Sternenreiter

Man muss die kindliche Anarchie in sich wiederentdecken, um auf den Sternen zu reiten

Der Autor Jando erzählt in seinem Buch „Sternenreiter – Kleine Sterne leuchten ewig“ davon, dass man heute noch an Wunder glauben soll.

Mats ist Angestellter eines renommierten, börsennotierten Unternehmens und glaubt nicht mehr an seine Träume – zu sehr ist er daran gewöhnt, in der Arbeitswelt, die aus Sitzungen, Kundenpräsentationen, Kursschwankungen und koffeinbetriebenen Überstunden besteht, zu funktionieren. Auch seine Frau Kiki erreicht ihn nicht mehr, die Arbeit geht vor, schließlich muss das Haus abbezahlt und der gehobene Lebensstandard gehalten werden. Doch dann kommt es unerwartet zu einem Ereignis, das Mats zwingt, innezuhalten. Ein kleiner Junge hilft ihm dabei, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sein Leben neu zu gestalten.

Die Welt mit anderen Augen sehen ist das Thema des Buches, für das der Leser die Bereitschaft aufbringen sollte. „Wenn wir anfangen, auf unser Herz zu hören, werden wir Dinge im Leben erkennen, die uns unvorstellbar erschienen.“, schreibt Jando als Ouvertüre in den Klappentext. Damit ist „Sternenreiter“ thematisch ein Buch, das sich kritisch mit dem Leistungsdenken und den negativen Erscheinungen wie Erfolgsdruck, Versagensangst, Gier und Einsamkeit im gegenwärtigen Neoturbokapitalismus beschäftigt. Das erinnert an Tom Hodgkinson der in „Die Kunst, frei zu sein – Handbuch für ein schönes Leben“ schreibt: „Karrieren gestatten uns nicht, wir selbst zu sein, denn ihr Erfolgsmaßstab sind nicht Spaß an der Arbeit und Kreativität, sondern Geld und Status. Ein Beruf dagegen – im Sinne von Berufung – ist eine Aufgabe, mit deren Erledigung du deinen Lebensunterhalt verdienst und die dir gleichzeitig Spaß macht.“
Wo Hodgkinson rational argumentiert und vorführt, wie man sich aus diesen Zwängen befreien kann, wählt Jando den Stil eines modernen, poetischen Märchens. Das ist logisch, denn er weiß, dass er diejenigen Leser, die am dringendsten darauf angewiesen sind wieder wie als Kind auf ihr Herz zu hören und an Wunder zu glauben, nur mit der Stimme des Herzens und der Poesie erreicht. Und damit erinnert er einerseits in seiner Vision an Friedrich Nietzsches Satz des Zarathustra: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“, dem der Titel dieser Rezension entlehnt ist: Denn es geht nicht darum, das eigene kindliche Chaos zu haben, sondern darum, es wiederzuentdecken und sich wieder anzueignen. Andererseits fühlt man sich an den vielzitierten Satz: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ von Antoine de Saint-Exuperys Kleinem Prinzen erinnert.
Diese Herzenssicht entwickelt Jando im Sternenreiter weiter, zu einer wahrhaften und poetischen Erziehung des Herzens:

„Der wertvollste Samen,
der in die Erde eingesetzt wird,
ist die Liebe.
Sie wächst überall dort,
wo sie gesät wird.“ (Sternenreiter, S. 5)

Gemeinsam mit dem anarchischen Ungehorsam gegen das Leistungssystem entsteht ein Plädoyer für Freundschaft, Menschlichkeit und die Verwirklichung von Träumen:

„Ihr großen Menschen hört irgendwann auf, an Träume zu glauben. Manchmal wäre es schön, wenn ihr wieder klein wärest. So könntet ihr euch erinnern, dass Träume nur entstehen, wenn man bereit ist, sie zu leben und zu akzeptieren.“ (Sternenreiter, S. 10)

Der Ausdruck des Sternenreiters von den „großen Menschen“ ist eine bewusst Adaption an „die großen Leute“ des Erzählers aus dem kleinen Prinzen. Stilistisch daran angelehnt setzt Jando die Begegnung des Erzählers mit dem Sternenreiter allerdings – im Gegensatz zu Exupéry – nicht in eine isolierte Situation, sondern in eine realistische Alltagssituation und schafft damit einen neuen poetischen Realismus. Dazu die Leseprobe aus dem Prolog:

Die Sterne leuchteten heller als sonst. Das Meer war ruhig. Im Mondlicht schimmerte es silbrig blau. Um mich herum war es still. Es war eine himmlische Ruhe, wie ich sie nur am Meer erlebte. Fünf Jahre sind vergangen, seit ich diesen sonderbaren – nein, sonderbar wird ihm nicht gerecht – vielmehr einzigartigen Jungen kennenlernen durfte. Schnell wird in unserer heutigen Zeit das Wort „Legende“ benutzt. Doch bei ihm trifft es zu. Seine Geschichte wird Generationen überdauern. Es ist eine Geschichte über Liebe, Mut und Hoffnung. „Na und? Das habe ich schon oft gelesen“, werden vielleicht einige sagen. Das mag stimmen und hat auch seine Berechtigung. Doch wenn ihr euch einlasst auf die Geschichte des Jungen − nur Gott allein weiß, woher er kam − können Träume wahr werden. Ich habe es selbst erlebt. Ich kann mich noch gut an seine Antwort erinnern, als ich zu ihm sagte: „Ach, Träume… Ich habe es aufgegeben, meine Kraft und den Glauben daran zu verschwenden.“ Der Junge antwortete, wie es seine Art war, langsam und bedächtig: „Ihr großen Menschen hört irgendwann auf, an Träume zu glauben. Manchmal wäre es schön, wenn ihr wieder klein wäret. So könntet ihr euch erinnern, dass Träume nur entstehen, wenn man bereit ist, sie zu leben und zu akzeptieren.“ Damals konnte ich wenig mit seiner Antwort anfangen. Na ja, wenn ich es mir eingestehe, schon ein bisschen. Doch zur damaligen Zeit war ich noch nicht bereit, mich damit auseinanderzusetzen. Aber dazu komme ich später. Mir war er der beste Freund, den ich mir wünschen konnte. Irgendwann erwähnte er in einem unserer zahlreichen Gespräche: „Wenn ich einmal groß bin, möchte ich gerne allen Menschen erzählen, wie einzigartig das Leben ist. Ich spreche und höre lieber zu, anstatt zu schreiben. Du wirst einmal ein beachtenswerter Schriftsteller sein. Ich wäre glücklich, wenn du es wärest, der meine Geschichten weiterträgt. Jeder sollte das tun, was er am besten kann und was ihm am meisten Freude bereitet.“ Das war das Geringste, was ich für meinen Freund tun konnte. Für ihn ging aber wieder einmal ein Traum in Erfüllung…“

Was diese Melodie des Textes auf der literarischen Ebene einlöst, begleiten die handgemalten Bilder der Kinder- und Jugedbuchillustratorin Antjeca auf der bildpoetischen Ebene: durch die schlichte Form einer Kalkulation größtmöglicher Einfachheit entsteht die Radikalität der Bildsprache hin zu einer ozeanischen Zärtlichkeit. Diese poetische Wirkung ist die Fähigkeit des Textes und der Bilder, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen. Dieses ist meine ganz persönliche Lesart.

