Töchter des Nordlichts

Kabus-Toechter-des-Nordlichts-orgFinnmark 1915: Abrupt endet das friedliche, naturverbundene Nomadenleben des Sami-Mädchens Áilu. Auf der Wanderung zu den Sommerweiden ihres Stamms wird sie von norwegischen Beamten mitgenommen, die sie in ein Internat stecken. Dort und später in einem Waisenhaus soll sie zu einem “zivilisierten” Mädchen geformt werden. Nach langem Widerstreben ergibt sie sich in ihr Schicksal und wird die Vorzeige-Schülerin Helga. Doch der Tag kommt, an dem sie ihre Herkunft nicht länger verleugnen will – koste es, was es wolle.

Oslo 2011: Die Erzieherin Nora erfährt mit Mitte dreißig endlich den Namen ihres Vaters: Ánok, ein samischer Student der Medizin. Er verschwand damals plötzlich aus dem Leben ihrer Mutter. Nora ist schon lange nicht wirklich glücklich in ihrem Leben, sie spürt, dass ihr etwas Entscheidendes fehlt, um sich selbst und das, was sie vom Leben wünscht, zu verstehen. Sie reist hoch in den Norden, auf den Spuren ihres Vaters in seine Heimat. Sie lernt die Sami und ihre Kultur kennen, ist fasziniert davon, doch es bleibt ihr lange fremd. Bis sie ihre Oma findet, mit ihr einen Teil ihrer Wurzeln und durch sie Mielat kennenlernt, einen Wissenschaftler und Hundezüchter, der in beiden Welten zu Hause ist und ihr hilft, über Generationen hinweg den Kreis zu Áilu zu schließen.

Töchter des Nordlichts” ist ein erstaunliches Buch. Anders als bei manch anderem Werk weckt die Beschreibung zunächst einmal Interesse, aber keine allzu hohen Erwartungen. Diese werden dafür dann aber um ein Vielfaches übertroffen. Man erwartet gediegene Unterhaltung, die bekommt man auch, aber – man sieht sich plötzlich mit einem Stück Geschichte konfrontiert, von dem man wenig wusste und das nun tief betroffen macht und den Leser ganz schnell ganz tief in den Sog dieser Geschichte zieht. Einerseits. Andererseits ist man aber erstaunt ob der Unwissenheit, die man bisher über dieses Kapitel europäischer Geschichte hatte. Wem ist das schon klar, dass es auch in Europa Ureinwohner gab, deren Kultur schändlich geschmäht und auszumerzen versucht wurde. So ergeht es auch Nora. Am Beginn ihrer Reise ist ihr Àilu sehr ferne, am Ende aber wird es auch Áilus Geschichte sein, die sie in der Zukunft leiten wird.

Die in Vergessenheit geratene Kultur der Samen ist durchaus geeignet, nicht nur Nora unser heutiges Wertesystem in Frage stellen zu lassen. Die Autorin Christine Kabus untermalt dies eindringlich mit wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, ehrlichen Eindrücken über das Leben im rauen Norden, gerne auch bezugnehmend auf die Sagen und Traditionen der alten Völker. Bei aller Eindringlichkeit erzhlt die Autorin in einem unaufregten, angenehm zurückgenommenen klassischen Stil. Die Zeitebenen wechseln, aber der Roman bleibt durchweg gut strukturiert, dabei hilft enorm, dass die Autorin die Technik des Cliffhangers routiniert beherrscht. Ihre Cliffhanger kommen gar nicht immer so spektakulär daher, bleiben aber lange genug in Erinnung, um beim Wechsel der Zeitebenen gut wieder an die jeweilige Geschichte anzuknüpfen und keine Fragen offen zu lassen. Ihren Charakteren bringt sie viel Verständnis und Wärme entgegen, gerade auch denen, die zunächst als stur und uneinsichtig vorgestellt werden. Deren Beweggründe werden gut erklärt in die Geschichte gewoben, ihre Entwicklung und überhaupt die aller Charaktere ist nachvollziehbar und wird gerne begleitet.

Die Töchter des Nordlichts heben sich sehr angenehm ab von den leider oft genug einfach so dahingehudelten Romanen in diesem so einfach anmutenden und doch so schwierig zu schreibenden Genre des Gesellschaftsromans. Christine Kabus hat sorgfältig und aufwändig recherchiert, man merkt es gut, dass diese Fleißarbeit ihr letzten Endes das Erzählen leicht gemacht hat. Schön, dass diese Recherchen auch in Form von sorgfältig erstellten Stammbüchern und Karten mit dem Leser geteilt werden. Schon daran merkt man direkt zu Beginn, dass man hier nicht einfach so eine Familiensaga vorgesetzt bekommt, die jemand mal eben so zusammengeschrieben hat. Da hat sich eine Autorin viel Mühe und Gedanken gemacht. Auch wenn es manchmal den berühmten Tacken zuviel ist. Die Liebesgeschichte zwischen Mielat und Nora hätte auch eine Wendung weniger vertragen, auch Àilu hätte man gut und gerne den ein oder anderen Schicksalsschlag ersparen können. Dennoch nimmt man als Leser dieses kleine bißchen zuviel gerne hin, muss man sich doch dadurch nicht so schnell von den liebgewonnenen Charakteren trennen. Und letzten Endes weckt das Buch nicht nur Verständnis und Interesse, sondern auch Sehnsucht. Nach dem Nordlicht, der Landschaft, aber auch nach den Menschen, die dort leben und deren Kultur man gerne kennenlernen würde.

Die Töchter des Nordlichts knüpfen lose an den Debütroman “Im Land der weiten Fjorde” der deutschen Autorin Christine Kabus an, der in den vergangenen zwei Jahren viele begeisterte Leser fand. Teil drei dieser Norwegen-Trilogie soll folgen, aber es ist kein Muss, diese Bücher zusammenhängend zu lesen, da es keine Fortsetzungsromane im eigentlichen Sinne sind. Die studierte Germanistin Christine Kabus arbeitete vor ihrer Autoren-Karriere als Drehbuchautorin und Regieassistentin. Heute betreut sie als Dramaturgin noch Projekte anderer Autoren und lehrt bei einer Drehbuchwerkstatt. Obwohl sie gebürtige Norwegerin ist und immer nur zu Besuch in diesem Land war, erzählt sie mit viel enthusiastischer Liebe zum Norden.

Zudem freut es durchaus, dass eine deutsche Autorin sich so couragiert an das Genre des klassischen Gesellschaftsromans wagt und dieses Feld nicht nut den versierten Britinnen und Französinnen überlässt. Allzu oft trauen sich deutsche Autoren/Autorinnen das ja leider nicht und wenn, dann wird das gerne in einem kriminalistischen oder humoristischen Mantel verbrämt.

Fazit: Für alle Liebhaber nordischer Welten und Kulturen ein Muss, aber auch sonst uneingeschränkt empfehlenswert. (Man lasse sich da nicht vom weniger gelungenen, leicht kitschigen Cover abschrecken)

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe