Ein ungarischer Herbst

Ein ungarischer Herbst

Ungarn, Herbst 1956. Der Volksaufstand und seine blutige Niederschlagung durch Truppen der Sowjetarmee und der Warschauer-Pakt-Staaten. Gleichzeitig die Suezkrise, die militärischen Aktionen von Großbritannien, Frankreich und Israel gegen Ägypten. Der Weltfrieden in großer Gefahr, gerettet und erhalten nur durch die Interessensaufteilung und lnteressenspolitik der Großmächte, der beiden übriggebliebenen Großmächte vor allem – USA und UdSSR. Dazwischen das eigentlich wirkungslos bleibende, politische ,,Spiel“ einzelner Staaten, Staatsführer, Regierungen. Und die einzelnen Menschen, Handelnde und Leidende im Ereignisprozeß der Geschichte, zielbewußt oder orientierungslos, hoffnungsvoll oder verzweifelt, am Ende – wie immer – die Opfer; die sinnlosen Opfer. Marionetten, die zerbrochen werden, von der Macht, von den Kräften der Geschichte; ob sie nun Imre Nágy oder Eva heißen in diesem Roman, in dieser literarischen Konstruktion aus Fiktion und Wirklichkeit des jugoslawisch-serbischen Autors Ivan lvanji, der nun in Österreich lebt.

Die Geschichte, die erzählt wird, ist einfach. Ein noch unerfahrener, jugoslawischer Sportjournalist fährt ein zweites Mal nach Ungarn, eigentlich nur, um seine Sommerliebe Eva wiederzusehen. Als der Volksaufstand losbricht, gerät auch er in den Strudel der Ereignisse, wird er mit entscheidenden politischen Fragen und Positionen konfrontiert, wird er zum Zeugen der Revolution beim Angriff der Aufständischen, aber auch ihrer Lynchjustiz an den Geheimdienstleuten als den Handlangern eines verbrecherischen Regimes. Und er wird zum Mitwisser und kleinen, aber wichtigen Mitakteur in diesem Drama der Weltpolitik, wenn auch nur für einen Augenblick, als er mit anderen jugoslawischen Journalistenkollegen eine wichtige Nachricht des ungarischen Kommunistenführers János Kádár an Marschall Tito weiterleitet, die später für dessen Geheimgespräch mit Chrustschow auf der Insel Brioni von Bedeutung und somit für die Zukunft Ungarns mitbestimmend ist. Für einen – für diesen -Augenblick tritt er aus der Anonymität seines Ich-Seins heraus in das Licht der Geschichte, der Weltgeschichte; so glaubt er, so fühlt er. Aber am Ende bleiben doch nur die offenen Fragen und der bittere Geschmack im Munde. Was war dieser Aufstand, diese Revolution? Und wer war Eva – dieses Mädchen, seine Sommerliebe, diese Aufständische, die sich am Ende erschießt?

Vierzig Jahre nach der Ungarnrevolution von 1956 und Ihrer Niederschlagung erzählt der Autor und Zeitzeuge Ivan lvanji diese Geschichte, fügt er Bild um Bild zu einem historischen Kaleidoskop zusammen, übermittelt er genau und sorgfältig recherchierte Fakten, erstellt er ein lebendiges Bild der Wirklichkeit. Die Frage nach der Wahrheit kann auch er nicht beantworten. Das kann niemand.

Ivan lvanji: Ein ungarischer Herbst. Roman. Picus Verlag, Wien, 1995, 234 Seiten, öS 298,–

Peter Paul Wiplinger
Wien, 7.11.1995


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Picus Verlag Wien

Die Roma von Oberwart

„Die Roma von Oberwart“ lautet der Titel eines in der edition lex liszt herausgegebenen Buches von Helmut Samer, das mit Unterstützung des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus und der Kulturabteilung beim Amt der Burgenländischen Landesregierung erschienen ist und zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart Stellung bezieht.

In einzelnen Kapiteln, die wiederum in thematische Gruppierungen unterteilt sind, wird sehr übersichtlich und anschaulich einerseits im Rückblick die Geschichte der burgenländischen Roma dargelegt, im anderen Teil, der sich mit der gegenwärtigen Situation – vorallem nach dem Attentat vom 4. Februar 1995 – beschäftigt, das aufgezeigt, was die burgenländischen Roma durch eigene Initiative und engagierte Tätigkeit für sich selbst erreicht haben; denn die nach dem Attentat von österreichischen Spitzenpolitikern versprochene Hilfe von außen war weder sehr groß, noch wirklich engagiert. Das war mehr ein Lippenbekenntnis und einmal mehr ein Akt der politischen PR-Selbstdarstellung denn eine Korrektur der eigenen Versäumnisse und Defizite. Anerkannt wurden die Roma in Österreich als Volksgruppe ja ohnedies erst 1993, also erst ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust, dem ein Großteil der Volksgruppe, ja des Roma-Volkes in Europa überhaupt zum Opfer fiel.

Die Geschichte der burgenländischen Roma wie auch der Roma und Sinti anderswo war und ist eine Geschichte der Unterdrückung, der Verfolgung, der Verweigerung und Verletzung von Menschenrechten. Ausgrenzung war das Mildeste, was den „Zigeunern“ passierte und noch immer passiert; hier und anderswo. Und sprach man von Integration, von „Assimilierung“, dann bedeutete dies – seit den Zeiten Kaiserin Maria Theresia’s – Zwangsmaßnahmen mit dem Ziel, die „Zigeuner“ zu disziplinieren, zu „zivilisieren“, d.h. ihnen die Kultur und Sprache des Mehrheitsvolkes aufzuzwingen und ihnen ihre eigene zu verbieten, zu nehmen, auszurotten.

Dabei handelte es sich bei den Roma um keine Immigranten im heutigen Sinn; denn sie waren bereits vor Jahrhunderten in ihre Siedlungsgebiete eingewandert und lebten schon lange Zeit mit – besser gesagt neben – dem Mehrheitsvolk und seiner Kultur; hatten sich auch weitgehend angepaßt, was die Umgangssprache in der Öffentlichkeit betraf, sprachen diese und auch andere Sprachen; denn sie reisten viel herum, über die Grenzen hinweg. Sie begriffen sich nicht als Staatsbürger, sondern als Zugehörige zu ihrem Volk und ihrer eigenen jahrhundertealten Tradition und Kultur. Vor langer Zeit waren sie aus Indien nach Europa gekommen, was man ihnen auch heute noch ansieht. Denn wenn man zum Beispiel einen burgenländischen Roma in Wien sieht, der den breitesten Dialekt spricht und vielleicht gar nicht mehr so gut sein Romanes, so schaut der vielleicht so aus, als wäre er gerade aus Kalkutta oder Bombay gekommen, so dunkel kann seine Hautfarbe sein. Vielleicht ist es allein das – dieses äußerliche Anderssein – daß er von vielen als Fremder, als Außenstehender angesehen und als solcher behandelt wird, weil er und seinesgleichen – „überhaupt solche Leute“, wie manche aus dem Mehrheitsvolk oft sagen – „mit uns eigentlich nichts zu tun haben“.

Schon ab dem 16. Jahrhundert sind die burgenländischen Roma aus Zentralungarn ins Gebiet des heutigen Burgenlandes eingewandert; genauso wie die Burgenlandkroaten vom kroatischen und dalmatinischen Küstenland, vom Norden Bosniens sowie vom Donaugebiet Slawoniens, die man ebenfalls gerne aufgenommen hat, weil viele Dörfer nach dem Dreißigjährigen Krieg und nach den Türkeneinfällen ausgestorben waren. Aber kaum hatten sich die Roma niedergelassen, auf ihre Weise mit ihren Pferdewagen, wurden sie auch schon wieder da und dort vertrieben. So ordnete zum Beispiel Kaiser Karl VI an, daß „die Zigeuner und jegliches liederliche Gesindel in Österreich“ ausgerottet werden sollten und daß aufgegriffene Roma mit Brandmalen auf dem Rücken zu kennzeichnen seien und sie geköpft werden sollten, wenn sie wieder zurückkämen. Wenig später (1726) steigerte er sich sogar noch, indem er eine Verordnung erließ, derzufolge alle männlichen Zigeuner hingerichtet sowie Frauen und Kindern ein Ohr abgeschnitten werden sollte, so man ihrer habhaft würde. Kaiserin Maria Theresia hingegen verfolgte eine andere , eine „humanere“ Politik. Sie wollte aus den Zigeunern „ordentliche“ und „nützliche“ Bürger machen; dies natürlich mit Zwangsmaßnahmen. So verfügte sie durch Verordnungen zwischen 1758 und 1773 eine „Zivilisierung“ und „Domicilierung“ der Zigeuner – sie sollten ihre alte Lebensweise aufgeben, sich (als „Neocoloni“/“Neubauern“) niederlassen und ein Handwerk lernen – was mittels eines repressiven Umerziehungsprogrammes erreicht werden sollte. In der Praxis bedeutete dies ein Verbot der eigenen Sprache und Kultur, Kindeswegnahme, Heiratsverbot unter Zigeunern, Zwangsansiedlung.

Nach der Regentschaft Josef II, der die zwanghafte Assimilierungspolitik seiner Mutter noch verschärft fortführte, gab es eine längere Periode der Beruhigung, während der sich die Roma innerhalb einer begrenzten Duldung erholen konnten, was zu einem Anwachsen ihrer Population, zur Seßhaftigkeit und zur Vergrößerung der „Zigeunerkolonien“ am Rande der Dörfer beitrug. Nachdem die erwachsenen männlichen Roma im Ersten Weltkrieg patriotisch ihr Leben für Gott, Kaiser und Vaterland eingesetzt und in vielen Fällen auch verloren hatten – „geopfert“ nannte man das – und sich in feindlichen Heeren auch gegenübergestanden waren, begann eine Phase neuer Repressalien durch behördliche Reglementierungen, welche die begrenzte Freiheit der Roma wiederum weiter einschränkte. Man sprach im Amtsdeutsch nun von „Zigeunerbanden“, derer man Herr werden müsse. Mit der Angliederung des Burgenlandes an Österreich kamen 1921 auch einige tausend Roma zu Österreich. Man versuchte nun, alle Roma personaldatenmäßig zu erfassen, sie mußten sich fotografieren und registrieren lassen. Seit 1928 führte das Bundespolizeikommissariat Eisenstadt eine „Zigeunerkartei“, in der rund achttausend Roma namentlich und mit Fingerabdrücken verzeichnet waren. Eine perfekte Vorarbeit war also damit geleistet für den Zugriff der späteren NS-Schergen und den rassistischen Massenmord an den Roma im Holocaust. Massive Propaganda und der aufblühende Nationalismus, die Begeisterung für das völkische Deutschtum taten das Ihre, um die Romafeindlichkeit weiter zu schüren und zu etablieren. Man sprach wiederum von der Asozialität der Roma, von ihnen als einer „Landplage“, einer „Kulturschande“.

Der spätere Gauleiter des Burgenlandes, Dr. Tobias Portschy, bediente sich bei der Formulierung seines Programmes zur Lösung der „Zigeunerfrage“ auch schon relativ früh des Begriffes „Ausmerzung“ und schlug als Mittel dafür Zwangsarbeit, Deportation, Sterilisation der Roma vor und forderte, dieses Problem einer „nationalsozialistischen Lösung“ zuzuführen; was später dann ja auch geschah, durch massenhafte systematische Ermordung im KZ. Nach dem Krieg und dem Ende der NS-Terrorherrschaft wurde dieser Mann etwa nicht als Propagandist und Wegbereiter für den Holocaust und die Ermordnung burgenländischer Roma-Mitbürger behandelt; nein, der Herr war dann sogar in einem Sparkassenvorstand und bewegte sich in der Nähe einer Regierungspartei, war ein geachteter Bürger. Gerade, daß man ihm nicht einen Orden für Verdienste um das Land Burgenland verliehen und umgehängt hat. Österreichische Vergangenheitsbewältigung! Alle hatten sowieso nur ihre Pflicht getan! Manche eben ein bißchen mehr. Aber alle waren nur Opfer vergleichbarer Gewalt. So das abstruse „persönliche Geschichtsbild“ eines österreichischen Volksanwaltes zur Zeit, das er über die Massenmedien kolportiert; ohne daß er konsequenterweise sofort abtreten müßte.

Gleich nach dem „Anschluß“ und der Errichtung der NS-Herrschaft setzten weitere Diskriminierungen und Repressionsmaßnahmen gegen die „Zigeuner“ ein. Den Roma-Kindern wurde der Schulbesuch verboten. Mischehen waren nicht erlaubt. Beziehungen fielen unter den Begriff „Rassenschande“ und unter die strengen Sanktionen dafür. Die Forderung, das Burgenland „zigeunerfrei“ zu machen, erfüllte man dadurch, daß man die Roma in Arbeitslager (Lackenbach) sperrte oder sie gleich in die KZ deportierte; so schon dreitausend Roma im Juni 1939 als „Asoziale“ und „kriminell Anfällige“. Die Bedingungen und Zustände im Anhalte- und Arbeitslager Lackenbach bei Oberpullendorf, wo heute ein bescheidenes Denkmal an die Leidenszeit der Roma erinnert und mahnt, waren unmenschlich und katastrophal. Mehr als zweitausend Personen waren dort auf engstem Raum zusammengepfercht. Die schlechten sanitären und hygienischen Verhältnisse begünstigten den Ausbruch von Krankheiten und Epidemien (Flecktyphus) und steigerten die Mortalität der geschundenen „Häftlinge“. Trotzdem erhöhte sich der Lagerbestand durch Neuzugänge. Um ihn zu verringern, wurden am 4. und 8. November 1941 tausend Personen in das Ghetto von Lodz (Litzmannstadt) gebracht und von dort später nach Chelmo (Kulmhof), wo sie der Vergasung zum Opfer fielen. Dann kam 1943 der „Auschwitz-Erlaß“; und mit ihm der Massenmord an den Roma und Sinti auf der Grundlage der NS-Rassenideologie und entsprechend den Maßnahmen zur „Endlösung“. Insgesamt kamen etwa zwanzigtausend Roma und Sinti in das dreißig Barackenlager umfassende „Zigeunerfamilienlager“ nach Auschwitz-Birkenau; ab Februar 1943 auch ca. 2760 österreichische Roma und Sinti. Im Sommer 1944 wurde dieses „Zigeunerfamilienlager“ aufgelöst. Nach der Selektierung der noch arbeitsfähigen Männer und Frauen und deren Abtransport in die KZ Buchenwald und Ravensbrück wurden die Verbliebenen in der Nacht vom 2. auf den 3. August durch Vergasung liquidiert. Es waren 2897 Menschen. Von den zwanzigtausend nach Auschwitz-Birkenau deportierten Roma überlebten nur 1408, von den ca. 8000 burgenländischen Roma nur etwa 500-600. Damit war das „Zigeunerproblem“ gelöst; durch rassistischen Völkermord.

Nach der Befreiung – dem „Zusammenbruch“, wie der Volksmund sagt, dem Wechsel unter eine andere Gewaltherrschaft, wie das ein hoher österreichischer FPÖ-Staatsspitzenfunktionär, ein „Volksanwalt“ der Republik Österreich, seinem „persönlichen Geschichtsbild“ entsprechend unbegreiflicherweise und unter Berufung auf die verfassungsgemäße „Meinungsfreiheit“ bezeichnet – also nach der Befreiung Österreichs und somit auch der noch lebenden KZ-Insassen, darunter die wenigen Roma und Sinti, kehrten die KZ-ler in ihre Heimatorte zurück. Sie fanden aber dort nichts mehr vor, was einst Heimat gewesen war. Die Roma-Siedlungen waren zerstört, dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Heimatgemeinden stellten den ehemaligen Roma-KZ-Insassen – meist nur widerwillig und gezwungenerweise – irgendwelche Notunterkünfte zur Verfügung. So entstanden neue Roma-Siedlungen am Rande der Orte und der Gesellschaft. Da viele ehemalige Roma-KZ-“Häftlinge“ keine Personaldokumente mehr hatten, dachte sich die Behörde einen Ausweg aus: Man erklärte die ausweislosen Roma als staatenlos, womit sie diskriminiert und jeder Willkür ausgesetzt waren. Und bald gab es – wie es jetzt zwar nicht mehr rassenideologisch, sondern nur amtlich hieß – wieder ein „Zigeunerproblem“. Das Rad begann sich von neuem zu drehen. Nicht, daß man den Überlebenden nun Hilfe oder gar „Wiedergutmachung“ angedeihen hätte lassen, ihnen Respekt erwiesen, Mitgefühl entgegengebracht hätte, vielleicht auch in Reue und Sühne; nein, ganz im Gegenteil: Sie wurden wieder genauso schikaniert, gedemütigt und ausgegrenzt wie vor der NS-Verfolgung und so als ob es diese nicht gegeben hätte. Und den (ehemaligen) Tätern ging es wieder einmal besser als den Opfern. Der sogenannte „Zigeunererlaß“ aus dem Jahr 1948 an die österreichische Gendarmerie, der die Außerlandesschaffung von „staatenlosen“ Roma, anordnete, stammte dieses Mal nicht aus Berlin oder von der GESTAPO, sondern kam aus dem Innenministerium (SPÖ/Helmer) der Republik Österreich.