Mit dem „Sternenreiter“ ist dem Autor – nach seinem Erstling Windträume – wieder ein wundervolles und poetisches Buch gelungen, das ich uneingeschränkt empfehle. Doch nicht nur das, denn ein gutes Buch sollte man empfehlen, ein sehr gutes seinen Freunden ans Herz legen und die wirklich besonders wichtigen Bücher sollte man seinen besten Freunden schenken. Ich freue mich darauf, meinen besten Freunden mit dem „Sternenreiter“ ein Herzensgeschenk zu machen.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Where the Shadows lie

Magnus Jonson, ein Bostoner Cop, hat Ärger mit einem Drogenkartell, dessen Boss ihm nach dem Leben trachtet. Deshalb nimmt man ihn –im wahrsten Sinne des Wortes- aus der Schusslinie und schickt ihn nach Island, wo er aufgewachsen ist. Die dortigen Kollegen empfangen den Fremden mit einer Mischung aus Misstrauen und Neugier, aber sie können seine Erfahrung gut gebrauchen, haben sie doch einen Mord aufzuklären und das kommt in Island nicht alle Tage vor.

Das Opfer ist ein Literatur- und Sprachprofessor, der sich außer mit diversen Studentinnen vor allem auch mit isländischen Legenden und Sagen beschäftigt hatte. Der Gelehrte scheint einer ganz großen Sache auf der Spur gewesen zu sein, eine bisher unentdeckte geheime Sage über einen magischen Ring, die Vorbild sowohl für das Nibelungen-Epos als auch für Tolkiens “Herr der Ringe” gewesen sein soll.

Magnus geht diversen Hinweisen nach und stößt nebenbei auf dunkle Geheimnisse der eigenen Familie, als sich plötzlich eine sensationelle Spur ergibt: Der Zauberring könnte tatsächlich existieren und sich eben jetzt in Island befinden! Ist seine Macht etwa verantwortlich für die ganzen Verbrechen?

Krimi-Routinier Michael Ridpath hat mit “Where the shadows lie” (deutscher Titel “Fluch”) einen wirklich unterhaltsamen Roman abgeliefert. Geschickt versteht er es dabei, die Mythen und den Kult rund um Tolkiens Jahrhundertwerk in eine Mordgeschichte der Gegenwart einzubauen und sichert sich damit schon mal das Interesse der Millionen Herr der Ringe-Fans weltweit.

Eine flotte Schreibe, Charaktere, die überzeugend handeln sowie die Einbindung der spektakulären Natur und Landschaft Islands, ohne dass dadurch der Plot erdrückt wird, tun ein Übriges, um dieses Buch aus der unüberschaubaren Masse des Angebots in diesem Genre herausragen zu lassen. Niveauvoll spannende Unterhaltung, nicht mehr, aber bestimmt auch nicht weniger!


Genre: Kriminalromane
Illustrated by Corvus

BE

BE Katja EichingerBE. Das ist der Titel von Katja Eichingers Biographie über ihren verstorbenen Ehemann. Damit ist schon viel gesagt. BE. Wie Bernd Eichinger. BE aber auch wie “sein”. To BE or not to BE. Hamlets Königssatz war tatsächlich ein Motto, das Bernd Eichinger gerne auf sich bezog, an dem er sich aber auch ein Leben lang abarbeitete.

Gerne genommen auch Let it BE – so bekräftigt er seinen Heiratsantrag an Katja, let it be –das Lied sang er auf ihrer Hochzeit. Man mag das großkotzig finden, nach Lektüre der Biographie weiß man aber – das entspricht ihm, so war er: Obsessiv, exzessiv, kompromisslos. Ein Organisationsgenie, ein Überzeugungstäter, wie Tom Tykwer seinen Freund nennt. Ein Mann, der für und mit dem Film lebte. Für den Film sein Schutz war vor der Realität und der Banalität des Alltags. Ein Mann, dessen Leben sich so aufregend gestaltete wie ein ganz großer Film, der schließlich so starb wie er lebte.”Im Leben wie im Tod ist er seiner alten Rockn’Roll Maxime geblieben: Rehearsals are for whimps.” (Proben sind für Feiglinge)

Dies alles erfährt man also von seiner Witwe. Es gab Zweifel im Vorfeld, ob es gut gehen kann, wenn die Witwe die längst überfällige Biographie dieses schillernden Mannes schreibt. Das Fazit vorab: ja, es geht gut. Bernd Eichinger selbst hatte seine Frau noch zu Lebzeiten darum gebeten, er wusste wohl, warum. Katja Eichinger ist gelernte Filmjournalistin, auf dieses Rüstzeug greift sie nun zurück. Sie findet einen einsichtigen, aber auch kritischen Zugang zum Leben ihres Mannes. Vieles hat sie, deren Ehe nur wenige Jahre dauern durfte, nicht selbst miterlebt, vieles also hat sie klassisch recherchiert. Sie lässt verschiedene Perspektiven auf ihren Mann zu, spricht mit Weggefährten und greift auf alte Korrespondenz zurück.

Dazu kommt – ganz wichtig, aber heutzutage leider nicht selbstverständlich – :Katja Eichinger ist ein Mensch, der weiß, was das Wort Respekt bedeutet. Respekt vor dem Schaffen und Wirken anderer, Respekt aber auch vor Privatsphäre. Sie berichtet en Detail, erliegt aber nie der Gefahr des verklärenden Blicks. Sie spricht ihren Mann nicht heilig, trotzdem ist aus jeder Zeile das tiefe Verständnis lesbar, das enge Band, welches die beiden verband. Respekt wahrt sie auch stets, wenn sie über Weggefährten schreibt. Über die, die zur Eichinger Familie gehörten, aber auch über die, mit denen B.E. Kämpfe ausgefochten hat. Sie lässt auch seine früheren Beziehungen und Affären nicht aus, nebenbei erfährt man einiges über die legendären Nächte im Schumanns, der Hofhaltung im Romagna Antica, (Vorbild für das Rossini im gleichnamigen Film). Nächte, die gerne mal rauschend in Bordellen oder der Unterwelt endeten. Nie tritt sie aber dabei jemandem zu nahe, vorgeführt wird keiner in diesem Buch.

