen Adelssitze auch eine Art Strafkolonie darstellten, weil die selbstbewussten Bürger von Florenz in der Renaissance ihren Adel aus der Stadt und aufs Land jagten, ist heute, ausserhalb historischer Seminare, kaum bekannt. Mit Guarnaccias Mordfall hat das auch streng genommen wenig zu tun. Allerdings taugt diese Anmerkung als grimmiger Kommentar – als ob auf dem Haus, in dem der Mord stattfand, kein Segen liegen würde.
Dass dem tatsächlich so ist, wird auf den insgesamt 322 Seiten in fast bedrückender Weise deutlich. Guarnaccia bekommt es mit tiefsten Abgründen zu tun, in die er gezwungen wird hinabzuschauen. Die Tote ist die älteste Tochter des wohlhabenden Besitzers. Ermordert wird Sie wird am helllichten Tag im eigenen Haus. Die Familienverhältnisse in diesem Haus sind so, dass man sie im wahrsten Sinne des Wortes Grauen erregend nennen kann. Der Reichtum, mit dem das Haus gekauft wurde, stammt nicht aus ererbtem Wohlstand sondern resultiert aus einem gänzlich anderen Milieu. Der Maresciallo bekommt es mit Zwangsprostitution, Geldwäsche und Korruption zu tun.
Das aus solch furchtbaren Umständen keine im Klischeehaften untergehende Geschichte wird, ist der schriftstellerischen Größe der Autorin Magdalen Nabb zu verdanken. Sie hat es auch schon in den dreizehn vorhergegangenen Folgen dieser Kriminalroman-Reihe vermocht, mit Maresciallo Guarnaccia eine Figur zu erschaffen, die als „Typ“ funktioniert, und ein (literarisches) Leben entwickelt, das man unbedingt verfolgen möchte. Zugleich sind die Inhalte ihrer Geschichten so gewählt und gestaltet, dass sie sich zwar sehr nah an die Realität heranpirschen, diese aber nicht zu spiegeln vorgeben. Magdalen Nabbs Kriminalromane leben, auch wenn man sich als Rezensent wiederholt, nicht vom Plott. Frau Nabb hat einfach gute Literatur geschrieben. Wie wenig einfach das ist, lässt sich gerade im Kriminalfach tausendfach nachlesen…

Als ob Magdalen Nabb eine Vorahnung gehabt hätte, lässt Sie ihren Helden im Verlaufe seines vierzehnten Falles ein Kündigungsschreiben formulieren.
Magdalen Nabb starb unerwartet 2007 in Florenz an einem Hirnschlag. Wer ihre Romane noch nicht kennt, sollte nach der Lektüre dieses neuen Romans mit der nachholenden Lektüren der anderen dreizehn Bücher beginnen.


Genre: Kriminalliteratur
Illustrated by Diogenes Zürich

Der Ruinenwächter von Havanna

\"Ponte

Ponte liest. Foto: © Wilhelm Ruprecht Frieling

In seinem satirischen Roman »Unser Mann in Havanna« schreibt Graham Greene seinem Protagonisten James Wormold, einem als Staubsaugervertreter getarnten britischen Geheimagenten, ins Tagebuch: »Es war an der Zeit … seine Sachen zu packen und die Ruinen von Havanna zu verlassen«. Anders als Wormold verlässt Pontes Protagonist Havanna zum vollkommenen Unverständnis seiner Freunde nicht. Vielmehr hält er es mit Maupassant, der Frankreich wegen des Baus des von ihm und anderen Künstlern als »Schandfleck« bezeichneten Eiffelturms verließ, dann jedoch zurück kehrte und häufig im Restaurant der Stahlgiraffe anzutreffen war. Dies war nach seinem Bekunden der einzige Platz in Paris, wo er den Turm nicht sehen musste.

Antonio José Ponte versteht sich selbst als »Ruinologe«. Der in Kuba mit Preisen und einer Literaturprofessur geehrte Autor ist dort inzwischen in Ungnade gefallen und lebt seit 2006 im Madrider Exil. Er wurde vom kubanischen Schriftstellerverband »deaktiviert«, damit bleibt er zwar formal Mitglied, darf jedoch weder publizieren noch Ehrenämter bekleiden. »Der Ruinenwächter von Havanna« ist seine erste in deutscher Sprache vorliegende Publikation.

Ponte unternimmt literarische Streifzüge durch Havannas Altstadt auf den Spuren von Graham Greene, Jean Paul Satre und Ry Cooder. Er beschreibt die Altstadt der kubanischen Hauptstadt als einen Unfall in Zeitlupe, als ein unaufhaltsames Zerbröseln von Bausubstanz, von Gebäuden und Quartieren. Über Jahre häufte sich ein Berg von Problemen an, der auch durch die Einrichtung neuer Museen und von Bars, die sich bei näherem Hinsehen selbst als Museen entpuppen, nicht abgetragen wurde. Ponte meint, die größte städtebauliche Leistung durch die Revolutionsregierung bestehe darin, Havanna seinen Bewohnern entfremdet zu haben: »Derart fremd geworden, dass niemand sich für die Stadt verantwortlich fühlt, wird sie aus der Ferne vermisst«.