„Wir leben im Verborgenen“ (Ceija Stojka, Picus-Verlag, Wien 1988) könnte die Devise der zurückgekehrten KZ-Überlebenden-Roma nach 1945 gewesen sein, der auch die Realität einer Roma-Existenz entsprach. Die Lackenbach-“Häftlinge“ waren von jeder Opferfürsorge gänzlich ausgeschlossen. Erst im Jahr 1961 bekamen sie auf Drängen der Opferverbände als Entschädigung für ihre „Freiheitsbeschränkung“ 350 Schilling pro Haftmonat zuerkannt. Bei der sogenannten „Wiedergutmachung“ wurden die Roma massiv benachteiligt, wo es nur ging. Niemand kümmerte sich um sie. Wieder einmal war niemand in diesem Land für sie und überhaupt verantwortlich. Kein Wunder bei der weit verbreiteten und selbstverständlich gewordenen Haltung und Praxis, jede Verantwortung für das, was geschehen war und bei dem man nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter und Mitläufer beteiligt gewesen war, von sich zu weisen. Die Öffentlichkeit und die Gesellschaft interessierten sich weder für die sozialen noch für die kulturellen Probleme dieser bedrohten österreichischen „Minderheit“, die erst nach langer Zeit und gegen den passiven Widerstand von Seiten der Politik und Behörde nur aufgrund des zielstrebigen Engagements ihrer Vertreter und einiger weniger Mitstreiter bei gleichzeitigem Erwachen eines neuen Selbstbewußtseins und nach der Gründung wichtiger Interessensvertretungen und Organisationen („Verein Roma“, Oberwart 1989/1993; „Kulturverein österreichischer Roma“, Wien 1991; „Romano Centro“, Wien 1991) als Volksgruppe anerkannt wurde (24.12.1993). Damit hörte dann „das Leben im Verborgenen“ endlich auf; die Diskriminierung im Alltag und die Gleichgültigkeit seitens der Öffentlichkeit den Roma-Problemen gegenüber allerdings nicht.

Am 4. Februar 1995 ereignete sich dann das rassistisch motivierte Attentat eines psychopathischen Kriminellen, dem vier Roma aus der Oberwarter Siedlung zum Opfer fielen. Die österreichische Öffentlichkeit schreckte auf. Medienberichte informierten, interpretierten, beleuchteten den rassistisch-nationalistischen Hintergrund dieses Attentats, spekulierten über die „Bajuwarische Befreiungsfront“ und deren mögliche Querverbindungen zur Neonaziszene in Österreich und im Ausland. Plötzlich waren die Roma im Gerede, wiederum gab es ein „Roma-Problem“; dazu aber auch Zeichen der Erschütterung, der Empörung, des Mitgefühls, der Trauer um die Opfer; begleitet von Solidaritätskundgebungen, Politikeransprachen, Beteuerungen, Versprechungen. Das Begräbnis der Toten als ein Staatsakt. Und dann das Vergessen. Man hatte seine Schuldigkeit getan. Die Republik hatte sich vor den Opfern verneigt, sie betrauert, gewürdigt. Nach den Hintergründen, nach dem geistigen Umfeld, in dem solche Wahnsinnstaten (Rohrbomben/Briefbomben) von politisch verblendeten Verbrechern und Psychopathen angesiedelt sind, fragte nach einiger Zeit niemand mehr. Einige Jahre später demonstrierten Alt- und Neonazis polizeigeschützt auf dem Wiener Heldenplatz und zogen später mit „Sieg Heil!“-Rufen und zum Hitlergruß erhobenen Armen unbehelligt durch die Wiener Innenstadt. Ein wenig Empörung, die da und dort aufflackerte, sonst nichts.

Im Rückblick gesehen erweist sich die Siedlungs- und Kulturgeschichte der Roma von Oberwart seit der Gründung der „Zigeunerkolonie“ (1857) bis heute als die einer höchstens nur am Rande geduldeten, in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Außenseitergruppe, die nie wirklich akzeptiert und ins kommunale Zusammenleben integriert worden ist. Von den über 300 Roma, die bis 1938 in Oberwart gelebt hatten, kamen nach der Nazidiktatur und dem Holocaust nur etwa 20 Roma nach Oberwart zurück. Die Gemeinde siedelte sie wieder als Außenseiter weit draußen am Ortsrand an. Die Roma verblieben in diesem Ghetto unter sich. Die Gemeinde, die Behörden, die Ämter, die Kirchen, die Mehrheitsbevölkerung verweigerten eine wirkliche Integration. Dementsprechend war dann auch der soziale und bildungsmäßige Status der Roma. Die „Zigeunerkinder“ gingen zwar in die hiesige Volksschule – ganz wenige schafften es sogar bis in die Hauptschule und noch weiter – aber in der Regel wurden sie zurückgestuft und in die Sonderschule abgeschoben. Viele mußten einige Klassen mehrmals wiederholen, blieben bildungs- und ausbildungsmäßig zurück; was bedeutete, daß sie dann später – wenn überhaupt – nur als HilfsarbeiterInnen unterkommen konnten. Zu diesem Defizit im Bildungs- und Sozialbereich kam angesichts der Aussichtslosigkeit auf gesellschaftliche Integration in das Mehrheitsvolk auch eine psychologische Identitätskrise, ein Identitätsverlust aufgrund einer Identitätsverweigerung. Einfach gesagt: Viele Roma schämten sich, „Zigeuner“ zu sein; wollten diese ihre Identität verschleiern, verstecken, ablegen, verleugnen, vergessen.

Zu Beginn der Achtzigerjahre aber war dann plötzlich eine Gegenbewegung da. Zunächst kam diese von außen. Wie so oft können Einzelereignisse wichtige Impulsgeber sein, die schon vorhandene, aber noch nicht wirksame Bereitschaftskonstellationen und Handlungsansätze bündeln, indem sie eine Entwicklungsdynamik erzeugen. Um einen solchen Fall könnte es sich bei der „Aktion Zigeunerdenkmal“ handeln. Eine Künstlergruppe hatte im Rahmen des Kulturfestivals „ausnahmsweise oberwart“ am 20. Juni 1980 vor dem Kriegerdenkmal in Oberwart ein anderes Denkmal – eigentlich nur eine Denkmalattrappe – aufgestellt, mit dem sie als einem Mahnmal an die in den NS-Konzentrationslagern ermordeten und umgekommenen Roma-Mitbürger aus Oberwart erinnerte und dieses Holocaust-Schicksal der Roma den Nichtroma-Mitbürgern dadurch wieder ins Gedächtnis rief. Die Reaktion von Behörde und Bevölkerung war typisch-österreichisch: Man fühlte sich gestört, man wollte an die eigene Tabuisierung und Verdrängung nicht erinnert werden. Der Bürgermeister forderte die Urheber des Denkmals auf, dieses zu entfernen. Nachts wurde das Denkmal beschmiert, das Andenken an die Toten geschändet. Eine Anzeige gab es, Täter wurden nicht gefunden, weil vielleicht auch gar nicht wirklich entschieden gesucht. Im Sommer 1983 wurde im Jugendhaus in Oberwart eine „Zigeunerausstellung“ gezeigt, in der zum ersten Mal konkret auf die Diskriminierungen der Roma in Oberwart hingewiesen und diese angeprangert wurden. Die Roma begannen sich zu wehren. Widerstand erwachte und wurde organisiert.

Am 13. März 1987 sprachen Roma-Repräsentanten beim Bundespräsidenten vor. In diesem Gespräch kam es zu einer Einmahnung des in der österreichischen Verfassung verankerten Gleichheitsgrundsatzes. Die Präsidentschaftskanzlei reagierte. Die Roma handelten nun nicht mehr unter der lähmenden Akzeptanz ihrer Opferrolle, sondern forderten konkret und zukunftsorientiert Gleichstellung und Gleichberechtigung; im Schulbereich, im Sozialbereich, im Arbeitsprozeß. Kulturelle Roma-Identität entwickelte sich. Vereine wurden gegründet, Interessensvertretungen; Aktivgruppen formierten sich. Zielvorgaben wurden formuliert, deklariert, propagiert. Konkrete Projekte zur Verbesserung der Lebenssituation der Roma wurden gestartet und durchgeführt. Zum ersten Mal solidarisierten sich Nicht-Roma mit ihren Roma-Mitbürgern. Eine „Roma-Nichtroma-Initiative“ wurde gestartet. Die Situation veränderte sich. Daraus resultierte Hoffnung, Selbstbewußtsein, Handlungsenergie; Schaffung von Organisationsstrukturen. Und das brachte Erfolg.

Heute kann man das Erreichte bilanzieren. Seit 15. Juli 1989 gibt es den „Verein Roma“ in Oberwart, der sich engagiert und effizient sowohl für die Roma selbst, als auch für das Zusammenleben zwischen Roma und Nicht-Roma einsetzt. Konkret geht es um die Verbesserung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Stellung der Roma; um die Stärkung des Selbstbewußtseins, um die Aufrechterhaltung und Wiederbelebung der Roma-Identität. Neue Strukturen und Organisationsformen wurden geschaffen, Netzwerke zu anderen österreichischen Volksgruppen aufgebaut, Kontakte zu Repräsentanten aus Politik und Gesellschaft geknüpft und vertieft. Heute gibt es in Oberwart eine Roma-Beratungsstelle, außerschulische Lernbetreuung für Roma-Kinder, eine Roma-Volkshochschule, Roman-Sprachkurse, Zeitschriften, Kulturveranstaltungen, Theatergruppen, Feste, Musik und anderes. Auch in Wien sowie im gesamten Bundesgebiet wirkte die positive Entwicklung der Gesamtsituation – vorallem die Anerkennung der Roma als österreichische Volksgruppe und die Errichtung des Volksgruppenbeirates – befreiend und befruchtend. Auch in Wien gibt es seit den Neunzigerjahren zwei Roma-Kulturvereine. Eine Wiederbelebung der traditionellen Roma-Kultur und ein vorher nicht da gewesenes Identitätsbewußtsein, mit dem auch ein neues Selbstbewußtsein einhergeht, ist feststellbar. Und über die Staatsgrenzen hinaus gibt es die Zusammenarbeit mit anderen Roma-Organisationen und Volksgruppen.

Trotzdem sind Ressentiments und teilweise auch offene Ablehnung in der Bevölkerung, im deutschsprachigen österreichischen Mehrheitsvolk geblieben; vorallem wenn es um zugewanderte „Zigeuner“ aus dem Balkan geht, um diese „Tschuschen“, wie viele noch oder schon wieder sagen. Das Anderssein, das Fremde scheint für viele ein unüberbrückbarer Gegensatz, eine unüberwindbare Barriere zu sein, wenn es um Gleichwertigkeit und um Gleichberechtigung, um soziale und kulturelle Anerkennung geht. Und es gibt in letzter Zeit schon wieder häufiger und lauter diese „Zurufe an das Volk“, aus dem Untergrund oder aus einer Ecke einer bestimmten Partei, deren Ideologen von „Überfremdung“ reden und von „Umvolkung“. Das läßt erschrecken. Das sollte alle zur Wachsamkeit aufrufen, zum Widerspruch, zum Widerstand. Denn das ist ein Gefahren- und Warnzeichen; vor einer Wegstrecke, wo es steil abwärts geht – mit der politischen Kultur eines Staates, mit seiner Demokratie.

Es ist ein wichtiges, ein notwendiges Buch, das hier vorliegt. Ein Buch, das das Leben der burgenländischen Roma und deren Schicksal durch Jahrhunderte hindurch aufzeigt und eindringlich beschreibt; eine Dokumentation, die auf präzisen Daten und Fakten aufgebaut ist und durch einen genauen Literatur- und Quellennachweis sowie durch anschauliche Statistiken und eine umfassende Chronologie der Ereignisse wissenschaftlichen Maßstäben gerecht wird. Es ist ein Buch, das sich auch mit den dunklen Seiten der österreichischen Geschichte befaßt; einer Geschichte, die lange Zeit entweder verdrängt oder zur eigenen Entschuldigung umgeschrieben worden ist. Der Autor hat hier Bilanz gezogen; auch darüber, was die österreichische Politik und Öffentlichkeit verleugnet, versäumt, verdrängt, verschwiegen hat; und was im Gegensatz dazu die burgenländischen, die österreichischen Roma und ihre Organisationen sowie engagierte Nicht-Roma-Mitstreiter zur Schaffung ihres jetzigen Status selber geleistet haben. Und dies ist beachtens- und bewundernswert.

„Die Roma von Oberwart“. Zur Geschichte und aktuellen Situation der Roma in Oberwart. Von Helmut Samer, edition lex liszt 12, Oberwart, 2001. 140 Seiten, EUR 11,63.


Genre: Dokumentation
Illustrated by edition lex liszt 12

Schnee und schwarze Hunde

SMRT HEISST DER TOD
Sarajevo 1995: Persönliche Anmerkungen zu einem wichtigen Buch

Vor mir liegt ein Buch, eine Romantrilogie, umfangreich, fast 500 Seiten dick, gewichtig und wichtig. ein Denk- und Literaturwerk. Jeder sollte es lesen, vor allem jene, die über ,,Jugoslawien“ reden und nichts wissen, nichts begreifen. Die Politiker sowieso; aber die lesen keine Bücher, jedenfalls nicht solche. Seinen Autor kenne ich nicht. jedenfalls ist mir eine Begegnung mit ihm nicht in Erinnerung. Oder sind wir uns doch einmal begegnet, im ehemaligen Jugoslawien, als es Jugoslawien noch gab? Haben sich unsere Wege doch vielleicht irgendwann einmal gekreuzt, ohne daß wir es wußten?

,,Der Balkan ist ein Wahnsinn“, sagte ich damals auf die Frage, wie es war, nachdem ich, vor jetzt mehr als dreißig Jahren, von einer wochenlangen Reise kreuz und quer per Autostopp durch dieses damalige Jugoslawien, ebenso durch Bulgarien und Griechenland. zurückgekommen war; mit Ausgangspunkt Paris. Und ich meinte damit: Die Länder und die Menschen dort sind etwas Großartiges, etwas voller Gegensätze, etwas Unbegreifliches, etwas Schwieriges etwas Abenteuerliches, etwas Wunderbares, etwas Unberechenbares, etwas Nicht-Normales, etwas Wahnsinniges auch, wie ich es formulierte. Aber in dem Sinne, wie es Alexis Sorbas im gleichnamigen Film meinte, als er seine Lebensformel ausdrückte mit dem wunderbaren Satz: ,,Weißt Du. Boß. ein bißchen Wahnsinn gehört einfach zum Leben dazu!“

Heute hat sich der Wahnsinn, ein anderer Wahnsinn, auf dem Balkan, in Ex-Jugoslawien, vor allem in Bosnien-Herzegowina, politisch, militärisch, in einer unbegreifbaren Täter- und Opferbilanz, in unbeschreiblichen, millionenfachen menschlichen, besser gesagt. in unmenschlichen Tragödien konkretisiert und manifestiert. Der Wahnsinn durch völlige Verblendung und den Verlust aller Maßstäbe und der Menschlichkeit. Der grenzenlose Fanatismus ist sichtbar, ist wirksam, ist zur schrecklichen Wirklichkeit geworden. Von diesem Wahnsinn spricht der Autor in diesem Buch.

