Muchachas – Tanz in den Tag

Der Leser nun ist mit den Eichhörnchen traurig. Traurig aus nur einem einzigen Grund: Weil er sich von liebgewonnenen Charakteren und wundersamen Geschichten verabschieden muss.” Das schrieb ich vor etwas mehr als zwei Jahren nach beendeter Lektüre von “Montags sind die Eichhörnchen traurig“, dem dritten Band der Josephine-Trilogie, mit der sich die französische Überraschungs-Erfolgsautorin Katherine Pancol in die Herzen von Millionen Lesern geschrieben hatte.

Und ich war ehrlich traurig. So, so gerne wollte ich wissen, wie es mit der liebenswerten, leicht verrückten französischen Sippschaft weitergeht. Aber nun! Nun ist Schluß mit traurig. Katherine Pancol ist wieder da und mit ihr die ewig zaudernde, aber stets tapfere Josephine, ihre ehrgeizige Tochter Hortense und ihre verträumte Tochter Zoé. Und ich weiß endlich, wie es mit ihnen weitergegangen ist. Dennoch – um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen – die Familie Cortès steht diesmal nicht im Mittelpunkt der neuen Saga von Katherine Pancol. Bei den “Muchachas” geht es um gleich mehrere Frauen. Ihre Schicksale werden unabhängig voneinander erzählt, wobei sich ihre Wege auf unterschiedlichste Art und Weise kreuzen. Wir lesen von ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen und Schicksalen, aber eines verbindet die Frauen bei aller Verschiedenheit: der unbedingte Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen und das ganz eigene Glück zu finden.

Muchachas1Im gerade erschienenen ersten Teil der “Muchachas -Tanz in den Tag” bekommt die Geschichte von Stella und ihrer Mutter Leonie, die unter dem gewalttätigen Vater und Ehemann leiden, den größten Raum. Die junge Schrotthändlerin Stella lernen wir als mutige alleinerziehende Mutter kennen, ihre Mutter Leonie ist durch die ständigen Mißhandlungen und Demütigungen ihres Mannes nur noch ein Schatten ihrer selbst. Während die anderen Geschichten weitestgehend in den Metropolen dieser Welt spielen, entdeckt man in Stellas und Leonies Geschichte eine andere, eine dunklere Welt, die des ländlichen, eigentlich bodenständigen Bourguignon.

Josephine und ihre Tächter tauchen als mit diesen Frauen verbundene Nebenfiguren wieder auf und so erfahren wir quasi by the way nach und nach, wie es ihnen ergangen ist. Reicht aber völlig, um die Neugier zu befriedigen, sogar Junior taucht wieder auf. Darüberhinaus lernen wir noch einige neue Charaktere kennen – so die auf den ersten Blick unscheinbare Musikerin Calypso. Und auch wenn von ihnen im ersten Teil nur am Rande die Rede ist, wir ahnen schon, dass sie in den weiteren Teilen eine größere Rolle spielen werden. Spannung aufbauen, das kann die Pancol unberufen.

Die einzelnen Teile der Muchachas sind nicht in sich abgeschlossen, das Projekt ist eher als ein großer Roman in drei Teilen angelegt. Es ist mehr eine Serie zum Lesen als eine herkömmliche Trilogie. Glücklichwerweise müssen wir diesmal nicht allzu lange auf die Fortsetzungen warten, alle drei Teile werden dieses Frühjahr hintereinander weg erschienen. Jeden Monat ein Band, so ist der Plan. Sozusagen binge-reading nach dem Vorbild des bei visuellen Serien so beliebt gewordenen binge-watching. Inclusive Cliffhanger. Diverser Cliffhanger, um genau zu sein.

Die Muchachas erscheinen als preisgünstigeres Soft-Cover. Band 2 “Muchachas – Kopfüber ins Leben” erscheint am 11. April und der finale dritte Band “Muchachas – Nur ein Schritt zum Glück” am 9 Mai. Danach gibt es dann auch eine ausführliche Rezension und Bewertung des gesamten Romanprojekts. Für Band eins gibt es auf jeden Fall schon mal eine klare Leseempfehlung – ich habe sehr gerne mit den Muchachas in den Tag getanzt.


Illustrated by Carl´s Books

Altes Land

altesLandVera ist fünf Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter auf dem großen steinernen Gutshof im alten Land, dem großen Obstanbaugebiet unweit von Hamburg strandet. Sie sind 1945 aus Ostpreußen geflohen, die wortkargen Norddeutschen heißen die Flüchtlinge nicht gerade willkommen. “Diet Huus is mien un doch nich mien, de no mi kummt, nenn’t ook noch sien” steht über der Tür. “Von mi gift dat nix!“ ist der einzige Satz, den die alte Bäuerin zu den Flüchtlingen spricht.

Vera wird ihr Leben auf diesem Hof verbringen, aber mehr als “die Fremde” wird sie nie sein – immerhin schon ein Fortschritt zum “Polackenkind”. Sie wird das Haus erben, jedoch nie die Kraft finden, es instandsetzen zu lassen. Es ist ihr Haus und doch nicht ihr Haus, ganz so wie die Inschrift über der Tür es dunkel prophezeit. Sechzig Jahre später steht ihre Nichte Anne mit ihrem kleinen Sohn vor der Tür. Auch Anne ist ein Flüchtling, aber sie flüchtet nicht vor Krieg, Elend und Vertreibung, sie flüchtet aus ihrer Ehe, weil ihr Mann eine andere liebt und sie das nicht einfach sachlich abwickeln kann und will, so wie es die ungeschriebenen Gesetze der Hamburg-Ottenser Vollwert-Schickeria es diktieren. Nun will sie dort Fuß fassen, wo schon ihre Oma nie Fuß fassen konnte.

Vera und ihre Mutter waren preußisch bis in die Knochen, ungeachtet der ihnen entgegengebrachten Ablehnung kämpften sie stoisch und standesbewusst um ihr Bleiberecht. Die Mutter machte Nägel mit Köpfen, in dem sie den Sohn des Hauses heiratete, doch dann flieht sie weiter und schafft durch die nächste Heirat eine weitere Stufe der gesellschaftlichen Leiter im Wirtschaftswunderland. Ihre wunderliche Tochter Vera lässt sie bei ihrem ersten Mann auf dem Hof zurück. Vera erkämpft sich gegen alle Widerstände ein Studium und wird die Zahnärztin des Dorfes. Man begegnet mit einer Art widerwilligem Respekt, doch mehr ist es nie geworden.