Der Autor beobachtet das Entstehen von etwas, das er »horizontale Ruine« nennt: nicht einzelne zusammen stürzende Gebäude, sondern eine ganze Stadt, die sich flächendeckend in eine gigantische Ruinenkonstruktion verwandelt, in der immer wieder der Strom ausfällt. Jahrelang leuchtete ganz oben an der Fassade des Bauministeriums die Losung »Revolution ist Bauen«. Allerdings wird die Ära Castro nach Ansicht des Autors wohl ohne bemerkenswerte bauliche Hinterlassenschaften zu Ende gehen; es fehlt sowohl an Verantwortungsbewusstsein für die Rettung der Altstadt als eine Architektur der Moderne.

Letztlich besteht der Irrtum der sozialistischen Wohnungspolitik darin, den Bewohnern die Verantwortung über den Wohnraum zu überlassen, die den vorherigen Eigentümern genommen wurde. Doch die neuen Besitzer, die in Havanna teilweise sogar ihre eigene Miethöhe festsetzen durften, verhalten sich wie Tauben: sie verlassen die Gebäude, sobald sie vollends unbewohnbar geworden sind und flattern durch die Löcher in den Dächern, um den nächsten freien Winkel zu besetzen.

Wann wird ein Gebäude zur Ruine, fragt Ponte und antwortet: »Man steht von dem Moment an vor einer Ruine, wenn die Schäden an einem Gebäude unwiderruflich sind. Wenn es nicht mehr das Verlangen nach Wiederaufbau weckt, hat das Gebäude angefangen, zur Ruine zu werden. Das Zeichen ist ein Sims, der unter allgemeiner Teilnahmslosigkeit am Boden landet, oder das nicht zur Kenntnis genommene Abfallen eines Balkons.«

Abseits aller Revolutionsromantik um Fidel Castro, Camilo Cienfuegos und Ernesto Che Guevara und dem von der Buena-Vista-Rhythmik beschworenen Mythos wird mit diesem ungewöhnlichen Werk das Ende eines Systems an einem seiner schwächsten Punkte karikiert: an seinem Umgang mit dem Altern der Hauptstadt. Der »Ruinenwächter von Havanna« ist ein romanhafter Essay mit verstörendem Effekt auf den Leser und sicherlich eines der ungewöhnlichsten Zeugnisse der aktuellen kubanischen Literatur.

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Genre: Romane
Illustrated by Kunstmann München

Alternative Medizin

Standen sich noch vor wenigen Jahren Schul- und Alternativmediziner wie feindliche Lager unversöhnlich gegenüber, so sind die Grenzen mittlerweile in Fluss gekommen. Es ist nicht mehr ungewöhnlich, wenn niedergelassene Ärzte Akupunktur anbieten und statt »harter Hämmer« ebenso wirksame sanfte Präparate aus der Natur verordnen. Dieser Entwicklung folgend, mit der im Alltag für eine wachsende Zahl von Menschen alternative Medizin einen immer größer werdenden Stellenwert einnimmt, hat sich Brockhaus entschieden, ein Lexikon über Heilsysteme, Diagnose- und Therapieformen sowie Arzneimittel zum Stichwort »Alternative Medizin« aufzulegen.

Im deutschsprachigen Raum verwenden viele Menschen die Begriffe Naturheilkunde bzw. –verfahren, wenn sie generell die »andere Medizin« meinen. Dabei sind bereits viele dieser Methoden in die konventionelle therapeutische, präventive und rehabilitative Medizin integriert. Hydro-, Thermo-, Phyto-, Bewegungs- Ernährungs- und Ordnungstherapie haben längst einen festen Platz in der Schulmedizin. Die Sammelbezeichnung »Alternativmedizin« umfasst diagnostische und therapeutische Verfahren, deren grundlegende Konzepte naturwissenschaftlich nicht oder nur in Ansätzen erklärt werden können.

Mit 3.500 Stichwörtern von ABC-Pflaster bis zytosplasmatische Therapie fasst Brockhaus das spezifische Vokabular kompetent und allgemeinverständlich zusammen. Damit liegt eine gebündelte Information zu einem expandierenden Gesundheitsbereich vor, die dem Patienten helfen kann, sich vor Scharlatanen zu schützen und Maßnahmen zu finden, deren Risiken, Nebenwirkungen und Chancen überschaubar sind und den gewünschten Erfolg bewirken.

Was sind Globuli, und wozu dienen sie? Um was handelt es sich bei Therapieformen wie Ayurveda oder Traditionelle Chinesische Medizin (TCM)? Was leisten Heilmittel wie Bachblüten, und was verspricht die Edelsteintherapie? Brockhaus liefert Antworten.