Richtig spannend sind die Entstehungsgeschichten der großen Filme. Bei der Lektüre wird einem erst klar, in welchem Ausmaß Bernd Eichinger nicht nur die deutsche Filmlandschaft geprägt hat. Spät erfuhr Eichinger ja die Würdigung, die ihm zustand. Filme wie der Baader Meinhof Komplex, das Parfum oder der Untergang fanden weltweit Beachtung. Dass Eichinger aber auch schon der Mann hinter Produktionen wie Christiane F., Last exit to Brooklyn und vielen anderen war, das ist im kollektiven Bewusstsein kaum verankert. Eichinger war einer der wenigen deutschen Filmschaffenden, die fürs Publikum produzierten und dabei im Niveau durchaus flexibel war. Zu seiner Bandbreite gehörten der Zementgarten ebenso wie Werner–beinhart. Das Feuilleton hat ihn dafür gerne verrissen, das Publikum aber hat es ihm gedankt. Insofern war eine umfassende Biographie Eichingers längst überfällig. Dass und wie Katja Eichinger dies getan hat, ist ein letzter Liebesdienst für ihren Mann. Es ist eine würdige Biographie geworden, stil – und niveauvoll, die sich wohltuend abhebt von dem, was derzeit in den Gazetten so als Biographie angepriesen wird.

Was bleibt nach der Lektüre, ist der Wunsch, sich einige der Filme noch einmal anzusehen. Mit Fuchur noch einmal durch die unendlichen Weiten Phantasiens zu reisen, Meryl Streep im Geisterhaus zu besuchen, aber auch den Weg des Mädchens Rosemarie noch einmal mitzugehen. Was bleibt ist der Dank des Publikums an Bernd Eichinger und der Dank an Katja Eichinger, die zur rechten Zeit gezeigt hat, wie eine Biographie auszusehen hat. Bernd Eichinger hätte es sicher gefallen, vielleicht hätte er gesagt: So it should BE.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Hoffmann und Campe

Karte und Gebiet

Houellebecq zählt zu den umstrittensten Literaten unserer Zeit. Für sein jüngstes Werk »Karte und Gebiet« erhielt er den Prix Goncourt, den bekanntesten französischen Literaturpreis. Der flüssig geschriebene Gesellschaftsroman über den Kunstbetrieb ist bizarr, verstörend und verfügt über eine unwiderstehliche Sogwirkung. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by dumont Köln

Im Winter Dein Herz

Lebert/ WinterRobert, ein junger Mann, der in seinem Leben schon manches schlucken musste und nun keinen Bissen mehr herunterbekommt, begibt sich für eine Zeit der Komtemplation in das Haus Waldesruh, eine Klinik für psychosomatische Erkrankungen. In die Zeit seines Aufenthaltes fällt der jährliche Winterschlaf, den die Menschen seit einigen Jahren den Tieren gleich halten. Eine jährlich wiederkehrende Zeit, in der “nichts, rein gar nichts zu tun war. Keine Grenzen zu passieren, keine Himmel abzusuchen”.

Früher empfand Robert diese Zeit als schön und wohltuend, doch in diesem Jahr ist alles anders. Es gibt Dinge, die zu tun, zu klären sind und die sich nicht aufschieben lassen. So verweigert er den Schlaf des Winters und begibt sich auf eine Reise quer durch ein schlafendes Deutschland. Gemeinsam mit seinem Mit-Patienten Kudowski, einem Mann von undefinierbarer Kraft und der jungen Kellnerin Annina, die Kudowski und er am Resopaltisch der nahegelegen Raststätte kennengelernt haben, werfen sie in einer befreienden Handlung die Tabletten der Winterschlaf-Medikation hinter sich, steigen in einen schwarzen Jeep namens Ritchie Blackmore und begeben sich auf eine Reise durch ein frostiges Land. Ein Land, in dem nur eine Minimalversorgung aufrechterhalten wird, welches ansonsten im Schlaf dahintaumelt und die wirklich wichtigen Fragen des Lebens aufschiebt. Mit dem I-Phone und der Winter-App verorten sie sich in der Zeit, ist diese Reise doch nicht nur eine zweckgebundene, sondern vor allem auch eine Reise zu sich selbst. Zu ihrer eigenen Persönlichkeit, die “sie dem Leben abringen müssen”, die sie wieder befähigt, “einem Montagmorgen ins Gesicht zu schauen”.

Ich hatte mir Unvoreingenommenheit vorgenommen, als ich mit “Im Winter Dein Herz” begann. Was war nicht alles über Benjamin Lebert in den letzten 15 Jahren geschrieben worden. Nach seinem umjubelten Erstling “Crazy” wurde er zum neuen Salinger hochgejazzt, zum Wunderkind des Literaturbetriebes. Schnell danach fanden Feuilletonisten oft harsche Worte für seine nachfolgenden Werke. Harsche Worte, die so schien es mir – ohne zugegebenermaßen die Bücher gelesen zu haben – aus überzogenen Erwartungen resultierten. Mir war der ganze Rummel suspekt, ich machte einen Bogen um Lebert, schob die Lektüre auf. Nun erreichte mich mitten im Hochsommer sein neues Buch über eine Reise im Winter. So objektiv wie möglich wollte ich sein. Objektiv und gerecht. Ging nicht. Vom ersten Moment an hatte ich eine subjektive, persönliche Meinung zu diesem Buch mit dem schönen Titel und ich änderte sie nicht mehr. Ich mochte das Buch vom ersten Satz an, ich fand es herzensklug, wahrhaftig, schmerzhaft ehrlich und bei aller beschriebenen Kälte wärmend.

Lebert ist kein Autor, der sich oder seine Leser schont. Bereitwillig teilt er seine Gedanken, seine Leiden, aber auch seine Erkenntnisse. “Im Winter Dein Herz” ist ein Stück weit autobiographisch, es ist aus jeder Zeile ersichtlich, dass der Autor Eiseskälte selbst erfahren und durchlitten hat. In fünf Heften und zwischengeschalteten Momentaufnahmen, in denen die drei Protagoisten sich wärmend an Momente der Geborgenheit erinnern, fängt Lebert den Leser ein. Dieser kann die Kälte der Zeit und des Landes jederzeit mitempfinden, kühl ist der Roman dennoch an keiner Stelle. Lebert ist von Zärtlichkeit und Liebe für seine Protagonisten getragen. Sanft, aber eindringlich, melancholisch, doch nie resignierend geleitet er sie durch hastigen Schneefall und kaltes klares Licht.