Dörte Hansen gibt in ihrem Debütroman “Altes Land” einen Einblick in das Leben und den Alltag der Menschen in den Elbmarschen, in ihre doch recht eigene Welt, ihre Wertvorstellungen und vor allem in die Maßstäbe, die sie an sich und gnadenlos auch an ihre Mitmenschen anlegen. Es ist die Welt des alten Hinni, der zwar drei Söhne, aber keinen Erben für seinen so penibel gepflegten Hof hat, des Bauern Dirk und seine Frau Britta, die ihren Obstanbau klassisch betreiben – sprich mit viel Chemie und die sich von den Stadtflüchtigen bedrängt fühlen. Von jenen “möchte-gern-Kreativen”, die es aus der Hektik der Großstadt hierhin verschlagen hat und deren Welt es nie werden kann. Die Sehnsucht nach der heilen Welt auf dem Lande -die Marotte unserer Zeit, man kennt das. In Wahrheit finden “die Stadtflüchtigen” alles allenfalls pittoresk -solange es nur neu ist, aber alt aussieht und was hermacht und man es in Artikeln in Hochglanzmagazinen, die die Seele des gestressten Städters streicheln sollen, verwursten kann. Hauptsache, die “dickschädeligen” Bauern kommen authentisch rüber.

Dem gegenüber stehen die Schilderungen der jungen alternativen urbanen Familien, die doch soviel spießiger und engstirniger sind als noch ihre Eltern. Während Dörte Hanse den knorrigen Menschen aus dem alten Land – ob Alteingessene oder “neu” Hinzugezogene – mit Respekt und Verständnis begegnet, müssen die Übermütter und Väter aus Ottensen sich mit leichtem Spott begnügen. Das gelingt Hansen witzig, mit viel Wiedererkennungswert. Man kennt sie, die bemühten Eltern mit ihren Einkäufen im Bio-Supermarkt, den Baby-Schlafsäcken aus reiner Schafswolle, die ihre Kinder im stylischen Buggy vom Chinesisch für die Kleinsten zur musikalischen Früherziehung karren. Hochbegabte, wohin man schaut, die von in abgeklärten Beziehungen lebenden Eltern wohlwollend zu Höchstleistungen erzogen werden, biologisch korrekt ernährt und in politisch korrektem Sprech geleitet. In Unwissenheit der Tatsache, dass auch Sprache Heimat sein kann. Die Leute im alten Land wissen das, sie benutzen ihr Plattdeutsch als Ausdruck ihrer Zusammengehörigkeit, aber auch als Ausschlußtechnik. Dörte Hansen gibt diese Sprache in manchen Sätzen ganz bewusst so wieder, der Leser muss sie mehrmals lesen und sich laut vorlesen, damit er sie versteht. Aber so versteht er auch, was es heißt, als völlig Fremder in eine in sich geschlossene Gesellschaft zu kommen.

Anne, die gelernte Tischlerin nimmt sich schließlich des alten Hauses an, sie sorgt dafür, dass Wände trocken gelegt, Fenster erneuert werden und die alten Stützbalken wieder gestärkt werden. Sie, die völlig Fremde, wird dafür sorgen, dass ein Jahrhunderte altes Erbe bewahrt werden kann. Und sie sorgt dafür, dass Vera wieder schlafen kann. Auch wenn es bedeutet, dass sie selber wach bleiben wird und die Träume derer behütet, denen das Haus vielleicht doch noch eine Heimat wird – dadurch, dass sie gefunden haben, was sie eigentlich nie suchten – eine Familie. Die Handlung in “Altes Land” ist recht überschaubar, seine Anziehungskraft besteht in Dörte Hansens Schilderungen. Das Buch lebt sowohl von den beschriebenen Gegensätzen, als auch von Dörte Hansens scharfem Blick, von ihrem trockenen Wortwitz und einem hintergründigen, oft erst auf den zweiten Blick erkennbaren Humor. Sie erzählt mit Distanz, die Verbindung zu den Charakteren muss man sich über eine längere Strecke “erlesen”.

“Altes Land” steht seit Monaten auf den vorderen Plätzen diverser Bestsellerlisten. Mit ihrem Buch scheint die Autorin einen Nerv getroffen zu haben. Sie erzählt von der Suche nach Heimat, nach Zugehörigkeit, vom Fremdsein, von der Suche nach dem Platz im Leben. Ich nähere mich diesen Bestsellern ja nach diversen Enttäuschungen mit hoher Vorsicht, aber die Neugier überwog doch. Und – ich mochte das Buch. Sehr sogar. Es ist sehr behutsam erzählt, bei aller Distanz fühlt die Autorin sich gut ein in ihre Charaktere, Manche Personen sind liebevoll gezeichnet, andere wieder witzig, allerdings steht zu befürchten, dass wirklich keiner der Charaktere überzeichnet ist, auch wenn man es gelegentlich hofft. Alleine ihre Beschreibungen der Hamburger Vollwert-Eltern (das ist allerdings nicht Hansestadt-spezifisch, die gibt es mittlerweile überall, sogar im Ruhrpott) lohnt die Lektüre.

In etlichen Feuilletons war von “plumper” Belletristik zu lesen, ich kann dem nicht zustimmen. Belletristik ja, ok. Sind wir wieder bei der alten Frage, warum ist das eine Abwertung? Es geht doch nichts über eine gut erzählte Geschichte. Und ich mochte nicht nur das Buch, welches in seinen besten Momenten an “die hellen Tage von Zsuzsa Bank” erinnert, ich mochte durchaus auch das hoffnungsspendende Ende. Mein persönliches Fazit: Aufgrund der vielen abwertenden Rezensionen habe ich extra so lange gewartet mit meiner Beurteilung. Denn für mich ist ein Buch immer dann ein gutes Buch, wenn es lange nachwirkt. Altes Land habe ich noch im letzten Jahr gelesen und – es wirkt bis heute nach, ist mir bis heute präsent. Daher: Echte, uneingeschränkte Leseempfehlung.

Darüberhinaus – und davon kann in diesen unseren Zeiten gar nicht genug erzählt werden – “Altes Land” gibt eine eindringliche Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, wenn man plötzlich heimatlos ist. Und vor allem, wie es sich anfühlt, wenn man unerwünscht ist, obwohl man im Grunde nichts anderes will als überleben.

Die Journalistin Dörte Hansen lebt in der Nähe von Hamburg. Sie arbeitete als Redakteurin beim Norddeutschen Rundfunk und heute als Autorin für Hörfunk und Print. “Altes Land” ist ihr erster Roman und ein erstaunlicher – meiner Meinung nach verdienter – Überraschungserfolg.