Dabei geht es den Verfassern nicht nur um die Erläuterung relevanter Stichworte. Es werden auch Anleitungen zur Eigenbehandlung bei leichten Störungen gegeben, Wirkungen von Heilkräutern erläutert sowie die verschiedenen Diagnose- und Therapieformen dargestellt.

Wer sich ganzheitlich und wirksam behandeln lassen will und dazu objektive Informationen braucht, der findet in dem umfangreichen Lexikon einen verlässlichen Begleiter.


Genre: Gesundheit
Illustrated by Brockhaus Leipzig und Mannheim

Mein Leben als Suchmaschine

Freitag früh. Sitze in der Küche und schaue aus dem Fenster. Schalte das Radio an. Spricht ein Mann drin. Redet über Lemgo. Klingt ziemlich monoton. Laut Ansager ist er »der lustigste Mann der Welt«. Na ja.

Fahre meinen Rechner hoch. Aktualisiere meine Podcasts. Da spricht der Typ schon wieder. Nennt sich »Horst Evers«.

Jetzt klingelt es zum Überfluss auch noch an der Tür. Der Postbote bringt ein Buch. Is ne Neuerscheinung. Mit Sperrvermerk. Stammt auch von diesem Evers. Muss ich lesen. Mist. Jetzt soll ich also auch noch arbeiten!

Schalte das Radio wieder aus.

Horst Evers, Träger des Deutschen Kleinkunstpreises 2008 und anderer Würden, hat es nach jahrelangem Tingeln durch Dorfschenken und Lesebühnen geschafft, sich an die Spitze der deutschsprachigen Geschichtenerzähler zu lesen. Seinen Stil beschreibt er in einer seiner Kurztexte selbst: »Kaum mehr Lust auf ganze Sätze. Für Verben zu müde. Objekt? Selten.«

Evers erzählt Geschichten. Sie sind kurz, vielleicht drei Minuten lang, und sie entfalten ihren Charme besonders, wenn der Verfasser sie selbst vorträgt. Dann betritt ein blasser, nahezu kahlköpfiger, tendenziell übergewichtiger Mann im roten Hemd die Bühne. Sein bloßes Erscheinen löst bereits Gelächter bei Stammhörern aus. Er spricht in bedächtiger Art und wirkt dabei so, als schaue er dem eigenen Gedanken bei dessen träger Entwicklung zu. Ihn kennzeichnet Lethargie und Schluffigkeit, und wüsste man es nicht besser, man würde ihn eventuell sogar für einen Trottel halten.

Horst Evers beschreibt sich in seinen Geschichten gern als naive Figur mit Sinn für alltägliche Schicksalsschläge. Häufig kommt sein Fahrrad abhanden, weil er vergisst, wo er es zuvor angekettet hat. Geschieht ihm derartiges bei einem seiner geliebten Kneipenbesuche, kehrt er zur Theke zurück und säuft weiter, da sich bekanntlich die meisten Probleme von selbst lösen. Gern verlegt er auch Kleidungsstücke, die er dann verzweifelt sucht. Im Ergebnis empfindet er sein gesamtes Leben als Suchmaschine und findet so auch den Titel seiner inzwischen dritten Geschichtensammlung in Buchform.

Wer allerdings hinter dem Buchtitel eine Sammlung von Storys rund um die EDV vermutet, der irrt. Evers ist vielmehr Spezialist für das Alltägliche. Er schildert die kleinen Irrungen und Wirrungen des Lebens und dehnt diese gern bis in die letzte Gehirnwindung aus. Im Schneckentempo seiner gedanklichen Entwicklung liegen der Reiz und auch der Witz des Everschen Humors. Er versteht es, kleine absurde Begebenheiten und Beobachtungen aus dem Alltag geschickt zu pointieren und zu humorvollen Anekdoten oder Liedtexten zu verarbeiten. Dabei gelingt es ihm, im Alltäglichen das Phantastische zu entdecken und dem Leser ein Schmunzeln zu entlocken, weil er sich wieder erkennt. Das ist die unnachahmliche Stärke des Autors und Kabarettisten aus Berlin.

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Genre: Humor und Satire
Illustrated by Eichborn Verlag

Schmutz

Eugen Egner ist ein Multitalent. Er hat sich als Zeichner einen Namen gemacht, er tritt als Gitarrist auf und schreibt Romane und Geschichten. Bislang war es der Lesergemeinde des Medienkaufhauses Zweitausendeins vorbehalten, seine Werke zu goutieren. Jetzt meldet sich Egner in der Edition Phantasia mit Erzählungen unter dem Titel »Schmutz« zu Wort. Wie beim letzten Band sind es neun Geschichten, die der Autor versammelt. Es sind Erzählungen, die im Alltag meist männlicher Protagonisten spielen und sich plötzlich und unerwartet ins Absurde und Grausige bewegen.

Da fühlt sich Martin, der mit seiner neuen Flamme Nora die erste Nacht verbringt, von rätselhaften Gegenständen verfolgt, die »Gemütsbrand« verursachen. In »Schnee« glaubt sich ein älterer Herr von seinem Nachbarn bedroht, den er für einen Yeti, einen abscheulichen Schneemenschen, hält. Sein Sohn will helfen und hört in der Nacht, als leise Schnee fällt, seltsame Geräusche vor dem Haus. Er tritt ins Freie, und sein Leben verändert sich schlagartig. In »Sichtbarmachung« versucht ein Zeichner, Bilder zu Papier zu bringen, die sein Auftraggeber in einer Art Privatvorführung in einem alten Fernsehgerät gesehen haben will. Dieser seltsame Auftraggeber landet im Zuge der Arbeit, seines Verstandes restlos beraubt, auf einer Müllkippe.

Es sind Elemente von Verfall, Untergang und Dreck, die Egner zu eigenem Leben erwachen lässt. In seiner Titelstory »Schmutz« versinkt ein junger Mann in Abwesenheit seiner Frau im Unrat. Plötzlich pocht eine Gestalt aus seiner Vergangenheit an seine Tür, und er trifft seinen längst verstorbenen Vater, der in einer seltsamen Halbwelt haust. Traum und Wirklichkeit beginnen, sich zu mischen.

Der umfangreichste und mit Abstand literarisch stärkste Text der Sammlung heißt »Schulfest«. Ein Buchillustrator, dessen Leben sich nach einer Trennung aufzulösen beginnt, besucht einen Bahnhof, der ebenfalls im Verfall begriffen ist. Ein Junge lockt ihn zu einem auf einem Abstellgleis stehenden Geisterzug, der sich darauf in Bewegung setzt. Dort lernt er den einzigen Fahrgast kennen, der ihn erwartet zu haben scheint und ihn auf der Stelle als Zeichenlehrer für seine Schule einstellt. Diese Bildungseinrichtung entpuppt sich als Geisterhaus. Lediglich eine Handvoll Schüler wird unterrichtet, und es gibt außer dem Schulleiter, seiner schrecklichen Sekretärin und dem neu eingestellten Lehrer nur einen einzigen Pädagogen, der aber völlig verwirrt ist. Immer tiefer gerät der Zeichenlehrer in den Sog der geheimnisvollen Schule, die sich angeblich auf ein großes Schulfest vorbereitet. Bald ahnt der frisch gebackene Lehrer, dass auch hier sich alles um ihn herum aufzulösen beginnt … »Schulfest« ist der heimliche Höhepunkt der Sammlung und hat kafkaeske Dimensionen.

Bereits mit seinem letzten Buch »Nach Hause« vollzog Egner eine Wendung ins Makaber-Phantastische, die er jetzt mit »Schmutz« konsequent fortsetzt. Seine Geschichten sind zwar durchaus ähnlich gebaut, doch es gelingt ihm stets, seinem Helden, und damit dem Leser, den Boden unter den Füßen zu entziehen und ihn zu verwirren.

Egners Texte verstören den Leser. Er stürzt ihn in eine gewisse Ratlosigkeit über die Hintergründigkeit einer Welt, in der vieles nicht so ist wie es scheint. Wie in einem Albtraum bewegen sich seine Protagonisten durch ein Labyrinth undurchsichtiger Verhältnisse und sind anonymen Mächten ausgeliefert. Verflucht doppelbödige Texte!


Genre: Humor und Satire
Illustrated by Edition Phantasia Bellheim

Vergebung

„Vergebung“ ist ein Buch, dass man nicht so schnell aus der Hand legen kann oder es klingelt an der Tür und der Geldbriefträger will den Hauptgewinn abgeben und man öffnet nicht, da das Buch bis zur letzten Seite derart spannend ist, dass man das Klingeln einfach überhören muß. Ehrlich!

Worum geht’s?

Die Ermittlerin Lisbeth Salander steht unter Mordverdacht. Ihr Partner Mikael Blomkvist schwört, ihre Unschuld zu beweisen. Er weiß, dass es um Salanders Leben geht. Als seine Ermittlungen die schwedische Regierung in ihren Grundfesten zu erschüttern drohen, setzt er alles auf eine Karte. Nach “Verblendung” und “Verdammnis” der grandiose Höhepunkt der Trilogie um das Ermittlerduo Blomkvist und Salander.