Dieses Buch so geschrieben zu haben, war mutig. Es so geschrieben zu haben, dass es den Leser berührt, ihn hoffnungsvoll zurücklässt und ihm den funkelnden Sternen auf dem See gleich Bilder mitgibt, die tragen – das ist durchaus Kunst. Ich werde nun die Lektüre der vorhergehenden Werke nachholen. Objektiv und unvoreingenommen. Vielleicht. Falls ich die Idee mit dem Winterschlaf nicht aufgreife….

 

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Ich und Kaminski

ich und kaminskiSebastian Zöllner, ein von Freunden und Freundin verlassener, erfolgloser Journalist, setzt kurz vor seiner endgültigen Pleite alles auf eine Karte, um einen guten Job in der Kunstszene zu ergattern. Er will ein Buch, ein bleibendes Quellenwerk, über einen uralten, zurückgezogen lebenden Maler schreiben, der als einer der Großen seiner Zunft gilt: Manuel Kaminski, ein von Picasso und Matisse gelobter Malerfürst.

Der Boulevardschreiber interessiert sich einen Dreck für Kunst, er hat im Vorfeld lediglich oberflächlich recherchiert. Gleichwohl bläst er sich zu einem affektierten Kenner auf, der sein Fähnlein je nach Gesprächspartner in den Wind hängt, um voranzukommen. Er rechnet mit dem baldigen Ableben Kaminskis und sieht sich bereits als dessen gefeierter Biograf in Talkshows sitzen. Konsequent wird er im Romantitel »Ich und Kaminski« auch an erster Stelle genannt.

Durch Bestechung des Hauspersonals dringt er in das Refugium des Künstlers ein. Er durchsucht heimlich das Haus nach interessantem Material und versucht, die weitgehende Hilflosigkeit des angeblich blinden Greises auszunutzen, um pikante Details aus dessen Leben zu erfahren.

Doch Kaminski dreht den Spieß um und führt den Schmarotzer vor. Obwohl er so wirkt, als tue er jeden Augenblick den letzten Schnaufer, bestimmt er den Fortgang des Geschehens und veranlasst den Biografen, mit ihm eine Reise zu seiner Jugendliebe Therese Lessing zu unternehmen. Während er die letzten finanziellen Reserven des Unsympathen verzehrt, verwickelt der alte Meister Zoellner in immer neue Geschichten über sein Leben, täuscht Vergesslichkeit vor und verwirrt ihn zunehmend.

Am Ende scheitert der selbsternannte Kunstkritiker, der sich als selbstverliebter und in seiner Vorgehensweise entsprechend rücksichtsloser Kerl entpuppt und damit in gewisser Weise auch dem Objekt seiner Begierde ähnelt. Als er schließlich erfährt, dass längst ein anderer, prominenter Autor vertraglich als Kaminski-Biograf verpflichtet ist, wirft er seine Aufzeichnungen Blatt für Blatt ins Meer.

In seinem Kurzroman, mit dem ihm noch vor »Die Vermessung der Welt« der Durchbruch gelang, karikiert der Autor sowohl die Rolle des Künstlerbiografen wie die des Künstlers selbst. Er erweist sich als exakter Beobachter und unterhält, ohne bekehren oder belehren zu wollen. Aufgrund der Kürze des Textes ist »Ich und Kaminski« ein geeigneter Einstieg in die Welt des Daniel Kehlmann.

Taschenbuch und E-Book kosten identisch € 7,99. Ein klassisches Beispiel dafür, dass Suhrkamp nicht das leiseste Interesse zeigt, sich neuen Medien und einem jungen Markt zu öffnen.

Inzwischen wurde der Roman mit Daniel Brühl in der Hauptrolle verfilmt. Dies ist der Trailer:


Genre: Belletristik
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Der langsame Walzer der Schildkröten

Der_langsame_Walzer_der_SchildkrötenVor einem Jahr faszinierten uns die gelben Augen der Krokodile, in diesem Jahr nun dürfen wir mit Joséphine den langsamen Walzer der Schildkröten tanzen. Teil zwei der Erfolgssaga von Katharine Pancol um Joséphine Cortès und ihre bunt chaotische Familie ist da! Klare Warnung vorab: Es besteht erneut erhöhte Suchtgefahr!

Zwei Jahre, nachdem Joséphine überraschend zur Bestseller-Autorin avancierte, hat sich in ihrem Leben einiges verändert. Mit Zoé, ihrer jüngeren Tochter ist sie in einen noblen Stadttteil von Paris gezogen. Hortense, ihre Älteste, studiert in London und verfolgt äußerst zielstrebig ihren Traum von einer Karriere als erfolgreiche Modedesignerin. Iris, Joséphines gleichermaßen schillernde wie farblose Schwester, hat sich selbst in eine Nervenheilanstalt weggeschlossen, kann sie sich doch in der guten Pariser Gesellschaft nicht mehr blicken lassen. Keine gute Zeit für die geheime Liebe zwischen ihrem Mann und Joséphine. Auch Liebhaber Luca sorgt für Komplikationen. Josephine selbst tut sich schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten, ihr geht das alles zu schnell. Sie ist noch dabei, sich in ihrem neuen Viertel einzuleben, zudem sind es merkwürdige Nachbarn, die sie dort vorfindet. Schlimmer noch, sie sind nicht nur merkwürdig, sondern auch äußerst gefährlich – für ihr eigenes und das Leben ihrer Liebsten. Mehr kann hier an dieser Stelle über den Inhalt nicht verraten werden, ohne die Freude am Buch zu schmälern.

Leben und Schreiben gehen oft Hand in Hand.” So sagt es Joséphine im Buch und bedauert dabei, dass heutzutage niemand mehr en Detail schreibe, niemand mehr sich richtig Zeit lasse. Katherine Pancol hat einen Roman geschaffen, der auch Joséphine gefallen würde. Denn genau das ist es, was den Stil der französischen Überraschungs-Erfolgsautorin ausmacht: Sie gibt einer Familiengeschichte Raum und Zeit, erzählt ihre Geschichten sorgfältig und mit großer Beobachtungsgabe aus, getragen von einer spürbaren, empathischen Liebe zum Leben und den Menschen. Auch der langsame Walzer ist wieder ein Schmöker im besten, traditionellen Sinne, mal bittersüß, mal fröhlich, gelegentlich auch grausam. An keiner Stelle gleitet Pancol ins Triviale, gerne aber ins Absurde, ja Phantastische. Aber ist es nicht genau das, was wir gerne lesen möchten? Gibt es Schöneres, als eine Geschichte erzählt zu bekommen? Gut erzählt zu bekommen, berührt von ihr zu sein, unterhalten, beglückt und gleichzeitig traurig. Eine Geschichte, deren Erzählerin das Kunststück fertig bringt, ihre Figuren bei aller Phantasie lebensnah so zu gestalten, dass man sich an jeder Stelle mit ihnen identifizieren kann.