Genre: Romane
Illustrated by Knaus München

Förster, mein Förster

Förster Förster, Schriftsteller mit Schreibhemmung steht kurz vor seinem 50 Geburtstag. Tjanun, so kann es gehen: Gerade noch jung und knackig, das Leben liegt vor einem, findet man sich plötzlich in einem Alter wieder, in dem man einsieht, dass Stracciatella und Pistazie ganz schlecht zusammenpassen. Auch wenn er sich noch so oft einredet, dass es ein Geburtstag wie jeder andere ist und nicht wichtiger als der ein Jahr zuvor – Förster kommt doch ins Grübeln. Die Vollendung des halben Jahrhunderts ist einfach „der Tag, ab dem man sich nichts mehr vormachen kann“.

Wenn er mit sich selbst spricht, dann redet er sich gerne in der Tradition des berühmten Gedichts von Walt Whitman an: “Förster, mein Förster“. Zum Captain hat er es bis jetzt noch nicht so ganz gebracht; das gesteht er sich selber ein – aber wenigstens gehört er noch nicht zum Club der toten Dichter. Auch wenn in naher Zukunft eine Gewebeentnahme dräut. Seine Freundin Monika treibt sich auf den äußeren Hebriden herum, während die Ex Martina es zwar zur bundesweit beliebten Tatort-Kommissarin gebracht hat, am liebsten aber mit Förster zurück in die muffigen Theaterkeller ihrer Jugend möchte. Seine Freunde Brocki und Fränge, mit denen er seit der Schulzeit eine herzliche Männerfreundschaft pflegt, sind auch keine große Hilfe. Fränge ist kurz davor, seine Ehe an die Wand zu fahren und Brocki tut immer noch alles, um cool zu wirken. Auch die Gespräche mit dem alten Nachbarn Dreffke, der nicht mehr so genau weiß, wann er das letzte Mal tot war und dem wohlstandsverwahrlosten Jugendlichen Finn bringen Förster nicht weiter.

Sie alle wissen nicht, wohin genau ihre Reise gehen soll. Das Einfachste wäre es abzuhauen, nach Iowa zum Beispiel oder am allerbesten ganz weit weg ins Outback. Aber zur Not tut es auch die Ostsee. An eben diese wird die leicht demente Nachbarin Frau Strobel von einer Jugendfreundin gerufen, die ganz dringend noch einmal die unvergessene Tanzkapelle Schmidt wiederbeleben muss. Frau Strobel kann zwar die Tücken des Alltags nicht mehr ganz so gut bewältigen, ein glasklares “Ganz Paris träumt von der Liebe” aber entlockt sie ihrem Saxophon noch immer. Vorzugsweise mitten in der Nacht. Da gerade alle nicht viel Besseres zu tun haben, steigt diese ungleiche, bunt zusammengewürfelte Gesellschaft kurzerhand in Fränges halb fertig restaurierten Bulli und begleitet Frau Strobel bei ihrer Reise in eine ruhmreichere Vergangenheit. Und wie das eben immer so ist, wenn eine Geschichte zum Road Trip wird, ist der Weg das eigentliche Ziel. Zumal die Zwischenstopps “praktischerweise direkt auf dem Weg liegen“.

Der Bochumer Schriftsteller und Kabarettist Goosen wird gerne als Chronist der Ruhrgebiets-Gegenwart bezeichnet. Er schreibt aber auch noch eine ganz andere Chronik: die Chronik seiner Generation, der Generation der sogenannten Babyboomer. Goosens erster Roman “liegen lernen” erzählte von einer ersten großen Liebe in den frühen 80ern, “Pink Moon” und “Mein Ich und sein Leben” erzählten vom Erwachsenwerden im sich wandelnden Ruhrgebiet, “so viel Zeit” vom Angekommensein und sich Abfinden mit dem Erwachsensein rund um den 40 Geburtstag. Mit “Förster, mein Förster” nun erzählt er von Freunden, die auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken – selbst erste Gedanken an die Rente werden zaghaft zugelassen. Begleitet von einer Mischung aus Melancholie und Wehmut nach diesem “Früher“. Auch wenn ihnen insgeheim klar ist, dass “Je weiter weg, desto schöner das Früher

Überhaupt dieser Bulli. Das knuddelige Gefährt hat in den letzten Jahren ein Comeback hingelegt, als Symbol der Sehnsucht nach vergangenen unbeschwerten Tagen. Erstaunlich, aber irgendwie auch logisch: Mehr Freiheit als in den 70ern und den frühen 80ern hatte diese Generation schließlich nie und wird sie auch nie wieder haben. So ziert der Bulli nicht nur in sattem Bochumer Blau-Weiß das Cover – er spielt auch eine tragende Rolle in Frank Goosens neuem Roman. Fränge, der von allen Freunden am stärksten mit der Midlife-Crisis zu kämpfen hat, hat sich diesen Bulli zugelegt. Hier ein Schräubchen festziehen, da etwas festklopfen, dann noch ein Gestell rein und ab dafür – weg, einfach weg, einem neuen Leben, einem neuen Aufbruch entgegen.

Keine Frage: Etliches kommt einem bekannt vor. Aber – das ist nun mal so heutzutage. Nichts, was nicht schon besungen, verfilmt oder erzählt wurde. Da hält Goosen es ganz pragmatisch mit der alten Weisheit: Man kann das Rad nicht neu erfinden, man kann ihm allenfalls neuen Schwung geben. Er dreht sein Rad im Surrealismus des Alltags, er sieht die Komik im Absurden. Allerdings kann man sich während der Lektüre des Eindrucks nicht erwehren, dass Frank Goosen seine Romane mittlerweile durchaus mit Blick auf die weitere mediale Verwertungskette schreibt. Goosens Werke sind ja zusehends zu einer Art Gesamtkunstwerk avanciert. “liegen lernen” wurde mit großem Erfolg verfilmt, “Radio Heimat” und “Sommerfest” sind gerade in der Kino-Mache, “So viel Zeit” wurde mit kommerziellem Erfolg am Theater Oberhausen dramaturgisch aufbereitet und fester Bestandteil seiner eigenen Bühnenprogramme sind seine Bücher sowieso.