Mit einer Kugel im Kopf wird Lisbeth Salander in die Notaufnahme eingeliefert. Sie hat den Kampf gegen Alexander Zalatschenko, berüchtigter Drahtzieher mafiöser Machenschaften, ein weiteres Mal knapp überlebt. Aber wird sie gegen den schwedischen Geheimdienst bestehen können, der alle Kräfte mobilisiert, um sie ein für alle Mal mundtot zu machen? Zu groß ist die Gefahr, dass sie die Verbindung zwischen Zalatschenko und der schwedischen Regierung aufdeckt. Unterdessen arbeitet Mikael Blomkvist unter Hochdruck daran, Salanders Unschuld zu beweisen. Es fehlen nur noch wenige Details, und er wird das Komplott gegen Salander aufdecken. Auch als seine Ermittlungen von höchster Stelle massiv behindert werden, führt Blomkvist seine Arbeit unbeirrt fort. Er weiß genau, dass er nur noch diese eine Chance hat, um Lisbeth Salander zu retten.


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Heyne München

Die Allmacht des Geldes und die Zukunft der Phantasie

Der Autor, begeisterter Leser und Büchersammler, stand von 1975 bis 1992 an der Spitze großer ostdeutscher Verlagshäuser. Als Verleger des Berliner Aufbau-Verlags begleitete er den Umbruch von der sozialistischen Plan- zur freien Marktwirtschaft. 1990 gründete er zwei neue Unternehmen: den Aufbau-Taschenbuchverlag in Berlin und den Verlag Faber & Faber in Leipzig. Als Verleger, der Traditionen überblickt, als praktizierender Idealist und Akteur in zwei unterschiedlichen Gesellschaftssystemen liefert er uns in seinem neuen Essayband engagierte Betrachtungen zur Bücherwelt, die als fällige Einwürfe in die fatalen Bewegungsspiele einer weithin gestreßten Buchbranche angesehen werden dürfen. Er meditiert über Lieblingsautoren, Bestseller und Flops der Bücherwelt, das Taschenbuch von gestern, heute und morgen, über Büchersammeln und Buchgeschmack und über das Beziehungsge?echt zwischen Autoren und Verlegern, das wunderlichste Wechselverhältnis des literarischen Marktes von Luther bis Grass. In zwei umfangreichen Interviews »Was von den Träumen blieb – Als Verleger in der DDR« und »Die Allmacht des Geldes und die Zukunft der Phansasie – Als Verleger in der deutschen Bundesrepublik« zieht er Bilanz über ein bewegtes Verlegerleben. Leider merkt man dem alten Haudegen der DDR-Verlagsliteratur an, dass er doch dem DDR-Literaturgeschehen hinterhertrauert, aber es ist trotzdem interessant, wie er sich freut, dass er alte DDR-Titel z.B. Morgner, Amanda, wieder auflegen kann, um sie dem eiligen heutigen Literaturgeschehen wieder einzufügen, damit sie ihren literarischen Bestand behalten.


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Verlag Faber&Faber Leipzig

Wortstoffhof

Kaum ein Land dürfte es auf der Welt geben, meint Axel Hacke in der Vorrede zu seinen alphabetisch aufgereihten Sprachgeschichten, in dem der Wiederverwertungsgedanke ausgeprägter ist als in unserem lieben Deutschland. Ergo legte er in seinem Büro ein Eckchen für sprachlichen Abfall an, den er jetzt in Buchform wiederverwertet.

Schlecht übersetzte Speisekarten, rätselhafte Schild-Texte, kryptische Gebrauchsanweisungen, falsch getrennte Wörter, vollkommen unverständliche Tourismus-Prospekte und anderes mehr sammelte der Autor. Unter dem Titel »Der Sprach-Wertstoffhof« richtete er im Magazin der »Süddeutschen Zeitung« eigens eine Kolumne ein, um nachzuweisen, dass sich aus fast allem etwas machen lässt. Es geht ihm dabei um nichts anders »als um den Spaß am Valschen, die Poesie des Irrthums, die Freude an der Fehlleistunck« – um einen Reichtum also, der erst durch menschliche Schwäche entsteht.

Hacke beginnt seine Betrachtungen mit »Äh« und »Ähm« und der Frage, ob es sich bei diesen Lauten um Geräusch- bzw. Sprech-Abfall oder um normale Wörter handelt. Unter diesem Aspekt analysiert er den König des »Äh«, Edmund Stoiber. Er kommt zum Ergebnis, dass Stoiber ein ganz Großer ist: »Ein Rhythmiker. Ein Sprachmusiker. Ein Virtuose des Äh«.

Er wandert weiter über das »Autorenerwachen«, den »Betäubungslärm« zum »Biermörder«, bestellt ein »Drahthuhn«, erfreut sich am musikalischen Spiel einer «Fötengruppe«, erfreut sich einer »hyänischen Kauflaune«, kommt vom »Mischdünger« auf den »Mpfplan«, behandelt den »No-Nonsense«, besucht das »Öktöbärfäst« enträtselt das Geheimnis des »Poppencorken« und springt schließlich durch ein »Zeitfenster«.

Wer Freude an lebendiger Sprache hat und gern lacht über Wortschöpfungen, die uns der Alltag schenkt, dem sei dieser Band von Axel Hacke dringend empfohlen.