DER SCHNAPS
„Ich sehe den kotigen Bauernhof beleuchtet vom Feuer. das in seiner Mitte brennt, dort, wo einst, so scheint es, ein kleiner Garten mit Blumen war. Im Hintergrund steht ein niedriger Stall mit dunklen Fenstern und einem Tor, unbeschädigt. Das Feuer flimmert in der windlosen Luft, dunkle Schatten bewegen sich drohend überall ringsum. Vor dem Feuer, uns den Rücken zugewandt, sitzen drei Männer in Tarnuniformen. zurückgelehnt auf zerbrochenen, knirschenden Stühlen. Sie sind nur Umrisse ohne Gesichter, dunkle Massen vor dem Licht. Der vierte liegt vor ihren Füßen im Schlamm ausgestreckt und schläft. Er schnarcht, wie jeder Säufer. Und der fünfte hockt neben dem Feuer und schürt es mit einem angebrannten Holzstück. Von der Seite gesehen ist sein Gesicht stumpf, länglich. grimassierend und sein Schädel kahl. Um das Feuer herum haben sie geteerte Pfähle gestellt. Sie stützen ein Metallgitter. das das Feuer von unten beleckt. Hört es auf, legt der, der davor hockt, ein Scheit zu und schürt es. Und auf dem Metallgitter, festgebunden oder hilflos, liegt ein Mädchen, es ist klein, vielleicht nicht einmal zehn Jahre alt. Die eine seiner Hände kreist, als verteidige es sich, und sein Bein zuckt. Sein Fleisch riechen wir die ganze Zeit über, wie es brennt, wie es langsam gebraten wird. Aus seinem Mund kommt dieses langgezogene Jammern, das langsam schwächer wird. Sein Mund ist unbeweglich. offen, und das Winseln bricht hervor wie ein besonderer und unsichtbarer Schmerz, breitet sich aus und umfaßt uns alle. „Langsam geht das bei dir, Bruce Lee“, sagt einer von den Sitzenden. „Mensch. der Schnaps wird alle.“

Was sind das für Menschen, die so etwas tun? Sind das überhaupt noch Menschen? Wie konnten sie zu solchen Monstern werden? Sind sie alle mitsamt Abartige. Perverse, grenzenlose Sadisten, Ungeheuer’? Waren sie das schon immer, haben sich da nur Gleichgesinnte zusammengetan zu einer infernalischen Todesschwadron? Oder waren sie früher „normale Menschen“, zwar zum und zur Gewalt veranlagt, aber in den Schranken einer zivilisierten Gesellschaft gezwungenerweise diszipliniert, wie Raubtiere im Käfig? Und dann hat man die Gitter weggenommen. Und die Menschen-Raubtiere leben ihre Instinkte aus. Aber warum gegen ein wehrloses Mädchen, das man auf dem Feuer röstet und schmort, wie ein Schwein; das lebendig ist, das noch lebt!

So einfach diese Fragen gestellt sind, so einfach sind jedoch die Antworten darauf nicht. Und e i n e Antwort darauf gibt überhaupt nicht. Die Wirklichkeit ist vielschichtiger. Die Wahrheit liegt nicht im Entweder-Oder, entweder gut oder böse. So einfach ist es nicht mit dem mit Menschen, mit der Wirklichkeit des Menschen, mit seiner Wahrheit, und dem, was wir oft so schlichtweg als „Wahrheit“ bezeichnen und benennen.

Denn auch diese Monster waren einmal ganz normale Menschen, sie waren einmal Kinder; vielleicht mit einer gewissen Disposition zu dem oder jenem, aufgrund von Wesens- und Charaktereigenschaften. Vielleicht hat jeder von Ihnen irgendein Kindheitstrauma, hatte Erlebnisse, die ihn geprägt, vielleicht traumatisiert und stigmatisiert haben. Jeder hatte ein anderes Lebensschicksal in seinem Vorleben. Aber irgendwann muß es etwas gegeben, haben, das entscheidend war dafür, daß ihr Weg in diesen Abgrund geführt hat. Was war das, was kann das gewesen sein? War das bei allen etwas Verschiedenes oder bei allen das Gleiche? Oder etwas von diesem und einem anderen? Oder gibt es ein Prinzip Gut und ein Prinzip Böse, das sich wahllos, aber bestimmend festsetzt in der Seele des Menschen, so seine Personifizierung vollzieht? Was ist dann mit der Freiheit des Menschen, mit seiner Verantwortlichkeit?

Oder ist alles anders? Ist alles Manipulation, Ergebnis einer ungeheuerlichen Manipulation, die mit den Menschen, mit Einzelnen sowie mit der Masse geschieht? Wieweit ist der Mensch manipulierbar, über seine – angenommenen – Grenzen hinweg, und wodurch, womit. und wann, und wie; und unter welchen Bedingungen, mit welchen Lügen, mit welcher Propaganda; für welche Ziele?

Die Menschheitsgeschichte und dieses Buch geben die Antwort: Es gibt keinerlei Beschränkung. Der Mensch ist zu allem fähig. Und er glaubt die Lüge eher als die Wahrheit. Und er ist begeisterungsfähig in seinem Wahnwitz bis zum Irrsinn. Und er ist zu allem bereit. Nicht jeder, nicht jeder Einzelne, aber doch auch so ungeheuer viele Einzelne, wenn es die Masse gibt. Und einen Führer. ,,Führer. wir folgen Dir!“ – egal. wie der Führer heißt. Und es gibt sie immer, es gibt sie immer wieder: diese Führer! Und ein Volk. das sie vergöttert. und das sie belügen. Und das sie in den Ab¬grund reißen. Aber das Volk, das ihnen und ihrer Propaganda glaubt. Das Volk liebt seine Führer, immer!

DER WAHNSINN
Die Führer in diesem Land und in diesem Buch heißen: der Präsident, der Kommandant, der Hauptmann, Duc; auf der einen Seite. Auf der anderen Seite: der Meister, der den Gottesstaat predigt. Was für die einen die Masse, das Volk, die Brüder sind, das sind für den anderen die Glaubensanhänger, die Rechtgläubigen. Wie bei den einen ein völlig irrationaler, ja pathologischer, aber gezielt eingesetzter und mit allen Mitteln der Propaganda verbreiteter Blut-Boden-Heimat-Volk-Mythos voll bekannter rassistischer Ideologie zur Grundlage ihrer Denkstruktur und ihres Handlungsprinzips wird, aus dem sie alles weitere ableiten, so wird bei den anderen, dem Meister und seinen Anhängern des islamischen Fundamentalismus. die Struktur eines ebenso irrationalen Dogmatismus. hier jedoch noch mit göttlicher, überirdischer Dimension. sichtbar und wirksam. In beiden Fällen. beim völkisch-rassistischen Mythos ebenso wie beim politischen Religionsfundamentalismus, handelt es sich um das gleiche, kommt es auf das eine hinaus: Auf die Installierung einer absolut gesetzten oder sich selbst absolut setzenden Macht und Instanz über den Menschen, über den einzelnen Menschen, über das Individuum; auf die Schaffung eines Über-Ich. Das bedeutet den Kampf und die Zerstörung der Souveränität des Individuums mit allen Mitteln durch die Führer und Machthaber. Das bedeutet die zum Ziel gesetzte Vernichtung jeder individuellen Freiheit. Das bedeutet aber auch, daß der Einzelne keinerlei Verantwortung mehr in ethischer oder moralischer Hinsicht zu tragen hat. Die wird ihm abgenommen, von den Führern, von der Ideologie, von Gott; auf der Ebene dieser Dogmatik.

Aber es gibt auch Widerstand; und das bedeutet Hoffnung, jedenfalls einen Lichtblick. Der kommt von jenen, die frei sind, die innerlich frei sind, weil sie sich freigemacht haben von jeder Unterdrückung; weil sie die alles beherrschende Propaganda als ein Instrument der Vereinnahmung und Versklavung, der systematischen Verdummung, als das, was sie ist: eine einzige große absurde Lüge, erkannt haben und ihr nicht auf dem Leim gegangen sind; weil ihre Individualität, ihre selbst-gebildete Persönlichkeit stärker war als die Doktrin, als jede Demagogie. Eine dieser Individualisten ist in diesem Buch jene selbstbewußte junge Intellektuelle, die Geliebte eines islamischen Gotteskämpfers. der dieser hörig ist, von der er sagt: ,,Meine Geliebte – oder meine Freundin, wie sie selbst sagte – gehörte durch ihre Geburt nicht zu unserem Volk. Ihr Vater war seiner Herkunft nach ein Orthodoxer, ihre Mutter hatte katholische Vorfahren; beide Eltern waren, wie ich erfuhr, Ungläubige, Atheisten, wie einst ich auch. Meine Geliebte fühlte sich keinem Glauben zugehörig, sie wollte einfach nirgendwo dazugehören; sie hielt sich für eine Person ohne Volk, ohne Partei. sie kam aus einer bürgerlichen Welt.“ Und diese junge Frau sagt ihm ganz unverblümt und scharf das Richtige, die Wahrheit, die sie aus ihrer Wirklichkeit erkennt und ableitet: „Ich habe nie mit dem Volk Kaffee getrunken … Und ich habe mich nie von ihm ficken lassen. Es war immer ein einzelner eine Person, mein Lieber. Wir sind entweder Individuen oder nichts. Ich bin ich, du bist du. Warum willst du etwas Drittes sein, etwas Unpersönliches, Leeres?“ – Das also ist es, die Individualität allein, jedenfalls als ein souveränes Ich verstanden, die uns als Person, als Persönlichkeit ausmacht, die der Gegenpol zu Masse und Macht ist, die den menschlichen Grundwert individuelle Freiheit gegen jede Bevormundung, Entmündigung und Versklavung, sei es durch Ideologie oder religiösen Fundamentalismus und Fanatismus, gegen Führer. Volk und sogenannte Gottesmänner verteidigt. Sie ist die einzige Hoffnung, der einzige Lichtblick, die einzige Chance, vielleicht die einzige Möglichkeit zur Freiheit, zur Befreiung von und aus diesem Wahnsinn. Und das wissen die Führer und ihre Komplizen. Deshalb gilt ihr fanatischer und rücksichtsloser Kampf solchen Individualisten, die das Getriebe der Macht stören oder stören könnten. und die es auszuschalten gilt, um jeden Preis, mit allen Mitteln. Denn sie sind der einzige, wirkliche Feind, den sie nicht brauchen können, den sie nicht brauchen können im Krieg gegen den Menschen.

Die im Buch skizzierten Führerfiguren sind in ihrer Porträtähnlichkeit unschwer als historische bzw. als wirkliche Personen zu erkennen. Wir kennen sie aus der Geschichte, aus Zeitungen und vom Fernsehbildschirm her, aus den Medienberichten. Wir kennen ihre Namen oder jene, die sie anstatt ihrer wirklichen von früher dann angenommen haben. Josip Broz Tito – als historische Legendenfigur. Slobodan Milosević – der Ministerpräsident. Radovan Karadžiž – der Dichter und Psychiater als Volksführer und Volkspolitiker. General Mladić – als Kommandant. Und Vojislav Šešelj -der Ultranationalist, der aus dem Ausland kam. Und die Kriegsverbrecher als Kommandanten berüchtigter Sonderkommandos, autonomer Militäreinheiten; richtiger genannt: Mörderbanden. Ihre ruhmreichen (angenommenen) Namen kennt jedermann, kennt dort jedes Kind: Arkan und Dragan. Sogar ein früherer echter Staatspräsident kommt vor, als Zwischenszenespiel in diesem Buch sowie im wirklichen politischen Geschehen damals auch: Dobrica Ćosić, der „verborgene“ Präsident im Buch genannt, der große Schriftsteller seiner Nation. Dieser Präsident aus dem Buch sitzt allein in den Palastgemächern in seiner Residenz und brabbelt senil vor sich hin, aber formuliert wahnwitzige und somit verführerische und gefährliche Denkinhalte, wenn er ,,unvölkische Elemente“ ausmacht und bekennt: ,,Das Volk hat immer recht.“ Und wenn er von den ,,Strahlen des Patriotismus“ faselt, ,,die jeden Menschen sofort zu neuem Leben erwecken und ihn mit seinen Ahnen verbinden.“ Und natürlich sieht er vor seinen geistigen Augen ,,die Wiedergeburt der Nation“ und den nahenden .,Endsieg“. Das alles erscheint uns sehr bekannt. Weniger bekannt zu sein scheinen die Studien des Nationaldichters und Zwischenpräsidenten, die dieser wirkliche Dobrica Ćosić schon lange vor dem sogenannten ,,Krieg“ – welches Wort ja immer nur als Metapher, als Verschleierungsvokabel für staatlich sanktionierten Massenmord und Genozid verwendet wird – bei einer der sogenannten Kommissionen der Akademie der Wissenschaften und Künste in Belgrad eingereicht und damit große Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Naja, solche „geistigen Wegbereiter“ gab es schon immer. Und fühlen sich auch nie mitschuldig und werden auch nie schuldiggesprochen.

Das sei gesagt, damit niemand glaubt, daß dieser Wahnsinn nur ein Wahnsinn von Dummen ist. Da ist große Intelligenz mit im Spiel. Aber diese schließt Verblendung eben nicht aus, den Verlust des normalen Verstandes, der eigenen kritischen Vernunft.

DER MORD
Da ist dieser Duc schon ein anderer, ein ganz anderer. Der braucht keine pseudophilosophische Absurddialektik, kein Geschwätz von Völkischem. Heroischem, von sogenannten historischen Rechten (,,Wo die Gräber der Unsrigen sind, dort sind unsere Grenzen.“). Der braucht keine Scheinargumentation für das, was er erreichen, besitzen, ausüben und behalten will, nämlich die absolute, ungeteilte Macht in seiner Hand. in seiner Person. Der meldet seinen Anspruch ohne Umwege und Verschleierung. ohne langes Herumgerede an. ,,Mein einziges Ziel ist die Macht’, bekennt er. Er spuckt auf ,,diese Hohlköpfe, die das Volk ausmachen.“ Denn, so sieht er es, und vielleicht sieht er es richtig: daß das, ,,was Volk genannt wird, eigentlich aber nur ein schreiender Haufen ist. der etwas fordert und nimmt, was du ihm gibst, und schweigt und nichts sonst.“ Er scheint ein Zyniker zu sein in diesem Szenario, aber er ist der einzig ,,Normale“, ein Realist. Ein Machtmensch, vom Machtrausch und vom Machtstreben getrieben. aber er hat dieses unter Kontrolle, er ist zielbewußt, er hat seine ziel-führende Strategie, weil er nicht über die Macht philosophiert. sondern einen Instinkt für sie hat.

,,Wir schicken ein paar von unseren gut ausgebildeten Kerlen in feindliches Territorium, in die Dörfer oder kleinen Städte. Und dort werden sie offen, so, daß es alle sehen und hören können, möglichst viele Kinder, Frauen und Greise massakrieren. Bald danach werden feindliche Burschen sich in unsere Dörfer, unsere kleinen Städte schleichen und dasselbe tun, und wir werden das publik machen, im Fernsehen zeigen und in den Zeitungen veröffentlichen. Und schon sind einige tausend Menschen auf beiden Seiten in den unzerstörbaren Kreis des Hasses, der Rache und des Blutes, das vergossen werden muß, hineingezogen. Man wiederhole das zehnmal und hundertmal, und schon haben wir einen prächtigen großen Krieg, der nie zu Ende gehen wird, weil ihn nicht nur Staaten und Völker und Heere führen, sondern einzelne, die stille Mehrheit … ,, – Das also ist die neue Strategie. Und sie ist wirksam. Die Wirklichkeit bestätigt es. Nicht Armeen gegen Armeen, die kämpfen. sondern Menschen gegen Menschen. Nachbar gegen Nachbar. Infernalisch! Aber gut für den Krieg. Und da gibt es dann noch den Hauptmann, den Kommandanten der Sondereinheit ,,Seven Up“, einer Mörder- und Killertruppe, mit einer besonderen Spezialität.

Sie schlachten nicht nur Menschen mit ihren Messern ab, sondern nehmen sie auch aus. wie Tiere: sie entnehmen die unverletzten inneren Organe zurWiederverwertung, für ein geheimes Syndikat, für eine Firma, die mit menschlichen Organen für Transplantationen handelt, ganz legal, versteht sich; eben eine der vielen Exportfirmen, wie andere auch. Nur das exportierte Produkt ist halt ein wenig etwas Besonderes, manche meinen Abartiges. Aber die Nachfrage ist groß und der Profit auch. Für alle. Ist es Fiktion oder Wirklichkeit’? Jedenfalls wäre es eine Möglichkeit, dem ganzen Wahnsinn noch eine weitere Facette menschlicher Tollheit hinzuzufügen. Doch zuletzt gibt es vor allem die Opfer. Die Opfer eines von solchen Führern und Führerfiguren und ihren Komplizen und Helfershelfer entfesselten und praktizierten Wahnsinns des ,,Krieges“, des gegenseitigen Abschlachtens, vor allem auch der Zivilbevölkerung. ,,Freiwillig hatte ich das alles getan, was ich nie glaubte, tun zu können. Vielleicht weil ich mir das immer gewünscht und nur vor mir selber und anderen verborgen hatte“, bekennt einer von der Schlächtertruppe ,,Seven up“. Ist das eine schlüssige Antwort, nur für ihn, oder überhaupt’? – ,,Er verachtete die ganze Welt. alles, worauf sein Totenblick fiel. Vögel und Bäume. genauso wie Kinder. Er liebte Motorräder.“ So charakterisiert die Geliebte ihren Hauptmann. Und trotzdem, oder gerade deswegen, wegen der Brutalität und völligen Gefühllosigkeit, mit der er das junge Mädchen nimmt und entjungfert, wird und bleibt sie seine Geliebte. Die Geliebte eines Kommandanten einer Schlächter- und Mörderbande, der alles befiehlt. Vielleicht fasziniert sie gerade deshalb ,,diese weiße gepflegte Hand, die so geschickt mit dem Messer umgeht, als gehöre sie einem Zirkusartisten“, weil sie die Hand eines Mörders ist. Etwas ganz Gegenteiliges von ihr.