Förster, mein Förster” bereitet dies schon vor. In dem ohnehin sehr dialoglastigen Roman wurde die ein oder andere Passage direkt schon als Drehbuch geschrieben. Das Buch verliert so zwischenzeitlich an Schwung und liest sich streckenweise hölzerner, als man es von Frank Goosen gewohnt ist. Die besten Passagen sind jene, in denen Förster seinen Gedanken freien Lauf lässt oder sich die Freunde in bewährter Manier kabbeln, eben immer dann, wenn er frei von der Leber weg schreibt. (Wie auch auf der Bühne seine stärksten Momente immer die sind, wo er vom Skript abweicht.)

Dennoch: Goosens Werke und auch der neue Roman “Förster, mein Förster” sind Lichtblicke, weil sie ungebrochen hoffnungsfroh Zuversicht vermitteln. Seine Protagonisten kommen zwar bisweilen etwas melancholisch rüber, düstere Melancholie war jedoch noch nie Frank Goosens Ding. Bei ihm ist es eher eine sehnsüchtige, zuversichtliche Melancholie. Wenn irgendwann irgendwer in hoffentlich noch weit entfernter Zukunft in einer Retrospektive ein Fazit ziehen wird, was bleiben wird aus den Büchern von Frank Goosen: Es wird zum einen die fast schon mantrahaft vorgebetete Erkenntnis sein, dass Musik Leben nicht nur begleiten, sondern auch retten kann, zum anderen die Beschwörung der Kraft der Freundschaft. Der nach außen so kumpeligen, raubeinigen Freundschaft, die aber ohne jedes wenn und aber durch dick und dünn geht – Freundschaften eben, wie sie besonders im Ruhrgebiet gepflegt und zelebriert werden. Liebe auch – von Liebe ist auch immer wieder die Rede. Doch auch wenn Montagues und Capulets in allen denkbaren Entwicklungsstadien den Roman bevölkern, im Goosenschen Universum ist Liebe nicht das allein selig machende.

Zum guten Schluss feiert die Tanzkapelle Schmidt eine umjubelte Wiedervereinigung und Förster sieht zwei Dinge ein: Auch die Ostsee ist ein guter Platz und eine Welt,
in der “a horse with no name” die neue Oppa Musik ist, kann nicht allzu schlecht sein. So lässt sich doch am 50sten die “grundlose Schwermut des modernen Menschen” zelebrieren.

(Diese Rezension erschien – in gekürzter Form – bereits am Erscheinungstag des Romans, am 18.02.2016 in den Revierpassagen.de . Diese Version ist der gewünschte “Directors Cut”)


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wolfsnächte

WolfsnächteDie Winter sind unbarmherzig in Alaska. In einem dieser unerbittlichen Winter ist es so kalt, dass die Wölfe sich aus den Wäldern wagen und die Kinder aus den Dörfern holen, um ihren Hunger zu stillen. Die Stimmen der Trauernden heulen mit den Wölfen und den Winden um die Wette. Die Menschen haben keine Möglichkeit, das zurückzufordern, was die Natur grausam als ihr Recht entschieden hat. Doch haben die Wölfe auch den sechsjährigen Bailey Slone aus dem gottverlassenen Dorf Keelut auf dem Gewissen?

Baileys Mutter, Medora, bittet den Wolfs-Experten Russell Core, den Tod ihres Kindes zu rächen und ihr wenigstens die Knochen ihres Kindes zu bringen. Russell Core kennt die Wölfe wie kein anderer, er bezweifelt, dass alles so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Er folgt dem ihm unerklärlichen Ruf Medoras, warum genau, weiß er nicht. Er befindet sich an einem scheinbar aussichtslosen Punkt seines Lebens, er hat in eine Zukunft investiert, die ihn vergessen hat. Er empfindet Medoras Brief als den Ruf, auf den er schon lange gewartet hat.

Er macht sich auf und erkennt nur allzu bald, dass Alaska wahrlich “no country for old men” ist. Die Natur ist unerbittlich und die Menschen von Keelut gehen für gewöhnlich nicht gerade freundlich mit Außenstehenden um. Schon gar nicht der Kriegsheimkehrer Vernon Slone, Medoras Mann und der Vater des toten Bailey, der eine Schneise des Todes in den Schnee schlägt. Über Nacht ist Medora verschwunden. Russell Core hat das untrügliche Gefühl, dass über Keelut und seinen Wäldern ein unheilbringendes Geheimnis liegt und auch wenn er spürt, dass dessen Ergründung ihn das Leben kosten könnte – der Sog des Unerklärlichen, ja, des Bösen ist so stark, dass er sich gemeinsam mit Detective Mariam aufmacht. Sie wollen Medora finden, bevor ihr Mann es tut.

Wolfsnächte ist auf den ersten Blick ein Thriller, der von einem unerklärlichen Mord, einer dunklen Liebesgeschichte und einem geheimnisvollen Fluch erzählt. Auf den zweiten Blick ist das Buch mehr, viel mehr. Es ist eine Saga über das Zusammenspiel von Natur und Zivilisation, die von Sand und Schnee erzählt, von Tier und Mensch, angesiedelt in einer Gegend, in der das Licht nur wenige Stunden das Dunkel des Winters durchbricht. In diesem Roman ist es weniger die Handlung, die Spannung erzeugt. Eher ist es umgekehrt. Die Spannung, die es braucht, um ein Gleichgewicht zwischen den Gegensätzen zu erzeugen, trägt die Handlung.

William Giraldi erzählt in seinem zweiten Roman eine Geschichte, die nicht nur im übertragenen Sinne in der Dunkelheit spielt. Wolfsnächte ist wie eine Tragödie aus der Antike, verlegt in ein Alaska, das als wilder Ort ohne Moral gezeichnet wird. Dieses kalte und unversöhnliche Alaska ist dabei nicht nur die Kulisse. Das Land zeigt sich wie ein eigenes Lebewesen, geheimnisvoll, mit eigenen Motiven, eigenem Willen, eigener Unerbittlichkeit. Und dazu immer wieder die Wölfe, die eigentlich Tiere mit klaren Regeln des Zusammenlebens sind, würdevoll und ihres Platzes bewusst. Der Mensch hat aus ihnen Monster gemacht und sie gleichzeitig mit einem Mythos überhöht.

Doch je tiefer Core sich in das Geschehen verstrickt, je mehr er hilflos zusehen muss, wie am Rande der Zivilisation die Natur und das Böse kollidieren, desto mehr beginnt er zu glauben, dass Mythen die einzige Wahrheit sind, die der Mensch hat. Dennoch wird ihm und seinem Gefährten die Natur des unbeeindruckt tötenden Vernon Slone unergründlich bleiben. Zunächst wartet man, dass der Charakter des Kriegsheimkehrers Vernon eine Parabel ist auf das, was der Krieg mit Menschen macht. Doch man wartet vergeblich. Slone sagt ungerührt von sich, dass er nur den gesunden Schlaf des Erschöpften schläft und den Krieg allenfalls als “umherirrende Bruderschaft, die Leichen und Tage zählte” empfunden hat. Core, Mariam und auch der Leser, sie alle müssen es einfach so hinnehmen: dieser Mann ist von einer grundlegenden Andersartigkeit, die alle anderen zutiefst erschrecken lässt.