Es ist ein ganzes Füllhorn wundersamer Überraschungen, die Katherine Pancol in die Waagschale des Buches wirft. Dazu bedient sie sich all jener Zutaten, die man seit jeher an guten Märchen schätzt. Es gibt die weiße Königin, die gute Fee, eine Hexe, einen schwarzen todbringenden Ritter, den Ritter in schimmernder Rüstung, böse Mütter und Stiefmütter, einen Fluch und den Tod als läuterndes Element, dazu Legionen von Nebenrollen und Nebenhandlungen. In diesem Sinne ist Katherine Pancol wohl so etwas wie die Scheherazade unserer Zeit. Eine Geschichtenerzählerin, die ein leidenschaftliches Plädoyer für das Leben hält und dafür, ihm eine Chance zu geben, sich langsam entwickeln zu dürfen. Sich wie Joséphine dem Tempo unserer Zeit, der Oberflächlichkeit und der Geltungssucht auch mal entziehen zu dürfen. So wie die Schildkröten, mit denen man einen Walzer auch nur langsam tanzen darf.

Teil zwei hält, was Teil eins versprach. Am Anfang kommt man schwer in die Geschichte hinein. Trotz der geschickt in Teil zwei eingebrachten Erklärungen und Verknüpfungen zu den gelben Augen ist es doch viel, was man aus seinem Gedächtnis kramen muss, um dem Roman folgen. Es empfiehlt sich daher meines Erachtens zwingend, die Trilogie in der entsprechenden Reihenfolge zu lesen. Es ist zwar möglich, den langsamen Walzer zu tanzen, ohne vorher in die gelben Krokodilsaugen geblickt zu haben, aber sicher nur der halbe Spaß.

Gespannt darf man sein auf Teil drei, dessen poetischer Titel: “Am Montag sind die Eichhörnchen im Central Park traurig” neugierig macht, dem aufmerksamen Lesen aber auch schon ein klein wenig verrät, wer wohl im Mittelpunkt des dritten und letzten Teils steht.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München

Love is the cure

Love is the cureOha! Der als egomanischer Paradiesvogel verrufene Elton John hat ein Buch geschrieben. Da mag sich mancher die Hände reiben und Schillerndes aus der Regenbogenwelt erwarten. Klatsch und Tratsch, Glamour, Federn, Diademe, Orgien – die ganze Popstar-Palette eben. Doch weit gefehlt. Der Untertitel: Über das Leben, den Verlust und wie wir Aids besiegen können sagt es schon. “Love ist the cure ” ist weniger eine Autobiographie denn ein Sachbuch.

Es gibt zwar Einblicke in das Leben des Elton John, einige liebevolle Geschichten über einstige und heutige Weggefährten sowie ein paar schicke Fotos obendrauf – doch das Thema dieses Buches ist mit vier Buchstaben beschrieben. AIDS. Vier kleine Buchstaben, die die Menschheit bestürzten, ängstigten und in der westlichen Welt heute viel von ihrem Schrecken verloren haben. Eine Krankheit, mit der man bei entsprechender Medikation einigermaßen leben kann und die heute nur noch ein Randthema ist. In der westlichen Welt wohlgemerkt. In anderen Welten nach wie vor eine schreckliche Geißel,  die hierzulande aber kaum mehr zur Kenntnis genommen wird und für die sich in Zeiten globaler Finanzgrippen nur noch wenige engagieren.

In den 1980er Jahren sah Elton John einen Freund, einen geliebten Menschen nach dem anderen an AIDS sterben. Er beobachtete Ächtung, Stigmatisierung und unsägliches Leid. Sein eigenes Leben war zu dieser Zeit ein Chaos im Drogensumpf. Den Ausschlag, an diesem Leben etwas zu ändern und sich mithilfe philanthropischer Aktivitäten selbst aus diesem Sumpf zu ziehen, gab das inspirierende Leben und verheerende Sterben eines kleinen Jungen –Ryan White – mit dessen Familie sich Elton John angefreundet hatte. Er unterzog sich einer Entziehungskur, lernte dort viel über sich und über Methoden der Hilfe zur Selbsthilfe und setzte all dies schließlich um in die Gründung der heute weltweit erfolgreich tätigen EJAF, der Elton John Aids Foundation. So ist das Buch im Wesentlichen eine Biographie der EJAF, es berichtet über deren Arbeit, über die ungezählten Treffen mit Politikern aus verschiedenen Epochen, Regierungen und Ländern. Aber es vermittelt eben auch die Erkenntnisse, die Elton John während dieser Jahre gewonnen hat und es zeigt Mittel und Wege, wie AIDS eingedämmt und besiegt werden kann. Elton John geht dabei hart mit Politikern, Pharmaunternehmen und auch kirchlichen Institutionen ins Gericht, bleibt aber gleichwohl fair. Das Buch ist in einer recht simplen leicht verständlichen Sprache geschrieben. Gerade so, als würde der Sänger neben einem sitzen und sein Anliegen erklären. Dennoch ist deutlich zu spüren, dass Elton John weiß, wovon er redet. Logisch führt er aus, wie sehr gerade Stigmatisierung, Macht- und Gewinnstreben verhindern, dass Aids weltweit besiegt wird. Er rechnet vor, dass die tatsächlichen Kosten für eine Ausrottung der Geißel “nur ein Tropfen wären im riesigen Ozean weltweiter Regierungsausgaben” und das man das Geld nicht einmal vermissen würde.

“Egal, ob man der reichste Mensch der Welt ist oder absolut gar nichts hat, jeder hat das Recht, mit Respekt und Mitgefühl behandelt zu werden.” Dies ist die Erkenntnis, welche die Basis der Stiftungsarbeit darstellt. Elton John endet tatsächlich mit der titelgebenden Erkenntnis, Liebe ( zu den Mitmenschen ) ist das Heilmittel. Die Kernbotschaft des Buches ist somit simpel gestrickt, aber in ihrer naiven und einfachen Logik auch einleuchtend.
Fazit: Love ist the cure ist streckenweise unterhaltsam und regt zum Nachdenken an. Seinem Motiv, einen mit vielen Fakten untermauerten längst überfälligen Gedankenanstoß zu geben, dürfte Elton John mit diesem Buch voll und ganz gerecht geworden sein.