Genre: Sprache
Illustrated by Kunstmann München

Wahn

Für ein Jahr mietet Edgar Freemantle ein Haus auf Duma Key, Florida. Das auf Stelzen errichtete Gebäude ragt wie ein Schiff in den blauen Golf von Mexiko. »Big Pink« nennt der ehemalige Unternehmer das einsame Strandhaus, das rosa gestrichen ist.

Freemantle hat sich an diesen Zufluchtsort der frisch Verheirateten und fast schon Toten zurückgezogen, um sich von einem schweren Verkehrsunfall zu erholen. Dieser Unfall kostete ihn einen Arm und brachte ihm schwere Bein- und Schädelverletzungen ein.

Sein Broca-Zentrum, eine Region der Großhirnrinde, ist beschädigt. Dadurch hat er Wortfindungsschwierigkeiten und kann sich teilweise nur schwer erinnern. Sein Arzt rät ihm, spazieren zu gehen und »gegen die Hecke der Nacht« zu malen.

Edgar ist durch die Beschädigung seines Gehirns ungewöhnlich sensibel geworden und beginnt wie unter Zwang zu zeichnen. Auf seinen Bildern entstehen Situationen, die Vorhersagen gleichen. Er hat offensichtlich das zweite Gesicht, und seine Darstellungen beschreiben Vergangenes und künden Zukünftiges. Telepatische Schübe und eine unheimliche Hellsichtigkeit lassen ihn Zeichnungen und Gemälde fertigen, die düsteren Prophezeiungen gleichen.

Bei ausgedehnten Strandspaziergängen trifft er auf Wireman, einen Anwalt, der die Erbin einer ausgestorbenen Dynastie betreut und freundet sich mit ihm an. Der von Alzheimer verwirrten, uralten Elizabeth Eastlake gehört der gesamte Strandabschnitt. Freemantle bemerkt, dass Wireman ebenso wie die Hausherrin Kopfverletzungen haben. Sie fiel im zarten Alter von zwei Jahren von einem Ponywagen, der Anwalt überlebte einen Selbstmordversuch mit Pistole. Beide scheinen ebenso wie der Maler über überdeutliche Begabungen zu verfügen, Dinge und Ereignisse wahrzunehmen. Alle drei Personen sitzen damit in einem Boot und stellen sich die Frage, ob ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten mit den Verletzungen bestimmter Hirnregionen oder mit der Gegend zu tun haben, in der sie wohnen. Schon bald werden sie von den Ereignissen aufgeklärt.

Freemantles Bilder schlagen fundamental ein und begeistern Fachwelt wie Publikum. Doch die Bilder, auf denen gelegentlich ein gespenstisches Schiff auftaucht, üben eine gefährliche Sogwirkung auf ihre Betrachter aus. Sie ziehen sie wie eine tückische Unterströmung an. Es ist, als ergreife etwas von ihnen Besitz, das über die Gemälde hinaus wirkt. Bald erkennt das neu entdeckte Malgenie, welche Grauen erregende Macht von seinen Bildern ausgeht. Mit seiner Kunst kann er zwar positiv wirken und sogar heilen. Er kann damit aber auch Leben vernichten, und viele Motive, die er wie im Fieber auf Leinwand schleudert, entfalten erst langsam ihre wahre Bedeutung.

Stephen King erweist sich mit »Wahn« erneut als exzellenter Erzähler und scheint kein Formtief zu kennen. Gemächlich entspinnt sich die Handlung, um bald eine eigene Dynamik zu gewinnen und zum Schluss für atemberaubendes Tempo zu sorgen. Ähnlich wie in seinem Psychothriller »Love«, die Biographie einer dreißigjährigen Ehe, die durch Höhen und Tiefen geht, spielt auch in »Wahn« die Liebe eines Mannes zu seiner Familie eine wesentliche Rolle. Außerdem verarbeitet King ein weiteres Mal die Schrecknisse eines schweren Verkehrsunfalls, der ihn vor einigen Jahren beinahe aus der Bahn warf.

Kings »Wahn« richtet ausnahmsweise kein Blutbad an, das Leser des Horrorkönigs beispielsweise von seinem Thriller »Puls« kennen. Der Leser wird dennoch oder gerade deshalb in Atem gehalten. Er erlebt das Grauen der Protagonisten, als diese versuchen, das Übel an der Wurzel zu packen, und er erfährt immer neue Überraschungen und unvorhersehbare Wendungen.

In seinen Grundzügen erschließt sich die Handlung des Werkes und sein voraussichtlicher Schluss recht früh aus vielen Details. King arbeitet beispielsweise mit einem Textversatz namens »Wie man ein Bild malt«, der die Kapitel einleitet. Dies erschließt dem Leser recht früh Details und Zusammenhänge. Das aber ist der Spannung eher förderlich, und so jagt der Leser knapp neunhundert Seiten lang atemlos dem enthemmt kreativen Erzähler nach.