William Giraldi hat seine Charaktere angesiedelt in eine Zwischenwelt, einer Welt, in der Taten zählen, niemals Worte. So legt er auch seine eigene Sprache, die Sprache des Erzählers an. Seine Worte sind genau bemessen, an keiner Stelle ausschweifend. Kühl bringt er mit präzise geschriebene Sätze zu Papier, die den Leser unerbittlich mitreißen auf eine Reise in das Herz der Finsternis. Wie die Wölfe, die in den Bergen lauern, hat der Roman eine wilde, aber logische Entschlossenheit. Wolfsnächte ist eine düstere, außerordentlich brutale Erzählung, die in unerwarteten Wendungen von Gewalt und Entfremdung in einer unversöhnlichen Natur erzählt. Leider verliert der Roman gegen Ende etwas von seiner Spannung. Ohne Vorwarnung findet der Leser sich in einer Art “Hänsel und Gretel” Happy End wieder, die Wahrheit hinter dem beschworenen Mythos entpuppt sich als enttäuschend banal. Und leider wird der Leser wohl nie erfahren, was genau Medora Slone nun bewogen hat, Russell Core zu rufen.

Dennoch – trotz des enttäuschenden Endes ist Wolfsnächte ein außergewöhnliches Buch. Was es vor allem anderen so außergewöhnlich und lesenswert macht, ist die entschiedene Kompromißlosigkeit, mit der dieses Buch geschrieben wurde. Kompromißlos sowohl in der Sprache als auch in seiner Intention. William Giraldi thematisiert in seinem Roman vor allem “das Böse”. Dabei will er es nicht ergründen, schon gar nicht will er wissen, wie das Böse zu bekämpfen ist. Er will wissen, wie es sich anfühlt, mit dem Bösen zu leben, mehr noch es hemmungslos auszuleben. Auf viele Protagonisten schaut er nachgerade verächtlich, Vernon Slone hingegen begegnet er nicht nur mit Respekt, sondern auch mit Sympathie und Empathie. Das muss dem Leser nicht gefallen, das soll ihm auch nicht gefallen – aber das macht das Buch trotz recht überschaubarer Handlung spannend und lässt dem Leser mit morbider Faszination zurück. Es fühlt sich ganz erstaunlich fremd an. Man kennt das ja fast gar nicht mehr, diese gnadenlose Ehrlichkeit, vor lauter Bemühen um political correctness und dem allüberall um sich greifenden weichgespülten “allen wohl und keinem wehe”. Es gibt einige Gründe, warum man die Wolfsnächte lesen sollte, der wichtigste und spannendste aber ist diese harte Kompromißlosigkeit, die man so selten kennenlernen kann. Und von der man sich nach Lektüre fragt, wo sie fehlt. Wenn sie denn überhaupt fehlt.

William Giraldi lebt als Literaturredakteur in Boston, nach Erscheinen seines Debütromans “Busy Monsters” wurde er vielfach als die neue Stimme eines anderen, dunkleren Amerikas gefeiert. Wolfsnächte ist das erste in deutscher Übersetzung erscheinende Buch von Giraldi.


Genre: Roman, Thriller
Illustrated by Hoffmann und Campe

Die tote Kuh kommt morgen rein

tote Kuh Erstens kommt es anders und zweitens schneller als man denkt. Eben noch hatte sich Reporter Ralf Heimann relativ kommod eingerichtet in der Redaktion der lokalen Tageszeitung seiner immerhin mittelgroßen Heimatstadt, schon fand er sich im Strom der täglichen Pendler wieder. Anders als die Meisten jedoch nahm er die entgegengesetzte Richtung, lebte weiter in der Stadt und arbeitete fürderhin für ein sich unendlich vor ihm ausdehnendes Jahr in der Ödnis des (fiktiven) Kaffs Borkendorf. Als Lokalredakteur beim (ebenfalls fiktiven) Borkendorfer Boten.

Ich hätte mir was Besseres vorstellen können. Ein gebrochenes Bein zum Beispiel. Oder eine Steuernachzahlung. Aber man wird ja nicht gefragt.” Wenn man als Einziger ein Auto hat und eine Erziehungsurlaubs-Vertretung (Erziehungsurlaub kommt ja bekanntermaßen immer so überraschend wie Weihnachten) schnellstmöglich geschickt werden muss – dann muss eben einer dran glauben und das Hohelied der prunklosen Prunksitzungen, Weihnachtsfeiern im März und Tauben-Ausstellungen an Landfrauen-Treffen nach Schützenfest-Orgien schreiben. Und die tote Kuh morgen rein setzen. Doch auch wenn auf dem Land beileibe nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist und auch des Reporters Trinkfestigkeit zumindest zu Beginn des Jahres nicht ganz mit der der Landbewohner mithalten kann – es ist auch nicht alles schlecht dort in Borkendorf.

Ich sach’s ja – ein großes Bild ist schnell geschrieben” Ralf Heimann, Autor von “die tote Kuh kommt morgen rein” weiß, wovon er schreibt. Mehr oder weniger zufällig avancierte er in den letzten Jahren zu so etwas wie einem Kronzeugen des Lokaljournalismus. Sechs Jahre ist es her, da entfachte er mit einem Tweet einen wahren Blumenkübel-Hype, über den sich halb Deutschland amüsierte und der zu einem Lehrstück in Sachen Verselbstständigung von Social Media Phänomenen wurde. Heimann arbeitete lange Jahre als Lokalredakteur im westfälischen Münster, startete vor einiger Zeit mutig die von ihm in der Hoffnung auf nicht-selbsterfüllende Prophezeiung sogenannte Operation Hara-Kiri, welche man auf seinem gleichnamigen Blog verfolgen kann und machte sich als freischaffender Journalist mit Schwerpunkt Absurdität des Lokaljournalismus in diversen Projekten selbstständig.