Vielleicht ist es gerade das Andere, das Gegenteilige, das. was wir nicht sind, das in uns den Wunsch erzeugt, das Andere, das Gegenteilige, wenigstens für einen Augenblick, zu werden, um uns loszulösen von unserem eigenen Ich. Vielleicht ist jedes Ich ein Gefängnis. Und es kommt der Augenblick wo es uns verhaßt ist. Vielleicht ist der Grund für den Haß unser Selbsthaß, ganz tief in uns, verborgen, verdrängt. aber fest in uns verwurzelt. Und wir wollen uns von unserem Selbsthaß befreien: durch Haß, durch Mord und Totschlag, durch Krieg und Gewalt. -Wer könnte auf diese Fragen eine Antwort geben’? Wer kennt die Wirklichkeit des Menschen’? Nur Gott’? Warum läßt er diesen Wahnsinn, dieses Leiden zu? Oder müssen wir ihn heraushalten aus diesen Fragen? Ich weiß es nicht.


Genre: Tatsachenroman
Illustrated by Unbekannter Verlag

Ein Diktator zum Dessert

Ein Diktator zum Dessert

Rose liebt gutes Essen, Sex und Rockn’Roll, jungen Männern blickt sie nur zu gerne hinterher und wenn sie sich nicht gerade unter dem reizenden Nickname “rollige Mieze” auf Datingportalen herumtreibt, bekocht sie tout Marseille in ihrem Restaurant am Hafen.

Das alleine wäre noch nicht besonders, wenn da nicht ihr biblisches Alter wäre. So manches ihrer Rezepte hat sie bereits vor 100 Jahren erlernt, denn sie selbst blickt auf stolze 105 Jahre zurück. Das hindert sie aber nicht daran, ihren Colt immer griffbereit an der Frau zu tragen. Nicht etwa, weil sie Angst hätte. Rose hat vor nichts und niemanden Angst. Sie hat ein mörderisches Jahrhundert überlebt, ihr Leben gleicht einem Extrem-Ritt durch blutrünstige Epochen. Den Genozid an den Armeniern, die Terrorherrschaft der Nazis, den Exzeß des Maoismus – immer und überall war unsere Rose durch einen mal mehr, mal weniger glaubwürdigen Zufall nach dem anderen mittendrin. Das einzige, worauf sie nun noch sinnt, ist Rache. Daher der Colt. Eines Tages erhält sie eine rätselhafte Todesanzeige. Der von Rose mit Nachforschungen beauftragte Nachbarsjunge ist pfiffig genug, das Rätsel zu lösen, findet allerdings auch noch andere Geheimnisse heraus. Wird Rose erzählen, wieso sie 1942 und 1943 unauffindbar war und vor allem, welchen Diktator sie zum Dessert verspeiste?

Soweit zum Inhalt. Manch einer wird zurecht aufmerken und ein Deja-Vu vermelden. Noch in der Einleitung des Romans beleuchtet der Autor sein Sujet selbstironisch, indem er seine Protagonisten folgenden Dialog führen lässt: “Einen Arbeitstitel habe ich auch >Meine ersten hundert Jahre< , “Guter Titel. Die Leute lieben Hundertjährige. Dieser Markt wächst im Moment rasend schnell.” Das war es dann leider allerdings auch schon mit der Selbstironie. Das Gefühl, dass da ein Autor bewußt auf einen Erfolgszug aufgesprungen ist, verläßt einen von da an nicht mehr. War etwa der hundertjährige Fensterspringer in Frankreich nicht so erfolgreich und dachte sich da der in Frankreich für seine kontroversen Schriften bekannte Autor Franz-Olivier Giesbert, es wäre eine gute Idee, der Grande Nation ihre eigene hundertjährige Lichtgestalt zu geben? Wie auch immer – die selbst errichtete Meßlatte ist zu hoch. Was wohl in erster Linie der Hauptfigur geschuldet ist.

Man würde Rose gerne mögen, aber der Funke springt nicht über. Sie wirkt in allem zu aufgesetzt und übertrieben, dazu seltsam holzschnittartig. Nicht einmal für Mitleid reicht es, dafür hat Rose einfach von allem den berühmten Tacken zuviel. Vor allem von Opportunismus, der weit über den von ihr beschworenen Pragmatismus hinausgeht. So sorry, aber ein Diktator ist eben nichts, was man mal so eben zum Dessert weghappst. Auch über die Flatulenzen des “GröFaz” haben sich schon andere wesentlich gekonnter lustig gemacht. Und zwar ohne überflüssigerweise zu versuchen, Sympathien für “den Mensch hinter den Gräueltaten” zu erwecken. So nimmt es nicht Wunder, dass eine Salamanderdame stets ihre einzige Freundin bleibt. Schwer vorstellbar, dass irgendjemand sonst Rose zur Freundin hätte haben wollen. Vor allem auch, weil es bei Rose noch lange nicht dasselbe ist, wenn zwei das Gleiche tun. Sie hat ihr Leben nach der Maxime “Fehler verzeiht man am schnellsten, wenn du sie gar nicht erst zugibst” ausgerichtet. Das galt aber ausdrücklich nur für ihre eigenen Fehler. Der Umkehrschluß – Vergebung – ist für sie vollkommen undenkbar, Rache ist die einzige Gerechtigkeit, die für sie zählt.

Einem großen Irrtum unterliegt sie auch, wenn sie sagt “In der Vergangenheit hätte ich mehr als genug Grund gehabt, mein Schicksal zu beweinen, aber ich habe mich stets dagegen gewehrt“. Dieser Satz wird nicht richtiger, je gebetsmühlenartiger sie ihn wiederholt. Das Einzige, wogegen sie sich gewehrt hat, war das Weinen. aber während das Schicksal ihr geschah, hat sie sich oft genug einfach nur geduckt und ist mit dem Strom geschwommen. Um Ausreden nie verlegen. Eigentlich weiß sie, “Das Glück wird uns nicht geschenkt, man muss es erzeugen,“-  aber für ihr Unglück macht sie ihr wechselvolles Schicsal und nie sich selbst verantwortlich. So bleibt das Einzige, was Rose vermittelt Chuzpe und unbedingten Überlebenswillen. Sie zahlt einen hohen Preis dafür, aber zugeben wird sie das nie.

So sehr es den Figuren des Buches auch an Tiefe mangelt, auf der sachlichen Ebene leistet der Autor Überzeugungsarbeit. Die übermittelte Historie geht genug in die Substanz, um Überzeugungsarbeit zu leisten, aber nicht so en detail, dass es langweilig würde. Die “große” Geschichte vermittelt er überzeugend, sicher ist es auch ein großer Verdienst, den weitestgehend vergessenen Genozid an den Armeniern zu thematisieren. Seine Liebe zu historischer Korrektheit zeigt sich auch im für einen Roman sorgfältig zusammengestellten Glossar am Ende des Buches. Aber die “kleine” Geschichte, Rose’ Geschichte bleibt blutleer und ist einfach zuviel des Guten. Weniger wäre da mehr gewesen. Franz-Olivier Giesbert hat eigentlich einen wunderbaren leichten, lockeren Schreibstil. Sein Buch ist gut strukturiert und klar aufbereitet, nie ist der Leser irritiert, er weiß immer, wo er sich befindet, obwohl das Buch zwischen etlichen Zeitzonen und Orten hin-und herspringt. Es krankt aber daran, dass der Autor sich nicht zwischen Tragik und Komik entscheiden kann. So verliert sich manches Kapitel in übertriebener Coolness. Ganz offensichtlich fällt es ihm nicht leicht, rüden Tonfall zu prononcieren, nachgerade wirkt es fast so, als sei ihm der in Dialogen verwendete Straßenslang peinlich.

Der Autor ist in Frankreich eine bekannte Medienpersönlichkeit. Als Journalist, Kolumnist, Fernsehmoderator und Autor ist Giesbert in Frankreich oft Tagesgespräch, nicht zuletzt berühmt durch seine scharf gezeichneten Enthüllungs-Porträts der Präsidenten Chirac und Mitterrand. Doch welche Motivation ihn zu “Ein Diktator zum Dessert” trieb, erschließt sich nicht. Politisch inkorrekt zu sein alleine reicht nicht für Witz und verhindert in diesem Fall auch nicht, dass Etliches zu weichgezeichnet und verharmlost daherkommt. Oder wollte Giesbert das Jahrhundert der Massenmörder anhand einer Protagonistin begreiflich machen, die auf den ersten Blick harmlos daherkommt, auf den zweiten aber letztendlich auf einer Stufe mit diesen steht? Was auch immer ihn getrieben haben mag, man bleibt mit einem Gefühl der Irritation zurück. Und was die Hundertjährigen angeht: Um an Jonassons Held heran zukommen, fehlt dann doch vielleicht die Prise Wahnsinn.

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift 


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Carl´s Books

Der Fliegende Holländer

Ruprecht Frieling ist ja ein Tausendsassa und geprüfter Sachverständiger auf vielen Gebieten; hier brilliert er als Opernkenner und Wagner-Experte. Wie schon bei seinem preisgekrönten »Ring des Nibelungen« erzählt er wieder mit viel Liebe zum Detail den Inhalt des Stückes, diesmal die des verfluchten legendären Seefahrers. Dabei versteht er es meisterhaft, die romantische Dramatik des Werkes dem Leser nahezubringen; dank der atmosphärisch dichten Sprache meint man das aufgepeitschte Meer riechen, den tosenden Sturm am Kap der Guten Hoffnung spüren zu können.

Doch Frieling wäre nicht Frieling, hätte er nicht mehr zu bieten als eine bloße Nacherzählung des »Fliegenden Holländers«: Er beschreibt ausführlich den historischen Kontext, der zur Entstehung der Oper führte und fügt auch zwei Quellen im Original bei, von denen sich Richard Wagner inspirieren ließ, »Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski« von Heinrich Heine und »Die Geschichte vom Gespensterschiff« von Wilhelm Hauff. Dazu gibt es das Original-Libretto des Stückes und ein hilfreiches Lexikon, natürlich dank der Kindle-Technik gekonnt verlinkt mit dem Text.

Wieder ein toller Opern(ver)führer, der nicht nur Freunde dieser Musik be- und verzaubern wird!


Genre: Oper
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Črna dvorišta / Schwarze Höfe

Stimme aus dem Inferno

Stimme aus dem Inferno. Aufschrei des gequälten Menschen. Klage um die Zerstörung und den Verlust der Menschlichkeit. Traum von einer anderen Welt: jener jenseits des Stacheldrahtes. Spuren der Hoffnung. Zeugnis und Mahnung. Ort des Geschehens, On des Grauens: Keraterm. KZ der serbisch-jugoslawischen Volksarmee im Bosnien-Krieg; nahe bei Prijedor, der Heimat des Autors. Zeit: 1992.

Man weiß, was geschah: Krieg, Vertreibung, Terror; Systematische Vergewaltigung, Folter, Mord; Massaker (Srebrenica), ,,Ethnische Säuberungen”; Genozid. Im Angesicht der Weltöffentlichkeit, begleitet von sensationslüsterner Medienberichterstattung. Konferenzen. Politische Naivität und Unfähigkeit bis zur Schamlosigkeit, bis zur Lächerlichkeit. Währenddessen wird weitervertrieben, weitergemordet, weitergesäubert. Man schafft Realitäten.

Der Schrei der Gefolterten aber verhallt im Niemandsland. Einer, ein Dichter, Muhidin Šarić, schreibt eine Chronik dieses Grauens, eine seiner eigenen Qual, seines Erniedrigtseins; seiner Namenlosigkeit: Man ist Opfer; sonst nichts. Kein Mensch mehr. Was bleibt, ist Verzweiflung, untröstbare Trauer. Und nach dem Überleben: die Heimatlosigkeit; eine für immer.

Davon sprechen diese Gedichte: Von den schwarzen Höfen, von den Hinterhöfen, in denen menschliches Leben zerstört wurde, zerstört wird. Und von der Sehnsucht nach dem, was einmal war und was es nicht mehr gibt; nie mehr geben wird. Literatur, Poesie als Aufschrei, als Zeugnis, als Mahnung; auch als Überlebenstherapie Übersetzung aus dem Bosnischen durch Emina Šarić und Klaus Detlef Olof.. Und als Träumen von einer Welt jenseits des Irrsinns vom Menschen.

Muhidin Šarić lebt als Stipendiat der Institution ,,Städte der Zuflucht” seit 1992 in Graz.

Muhidin Šarić: Črna dvorišta / Schwarze Höfe. Gedichte, bosnisch-deutsch, Drava Verlag: Edition Niemandsland, Klagenfurt/Celovec, 1999;80 Seiten, öS l97,- DM 27,-.


Genre: Lyrik

Die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten

Rettung in letzter Minute
Ein Standardwerk über den Werdegang der burgenländischen Kroaten

„Vielfalt statt Einfalt!“ – Diese programmatische Parole möchte man all jenen zur Ermahnung zurufen, die in unserem Staat und vor allem in den betroffenen Bundesländern in der Volksgruppenfrage, aber auch sonst, der Konformierung, Assimilierung und Uniformierung das Wort reden.

Über 450 Jahre sind nun vergangen, seit die heutigen burgenländischen Kroaten im 16. Jahrhundert auf der Flucht vor den Türken ihre angestammte Heimat im nordöstlich verlaufenden Landstreifen vom Adria-Küstengebiet zwischen Krk und Zadar über die Lika, Krbava, über Bosnien, Slawonien bis hinauf zur Donau, zur Linie etwa zwischen Pécs und Novisad, verlassen und sich in ihrem neuen Siedlungsgebiet, im damaligen Westungarn, dem heutigen Burgenland, niedergelassen haben. Viele kroatische Auswanderer haben sich damals auch in Niederösterreich, in Südmähren und in der Slowakei angesiedelt. Sie alle sind dort heute fast zur Gänze im Mehrheitsvolk aufgegangen und als eigenständige sprachlich-kulturelle Volksgruppe untergegangen und verschwunden.

Einen Restbestand dieser Volksgruppe (18.700 Seelen, also sieben Prozent der Gesamtbevölkerung des Burgenlandes), die im Lauf der Jahrhunderte auch in der Diaspora ihre eigene Kultur erhalten und entfalten konnte, gibt es zum Teil noch in den einstmals fast rein kroatischen Dörfern des Burgenlandes. Dort ringt und kämpft diese sprachlich-kulturelle Minderheit um Erhaltung und Neufindung ihrer ldentität, um die Rechte, die man ihr aus kultureller und gesellschaftspolitischer Kurzsichtigkeit und Ignoranz oft vorenthält, gegen den Druck der Assimilierung, gegen die Gefahr der Selbstaufgabe, kämpft ganz einfach um ihr Überleben.

Ein höchst wichtiger Beitrag zu dieser Selbstfindung und in diesem Kampf ist ein umfangreiches Buch, in dem 16 burgenländisch-kroatische Autoren mit Einzelbeiträgen einen ausführlichen und wissenschaftlich fundierten Gesamtüberblick über „die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten“ geben. In geschichtliche Epochen und historische Entwicklungsabschnitte sowie in einzelne Sachgebiete gegliedert, geht das Werk umfassend und genau auf die einzelnen Themenbereiche ein, etwa im Abschnitt ,,Die Kroaten im west-ungarischen Raum (1848-1918)“ und im Burgenland 1918-1938, in der Nachkriegszeit und in der Gegenwart.

Einzelne Beiträge behandeln die Sprache der burgenländischen Kroaten, ihre Entwicklung und ihren Status heute, die Problematik, die sich aus dem Fehlen einer gemeinsamen Schriftsprache ergab und noch immer ergibt; die Literatur von ihren Anfängen im religiös-liturgischen Bereich über die Volksliteratur bis zur zeitgenössischen Lyrik und Prosa; das Schulwesen, das für diese wie für jede andere Volksgruppe zum wichtigsten Entscheidungsfaktor im Kultur- und Überlebenskampf geworden ist; die Musik, die von den meisten von uns als folkloristisches Belebungselement in Gestalt einer Tamburizza spielenden, singenden und tanzenden Trachtengruppe noch am ehesten als Volksgruppenüberbleibsel in einer touristischen Einheitskultur akzeptiert wird. Das ist vielleicht das Wunschbild der Assimilierungsbetreiber überhaupt, daß die Volksgruppe auf eine Folkloregruppe reduziert und erniedrigt wird.

„Aber auch über das Vereinswesen und über die – leider bereits ganz verschwundenen – Trachten sowie über das ebenfalls kaum mehr bestehende Brauchtum wird berichtet.