Genre: Horror
Illustrated by Heyne München

Shadowmarch 2 • Das Spiel

Mit dem Vormarsch einer Riesenstreitmacht der elbischen Qar unter Führung von Fürstin Yassamez gegen Südmark scheint die Welt aus den Fugen zu geraten. Im Reiche König Olin Eddons, der selbst gefangen in Hierosol sitzt und gegen ein hohes Lösegeld ausgetauscht werden soll, findet ein heimlicher Umsturz statt, der die Tolly-Brüder an die Macht bringt. Weiterlesen


Genre: Fantasy
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Mein Lied geht weiter

Eine Schwalbe macht noch keinen – wie bitte?

Der kahle Lindenbaum vor det Museum,
Is -haste Worte- wieda jrien belaubt.
Die Amseln üben wieda ihr „Te deum“,
Der Friehling kommt. Wer hätte det jejlaubt!
Ick laß mia von´ Aprilwind nicht vaschrecken
– Von wejen „Volksmund“, ick bleib fest dabei:

Eene Schwalbe macht eenen Sommer!
Eene Rose macht eenen Mai!

In meinem Blumentopp blieht schon een Krokus
– Na, und mein Emil is so jut wie neu!
Nachts im Park jibts wieda Hokuspokus.
Aus eins und eins wird zwei. Und späta drei!
Det een Mal keen mal sein soll, is een Märchen.
Man hat oft Pech, doch bleib ick fest dabei:

Eene Schwalbe macht eenen Sommer,
eene Rose macht eenen Mai.
Ei wei!

Wenn die ersten Schneeglöckchen blühen und die letzten Schneeflocken fallen, draußen die Sonne scheint, es aber noch a…kalt ist, kann man drinnen noch getrost seinen Leidenschaften frönen, z.B. ein Gedichtbuch zur Hand nehmen…
Dies tuen wahrscheinlich nur wenige Menschen, denn man musste in der bereits verflossenen Schulzeit andauernd Gedichte auswendig lernen und interpretieren…
Aber es gibt auch eine stets wachsende Fangemeinde, die in Gedichten etwas ganz anderes findet, z.B. Humor…
Und den feinen Humor, trotz aller ernsthaften Lebensangelegenheiten, atmen die meisten Gedichte von Mascha Kaleko ein und aus…

Der vorliegende kleine Band ist eine Auswahl von einhundert Gedichten aus Mascha Kalekos Nachlass, der sich in sieben „Kapitel“ gliedert…
Das Gute daran ist, dass man die Kapitel nicht, wie in einem Roman, nacheinander lesen muß, sondern man einfach irgendeine Seite aufschlagen und loslesen kann…
Aber Vorsicht, alles in Maßen und nicht in Massen! Auch für Mascha Kalekos Kleinode gilt: Weniger ist mehr!
Man kann den kleinen Band schon jetzt „durchkämpfen“, aber er liest sich bestimmt auch genauso schön unter einem sommerlichen Apfelbaum…

Zum Schluss noch etwas in Hochdeutsch für alle Fans dieser Internetseite, natürlich von Mascha Kaleko (1907-1975):

Ansprache eines Bücherwurms

Der Kakerlak nährt sich vom Mist,
Die Motte frißt gern Tücher,
Ja selbst der Wurm ist, was er ißt.
Und ich, ich fresse Bücher.

Ob Prosa oder Poesie,
Ob Mord – ob Heldentaten –
Ich schmause und genieße sie
Wie einen Gänsebraten.

Ich bin ein belesner Herr,
Nicht wie die andern Viecher!
Daß Bücher bilden, wißt auch ihr,
Und ich – ich fresse Bücher.

Die Nahrung, sie behagt mir wohl,
Verleiht mir Grips und Stärke.
Was andern Wurst mit Sauerkohl,
Das sind mir Goethes Werke.

Ich fraß mich durch die Literatur
So mancher Bibliotheken;
Doch warn das meiste, glaub es nur,
Bloß elende Scharteken.

Das Bücherfressen macht gescheit.
So denken sich´s die Schlauen.
Doch wer zuviel frißt, hat nicht Zeit,
Es richtig zu verdauen.

Drum lest mit Maß, doch lest genug,
Dann wird´s euch wohl ergehen.
Bloß Bücher fressen macht nicht klug!
Man muß sie auch verstehen.


Genre: Lyrik
Illustrated by dtv München

Ein Regenschirm für diesen Tag

Wilhelm Genazinos durch Frankfurt latschender Protagonist ist gut zu Fuß. Der Flaneur, der häufig das Gefühl empfindet, ohne seine innere Genehmigung auf der Welt zu sein, ist Meistertester der Schuhmanufaktur Weisshuhn. Im Auftrag des expandierenden Unternehmens prüft er handgearbeitetes Schuhwerk, schreibt darüber umfangreiche Gutachten und hält sich mit diesem Minijob mehr schlecht als recht über Wasser.