“Die tote Kuh” war das Erste dieser Projekte und darf gut und gerne als gelungen bezeichnet werden. Die größte und auch einzige Schwierigkeit, vor die sich der geneigte Leser und Rezensent dabei gestellt sieht, ist die Klassifizierung. Genauso ungerne wie sich Ralf Heimann in eine Schublade stecken lässt, genauso ist das Buch schwer einzuordnen. Ist es eine autobiographisch geschriebene Doku-Soap, ein Roman im Reporterstil, eine Reportage im Romanstil? Aber geschenkt – Schubladen neigen bekanntlich dazu, zu klemmen. Beschränken wir uns darauf, das Buch als das zu bezeichnen, was es ohne Zweifel ist: ein gefälliges, erfreuliches Lesevergnügen.

Ralf Heimanns Stärke ist – das weiß, wer ihm und seinen pointierten 140 Zeichen Rezensionen auf Twitter folgt – die augenzwinkernde Überspitzung. Genauso ist auch die tote Kuh zu verstehen, quasi ein Heimatroman der etwas anderen Art. Heimann kann gut über sich selbst lachen, nimmt sich daraus aber nicht unbedingt das Recht, auch über andere zu lachen. Er nimmt seine Protagonisten – auf beiden Seiten der Berichterstattung – zwar nur zu gerne auf den Arm, er tut dies aber nicht ohne Sympathie für die auftretenden Personen. Belustigung ist durchweg zu spüren, aber nie Herablassung. Dieser Balanceakt gelingt ihm außerordentlich gut, zumal mit einer durchweg flotten Schreibe versehen. Er hat einen sehr genauen Blick, nicht nur auf die Landbewohner und ihre teils sehr gewöhnungsbedürftigen Freizeitbetätigungen, sondern auch und gerade auf die, die darüber berichten und die aus jeder kleinsten Belanglosigkeit eine Nachricht zu stricken vermögen.

Dazu kommt: In Zeiten, in denen die Sehnsucht nach dem einfachen Leben auf dem Land geradezu messianische Züge annimmt und Magazine wie Land und Lustig oder wie sie eben alle heißen mögen, sich dem Zeitungssterben erstaunlich erfolgreich entgegenstemmen, kann man in der toten Kuh eine Menge Wahrheiten über die ganz speziellen Risiken und Nebenwirkunden des Landlebens erfahren. Denn das, worüber der Lokalreporter berichtet, ist letztendlich ja genau das, womit sich der Landlebende arrangieren muss. Getreu der alten Weisheit: Lärm gibt es schließlich auch in der Großstadt, der auf dem Land ist nur anders.


Genre: Dokumentation, Sachbuch
Illustrated by Scherz Frankfurt am Main

Bilder Deiner großen Liebe

Bilder Deiner großen Liebe „Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert.“ Es kommt in Schüben, gegen die man sich nicht wehren kann – „wie Hunger oder Durst, oder wenn man ficken will“. Mit solcher Art Betrachtungen beginnen die „Bilder deiner großen Liebe“.

Ein junges Mädchen stellt diese Betrachtungen an. Sie steht im Hof einer Anstalt, betrachtet die blühenden Blumen, die Sonne am Himmel – das Klischee ist ihr bewusst. Mit dem Daumennagel berührt sie die Sonne, schiebt sie Millimeter um Millimeter zurück. Langsam verschiebt sich auch das Eisentor, welches die Anstalt vom Rest der Welt trennt. Das Mächden, welches eben noch die Sonne berührt hat, huscht hinaus.
Sie hat keine Schuhe an, egal.

Sie zieht die Socken auch noch aus und beginnt barfuß ihre Wanderung. An der Autobahn entlang, durch Dörfer, Wiesen und immer wieder durch den Wald, der ihr, seit sie denken kann, ein Freund, ein Trost war. Mehr Freund als die meisten Menschen, denen sie begegnet ist in ihrem Leben oder die sie auf ihrer Wanderung noch treffen wird: Den Binnenschiffer, der mal ein Bankräuber war oder auch nicht, einen verdrucksten Schriftsteller, einen lüsternen Fernfahrer, auf dem Friedhof einen wohlwollenden Mann in grüner Trainingsjacke, ihr und uns bekannt.* Und auf einer Müllkippe trifft sie zwei Jungen, mit denen sie eine Zeitlang zusammenbleibt. Eine kurze, aber eine wahrhaftige, eine fast schon glückliche Zeitlang. Das wandernde Mädchen – wir kennen sie. Es ist Isa, die hinreißende, grandiose Isa aus Wolfgang Herrndorfs nicht weniger hinreißendem Jugendroman „Tschick“.

Der unvollendete Roman „Bilder deiner großen Liebe“ ist der letzte veröffentlichte Text des viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Wolfgang Herrndorf war Schriftsteller, Maler, Illustrator und Blogger, der seinen hoch verdienten, berechtigten Erfolg erst erfuhr, als er schon unheilbar an einem Gehirntumor erkrankt war. In Konsequenz dieser unheilbaren, ihn zerstörenden Krankheit nahm er sich im August 2013 das Leben. Sein Leben mit der Krankheit und seine Vorbereitungen auf den Freitod teilte er in seinem tief berührenden, auch verstörenden Blog Arbeit und Struktur mit der Öffentlichkeit, posthum als Buch herausgegeben.

Der Veröffentlichung des fragmentarischen Isa-Textes stimmte er erst wenige Tage vor seinem Freitod zu. Zum Glück für uns, die Leser, die ihn und seine Texte schon länger begleitet haben. Ja, es ist unfassbar traurig, zum letzten Mal etwas Neues von Wolfgang Herrndorf lesen zu dürfen, aber es ist schön, es ist eine große Freude, dass es ein Text über Isa ist.

Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Tschick“, der Überraschungserfolg des Jahres 2010, ist ein großartiges Buch. Die Figur Tschick war grandios, die Figur Maik Klingenberg war grandios, aber seien wir ehrlich, die Grandioseste von allen war Isa. Die Figur, die auch Jahre nach der Lektüre am präsentesten in der Erinnerung ist. Isa, die Unbezähmbare, die Lebenskluge, so wild entschlossen, dem Leben wenigstens ein bißchen etwas abzutrotzden. Nicht nur die Protagonisten in Tschick liebten sie, nicht nur der Leser, sondern wohl auch Wolfgang Herrndorf.

Möglicherweise war Isa sogar diejenige von Herrndorfs Romanfiguren, die ihm am meisten bedeutete. Isa ist wohl die Romanfigur der letzten Jahre mit dem größten Potential. Es ist (bei aller Tragik des Schicksals von Herrndorf) eine weitere Tragik in sich, dass diese Figur mit ihm unvollendet gehen musste. Mit den letzten Zeilen der „Bilder“ kommt der Gedanke auf, dass Isa seine imaginäre Gefährtin war, die ihn in den Tod begleiten und doch zurückbleiben sollte, um für ihn noch etwas zu Ende zu bringen.