Vor allem aber wird über die Bedeutung der katholischen Kirche und des Klerus für die Kultur der Burgenlandkroaten gesprochen; und darüber, welche hervorragende Stelle sie stets – etwa im Schulwesen – eingenommen haben. Erwähnenswert und wichtig ist auch das Kapitel über die Rechtslage der kroatischen Volksgruppe im Burgenland aufgrund der Staatsverträge (St. Germain 1919, Wien 1955) und der aus diesen und aus den verschiedenen Interessenskonflikten sich ergebenden gegenwärtigen Situation, die alles andere als befriedigend ist.

Die Volksgruppe ringt zwar mit immer größeren und wahrlich bewundernswerten Anstrengungen um ihren Fortbestand, aber die Anzeichen für den drohenden Untergangs sind bedrohlich. Denn die Statistiken der Volkszählung sprechen hier eine klare und eindeutige Sprache. Seit der Volkszählung im Jahr 1923, also zwei Jahre, nachdem das heutige Burgenland zum österreichischen Staatsgebiet gekommen ist, hat sich die Bevölkerungsgruppe der Burgenlandkroaten bis heute um die Hälfte reduziert. Die Abwanderung ist einer der Minimierungsfaktoren. So leben in Wien zur Zeit schon fast genauso viele (ehemalige) burgenländische Kroaten wie im Burgenland. Und hier ist der Assimilierungsdruck besonders stark und gravierend.

,,Vielleicht kommt durch dieses Buch aber auch den Mitbürgerinnen und Mitbürgern deutscher Muttersprache zum Bewußtsein, daß nicht nur das Burgenland, sondern unsere ganze Republik Österreich ohne unsere Kroaten geistig und kulturell ärmer wäre“, schreibt in seinem Vorwort der österreichische Bundespräsident Rudolf Kirchschläger. Dies bleibt zu hoffen. Was nottut, sind jetzt nicht Worte, sondern Taten: eine den Minderheiten entsprechende Kulturpolitik, die Erfüllung ihrer Rechte und unserer Verpflichtung; dazu noch etwas mehr als bloß nur diese. Man muß handeln, wenn es ums Überleben geht!

Die burgenländischen Kroaten im Wandel der Zeiten.
Herausgegeben von Stefan Geosits. Verlag Edition Tusch, Wien 1986. 456 Seiten.


Genre: Dokumentation
Illustrated by Tusch Edition Wien

Trockengebiet

Trockengebiet – oder – Von der Dürre der Welt

,,Auch wenn dies Land / gänzlich verwüstet sein wird, /
die Liebe…wird es noch ein wenig begrünen.“

Die ist ein Ausspruch der Hoffnung, ein Ausspruch tröstlicher Gewißheit. Oder aber auch ein Sich-Klammern an einen letzten uns doch gegebenen, uns aber verborgenen, verborgen bleibenden Sinn, einen Sinnzusammenhang des Lebens.

Davon sprechen, darum ringen Franz. Richters Gedichte aus der Gedichtsammlung „Trockengebiet“. Es sind stille Gedichte. Solche mit dem Rhythmus des Wellenschlages des Meeres. Man muß in sie hineinhören, um ihren Atem zu empfinden: den Atem der Zeit. Es sind Gedichte, die ein Land beschreiben, das zwischen Erinnern und Vergessen liegt. Ein dürres Land. Die Welt als eine ,,Schöpfung“, die „von uns verjuxt und zerstört“ worden ist. Und in ihr die Suche nach dem eigenen Ich, nach dem Du, nach der verbindenden Gemeinsamkeit als Bezugspunkt zu sich selbst, zum Anderen und zur Welt. Die Suche nach der eigenen Identität, nach dem Ich-Ereignis als Wahrheitsereignis, nach dem Wahrheitsereignis wiederum als Ich-Ereignis. Die Liebe als konkrete Möglichkeit dazu. Und dies alles als Lebensweg. Jede Berührung bedeutet ein Hinterlassen von Spuren, von der Abnützung; bedeutet Wunden, Verlust; aber auch ein Wachsen der Hoffnung. Ohne Hoffnung wäre die Gewißheit unerträglich. Die Fülle des Lebens in der Dürre der Zeit nehmen als Möglichkeit der Beteiligung, als Aufruf zum Aufleben. Denn: „Wem etwas zu viel ist, der hat zu wenig geliebt.“ Denn: „Ohne unser Zutun verliert uns die Zeit.“ Frage und Antwort: ,,Wo ist meine Zeit hingeraten? / Mein Herzschlag hat sie mir vertrieben“ – „Was also habe ich noch zu erhoffen?“ – „Ich trage meine Jahre. / Meine Jahre tragen mich..“

Ist dies das Gleichnis des Lebens, seine Erfüllung?“ Was erwarte ich noch / im Wissen, wie nah die zeitlose Stunde schon ist?“ Gedichte des Abschieds? Oder solche des Aufbruchs? Der Verzicht auf die Suche nach Kausal-Zusammenhängen deutet sich an, die Suche nach Sinn-Zusammenhängen wird sichtbar, spürbar. Die Vergangenheit wird zur Hilfe gerufen zum Weg in die Zukunft. Reflexion als Mittel zur Standortbestimmung. Angesichts der Erfahrung, daß so vieles zerbricht, zerbrochen wird, zurück zum Ansatz der Frage: Gibt es adäquat zum Gesetz des Werdens und Wachsens auch ein solches der Zerstörung, des Zerstörtwerdens? Die Antwort wird gesucht, auch eine auf die Frage: „Was nehmen wir mit, / wenn sich der Anker lichtet?“ aus diesem Leben, aus dieser Welt, aus dieser ,,Gemeinschaft Von Leben und Tod“ ? Und was hinterlassen wir als Vermächtnis? Und ist das Leben nur das, was uns zustieß? Dann, so Richtert, „Nimm an, was dir zustieß./ So wird an Dir Geschehnis zur Tat, / zur Gabe deine Ergehung!“

„Ich lebe auf, / wo mein Ich ablebt…“ Markiert diese Aussage Resignation, Ergehung, oder ist dieser Ausspruch eines scheinbaren Paradoxon nicht Zeugnis eines Wissens, daß gerade im Abschied die größte lntensität einer Gegenwart sich an uns vollzieht? Das Du als Weggefährte, um ,,gemeinsam zu verglühen.“ Ist diese Abschiedssituation, diese permanente als Lebensereignis in der Dürre des Daseins, in diesem Trockengebiet Leben, wirklich eine geeignete Position, womöglich nur die einzige, von der aus wir die Frage zurück und ins Nichts stellen können als eine Frage nach uns und der Welt. Oder ist es so, daß wir antwortlos bleiben, „niemals wissend, / ob unser Dasein sein wird, / denn unzuverlässig ist unser / Vertrag mit dem Gewesenen“?

Das Leben, jeder Versuch, sich seiner zu bemächtigen, mit seinen Auswüchsen der Zivilisation, mit seinen Wunden am eigenen Ich, am anderen Du, ist es ein einziger Verrat am Paradies, bedeutet es den Verlust der Heimkehr? Liegt gerade im Ereignis, im Ereignis des Lebens die Verwehrung der Antwort? Und die der Erkenntnis der Wahrheit?! Ist sie erst möglich, wenn überhaupt, erst ,,am Ende der Zeit“? Es scheint so. Denn „alles wird ungenau, / wenn es sein Unendliches einbüßt.“

Franz Richter ,,Trockengebiet“, Gedichte, , 1980, Band 14 der Reihe ,,Lyrik aus Österreich“, hrsgg. von Alois Verlag G. Grasl, Baden bei Wien Vogel und Alfred Gesswein.

Peter Paul Wiplinger
Wien, 27.7.1980


Genre: Lyrik
Illustrated by Verlag G. Grasl Baden bei Wien

Versteckenspiel

VERSTECKENSPIEL
Gedichte von Hedwig Katscher

„Ein Traumfragment
das Leben.
Der Tod
ein Bruchstück Wahrheit“

(Aus dem Gedicht ,,Der Befund“)

„Meer und Himmel
sind mir Heimat.

In mir sind sie zuhause.
So bin ich ihre.“

(Aus dem Gedicht ,,Die Landschaft“)

„Versteckenspiel“ heißt der Titel einer Gedichtsammlung von 57 Gedichten der österreichischen Dichterin Hedwig Katscher, die als Band 23 der Reihe ,,Lyrik aus Österreich“ im Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1982 von den Exponenten des Literaturkreises Podium, Alois Vogel und Alfred Gesswein, herausgegeben worden ist.

Versteckenspiel – was hat dieses Wort, das gleichzeitig die Bezeichnung für ein Spiel aus unserer Kindheit ist, das wir alle gespielt haben – mit Spannung, Angst und Freude – als Titel eines Gedichtbandes zu bedeuten, was signalisiert es, wofür ist es als Chiffre gesetzt? Mit welcher Interpretation erfasse ich seinen Sinn, was ist damit gemeint? Etwas klingt da an, drängt sich als leicht verfügbare, weil gängige Assoziation auf: Rollenspiel, Rollenverhalten, Rollenzwang. Dies ist mit Sicherheit nicht gemeint, mit diesem Ansatz gehe ich fehl bei meiner Spurensuche, beim Versuch einer Interpretation dieses Wortes. Also hin zum Text und aus dem Text heraus zum einzelnen Wort (Zusammenhang) und von diesem zum Gemeinten und von da zum Sinn.

Einer Dichtung nachzuspüren, ihr auf die Spur zu kommen, bedeutet, den Weg des Denkens, den Weg des dichterischen Wortes einzuschlagen, den Weg zurückverfolgen, den Weg des Wortes zu seinem Ursprung. „Wohin?“ Dieses eine Fragewort steht als Motto auf einer leeren Seite allein dem Gedichtband voran. Also gleich am Anfang auch Fragestellung nach einem Weg, nach einer Zielrichtung, mit einer Zielgerichtetheit, nach einer (schicksalhaften) Bestimmung. In dieser einen Frage scheint sich die geeinte Bedeutung aller anderen möglichen Fragen als Einheit zu artikulieren. Sie eint in sich auch ein Gehvarianten eines Weges – des menschlichen Lebensweges – vom sich im Dunkel Vorwärtstasten bis hin zum zielgerichteten und zielbewußten Gehen.

Fragen werden gestellt, aus Situationen heraus, auch – ja vor allem – aus der eigenen Ich-Situation. Symptome werden hinterfragt, Zusammenhange werden abgefragt. Fragen, die nicht Ausdruck der eigenen Unsicherheit sind, sondern Orientierungshilfen sind, so wie ein Kompaß in einer unbekannten Landschaft. Anzeichen, Symptome, Zusammenhänge werden auf diese Weise sichtbar (gemacht). Schicksalsereignisse, Leidenswege und Leidenszustände werden aufgezeigt, Diagnosen werden gestellt. Und dann kommt (ähnlich wie bei der Diagnose: „Es ist Krebs!“) am Ende der Befund. Er ist nicht gleich das Todesurteil, sondern eine dem Leben entsprungene Erkenntnis, die einem nur nach langem Lebens- und Leidensprozeß, noch mitten im Leben, aber nahe am Tod, zuteil wird: die Erkenntnis als das gefundene Ziel eines Weges, den man gegangen ist.

Hier beginnt die tröstliche Gewißheit, der innere Friede. Man ist angelangt, am Ziel seiner Bestimmung. Alles, was zerrissen war, wird wieder ein Ganzes, man selbst wird wieder eingegliedert aus dem Chaos heraus in eine große, von uns unabhängig vorhandene, wirksame Ordnung der sich gegenseitig bedingenden Kräfte einer Einheit von Leben und Tod. Ein Zugehörigkeitsgefühl zum Ganzen der Schöpfung wird spürbar und einem bewußt. Die Splitter der Zeit werden zusammengefügt zu einer zeitlosen Gestalt, zu einer immer wiederkehrenden und einer immer wieder sich erweisenden Einheit alles Seienden. Die Ausweglosigkeit aus den Fragen wird zu einem tiefen inneren Frieden.

Die Frage nach dem Woher steht für Hedwig Katscher nicht am Anfang, sie wird von ihr erst am Ende des Weges in einer Art Rückschau gestellt; aus einer gewissen Verwunderung heraus darüber, daß diese Frage plötzlich am Ende auftaucht: die Frage nach der Herkunft. Diese Frage – eben nicht am Beginn stehend – hat den Weg nicht bestimmt, es erfolgte keine Einengung der Freiheit durch sie. Aber sie stellt sich nun – eben am Ende des Weges – in den Weg. Diese Frage will gestellt sein, auch wenn sie vielleicht nicht beantwortet werden kann, auch wenn keine weitere Frage auf diese Frage gegeben werden kann, vielleicht auch nicht gegeben werden muß, weil die Antwort auf das Woher unwichtiger ist als die Antwort auf die Frage nach dem Wohin.

,,Wie kam ich in dies Land?
Die Landschaft lächelt
im Traum von Kinderglück,
zärtlich singen die Vögel –
wie kam ich in dies Land
zum zweiten Mal,
wo Steine mir berichten
und die Menschen schweigen.“

(Aus dem Gedicht ,,Dies Land“)

Herkunft als etwas Vorbestimmtes, das sich unserer Verfügbarkeit entzieht, von der wir ein ganzes Leben lang ge(kenn)zeichnet sind, auch im Sinne einer Determination unseres Ichs, als Hemmnis und Verhaftetsein; und doch auch als Geborgenheit in ihr. Der Weg aufgrund der Fragestellung WOHIN?, diese Suche, ist ein Weg unter dem Zeichen der Freiheit, auch ein Weg unter der Bestimmung des Ausgesetztseins in Schutzlosigkeit; ein Weg, der als Irrweg in die Katastrophe, der aber auch ans Ziel fuhren kann. Auf jeden Fall ist er ein Weg der Freiheit, einer, auf dem wir nur auf uns selbst angewiesen sind. Ein Weg, den Menschen auch gemeinsam gehen können, ein Weg, der verbindet, der Gemeinsamkeit zeugt.

Lebensgefährte – Lebensweg. Wieder etwas Umspannendes, das mehr ist als bloß eine Station, als eine Zeiterscheinung. Wieder etwas Ganzes, etwas Gründliches, etwas Wesentliches, etwas Bestimmendes, etwas Wirkliches, etwas Wahres. Mit der Liebe als etwas Grundlegendem, als letztem (Beweg)grund des Seins. Und das ist mehr als ein soziologisches Phänomen. Die Liebe als Ausgangsbasis für eine mögliche gültige Antwort auf alle die Fragen nach dem Woher und Wohin, die Liebe als Wahrheitsereignis der Einheit von Leben und Tod, die Liebe, die, wie es im „Hohen Lied“ heißt, ,,stärker als der Tod“ ist.

Von dieser Liebe sprechen die Gedichte Hedwig Katschers. Von der personal erfahrenen, vom Verlust des Lebensgefährten; nicht vom Verlust der Liebe durch dessen Tod, im Gegenteil, aber doch vom Schmerz, der durch den Verlust seiner Gegenwart, seiner greifbaren Gestalt, ins Leben einschneidet. Dieser Schmerz ist die wahre Lebenswirklichkeit, die einen selbst im verborgensten Versteck aufspürt, der man sich durch kein Versteckenspiel entziehen kann. An ihm wird das volle Maß an erlebbarer Wirklichkeit als Grunderfahrung menschlichen Lebens überhaupt erfahren. Und die ,,Totenklage“ ist nicht nur ein Wehklagen als Ausdruck des Schmerzes über den Verlust des geliebten Menschen und der Ausdruck der Trauer über das Allein-Zurückbleiben, sondern sie wird auch zum Ausspruch der Erkenntnis von der Brüchigkeit der Zeit, von ihrer begrenzten Gültigkeit. Hier wird personale Leiderfahrung zur Erfahrung einer universalen Wahrheit des Seins.

„Gestern
vom Schlaf gepackt
und plötzlich wieder wach,
sprach ich zum Lehnstuhl hin:
,,Weißt Du, es ist schon spät!“
Da sah ich, daß er leer war.
Das war der tiefste Schrecken.
Das war die Wirklichkeit.
Dich gibt es nicht mehr.“

(Aus dem Gedicht ,,Totenklage“)

Eine solche Erkenntnis von Lebenswirklichkeit und Lebenswahrheit ist nicht das Ergebnis eines Erfahrungsprozesses und eines vollzogenen analytischen Denkprozesses in einem vollzogenen Bewußtseinsprozeß, sondern hier wird jemand schicksalhaft von der Wahrheit getroffen. Der ,,tiefe Schrecken“ ist wie eine Stigmatisierung. Aber auch er ist nichts Endgültiges, auch er ist nur ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Läuterung durch das Leid, auf dem Weg, den man gehen muß, bis man selber ,,reif wird“. Selbst der Tod, personal erfahren am Verlust der leiblichen Gestaltsgegenwart des geliebten Menschen, des Du, ist kein Ereignis absoluter Endgültigkeit, sondern bildet wiederum einen weiteren Ansatzpunkt im geistig-seelischen Wandlungsprozeß des von diesem Ereignis betroffenen Menschen, der nach dem Abbruch dieser Lebensgemeinschaft zurückbleibt. Die leibliche Gegenwartseinheit ist zerbrochen, nicht aber das Einssein in der Liebe.