Seine langjährige Gefährtin und Geldgeberin Lisa hat den Schuhtester inzwischen verlassen, um ihn zu zwingen, sich endlich um einen besseren finanziellen Hintergrund zu bemühen. Die früh pensionierte Grundschullehrerin, »die sich für den Staat, für die Kinder oder für ihre Illusionen ruiniert hat«, meint damit seine »mangelhafte finanzielle Verwurzelung in der Welt«.

In ständigem Gedankenfluss wandert der namenlose Ich-Erzähler durch die Stadt. Er erlebt die Zerbröckelung, Zerfaserung und Ausfransung seines Lebens als Prozess, den er »Verflusung« nennt. Er stört sich an Kindern, die Schokolade essen ebenso wie an Autos, die am Straßenrand parken. Während er ziellos durch die Landschaft schlendert und sich vom Leben abzulenken versucht, beobachtet er unterschiedlichste Gestalten und notiert in Gedanken ihre Bewegungen, Eigentümlichkeiten und Eigenschaften. Es scheint ihm dabei so, dass der Auftritt einer Person, der es offenkundig noch schlechter geht als ihm, in ihm das Verhalten eines guten Menschen hervorruft.

Gelegentlich trifft er weibliche Bekannte, die ihn an seine Kindheit und Jugend erinnern. »Man wird die Leute nicht mehr los, denen man einmal von seiner Kindheit erzählt hat«, klagt er und kehrt in einen Frisiersalon ein, mit deren Inhaberin ihn ein gelangweiltes Gelegenheitsverhältnis verbindet. Auch eine Freundin aus der Jugendzeit rührt ihn nicht wirklich an, wenn er zum wiederholten Mal ihrem verpatzten Traum von einer Schauspielerkarriere lauscht.

Seine »Tagesverdammnis« will es, dass die Schuhmanufaktur sein Honorar für die Berichte auf ein Viertel kürzt. Er beschließt, den Job aus Verachtung aufgeben, doch er ist zu matt und erfindet künftig lieber aus Rache die Gutachten. Sein Dünkel besteht aus einem fast permanenten Zusammenstoß von Demut und Ekel. Die Demut gemahnt ihn, auch die dümmsten Geschichten seiner Mitmenschen anzuhören. Der Ekel stachelt ihn an, zu fliehen, um nicht in den Ausdünstungen seiner Mitmenschen unterzugehen.

Beiläufig stößt er auf den Redakteur des Generalanzeigers, für den er einstmals bereits tätig war. Obwohl er es eigentlich ablehnen möchte, nimmt er dann doch dessen Angebot an, für das Blatt lokale Berichte zu schreiben. Zudem erklärt er Leuten, die ihm ein Gespräch aufdrängen, er leite ein Institut für Gedächtnis- und Erlebniskunst. Zu ihm kämen Menschen, die das Gefühl haben, dass aus ihrem Leben nichts als ein lang gezogener Regentag geworden sei. Sein Institut versuche, Klienten zu Erlebnissen zu verhelfen, die wieder etwas mit ihnen selber zu tun haben, jenseits von Fernsehen, Urlaub, Autobahn und Supermarkt. Verstört reagiert er, als sich Menschen von seiner Notlüge angesprochen fühlen und sich ihm als Kunden aufdrängen.

Genazinos Roman besteht aus dem endlosen Monolog eines intellektuellen Stadtstreichers, der sich und seine Umwelt ständig beobachtet. Der Autor beschreibt haargenau Menschen, die sich im Alltag bewegen und lässt sich, genau wie im richtigen Leben, federleicht ablenken von Figuren, die wie Treibgut in sein Blickfeld schwimmen. Dabei fällt die ungeheure Kraft des Erzählers auf, den Leser nur durch Beobachtungen am Geschehen teilhaben zu lassen. Genazino verzichtet nahezu vollständig auf den Einsatz anderer Sinne, wie es den Teilnehmern jedes »Kreativ-Schreiben«-Kurs bereits in den ersten Lektionen ins Hirn gehämmert wird. Höchst selten findet ein Riechen, Schmecken, Hören oder Tasten statt, ein Geruch »fällt ihm auf«, aber dabei lässt er es auch schon bewenden.

Die lakonische Erzählweise Genazinos und das dabei entstehende Gemälde einer Persönlichkeit am Rande des Scheiterns sind eindrücklich. Der Autor arbeitet photographisch exakt, er belichtet ausgewählte Details und vergrößert sie für seine Prosacollage im »Gestrüpp, Geröll, Geraschel, Geschluppe, Geschlappe« des Lebens. Sein Roman über ein im Gleichmass verlaufendes «Ablenkungsleben» ist ein Buch für Leser, die zuweilen auch das Gefühl haben, dass ihr bisheriges Leben lediglich ein lang gezogener Regentag ist und «ihr Körper der Regenschirm für diesen Tag».

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Genre: Romane
Illustrated by dtv München