Den Titel „Bilder deiner großen Liebe “ hat Herrndorf selbst noch bestimmt, irgendwie ist er untypisch für ihn. Die Romanfigur Isa hat ein reales Vorbild aus dem Leben Wolfgang Herrndorfs. Ines, eine Frau, die mitten im Wald in einer Hütte wohnte, die barfuß durch den Wald streifte und über Katarakte kletterte, die ihm zum Einschlafen Musils „Fliegenpapier“ vorlas. Sie gab schon der Hauptfigur in den „Plüschgewittern“ ihren Namen, der Autor bezeichnete sie als „naturkindhaft“ und die Tage mit Ines, mit der ihn eine platonische Beziehung verband, nennt er die glücklichsten seines Lebens. (Nachzulesen im oben verlinkten Blog, Kapitel 6, 22.07.2010, 5:33h ) So betrachtet, passt der Titel dann doch wieder ganz gut. Ein weiteres schönes, berührendes Detail am Rande: Das Landschaftsgemälde auf dem Schutzumschlag ist ein Gemälde von Wolfgang Herrndorf selbst. Wie einem Hinweis im Buch zu entnehmen ist, hing es lange Zeit schief und ungerahmt und mit der Zeile „macht einem manchmal Angst: Die Natur“ an der Wand über seinem Schreibtisch.

„Bilder deiner großen Liebe“ ist keine Fortsetzung von „Tschick“. Es sind gerade mal sechs Seiten, die sich in den „Bildern“ mit der „Tschick“-Handlung überschneiden. Das mag manchen enttäuschen, zumal sich nach der Lektüre der Gedanke aufdrängt, dass die beiden Jungs für Isa bei weitem nicht das waren, was sie umgekehrt für die Jungs war. Für die „Bilder“ ist das aber völlig in Ordnung, „Tschick“ braucht keine Fortsetzung. „Tschick“ ist genauso wie es ist richtig.

Aber – so weiß der Leser schon vor der Lektüre ungefähr, was ihn erwartet. Ein Text aus der Sicht einer unzuverlässigen Erzählerin. Unter allen unzuverlässigen Erzählern, die es je gegeben hat, ist Isa wohl die unzuverlässigste. Sie mäandert durch Zeit und Raum und das liegt nicht nur daran, dass der Text den Herausgebern als Fragment vorlag. Aber gerade deswegen funktionieren die Bilder als Road Novel außerordentlich gut, gerade deswegen wirkt der Roman weit weniger unvollendet und fragmentarisch, als vor Lektüre erwartet. Es ist wirklich weniger der Roman, der unvollendet bleibt, als vielmehr Isa selbst, deren viel zu kurzes Gastspiel in der literarischen Welt man nur außerordentlich bedauern kann.

Die Herausgeber Kathrin Passig und Marcus Gärtner waren enge Freunde des Autors und zeichneten auch schon verantwortlich für die Veröffentlichung des Blogs als Buch. Man kann es nicht anders sagen, als dass sie es auch mit den „Bildern“ gut, sogar sehr gemacht haben. Man merkt (auch im erkärenden Nachwort der Beiden), dass sie sich den Entscheidungen, die sie zu treffen hatten und die eigentlich nur einem Autor zustehen, mit tiefem Respekt genähert haben. Sie haben sehr sorgfältig gearbeitet, leichtgefallen ist es ihnen auch nach eigener Aussage nicht. Sie verbergen vorhandene Lücken nicht, dennoch ist der Text zusammenhängend. Vor allem aber bewahren sie Wolfgang Herrndorfs ganz eigene Sprache und würdigen so die Einzigartigkeit des Autors.

Worte waren seine Bilder, je plastischer, desto lieber. Die gelegentlich etwas schief sitzende Grammatik – sie ist gewollt und die Herausgeber haben sie unverändert gelassen. So hat Wolfgang Herrndorf es sich gewünscht, so haben Passig und Gärtner es gemacht. Bloß keinen „Germanistenscheiß“ an den Text ranlassen, das war Herrndorf wichtig. Er wäre stolz auf das Ergebnis gewesen.

Auch wenn der Roman noch so oft unvollendet genannt werden wird, für mich als Leserin, die alle Werke Herrndorfs chronologisch zum jeweiligen Zeitpunkt ihres Erscheinens – angefangen mit den Erzählungen „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ bis hin zum Blog – gelesen hat, für mich sind die „Bilder Deiner großen Liebe“ ein versöhnliches, wenn auch für immer traurig bleibendes Ende.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de am 20.März 2015


Genre: Fragmente, Roman, unvollendeter Roman
Illustrated by Rowohlt

Die Glücklichen

Fürchten wir uns nicht alle davor, aus dem Paradies vertrieben zu werden?

Kristine Bilkau - die Glücklichen Isabell und Georg sind ein junges, schickes und schönes Paar. Wohlig haben sie sich in ihrer famosen Hamburger Altbauwohnung eingerichtet und schlürfen den Schaum ihres Latte Macchiato in angesagter Achtsamkeit, sich ihrer politischen und ökologischen Korrektheit stets sorgsam und stolz versichernd. Isabell ist Cellistin in einem Musical-Orchester, Georg schreibt als Journalist mit wohlwollendem Schauder über Aussteigerpaare auf dem Bauernhof. Die ganz große Karriere ist nur einen Sprung weit entfernt, aber immerhin – es reicht für Risottomischungen in durchsichtigen Tütchen und andere für das gepflegte Leben unverzichtbare Dinge wie Wildfeigen, Rosenkandis, Bio-Lavendelblütenhonig und Pfefferschokolade.

Dass nicht nur die ganz große Karriere, sondern auch der Absturz nur einen Sprung weit entfernt ist, scheint vor allem Isabell unbewusst zu ahnen. Irgendwoher muss es ja schließlich kommen, dieses Zittern in den Händen, welches sie zunächst noch verbergen kann. Doch der Druck steigt. Zuhause wartet nicht nur die Altbau-Idylle, sondern mittlerweile auch der kleine Sohn Matti und mit ihm die Verantwortung. Das Zittern nimmt zu und sie verliert ihren Job, der zwar nur als Zwischenstation geplant war, ihr nun aber unerreichbar großartig scheint. Zugleich berichtet Georg nicht mehr nur über Nachrichten, er selbst bzw. sein Arbeitgeber ist die Nachricht geworden. Das große Zeitungssterben beginnt, dem Verlag geht es schlecht. Georg fällt den berüchtigten Synergien zum Opfer, sein Job ist nur noch etwas, das schnellstmöglich outgesourced wird.