,,Noch immer
nähr ich mich
von deinem Dasein …“

(Aus dem Gedicht ,,Noch immer“)

,,Ich muß Dich weitersuchen,
mit Dir sprechen.
Denk an die vielen Fragen,
die wir uns,
die wir einander stellten,
an Namenloses, Unbekanntes auch.
War ich ein Halm,
hast Du mir Halt gegeben.
Sah ich Dich schwanken,
hielt ich Dich umfangen.“

Die Erinnerung an den verstorbenen geliebten Menschen bahnt sich über das Wort, über das Gespräch, den Weg in die Gegenwart. Der Verstorbene ist nicht mehr leiblich anwesend, aber er ist gegenwärtig, ja er scheint immer mehr an bestimmender Gegenwart im Leben des ihn Betrauernden zu gewinnen. Aus der im früheren Zusammensein oft erlebten Sehnsucht nach der Gegenwart des anderen geliebten Du wird die immer stärker werdende Sehnsucht nach einer dauernden und endgültigen Vereinigung mit ihm, nach einer zeitlosen, ewigen Verbundenheit, die auf immer dem Zugriff der Zeit entzogen ist.

,,Und meine Asche
wird bei Deiner liegen.
Ohne Trennung
wird unser Beischlaf sein.“

(Aus dem Gedicht „Schneeflecken“)

Bis dahin aber gilt es auszuharren, die Fremdheit und die Heimatlosigkeit im weiteren eigenen Leben zu ertragen.

Aus dieser Erfahrungs- und Lebenswirklichkeit heraus entstehen Hedwig Katschers Gedichte: aus Schmerz und Trauer, aus dem Gefühl und Bewußtsein der Heimatlosigkeit, der eigenen und der des Menschen überhaupt. Vor allem aber entstehen sie aus einer Gewißheit heraus, daß die Liebe stärker ist als der Tod; daß sie alles überwindet. Und daß wir auf diesem Weg, der von der Frage nach dem WOHIN vorgezeichnet ist, unser Leben erleben, erleiden, erfahren, erdulden, am Ende doch die ,,1ebendige Wahrheit“ finden und erfahren.

„Versteckenspiel – Gedichte von Hedwig Katscher“, Band 23 der Reihe „Lyrik aus Österreich“, herausgegeben von Alois Vogel und Alfred Gesswein. Verlag G. Grasl, Baden bei Wien, 1982.

Peter Paul Wiplinger
Wien/Haslach, 25.-26. Dezember 1982


Genre: Lyrik
Illustrated by Unbekannter Verlag

Schnee im November

Schicksal und Menschenbild
Zu Peter Ebners Schubert-Roman

Und er läßt es gehen Alles, wie es will.
(Der Leiermann, ,,Winterreise”)

Kaum erschienen, ist das Buch auch schon fast wieder vergriffen. Eine neue Auflage steht bevor. Das spricht für den Erfolg dieses Romans. Das spricht für den Erfolg des Autors. Doch ist dieser Erfolg auch schon gleichzeitig ein Nachweis für Qualität? Notgedrungen und von vornherein nicht. In diesem Falle aber, so meine ich, ergibt sich der Erfolg aus einer im Werk vorhandenen Qualität. Und worin besteht nun diese? Ich meine: In der eindringlichen, einfühlsamen, grundlegenden Art, wie Peter Ebner an dieses schwierige Thema herangeht; in der Fähigkeit kluger Beschränkung auf die einfache Schilderung des linear ablaufenden Geschehens während der letzten Lebenstage Franz Schuberts; in der Konzentration auf die innere Dramaturgie der Konstellation von Innen- und Außenwelt des ganzen Ereigniskomplexes; in der subtilen, einfühlsamen Psychologie und sprachlichen Ausgereiftheit dieser Erzählkunst, die Erinnerung, Phantasie, Erleben und Traum zu einem sprachlichen Kunstwerk von großer Schlichtheit verdichtet, wobei Peter Ebner den Leser zwar ins Geschehen miteinbezieht, ihn aber doch immer in einer gewissen Distanz zum Geschilderten hält, so als sei hinter dem ganzen Werk der Wille spürbar, dieses geschilderte Geschehen und somit auch die historische Persönlichkeit Franz Schubert bei aller Nähe doch letztlich für sich, autonom bestehen zu lassen.

,,Schnee im November” ist nach den beiden anderen Romanen, ,,Der Erfolgreiche” und ,,Das Schaltjahr”, der dritte Roman des Autors innerhalb relativ kurzer Zeit, in dem er sich diesmal, anders als in den beiden vorangegangenen, die im wesentlichen vielleicht doch zum Großteil aus subjektiv autobiographischem Erlebnismaterial hervorgegangen sind, mit einem, wenn man so will, historischen und noch dazu sehr bekannten Thema, oder sagen wir besser: mit einer historischen Persönlichkeit, eben mit Franz Schubert, beschäftigt.

Gleich vorweg gesagt: Es geht hier um keine neuen Enthüllungen im ,,Fall Schubert”, es geht um keine neuen musikwissenschaftlichen Erkenntnisse, die da publiziert werden, sondern es geht einfach um das Sterben Franz Schuberts, um seine letzten Lebenstage, um die Schilderung dieses äußeren Geschehnisablaufes in der Zeitspanne vom 11. bis zum 19. November 1828, in der das Leben des einunddreißigjährigen Komponisten und Musikers in einer ärmlichen Schlafkammer bei seinem Bruder Ferdinand in einem unnoblen Grätzel auf der Wieden, damals eine Vorstadt von Wien, langsam zu Ende geht und schließlich erlischt.

Schubert weiß aus innerer Gewißheit um dieses Zu-Ende-Gehen seines Lebens, er weiß, daß er bald sterben wird. Dagegen lehnt er sich auch nicht auf, er nimmt den bevorstehenden Tod genauso wie das Leben, als Schicksal, dem man sich zu unterwerfen hat. Noch einmal zieht in diesen Tagen sein Leben in Erinnerungsträumen vorüber, er mißt und prüft und beurteilt es. Noch einmal werden die wichtigsten Lebensabschnitte und Ereignisse in seinem Leben gegenwärtig.

Die Kindheit am Himmelpfortgrund in Wien: Das Leben dort ärmlich, ja armselig. Die Sängerknabenzeit im Konvikt, das erste Komponieren, schon recht früh. Der erste schnelle, eigentlich recht mühelos errungene Erfolg, der ihn bald zu einer gefeierten Figur des Wiener Gesellschaftslebens in adeligen und bürgerlichen Kreisen mit dem Ruf eines Bohemien macht, der ihn aber auch sozial aufsteigen läßt. Seine Künstlerfreundschaften und das damit verbundene gesellige, in den Augen der Moralisten: ausschweifende Leben, mit nächtelangem Sicht-Herumtreiben in den Cafés und Wirtshäusern dieser Stadt. Seine Ausflüge mit Freunden und Bekannten in die schöne Natur der näheren Umgebung von Wien, die er so liebte. Gefühlsverbindung und Gefühlsbindung in tiefen Freundschaften mit wenigen Auserwählten, wie den Brüdern Hartmann und Moritz von Schwind: bloßes unverbindliches Zusammensein mit vielen als Zeichen eines hellen Wachseins für die Fragen der Zeit, aber auch einfach als Flucht vor und aus der eigenen Einsamkeit und dem gefürchteten Gefühl des Verlassenseins. Seine Begegnungen und Verbindungen mit Frauen, stets leidenschaftlich, aber glücklos, romantisch-schwärmerisch, aber ziel- und ergebnislos, jedesmal in unausweichlicher Enttäuschung mündend, mit dem Ergebnis einer verbleibenden tiefen, ungestillten. unstillbaren Sehnsucht, die zum grundlegenden Schubertschen Lebensgefühl wird: zu einem Gefühlsfilter, durch den allein er letztlich seine eigene Existenz sieht, begreift und schmerzlich spürt. Dann kurzes, aufbrausendes Glücksgefühl. Selbsterfahrung, Selbstbestätigung, Selbstgewißheit. Schließlich die Ansteckung mit der tödlichen Geschlechtskrankheit. Behandlungsaufenthalt auf der venerologischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses in Wien. Die schmerzhaft spürbare soziale Diskriminierung. Das Bewußtwerden der einschneidenden Konsequenzen aus dieser Krankheit für das weitere Leben, der im doppelten Sinn jetzt begrenzten Lebenserwartung, das Wissen um seine maximale Lebensfrist, um den nahen Tod. Was bleibt, ist ein Rest von Leben unter dem Stigma einer tödlichen Krankheit.

Schubert erfährt das Leben von Anfang an als etwas vom Schicksal Bestimmtes, dem man sich nicht entziehen kann, das trotz einer Hinterfragung von eventuell doch vorhandenen Kausalzusammenhängen letztendlich doch rätselhaft und unerklärbar ist und bleibt. Er erfährt das Leben als das Wie seiner Existenz, als den Modus seiner eigenen Geschichte. Das bewirkt, vor allem ab dem Zeitpunkt seiner Erkrankung an Syphilis, an der er aber – Ironie des Schicksals? – nicht stirbt, einen tiefen Veränderungs- und Reifungsprozeß seiner Persönlichkeit, der kein rational-intellektueller ist, keiner mit einem präzisen, handgreiflichen Ergebnis, sondern der ein seelisch-metaphysischer ist, der sich vor allem in einem künstlerischen Neuansatz in seiner Musik ausdrückt, in der Entstehung seiner ,,neuen Musik”, wie Schubert sie selbst nennt.

,,Die Winterreise”, die ,,drei Sonaten für das Klavier” und das „Quintett! sind für Schubert der Inbegriff dieser „neuen Musik“ und doch zugleich noch Stationen auf dem Weg zu ihr hin, zu einer neuen Musik, um die sein ganzes Denken, Träumen und Phantasieren in seinen letzten Lebenstagen kreist, die im Gegensatz zu früher eine solche sein soll, ,,die nichts mehr darstellt und nichts mehr will, die eben nur ist”; von der er überzeugt ist, daß von dieser ,,neuen Musik” ,,jede einzelne Note mehr wert ist als alles andere”, was er vorher geschrieben hat. Was aber bedeutet all dies?

Hier mißt einer, der sich der Endgültigkeit seiner Situation bewußt ist, der weiß, daß nichts mehr hinzugefügt und nichts mehr weggenommen werden kann in seinem Leben, sein geschaffenes Werk an seiner künstlerischen Absicht, er stellt es in Frage, er verwirft die von ihm selbst in einem ganzen Leben erzeugte Realität und setzt an ihrer Stelle den Entwurf einer Utopie, von der er weiß, daß sie eine solche bleiben wird.

Er, dieser Franz Schubert, ist damit plötzlich als Mensch und Künstler genau das, was ihm in seinem ganzen bisherigen Leben widerstrebte: Er ist radikal. Er mißt sein Leben auch an seinem Lebensentwurf. Und erfährt dabei aus dieser doppelten Blickrichtung, aus dieser Einsichtnahme in seine Kunst und in sein Leben, daß die existentielle Dimension der Kunst in der Freiheit des künstlerischen Wollens, in einem individuell-subjektiven Befreiungsakt selbst liegt, gebunden freilich an ein strenges Ordnungs- und Gestaltungsprinzip, damit Geistig-Seelisches sinnlich erfaßbar wird. Und er erfährt, daß die existentielle Dimension des Lebens vor allem in der Schicksalhaftigkeit menschlichen Lebens liegt, in einer dem eigenen Wollen und der eigenen Ansicht letztlich entzogenen, ja oft geradezu entgegengesetzten, die Wirklichkeit bestimmenden, oft auch als reine Zufallswillkür erscheinenden, eigengesetzlichen Lebenskraft besteht. Er erfährt Freiheit und Beschränkung in ihrer existentiellen Dimension. Das Eine als das Prinzip des Göttlichen, das Andere als das Prinzip des Irdischen im Menschsein. Das Eine als einen Weg hin zur Ewigkeit und Unendlichkeit, das Andere in seiner Vergänglichkeit, als den Weg hin zu Sterben und Tod. Am Ende seines Lebens, in diesen seinen letzten Tagen, in diesem Lebens- und Sterbeprozeß und in der Gewißheit seines bevorstehenden Todes, erfährt Schubert die ganze Dimension der Wahrheit von Leben und Kunst, von Freiheit und Schicksalhaftigkeit, von Geist und Natur, indem er ihr Wesen beispielhaft an seinem eigenen Leben erschuf und ihrer Bedeutung für den Menschen einsichtig wird. Mit dem eigenen Sterben vollzieht sich für Schubert die Beendigung und Aufhebung einer lebenslangen Gefangenschaft in diesem grundsätzlichen Dualismus. Der Tod erscheint ihm als das, was er in Wirklichkeit ist: das Heraustreten des Menschen aus der eigenen Begrifflichkeit und aus der Begrifflichkeit der Welt, aus der eigenen Endlichkeit und aus der Endlichkeit der Welt in die Unendlichkeit personaler und universaler Freiheit. Das Sich-Loslösen von starren Gesetzlichkeiten einer scheinbar realen Welt, das Losgelöstwerden aus dem irdischen Bereich von Kausalität und Faktizität, das Geöffnetwerden für die letzte Sinngebung des Lebens in der Aufhebung aller Grenzen und aller Begrenzung von Existenz, als Erlösung aus der Gefangenschaft, als Übertritt aus der Endlichkeit in die Unendlichkeit, aus der Zeit in die Ewigkeit, aus der Beschränkung alles Existierenden in die unbegrenzte Freiheit, aus der Qualität eines Etwas in die reine Existenz des Nichts. Seinserkenntnis vollzieht sich im Bewußtsein des Todes. Sterben ist der einzig wirkliche und wahre Befreiungsakt.

Schubert erkennt und begreift all dies und versteht es. Das sind seine Phantasien und Fieberträume: Die Einsichtnahme in das Geheimnis der Existenz. Seine ,,neue Musik”, diese ganz reine, unbegreifbare, undeutbare, übersinnliche Musik, die nicht mehr Melodie, sondern bloß Klang sein soll, die ihre Bedeutung allein in ihrer Existenz hat, diese Musik hört er bereits; er wird sie nicht mehr schreiben können, das weiß er, das fühlt er. Er weiß und fühlt: Diese Musik ist bereits ein Zeichen überirdischer Freiheit, ist bereits die Botschaft aus einer anderen Welt. Und er ist auf dem Weg zu ihr hin. Schubert ist bereit, in diese Welt aufzubrechen, sich dem Leiermann anzuvertrauen, mit ihm mitzugehen auf die Wanderschaft, von der keiner mehr zurückkehrt. Diese Ergebenheit, in der er sein Lebensopfer bringt, ist nur aus der Gewißheit einem für ihn angebrochenen, erkennbaren und fühlbaren Erlösungsgefühl erklärbar. Schubert fühlt und weiß es: Der Tod ist der einzige Weg in die Freiheit. Schuberts Ergebenheit ist kein menschlicher Akt und keine Haltung von Unterwürfigkeit und Demut, sondern eine aus einem Einsichtsprozeß in letzte Geheimnisse auf dem Totenbett gewonnene Bereitschaft zur eigenen Befreiung.

Das ist, so interpretiere ich es, das Schubert-Bild Peter Ebners in seinem Roman ,,Schnee im November”. Es ist ein Schubert-Bild weitab von jedem bekannten und gewohnten Klischee; weitab auch von der Unberührbarkeit und abstrakten Begrifflichkeit eines nur musikwissenschaftlich erfaßten und aufgebauten und nur in dieser engen Dimension gedeuteten Menschen- und Künstlerbildnisses Franz Schuberts. In diesem Roman, in der Schilderung der Romanfigur dieses Franz Schubert, geschieht etwas ganz Wesentliches: Hier wird einem weit verbreiteten Menschenbild und philosophischen Weltbild-Bekenntnis, das von der Endlichkeit und damit von der bloßen Irdigkeit der menschlichen Existenz aufgrund einer materialistisch-funktionalen Menschen- und Weltauffassung spricht, entschieden und überzeugend widersprochen. Dieser Roman und das darin entworfene Schubert- und Menschenbild sind überhaupt ein Widerspruch gegen das Gewöhnliche, das im Letzten nichts wirklich und nichts wesentlich und wahrhaft erfaßt, weil es immer nur innerhalb seiner sich selbst gesetzten Bahnen, Vorstellungen und Grenzen bleibt. Das Schubert-Bild Peter Ebners ist ein Menschenbild, das nicht im Irdischen begrenzt und eingesperrt ist, sondern das gezeichnet und geprägt ist von einem mehr als nur Schicksal genannten und benennbaren metaphysischen Geheimnis. Die wesentliche und so wichtige Mitteilung, die Botschaft, wenn man so will, ist diese: Leben und Kunst sind eine Einheit und in Wahrheit außerhalb unserer gewohnten, begrifflichen und konkret erfahrbaren Welt angesiedelt. Personalität und Universalität sind in der Existenz des Menschen untrennbar miteinander verbunden.