Elton John 
Love is the cure, 209 Seiten
Hoffmann und Campe 2012
ISBN 978-3-455-50274-9 


Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by Hoffmann und Campe

Gutgeschriebene Verluste

Gutgeschriebene VerlusteIn seinem autobiographischen Werk »Gutgeschriebene Verluste« thematisiert Bernd Cailloux Einsamkeit als Gruppenerlebnis. Er beginnt und endet seine als Roman gewandeten Memoiren in einem Schöneberger Szene-Café, das er als »Treffpunkt der Übriggebliebenen« charakterisiert. Dort trifft der Erzähler auf ein werweißwie zusammengewürfeltes kontaktscheu-cooles Publikum, allesamt Virtuosen der Distanz. Wie einer anderen Rezension entnommen werden kann, handelt es sich dabei konkret um »Literatur-Professoren, die in der FAZ schreiben, Herausgeber von intellektuellen Zeitschriften, Maler, Suhrkamp-AutorInnen, taz-Redakteure, sonstige Künstler und eine Frau mit 2/5 Stelle bei einem Rundfunksender«.

Cailloux kommt in den gern als »wild« apostrophierten 68ern aus Hamburg ins damalige Westberlin. Der Hippie-Businessmann hält sich mit Beiträgen fürs Radio über Wasser und schreibt derweil an »freien« Texten; er fürchtet, die bezahlte Schreiberei zerstöre den literarischen Stil. Das in den Nachkriegswirren kompliziert aufgewachsene Scheidungskind, ein vom Zeitgeist geleiteter Twen(tysomething), kann sich »unter Einfluss des rebellischen Achtundsechzigergezerres an der Institution Famlie zur biologisch pünktlichen Gründung einer eigenen Familie nicht durchringen.«

Er bleibt – vielleicht unterstützt von einer kurzen Karriere als Drogenabhängiger – »ein Schwellenwesen, weder hier noch da wirklich drin und obendrein zu schwach, zu ängstlich …« Entsprechend farblos bleibt sein Auftritt bei einer Diskussionsveranstaltung, bei der er gemeinsam mit ehemaligen RAF-Mitgliedern und einstigen SDS-Führer zum Thema »68« sprechen soll und die einen zentralen Platz im Buch einnimmt. Letztlich landet er doch wieder in dem Schöneberger Café, um seine Wunden zu lecken und sein vermeintliches Leidkapital in einen weiteren Roman zu verwandeln.

Es wundert kaum, dass im Ergebnis ein melancholisch trübsinniges Lebensbild gezeichnet wird, das sich weitgehend negativ liest. Handelt das Buch also von jenen Verlusten, die dem Autor in menschlicher, charakterlicher und auch partnerschaftlicher Hinsicht widerfahren (es mäandert eine farblose »Ella« durch das Werk, die ihn wohl aus Gründen wieder verlässt), dann können sie am Ende kaum auf der Habenseite der Lebensbilanz auftauchen. Diese Verluste müssten, anders als der Titel behauptet, nicht »gutgeschrieben«, sie müssten abgeschrieben werden.

Ist dieser »Roman mémoire« gut geschrieben? Immerhin ist das Werk bei Suhrkamp erschienen; die Veröffentlichung wurde vom Deutschen Literaturfonds sowie dem Land Berlin finanziell gefördert, und das weckt hohe Erwartungen. Der Leser kämpft sich deshalb tapfer durch einen Dschungel von Phrasen »… ein durchaus verachtungswürdiges Geschäft, ein Anschlussgeschäft sozusagen, in dem die feinsten Formulierungen des einst rauhesten Geschehens, seine im nachhinein hartethische Verkunstung so wie der medienschnittige Zitatenprunk gehandelt wurden …«

Im Ergebnis kommt fast Mitleid mit dem Autor auf, der mit sich und den Zeitläufen hadert. Dabei hat der Rezensent die besten Voraussetzungen, dieses Buch anzunehmen: Er ist nur wenige Jahre jünger als der Autor, er ist ebenso wie er in den 68ern nach West-Berlin gezogen, er kennt das Milieu, über das Cailloux schreibt, er hat ähnliche Künstlerkandidaten, Lebenshungrige, Zauderer und Zweifler erlebt. Beide haben ähnliche berufliche Hintergründe. Mehr noch: Ein- und dieselbe Krankheit bedrohte beider Leben, sie haben sogar den gleichen Genom-Typ, durchliefen die gleichen grässlichen Therapien und Medikamentationen. Bessere Voraussetzungen kann ein Rezensent nicht haben!

Dennoch …

… hat all das nur gereicht, sich durch die 271 Buchseiten der Veteranen-Lebenssicht von Bernd Cailloux zu schleppen. Für eine Empfehlung aus vollem Herzen reicht es leider nicht.


Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Horns

Iggy Perrish erwacht nach einer Nacht, in der er schlimme Dinge getan hat, reichlich verkatert und muss feststellen, dass ihm Hörner aus der Stirn gewachsen sind. Aber das ist nur ein weiterer Stein in dem Rucksack, den er mit sich herumschleppt, denn er wird immer noch verdächtigt, vor einem Jahr seine Freundin erschlagen zu haben. Schnell merkt Iggy, dass die neuen Körperteile mit einer besonderen Gabe ausgestattet sind: Sobald jemand sie erblickt, verfällt er in eine Art Trance und plaudert bereitwillig die dunkelsten Geheimnisse seines Lebens aus. Auf diese Weise entdeckt Iggy rasch die Identität des wahren Mörders und plant seine Rache. Ganz so einfach ist das jedoch nicht, denn seine Fähigkeiten sind begrenzt und sein Körper beginnt, sich weiter zu verändern…

Joe Hill ist mit „Horns“ erneut ein höchst veritabler Horrorthriller gelungen, flott und verdammt spannend geschrieben, dazu eine Menge schwarzer Humor gewürzt mit Empathie, eine exquisite Mischung. Natürlich ist der Leser versucht (ich nehme mich da nicht aus), in seinen Büchern Parallelen zum Werk des berühmten Vaters zu finden, aber das sollte man der Fairness wegen unterlassen; es ist auch nicht nötig, denn der Autor kann sehr gut auf eigenen Füßen stehen. Nach einem rasanten Start erfolgen dann etliche Rückblenden mit einigen Längen, aber die Protagonisten sind allesamt stimmig in die Handlung eingebaut, die beim Leser zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen lässt. Außerdem: Wer ein Kapitel seines Buchs mit „The Gospel according to Mick and Keith“ betitelt, hat nichts anderes als die Höchstwertung verdient!


Genre: Horror
Illustrated by Gollancz

Wie Autoren ihre unbewussten Kräfte aktiv nutzen können

Wohl jeder, der regelmäßig schreibt, sei es beruflich oder auch einfach nur aus Spaß an der Freud’ kennt folgende Situation: Man sitzt vor dem Monitor/der Schreibmaschine/einem Blatt Papier und wartet darauf, dass sich dort möglichst geistreiche Sätze von selbst materialisieren, da das eigene Gehirn beschlossen hat, es heute mal etwas ruhiger angehen zu lassen. Es muss sich dabei ja nicht gleich um eine ausgewachsene Schreibblockade handeln, nein, es reichen schon ein wenig Ablenkung, fehlende Fokussierung, die teuflische Versuchung der Prokrastination oder tausend andere Dinge. Blöd nur, wenn der zu erstellende Text keinen Aufschub mehr duldet.

In Fällen wie diesen empfiehlt es sich, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und zwar diesen Ratgeber von Rupi Frieling. Der Autor greift hier ganz tief in seine Trickkiste und steigt hinab in das Unterbewusstsein, um dem Leser (bzw. dem Schreiber) zu helfen, dort verborgene Schätze zu bergen. Und Frieling weiß fürwahr, wovon er spricht, hat er sich doch schon sein ganzes Leben höchst erfolgreich mit Literatur beschäftigt, sei es als Leser, als Autor oder als Verleger.

Allerdings hat das Buch weit mehr zu bieten als pfiffige Psycho-Tipps, es wartet mit vielen Beispielen von Größen der Literaturgeschichte auf und gibt hilfreiche Ratschläge in allen Belangen des Schreibens und Veröffentlichens. Das Wichtigste jedoch: Es macht dem angehenden Autor Mut, sein Ziel zu verfolgen, und zwar von der ersten bis zur letzten Seite. Frieling geht dabei mit bestem Beispiel voran, denn alleine schon wegen des Vergnügens der fein geschliffenen bilderreichen Sprache lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.


Genre: Ratgeber
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Abschalten

Können Menschen, die sich für unverzichtbar halten, abschalten? Müssen sie Gefahr laufen, dass ihre Unentbehrlichkeit hinterfragt wird, wenn sie ein paar Wochen ausnahmsweise nicht ihren Arbeitsplatz verteidigen? Verlieren Sie an Ansehen, falls sie den Stress unterbrechen wollen? Dürfen sie überhaupt abschalten?

Martin Suter beantwortet diese Fragen mit Porträtminiaturen aus dem Management hierarchischer Unternehmen. Es geht um Manager, denen das Undenkbare widerfährt: Sie sollen Ferien machen!

Ein Entscheidungsträger, der sich wichtig nimmt, so lesen sich zumindest Suters Geschichten, setzt alles daran, seinen Urlaub zu verhindern. Er erfindet notfalls Projekte, um seiner Familie zu suggerieren, dass sie leider ohne ihn in Urlaub fahren müsse. Falls es dennoch gemeinsam auf Reisen geht, terrorisiert er seine Umwelt mit dem zwanghaften Versuch, die Freizeit zu managen. Denn das ist das Schlimmste: zur Untätigkeit gezwungen zu sein.

Dabei hält er ständig Kontakt mit seinem „Back Office“. Es könnte schließlich sein, dass der Betrieb untergeht, während er fort ist. Oder, noch krasser: Die Firma will nicht untergehen, obwohl er durch Abwesenheit glänzt. Am allerschlimmsten aber wäre, laut Suter, das Unternehmen wächst und gedeiht, gerade weil der angeblich Unentbehrliche nicht vor Ort wirbelt.

Mit seinen Geschichten beweist Suter, dass er sich in oberen Managementetagen auskennt. Seine Miniaturen lesen sich vergnüglich, wenngleich ihnen kräftigerer Biss gut bekommen würde. Der Autor erweist sich als ausgezeichneter Beobachter. Er kennt die sich häufig nur um sich selbst drehende Welt der Manager; er beherrscht ihren inhaltsleeren Jargon.

„Abschalten“ ist ein hübsches Geschenk für Zeitgenossen, die an der „Managerkrankheit“ zehren. Sie werden sich in manchen Storys wiedererkennen und darüber schmunzeln. Viel mehr allerdings auch nicht. Zudem sind die meisten der Texte bereits in anderen Suter-Büchern veröffentlicht: Lediglich 13 von den insgesamt 58 Kurztexten, also weniger als ein Viertel, wurden bislang noch nicht bei Diogenes veröffentlicht.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diogenes Zürich

Throttle

Vince ist der Anführer einer Motorrad-Gang, bestehend aus Veteranen der Kriege in Vietnam und Irak, darunter auch sein Sohn Race, mit dem ihn ein zwiespältiges Verhältnis verbindet. Da bei einem geplatzten Drogengeschäft die Dinge außer Kontrolle geraten sind, versuchen die Jungs erst einmal Land zu gewinnen, unschlüssig und uneins über das weitere Vorgehen.

Nach einem kurzen Aufenthalt in einer Raststätte bekommen es die Biker aus heiterem Himmel mit einem mächtigen Gegner zu tun: Ein Riesentruck, der sie nacheinander aufs Korn nimmt, scheinbar grundlos gnadenlos Jagd auf sie macht und sie über die menschenleeren Highways hetzt. Nun muss sich die zerstrittene Gruppe zusammenraufen, um eine Chance aufs Überleben zu haben…

Diese Kurzgeschichte ist eine Hommage an Richard Matheson’s “Duell”, das unter dem gleichnamigen Titel von Steven Spielberg erfolgreich verfilmt wurde. Zwangsläufig fehlt den Protagonisten etwas die Tiefe, aber dafür werden Action und Spannung gekonnt hochgehalten, dem Leser bleibt kaum Zeit zum Luftholen. Reizvoll dabei auch aus Sicht der Autoren der Vater-Sohn-Konflikt in der Geschichte, handelt es sich bei Joe Hill doch um den ältesten Sohn von Stephen King.

Die beiden haben ihre Kooperation souverän hinbekommen, man darf getrost annehmen, dass Großmeister King eher für die Entwicklung der Story zuständig war und dem Sohnemann die drastische Schilderung graphischer Details überlassen hat. Und ja, im Gegensatz zu Spielbergs Film wird auch ein Motiv für die Handlungen des durchgeknallten Truckers geliefert.

“Throttle” ist beispielhaft für die Möglichkeiten des eBook, die gerade Stephen King schon früh erkannt hat, er bietet den Fans hier einen schnellen Happen für zwischendurch und verkürzt ihnen so die Wartezeit bis zum nächsten 900-Seiten-Wälzer.


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by William Morrow

Monströs

Chris Karlden ist als Autor ein bislang unbeschriebenes Blatt. Der Saarländer legt mit »Monströs« seinen Erstling vor und trifft damit gleich voll ins Schwarze. Aus dem Nichts schob der Self-Publisher seinen Psychothriller in die Top Ten von Amazons Bestenliste.

Ex-Anwalt Martin Waller wurde erpresst und verhalf damit einem Mörder zur Freiheit. Dafür stieg er aus der Welt der schwarzen Roben aus und baute sich eine neue Welt als Möbelrestaurator auf. Doch seine einstige Missetat soll sich rächen. Ihm auf den Fersen ist Eddie Kaltenbach. Der ehemalige Killer und sein bestialisches Alter Ego Raphael ziehen eine blutige Spur durch die Geschichte und lassen sich letztlich doch nur wie eine Marionette führen. Zwar hilft Ram, ein freakiger Hacker, Waller mit Recherchen. Und auch Selma, eine kühle Blondine, ist immer zur Stelle, wenn Waller Rat braucht. Doch all das reicht nicht aus, das Grauen abzuwenden, das ihn im Schneesturm in einem Zermatter Berghotel erwartet. Weiterlesen


Genre: Thriller
Illustrated by Kindle Edition

Katzentisch

KatzentischExotischer Schauplatz des Geschehens: Ein Ozeanriese mit dem Prunk und Pomp der frühen fünfziger Jahre auf dem Weg von den Kolonien des britischen Empire heim ins geliebte Mutterland. An Bord eine bunt gemischte Gesellschaft, die noch ignorieren kann, dass die glanzvollen Zeiten des britischen Empire hinter ihnen liegen.

Unter diesen Passagieren sind die drei Kinder Michael, Ramadhin und Cassius, die auf dieser Reise ihre ersten Schritte heraus aus einer zwar wohlbehüteten, aber exotischen kolonialen Kindheit machen werden. Im Speisesaal sind die Kinder an den Katzentisch verbannt, gemeinsam mit anderen Außenseitern wie der altjüngferlichen Perinetta Lasquetti, die ihre Brieftauben an Deck spazieren führt oder dem melancholischen Pianisten Max Mazappa, der den Katzentisch mit obszönen Schlagern unterhält. Die Gesellschaft am Katzentisch ist gleichwohl geheimnisumwitterter, unterhaltsamer, spannender als die gepflegte Langeweile in der ersten Klasse, das merken die drei sehr schnell. Die drei Kinder sind alleine an Bord, fast ohne jede Aufsicht oder Kontrolle durch Erwachsene und für sie ist das alles ein großes Abenteuer. Sie beschließen, jeden Tag mindestens ein Verbot zu übertreten. Sie picknicken stibitzte Häppchen in den Rettungsbooten, tauchen des Nachts im Swimmingpool, assistieren einem charmanten, aber diebischen Baron, beobachten Michaels schöne Cousine Emily bei der ersten Liaison ihres Lebens mit dem Wahrsager der Artistengruppe und sind zu guter Letzt unbeabsichtigt verantwortlich für den Tod eines mit dem Fluch der Tollwut belegten steinreichen Großmoguls. Nach der Reise verlieren sich ihre Wege, kreuzen sich aber später wieder. Sie hören nicht auf den Rat der klugen Perinetta “Verzweifle jung und blicke nie zurück”, sondern interpretieren diese Reise als prägend für ihr ganzes Leben. Für sie waren es neben den Abenteuern die Fremden am Katzentisch, die sie an diesem frühen Wendepunkt ihres Lebens zu anderen Menschen machten.

Die Erzählung wirkt wie ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten, eine Hommage an die Zeit, als Sri Lanka noch Ceylon hieß und das britische Empire führend in der Welt. Das Schiff wirkt wie das Sinnbild einer Arche für alle möglichen Typen von Menschen, die meisten davon entwurzelt. Den Kindern noch unbewusst stellt dieses Konglomerat die Weichen für ihre Entscheidung, an welchem Tisch des Lebens sie künftig sitzen wollen. Katzentisch ist ohne Frage ein klug konstruiertes Buch, gezielt die wehmütigen Gefühle im Visier, die solcherlei Kindheitserinnerungen beim Leser wecken mögen. Dabei schießt der Autor gelegentlich über sein Ziel hinaus. Ich empfand den Roman als überkonstruiert und in dieser Form berechnend.

Nach dem englischen Patienten konnte Ondaatje nie wieder so recht an diesen großen Erfolg anknüpfen. Nachdem der englische Patient ein Mann ohne Erinnerung war, geht es im neuen Roman nun in erster Linie um die Erinnerung und was sie aus unserem Leben macht. Ondaatje betont in einer Nachbemerkung, die Erzählung sei reine Fiktion – gleichwohl, die Versuchung ist groß, autobiographische Züge in den Roman zu deuten.
Schon früh im Buch heißt es: “Wir haben alle einen alten Knoten im Herzen, den wir gern lockern und auflösen würden.” Von da an kann der Leser sich kaum des Eindrucks erwehren, Ondaatje habe sich mit diesem lyrischen Abenteuerroman von etwas befreien wollen. Dafür aber setzt er dem Leser enge Grenzen, an keiner Stelle gestattet er ihm, eigene Bilder und Phantasien zu entwickeln.  Die Erzählstränge reichen fragmentarisch bis in die Gegenwart, verlaufen aber oft im Unklaren. Gegen Ende des Buches wird es immer mühsamer, diesen zu folgen oder sie gar sinnvoll zu entwirren, zumal etliche Protagonisten sehr distanziert und kühl beschrieben werden. Empathie kommt so nicht auf.

Vom Pianisten Mazappa lernt der Junge Michael Du darfst Dich nie für unwichtig im großen Zusammenhang des Lebens halten. Dass man sich aber nie für zu wichtig halten sollte, hat keiner hinzugefügt. Obwohl dem Roman das sicher gut getan hätte. Was immer die Intention des Autors war – die Berechnung seiner Konstruktion hat Schönheitsfehler

Der Autor: Michael Ondaatje ist wurde 1943 in Colombo,Sri Lanka, damals Ceylon, geboren und lebt nach etlichen in England verbrachten Jahren heute als eingebürgerter Schriftsteller und Dichter in Kanada. 1992 gelangte er mit dem später verfilmten Roman Der englische Patient zu Weltruhm.


Genre: Romane
Illustrated by Carl Hanser München