Es geht dem Autor Peter Ebner nicht um die Darstellung eines historisch gesicherten biographischen Lebensbildes von Franz Schubert, sondern er entwickelt, ausgehend vom musikalischen Phänomen Franz Schubert, ein Seelenbildnis, das darauf abzielt, diesen einzigartigen Musiker und Menschen Franz Schubert von einem ganz bestimmten künstlerischen und existentiellen Wendepunkt in seinem Leben her zu verstehen, eben von seinem Ende her, indem er uns miteinbezieht in Schuberts letztes Schauen der letzten Geheimnisse von Existenz überhaupt. Ebner führt uns in diesem Roman behutsam zu jenem Punkt der Berührung von Leben und Kunst Franz Schuberts, wo die Zusammenhänge zwar nicht erklärbar sind, aber das Geheimnis als etwas Wirksames offenbar wird. Die Frage nach der Wirklichkeit wird durch die viel wichtigere und wesentlichere Frage nach der Wahrheit ersetzt. Und es zeigt sich, daß die Wahrheit nicht in der Begrifflichkeit und nicht in der Faktizität oder Kausalität des Lebens liegt, sondern einzig und allein darin, daß das Seiende ist.

Wie die Wahrheit als etwas Universales nun persönlich erfahren werden kann und persönlich erfahren wird in der Wirklichkeit des Seins, das hängt sehr vom einzelnen Menschen ab. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Geheimnis des Lebens bescheidenermaßen nur in der Einsicht und Haltung, die aus jenem Satz spricht, den Peter Ebner in seinem Roman Franz Schubert kurz vor dessen Tod sagen läßt: ,,Es ist halt so, wie man es nimmt.”

Schnee im November. – Ein Franz Schubert Roman. Von Peter Ebner.
Mit einem Vorwort von Hermann Prey. Styria Verlag, Graz 1984.

Peter Paul Wiplinger
Wien, 16.-17.12.1984


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Styria Verlag Graz

Heleneland

Elsa Rieger hat ihr Meisterwerk geschrieben. »Helene« beschwört wie schon in früheren Büchern der Autorin den Geist der Flower-Power-Ära und wird durchweht von der Musik jener farbenfroh-freigeistigen Zeit.

In diesem Fall ist es der geheimnisvolle Lennon/McCartney-Song vom »Nowhere Man« aus dem Jahre 1965, der den Leser in Form einer Marionette durch das Leben einer jungen Frau begleitet. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by Twentysix

Die Magie der kleinen Dinge

Die Magie der kleinen Dinge

Die Niederlande im 17. Jahrhundert: Die junge Nella Oortman wächst in tiefster holländischer Provinz auf, ihre Familie hat neben einem guten Namen nicht mehr viel zu bieten. Wie damals üblich, geht sie eine arrangierte Ehe ein, ihren Gatten kennt sie vorher nicht. Drahtzieher sind ihre Mutter und ihre zukünftige Schwägerin. Ihr Gatte Johannes ist ein reicher Kaufmann aus dem prosperierenden Amsterdam, ihn lernt sie erst bei einer schmucklosen Trau-Zeremonie in ihrem Heimatort Assendelft kennen und das auch nur kurz, weil wichtige Geschäfte ihn schnell fortrufen. Nella tritt die Reise in ihr neues Zuhause, ein altehrwürdiges Amsterdamer Kaufmannshaus alleine an.

Von der für sie ungewohnten Stadt ist Nella zunächst überfordert, noch schlimmer aber ist für sie der frostige Empfang im Haus ihres weiterhin durch Abwesenheit glänzenden Gatten. Ihre Schwägerin Marin begegnet ihr mit Hochmut und eisiger Distanz, sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie ihren Platz als Herrin des Hauses nicht räumen wird. Die Dienerschaft ist für Nella ungewohnt aufmüpfig, fremd und exotisch zugleich ist für sie Otto, der Diener ihres Mannes, ein ehemaliger Sklave.

Ihre Welt ändert sich, als Johannes ihr sein außergewöhnliches Hochzeitsgeschenk präsentiert: ein schrankgroßes Puppenhaus, eine exakte Replik ihres neuen Zuhause. Nella will wenigstens dieses mit Leben füllen und greift auf die Dienste einer Miniaturistin zurück. Die winzigen Kreationen der schwer fassbaren und rätselhaften Künstlerin spiegeln ihre echten Vorbilder in unheimlicher und unerwarteter Weise. Zunächst machen jagen die Geschöpfe der Miniaturistin ihr Angst ein, enthüllen ihre winzigen kleinen Dinge und Puppen doch die ungewöhnlichen Geheimnisse ihrer auf den ersten so frommen neuen Familie. Schon bald jedoch betrachtet sie die Miniaturistin geradezu als Prophetin und fiebert ihren versteckten Hinweisen und Ratschlägen entgegen. Die Frage, ob diese Frau eher der Schlüssel zu ihrer Rettung oder doch die Archtitektin ihrer Zerstörung ist, verdrängt sie zunächst. Es dauert nicht lange und das Unheil bricht über das Kaufmannshaus hinein. Nella jedoch wächst mit den Schwierigkeiten und letztlich ist sie es, die denen, die das Unheil überleben, mit ungewohnter Stärke neue Zuversicht gibt

Die Britin Jessie Burton hat mit “die Magie der kleinen Dinge” einen ungewöhnlichen Debütroman geschrieben. Als Theater-Schauspielerin hatte sie wenig Erfolg und besann sich auf ihre Liebe zum Schreiben, eine Leidenschaft aus früher Kindheit. Die Fan-Gemeinde kenntnisreich geschriebener Historien-Romane wird es freuen. Inspiration für ihren Roman war ein antikes Puppenhaus, welches als Exponat im Amsterdamer Rijksmuseum zu bewundern ist. Auch Nella Oortman hat es wirklich gegeben, das von Jessie Burton beschriebene Geschehen haben wir allerdings ihrer Phantasie zu verdanken.

Die große Stärke der Autorin ist das atmosphärische Erzählen. Sie schreibt nicht nur über “die Magie der kleinen Dinge”, sie erschafft sie auch. Die Handlung des Romans ist überschaubar, das Erzähltempo ist auch eher gemächlich. Man fragt sich unwillkürlich, woran es dann liegt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Die Antwort liegt wohl vor allem im Flair dieses Buches, in der Welt, die Jessie Burton erschafft, bzw. wiederauferstehen lässt. Es ist, als ob all die Porträts, die man aus dieser Zeit kennt, diese ernst und humorlos dreinblickenden Menschen in dunkler Kleidung mit ihren gestärkten weißen Halskrausen und Hauben zum Leben erwachen. Die Autorin nimmt uns mit in eine Welt, so fern der heutigen – grausam und doch verlockend ob der klar aufgestellten Regeln, anziehend und abstoßend zugleich.

Spannend und sehr interessant ist daneben der Blick auf eine weitere Hauptdarstellerin: die Stadt Amsterdam. Der Roman zeigt Amsterdam auf dem Höhepunkt seiner frühen Blütezeit, die Stadt breitet sich immer weiter aus, “baut immer höher, obwohl durchaus die Möglichkeit besteht, dass alle im Morast versinken”. Die Stadt wird beherrscht von einer Melange aus Geld und Scham, man lebt eine Kultur des Widerspruchs. Die Liebe zu glltzerndem Reichtum und das Streben nach Wohlstand kollidieren allüberall mit der Furcht vor Todsünden, gepredigt wird gottesfürchtige Enthaltsamkeit – Bigotterie in Reinkultur. Keiner in dieser Stadt kann sich jemals sicher fühlen, die Fassade der Stadt wird dank gegenseitiger Überwachung aufrechterhalten. Die “in Wasser geschriebenen Regeln” der Stadt und ihrer Bewohner ersticken die Seele der Menschen.

Wer heute die großen, so stark multikulturell geprägten Städte Hollands kennt, kommt selten auf den Gedanken, dass die Geschichte der Niederlande sehr lange nicht so bunt und tolerant war wie heute. Und auch heute noch kann man die Strenge bedrückender Religion gerade hinter den Fassaden der ländlichen, sehr calvinistisch geprägten niederländlichen Provinzen finden. Die akribisch recherchierte “Magie der kleinen Dinge” sorgt da durchaus für ein besseres Verständnis des historischen Zusammenhangs.

Auch Nellas Ehemann Johannes und seine Schwester Marin verbringen ihr Leben in einem “unsichtbaren Käfig, dessen Gitterstäbe aus tödlicher Heuchelei bestehen”, Am Ende werden sie von der Stadt, die vor allem Johannes und seinem kaufmännischen Geschick so viel verdankt, verraten.. Wie es mit Nella und den ihr Anvertrauten weitergeht, bleibt offen. Gewagt für einen Debütroman, aber schlussendlich folgerichtig, Der Leser bleibt in dieser durchgehend im Präsens geschriebenen Geschichte immer auf dem Kenntnisstand von Nella, nie ist er ihr voraus. Und wer weiß – vielleicht gibt es ja ein Wiederlesen?

Diskussion dieser Rezension gerne im Blog der Literaturzeitschrift 


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Limes Verlag München

Der Krüppel

Živorad Mitras Ježavski wurde 1955 im ehemaligen Jugoslawien, in Serbien, geboren. Er hat in Italien und Frankreich gelebt und ist viel gereist. Unterwegs hat er auch ein paar Bücher geschrieben. Seit seinem Badeunfall 1990 in der Donau lebt er als Querschnittgelähmter ständig in Wien. Die Trilogie „Der „Krüppel” ist sein erstes Prosawerk. Das erste Buch dieser Trilogie in deutscher Übersetzung erschien 2003 im Viza Edit-Verlag.

Ježavski schrieb in diesem Buch seine Erlebnisse nieder, seine Erlebnisse und Erfahrungen als Querschnittgelähmter: vom Unfall, der in seinem Geburtselement, dem Wasser – seine Mutter hatte ihn beim Baden in einem Bottich zur Welt gebracht – passierte, seine Zeit im Wilheminenspital und in Lainz.

Auch im zweiten Buch erleben wir Ježavski, wie er von einer Einrichtung zur anderen wandert (Club Nyance, wieder Lainz, Rehabilitationszentrum „Weißer Hof“), wie er lebt und leidet und trotzdem voller Hoffnung ist, seinem Schicksal trotzen zu können. Sein Optimismus ist unbesiegbar, der (Galgen)Humor ist sein Verbündeter, der ihm in schwierigsten Situationen hilft, nicht aufzugeben und weiter zu kämpfen.

Und so ist ihm eine eindringliche Prosa über seinen Weg vom Verunglückten zum ins Leben Zurückfindenden gelungen. Ježavski hat ein Buch geschrieben, das einem beim Lesen manchmal bedrückend vorkommen mag, in Wahrheit aber kein deprimierendes Buch ist. Auch das macht die Lektüre zur Herausforderung, daß man sich bei den doch oft bedrückenden Szenarien immer wieder die Lebensbejahung des Autors als Betroffener vor Augen halten muß. Es ist ein schwieriges Buch, wie das Leben als ,,Krüppel” selbst, aber es lohnt sich wirklich, sich mit diesem Buch zu befassen und sich in diese Welt zu vertiefen.

„Es wurde vielleicht aus der Verzweiflung und aus einer aussichtslosen Situation heraus, von einer Endstation her geschrieben, aber es berichtet vom Lebens- und Überlebenskampf eines unbeugsamen Tapferen, der sich Tag für Tag sein Weiterleben erkämpft, gleichsam in einer Utopie Hoffnung (Ernst Bloch). Es ist das berührende und erschütternde Zeugnis eines Menschen, der einen aufrechten Gang hat, obwohl er an den Rollstuhl oder an sein Bett gefesselt ist. Der Krüppel verzichtet auf jede Mitleidsreaktion, lehnt eine solche ab. Sein Schicksal ist seine größte menschliche und zugleich schriftstellerische Herausforderung, der er sich stellt und in der er – auch mit Hilfe des Schreibens und der Literatur – besteht. Eine bewundernswerte Haltung: Eine große schriftstellerische Leistung. Ein wichtiges Buch.“ (P.P.Wiplinger).

Nach jahrelangen Zwischenstationen in Spitälern lebt Živorad Mitras Ježavski nun in einem Behindertenwohnheim in Wien und arbeitet weiter als Schriftsteller. Ježavski ist Mitglied des Österreichischen und des Internationalen P.E.N.-Clubs, des Literaturkreises „Podium” sowie der IG Autorinnen Autoren. Im Jahr 2001 wurde ihm der Theodor-Körner-Preis verliehen.

2012 ist Živorad Mitras Ježavski (Mitrasinović) in Wien verstorben, sein Grab ist am Wiener Zentralfriedhof.

Peter Paul Wiplinger
Wien 2004


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Viza Edit-Verlag Wien

Leben ist, wenn man trotzdem lebt

Leben ist, wenn man trotzdem lebt

Vor uns liegt ein dickes, gewichtiges Buch, mit 800 Seiten Umfang. Es trägt den oben ge-nannten Titel, in Abwandlung eines geläufigen Ausspruchs („Humor ist, wenn man trotzdem lacht“). Der Titel ist als Titel für ein Buch eigentlich ungewöhnlich, denn er ist keine knappe Wortkombination, sondern ein Satz, eine Aussage, eine Formulierung mit manifestartigem Charakter, also eine Proklamation. Dahinter steht eigentlich ein gedachtes, mitformuliertes, wenngleich nicht geschriebenes Ausrufungszeichen. Ein Wort – eben das Wort „trotzdem“ – erhebt eine sonst banale Erkenntnisformulierung – Leben ist wenn man lebt – zu einem Be-kenntnis, zur Deklaration einer Haltung, zur Proklamation mit Anspruch auf Gültigkeit des so Erkannten, Gedachten und Formulierten. Eine Formel ist hiermit ausgedrückt; man könnte auch sagen: Eine Lebenserkenntnis, eine Lebensweisheit, vorallem aber eine grundlegende Lebensregel. – Dieses Wörtchen „trotzdem“, als kleine Einfügung, aber bedeutet und drückt aus: Widerstand, bereit sein zum Kampf, zum Lebenskampf, bedeutet: aktiv sein anstatt Le-ben passiv hinnehmen; bedeutet, im Leben ein Handelnder zu sein, nicht nur ein Betroffener. Und diese Haltung ist die Grundhaltung jenes Mannes, den der Autor hier schildert, dessen Lebensgeschichte er in diesem Buch erzählt.

Unter dem Titel ist noch in Klammer gesetzt eine Einfügung, nämlich jene: (Ein Roman …?). Wieder etwas Ungewöhnliches, aber sicherlich – jedenfalls bei diesem Autor – nichts Unüber-legtes. Hier wird eine Frage angedeutet, die ins Literarische geht, welche offen gelassen wird: vielleicht für den Leser – er soll selber entscheiden; vielleicht überhaupt. – Nun, bei allem Respekt für diese wissentlich und willentlich gesetzte Frage und die vielleicht einkalkulierte Antwort so oder so, gebe ich nun mal schon – als Leser ( und somit als zur Antwort Aufgeru-fener und Berechtigter) – eben meine Antwort auf diese offene Frage. Und diese lautet: Nein, dieses Buch ist kein Roman – im herkömmlichen und literarischen Sinn und einer daraus ab-geleiteten Wertung. Ein Roman ist das nicht. Es ist etwas ganz anderes; aber was dann? – Wo-bei hier weder Frage noch Antwort so sehr wichtig und wesentlich sind, nichts zum Buch hin-zufügen oder von ihm wegnehmen. Die eventuelle Antwort ist, was die formale Einstufung betrifft, eher belanglos; denn das Gesagte, Geschriebene ist und bleibt wichtig. Trotzdem ist diese aufgeworfene Frage, in ihrem rhetorischen Charakter, jedenfalls für mich, ein Zugang zur Charakterisierung dieses Buches.

Was da vorliegt, ist eine Lebenschronik, ein großes Erinnerungsbuch; das eines Menschen, der ein interessantes, spannendes, bewegtes Leben gelebt hat, davon berichtet, nun dieses aufge-schrieben, in literarischer Form wiedergegeben hat und so nun vorlegt. In dieser Rückschau wird nicht nur eine ungeheure Gedächtniskapazität und Gedächtnisleistung sichtbar, die ein Beweis dafür ist, wie intensiv, wie aufmerksam, aber auch wie umsichtig der Autor, der ja zugleich die Schlüsselperson des Geschehens ist, sich in die Ereignisse eingebunden hat, auch als Beobachter, als Interpret der Geschehnisse und seiner eigenen Rolle darin, sondern hier wird über einen solchen Lebenszeitraum hinweg sowohl für den Autor, den Chronisten, als auch für die Leser eine ganz wichtige Erinnerungsarbeit geleistet; jene, von der man weiß, daß sie nicht nur Bilanz zieht, nicht nur Abrechnung ist, sondern zugleich auch Bewältigungsver-such und Bewältigungsprozeß des eigenen Ich in Bezug auf das eigene Leben und das eigene Schicksal und alles, was damit zusammenhängt. Sich erinnern bedeutet, sich noch einmal al-les vergegenwärtigen. Bedeutet: Nachfragen, ob dieses oder jenes oder alles wirklich so war, wie es im Gedächtnis verblieben ist, oder nicht. Bedeutet auch, unter dem Schutt nach Ver-schüttetem, vielleicht auch nach Verdrängtem, nach Vergessenem zu suchen; sich dem als Suchender zu stellen. Bedeutet darüber hinaus aber auch noch: Das Gefundene und das im Gedächtnis Verbliebene zueinander in Beziehung zu setzen, in Zusammenhänge einzuordnen, ja schließlich auch zu werten; nach den eigenen Maßstäben. Bedeutet – für einen Kaufmann wie für einen literarischen Chronisten und Interpreten: Bilanz zu ziehen, eben abzurechnen; mit den Ereignissen, Geschehnissen, Personen; mit dem eigenen Leben. Daraus wiederum Erkenntnis zu gewinnen. Und auch: Diese dann mitzuteilen und weiterzugeben, an die Nach-welt auszuliefern. – Das ist der Sinn des Ganzen, so meine ich.

Darüber hinaus aber entsteht und vollzieht sich noch etwas; etwas, das über die eigene Persön-lichkeit, das eigene persönliche Schicksal, die eigene persönliche Lebensgeschichte, über das Ereignishafte und seine erzählerische Wiedergabe weit hinausgreift, in andere Bereiche und Dimensionen vordringt. – Immer, wenn von Menschen die Rede ist, geht es nicht bloß um Zufälligkeiten oder schon Schicksalhaftes. Hier geht es meist um Charaktere; darum, wie Menschen eben sind oder sein können; um ihre Veranlagungen, Wesenszüge, Eigenheiten, Dispositionen, ihr Verhalten; natürlich auch um ihre Meinungen, Haltungen, Grundsätze, Prinzipien; ihr Verankertsein in einer festgefügten, auch tradierten Wertordnung, einer jewei-ligen Moral, einer bestimmten Kultur, einer ethischen Grundhaltung; oder aber um ein Defizit in diesem oder jenem oder allem. Die Palette ist da reich, der Bogen weit gespannt: vom Gu-ten zum Bösen, von der Ehrlichkeit bis zur Niedertracht, von der Menschlichkeit bis zur Un-menschlichkeit und grauenhaften, menschenverachtenden Brutalität; auch und gerade von Ideologien, den daraus resultierenden diktatorischen Regimen, ihren Führern, Handlangern, Mitläufern, bis hin zu den Verrätern an der eigenen Sache. Und dazwischen eingestreut die nicht ausrottbare Dummheit und Borniertheit, aber vor allem auch immer die Anfälligkeit für Macht und Korruption. – Und dann noch die Opfer, oft Opfer für nichts; nur Geopferte, Aus-gelieferte, Ausgelöschte, Vernichtete. – Und die Frage: Wofür? Und die Frage und der Ruf nach Gerechtigkeit. Und die gewußte, entweder gegebene oder verschwiegene Antwort: Es gibt sie nicht! – Es darf aber auch nicht eine daraus abgeleitete Resignation, die Aufgabe, die Selbstaufgabe, das sich Hingeben an die Sinnlosigkeit geben. Irgendwo oder jeweils genau an einem bestimmten Punkt des menschlichen Lebens, der Schicksalsprüfung, spürt und weiß man genau, was es zu verteidigen gibt, trotz oder gerade wegen allem, da alles so ist wie es ist, nämlich: Die menschliche Würde; die Würde des Menschen. – Das andere, das ist das Unmenschliche, Unwürdige, das hat man erlebt und erkannt. – Ist für diese Erkenntnis viel-leicht alles so da, das Leben?

Von all dem spricht dieses Buch; auch im Gedenken an die lebensbegleitenden Personen – in der Familie, in der Schule, im Beruf; in der politischen Gesinnungsgemeinschaft, in der Schicksalsgemeinschaft durch die Zugehörigkeit zum Judentum, durch die Zugehörigkeit zum aktiven antifaschistischen Widerstand, der aus einem tiefen Gefühl, einer festen Überzeugung, aus einem Einstehen für die Idee von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Anständigkeit, Ehre und Demokratie (S. 795) resultiert und lebenslang gelebt wird. – Dazu noch die Begründung seines Lebens und seiner Lebensordnung auf ethischer und moralischer Wertebasis. Davor und zugleich noch die Werteverankerung durch Erziehung, in der Familie, durch das gelebte Beispiel. Und die Beherzigung des Sprichwortes: „Dem Tüchtigen gehört die Welt“. – So et-was bildet und stärkt die Lebenskraft, den Lebenswillen, den man braucht, wenn man überle-ben will, weil man überleben muß. Überlebenswille wird da – bei diesem Georg Pressburger, bei diesem Robert Weinmann – und dann schon früh, vor allem aber wenn und noch bevor es darauf ankommt, auf Grund eines entwickelten, erfolgreichen Überlebensinstinktes zu einer Überlebensstrategie mit selbstgelernten, wichtigen, entscheidenden Überlebenstechniken. – Und so ist er eben, zum Beispiel, als einer der wenigen aus der jüdisch-kommunistischen Strafkompanie in Rußland am Leben geblieben, als einer jener neun von 192 Häftlingen – Schicksal und Leistung zugleich. – Für viele, die das nicht sind, setzt er ein Denkmal, in und mit diesem Buch. So durch die Schilderung der Erschießung von siebzehn Mithäftlingen, Freunden und Genossen, in Rußland, als Geiselexekution. Ein Dokument des Grauens, weil der unmenschlichsten Barbarei, aber auch ein Zeugnis für die Wahrheit; ein Vermächtnis, dieser Opfer, dieser Geopferten zu gedenken. – So lapidar der Hinweis im Buch auf das Mas-saker vom 23.1.1942 an der Donau in Novi Sad – die Ermordung von 5.000 Juden, Serben, Roma und Sinti bei der sogenannten „Razzia von Novi Sad“ – ist, so spürt man hier doch sehr deutlich eine oft nur mühsam zurückgehaltene, durch Disziplin unterdrückte Emotionalität des Autors und sein Betroffensein. Was vielleicht als kühle Zurückhaltung, ja manchem vielleicht sogar als Gefühlskälte erscheinen mag, ist in Wirklichkeit nichts anderes als Haltung, als Dis-ziplin; vielleicht auch eine notwendige Überlebenstechnik, Überlebensstrategie. – Mit Tränen in den Augen findet man nicht so leicht, nicht so sicher das Gesuchte, schreibt man auch keine Bücher; vielleicht solche Passagen der Erinnerung.

Am Anfang des Buches ein Foto, der Vermerk, daß dieses Buch dem Andenken des „unver-geßlichen und geliebten Bruders“ gewidmet ist. – Und auf Seite 353 im Gedenken an die 1944 ermordeten Eltern jener Ausspruch einer so tiefgreifenden und tiefempfundenen Erkenntnis, wie eine Inschrift auf ein Wolkengrab: „… Ihre Vorstellungen von Ehre, Gewissen, Mensch-lichkeit und Nächstenliebe …. aber auch die große Liebe zu ihren Kindern kostete beiden das Leben …..“

Wenn man dies liest und begreift, dann weiß man, weil man es spürt, daß dieser Autor Georg Pressburger, dieser Robert Weinmann, nicht nur einer ist, der in seinem Buch Geschehenes mitteilt, eine Erinnerungswelt, die es nicht mehr gibt, vor uns ausbreitet, nicht nur Bilanz zieht, abrechnet, sondern auch einer ist, der jenseits des gesetzten Zieles und etwaiger literari-scher Kriterien, in und mit diesem Buch auch ein Vermächtnis gibt; und daß er darin und da-mit nicht nur erinnernd mahnt, sondern auch trauert und liebt.

Georg Pressburger – „Leben ist, wenn man trotzdem lebt“
Edition Roetzer, Eisenstadt 1997, 800 Seiten, S 390,-

Peter Paul Wiplinger
Wien, 26.11.1997


Genre: Erinnerungen
Illustrated by Edition Roetzer Eisenstadt/ Burgenland / Österreich

Hotel Alpha

Das “Alpha” ist eine Institution in London, das außergewöhnlichste Hotel der Metropole und wohl auch sein schönstes. Sein Besitzer, der charismatische Howard York, Selfmademan, Zauberkünstler und Alleskönner, hat sich mit dem Alpha das Reich seiner Träume gebaut. Er ist ein Mensch, der jedem das Gefühl gibt, einfach alles sei möglich. Ganz London liegt ihm zu Füßen und sonnt sich in seinem Glanz und dem seiner Bilderbuchfamilie; der bildschönen Gattin Sarah-Jane, JD, dem ältesten Sohn und Nachwuchsplayboy und dem blinden Adoptivsohn Chas, den Howard dareinst bei einem Brand aus den Flammen gerettet hat.

Für Chas ist das Alpha noch mehr ein Kosmos im Kosmos als für die anderen. Er geht nicht gerne hinaus in die Welt, ihm reicht der Widerhall, den alles, was draußen geschieht, im Alpha erfährt und er findet Halt in den ganz eigenen Regeln des Hotels. Bis zwei Dinge seinen Horizont erweitern – das Internet im noch jungen Computerzeitalter und die Liebe. Sie alle werden begleitet und behütet von Graham, dem unnachahmlichen, einzigartigen, unentbehrlichen Concierge, Seele und guter Geist des Hauses seit dem Tage seiner Eröffnung.

Doch ist wirklich alles so einzigartig, so perfekt wie es scheint? Ist das Alpha wirklich aus Träumen und Visionen erbaut oder gibt es da ein dunkles Geheimnis, eine Lüge gar, die in stillem Einverständnis von allen, die das Alpha lieben und glorifizieren, mitgetragen wird? Erste Risse bekommt das ach so perfekte Gebäude mit dem überraschenden Weggang zweier Mitarbeiterinnen, die vor allem Graham und Chas mehr als nur bloße Kollegialität bedeutet haben. Im Laufe der Jahre verliert Grahams Mantra “”Je mehr die Dinge sich ändern, desto mehr bleiben soe, wie sie sind” seinen tröstlichen Charakter. Dinge ändern sich und mit ihnen das Licht, in dem der Held erscheint. Und das führt zu einem der wiederkehrenden Lieblingsthemen Mark Watsons: Manchmal sind es unwesentliche kleine Entscheidungen, die im Nachhinein ein furchtbares Gewicht bekommen.

Einmal mehr ist es dem Briten Mark Watson mit dem “Hotel Alpha” gelungen, einen Kosmos zu erschaffen, den der Leser gerne betritt, mehr noch, von dem er sich wünscht, dazugehören zu dürfen. Die Geschichte des Hotels wird über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten abwechselnd aus der Perspektive Grahams und Chas’ erzählt, wobei sie das Hotel nicht nur glorifizieren, sondern geradezu personifizieren. Howard ist ihr Held, der Charakter, um den sich alles dreht. Dennoch erfährt der Leser nichts aus seiner Perspektive, so dass Howard (fast) bis zum Schluß der unangefochtene Entertainer seiner eigenen Vision bleiben darf.

Obwohl das Hotel vordergründig im Mittelpunkt steht, ist das Hotel Alpha letztendlich eine Familiengeschichte, in eine sehr geschickte, sehr ansprechende Rahmenhandlung gepackt. Der Rahmen des Hotels gibt dem Autor die Gelegenheit, eins seiner größten Talente zu entfalten: Zu zeigen, wie sich Charaktere entwickeln, wie Menschen sich miteinander vernetzen und wie vielfältig sie miteinander verbunden sind. Der Roman entwickelt sich wie eine gehobene Seifenoper für die unterhaltungssüchtige, aber anspruchsvolle Leserschaft. Es gibt die euphorische Anfangszeit, in der alles möglich scheint. Ein Feuer, welches alles beinahe zunichte macht, aber gerade eben nochmal gut ausgeht und so die eigentlich schon da fällige Katharsis um Jahrzehnte verzögert. Den technischen Fortschritt und schließlich eine weitere Beinahe-Katastrophe, die endgültig alle Mitwirkenden zwingt, den Schleier der Illusion zu lüften. Eine großartige Fernsehserie könnte man daraus machen.

Auch Howard ist nur vordergrüding die Person, um die sich alles dreht. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto klarer wird, dass seiin Mythos erst von denen ermöglicht wird, die scheinbar am Rande stehen und “nur” beobachten. Dass der Mythos Alpha, mit ihm der Mythos Howard so lange überlebt, das große Geheimnis so lange gewahrt bleibt, liegt an denen, die es wahren und beschützen, denen die sich nicht trauen, die sie wärmende Illusion aufzugeben. “Wenn das Alpha auch nicht dier reale Welt war, so war es doch die, in der wir lebten.” Es bleibt die Frage, wie geht man mit Veränderungen um, wie nimmt man sie an, ohne seine ureigensten Überzeugungen zu verraten und sich selber treu zu bleiben?

Es hat eine gewisse berückende Logik, dass ein Ausnahmeschriftsteller wie Mark Watson, der schon in seinen vorherigen Romanen mit einem ganz eigenen, besonderen und warmherzigen Schreibstil gefiel, mit dem Hotel Alpha einen so eigenen, besonderen, von Warmherzigkeit gekennzeichneten Ort zum Mittelpunkt eines Romas macht. Das Hotel Alpha und seine Eigentümer zeichnen sich durch eine ganz besondere Atmosphäre, einen sehr speziellen Flair aus – ebenso wie die Bücher von Mark Watson. Auch im “Hotel Alpha” fällt eines wieder besonders auf: Bei aller Begabung zur Lakonie ist Watson ein Autor, der seine Protagonisten aufrichtig mag. Alle. Ausnahmslos. Auch die, die nicht als Sympathieträger angelegt sind. Watson hat für alles Verständnis, nichts Abseitiges ist ihm fremd, er begleitet alle seine Charaktere mit Menschlichkeit und Nachsicht. Watson wirbt fortgesetzt für mehr Empathie und weniger Schubladendenken. Gerade heute – in einer Zeit allzu schnell festgesetzter Urteile – wichtiger denn je.

Das Hotel Alpha ist ein kluges Buch, nie verliert es seinen optimistischen Unterton Anspruchsvoll ob der vielen sich kreuzenden Geschichten und handelnden Personen schafft Mark Watson den Spagat zwischen Leichtigkeit und Tiefsinn und gibt dem Leser so ganz en passant den Glauben an die Wunder des Lebens und des Alltags zurück.

Mark Watson genießt in England auch als Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator sowie als Stand-Up Comedian Kultstatus. Die Briten lieben ihn für seine Unerschrockenheit, seine klaren Worte und seine Experimentierfreude auf allen Gebieten Früh schon hat er mit seinem Blog die Möglichkeiten, die das Internet ihm zusätzlich bietet, erkannt und genutzt. Konsequenz aus dieser Erfahrung und seiner Experimentiertfreude ist nun eine fulminante Idee. Mit dem Schluss des Buches ist noch lange nicht Schluss mit dem Hotel Alpha. Auf der liebevoll und sorgfältig gemachten Seite hotelalphastories.de finden sich hundert weitere Stories aus dem Hotel-Kosmos. Eine Geschichte ist nun mal nicht nur auf das beschränlt, was man zwischen zwei Buchdeckeln pressen kann. Anstatt das Internet zu verteufeln, nutzt Watson seine Möglichkeiten – ganz so wie Chas’ in seinem Roman. Mit den Alpha-Stories hat er die Möglichkeit, seinen Kosmos noch schillernder auszubreiten und – der Leser muss sich nicht nach Ende der Lektüre allzu schnell von der gerade erst liebgewordenen Welt und den ans Herz gewachsenen Helden verabschieden. Der Vorsatz allerdings, das Goodie der 100 Stories nur wohldosiert zu genießen, lässt sich aufgrund des hohen Suchtfaktors von Watsons Geschichtens eher nicht halten

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Heyne München