Natürlich kommt jetzt eine Mietpreiserhöhung, natürlich kommen auch noch andere Verpflichtungen auf sie zu. Georgs Mutter stirbt und hinterlässt nur Schulden, schon die Beerdigungskosten sind utopisch hoch. Schluß mit Rosenkandis und Bio-Gemüsekisten. Isabell und Georg reagieren verstört und hilflos, sie sind völlig verunsichert. Gegenseitig treiben sie sich immer mehr in die Enge, bis ihr Glück und ihre kleine Familie zu zerbrechen droht.

Kristine Bilkau zeichnet in ihrem Debütroman »Die Glücklichen« das präzise Bild einer überreizten überforderten Generation, die sich davor fürchtet, aus dem Paradies vertrieben zu werden. Es ist die Generation Praktikum, die Generation, die immer wieder von ihren Lebensentwürfen Abschied nehmen muss. Die sich unter den Druck der absoluten Perfektion setzt und doch gleichzeitig den Umgang mit einer zunehmend präkeren und unsicheren Existenz lernen muss. Dazu verdammt, ein Leben ohne Niederlagen zu führen. Solange es alles einigermaßen läuft, übertünchen sie ihre Unsicherheit mit dem Gehabe der nach außen hin ach so politisch und ökologisch korrekten Welt. Sobald jedoch etwas ins Wanken gerät, haben sie nichts als Unsicherheit. Alle erlernten Verhaltensmuster greifen nicht mehr. Isabell und Georg sind nur die Prototypen all der freien Künstler, Journalisten, der Mitarbeiter mit befristeten Verträgen in ihren grundsanierten Altbauwohnungen.

Isabell und Georg kommt plötzlich nicht nur ihr Lebensstil abhanden, sondern auch ihre mangels anderer Werte und Orientierungen mühsam zurechtgezimmerten Identität. Sie können sie sich schlicht nicht mehr leisten. Wirklich gerechnet hat keiner von ihnen damit. In ihrem Inneren haben sie immer geglaubt, dass man sich den Anspruch auf Sicherheit verdienen könne, mehr noch, ihnen war die Selbstverständlichkeit anerzogen, dass ihnen ein gutes Leben zustünde. Die plötzliche Erkenntnis, dass nichts im Leben sicher ist und das es per se keinen wie auch immer gearteten Anspruch gibt, lässt sie ermüden und nachgerade ungerecht und boshaft werden.

Das Romandebüt der Journalistin Kristine Bilkau erzählt von zunächst kaum wahrnehmbaren Verschiebungen, von erst kleinen, dann schmerzlicher werdenden Verlusten. Die diffusen Ängste ihrer Protagonisten macht sie an präzisen Ereignissen fest, lange bevor Isabell und Georg es selber merken. Fürchten wir uns nicht alle davor, aus dem Paradies vertrieben zu werden? Sie erzählt es ganz leicht, fast beiläufig, dabei ist der Leser Isabell und Georg immer einen kleinen Schritt voraus. Genau das aber erweckt seine Neugier, er will wissen, wie sie schließlich damit fertig werden. Vielleicht wünscht der Leser sich auch ein Patentrezept, welches er sich merken kann, wenn ihn dann mal die Keule trifft.

So oder so ist Bilkaus Roman ein spannendes, interessantes Buch. Es gibt weniger Antworten, als dem Leser lieb sein wird, aber wenigstens die Fragen, die viele unbehaglich umtreiben, werden einmal gestellt. Im Buch finden Isabell und Georg nur den Anfang des Weges aus ihrem Dilemma, ob er zunkunftsfähig sein wird, das erfahren wir nicht. Das Ende ist ein wenig abrupt und läßt den Leser leicht unbefriedigt zurück, zumal Bilkau auch in ihrem Stil ein wenig aus dem Takt gerät, ja geradezu ins Kitschige abgleitet. Es scheint, als habe sie auf einmal keine Lust mehr gehabt, als wäre ihr das Sujet aus den Händen geglitten und sie habe plötzlich keine Lust mehr auf das Lamento ihrer Hauptfiguren gehabt. Schade, aber abgesehen davon ein Buch, das sich zu lesen lohnt.


Genre: Romane
Illustrated by Luchterhand

33

Kjersti33Eine Frau, zwei Männer, einer davon tot und noch kein Kind. Um dieses fragile Universum kreist die Erzählerin. Sie ist eine lungenkranke Frau, die dem Leser nur als K. vorgestellt wird. Gerade ist sie 33 geworden, das Alter, das im Himmel alle haben, so hat sie es jedenfalls gelernt.

Die große Liebe der K., Ferdinand, hat Selbstmord begangen, was K. aber nicht daran hindert, eifrige Schwätzchen mit dem Dahingeschiedenen zu halten. Zeit hat sie genug, sie arbeitet zwar als Lehrerin, aber in ihrem Fach, der Mathematik braucht man das Rad ja nicht täglich neu zu erfinden. Und ihr aktueller Mann, der Ire Samuel, ist in einem Endlos-Cricket-Match gefangen. Sie horcht in ihren kranken Körper und malt Horrorvisionen darüber, was in und mit diesem alles passiert. Und dann der Wunsch nach einem Kind. Kann sie das überhaupt, darf sie das überhaupt, was wird das mit ihrem Körper, ihrer Seele machen? Schon die Unsicherheit, was es mit ihr macht, wenn die Nabelschnur gekappt ist! Noch größer aber ist ihre Angst davor, das (ungezeugte) Kind in ihren Eierstöcken könne unentbunden bleiben und sie damit unerlöst. Zum Üben schafft sie sich ein Haustier an und nennt es “dasKind“. Was für ein Tier “dasKind” ist, bleibt unklar, aber es scheint in eine Plastiktüte zu passen. Vielleicht ist es aber auch gar nicht real, vielleicht aber doch. Genau wie der Albatros, den sie sieht und der ihr einfach kein klares Zeichen geben will.

K. ist eine ausgesprochen merkwürdige junge Frau und “33” ein ausgesprochen merkwürdiger Text. Mit Absicht steht hier der übergeordnete Begriff “Text” und nicht Roman. Denn ein Roman ist es nicht. Ein Roman ist qua Definition eine Erzählung und erzählt wird hier ausgesprochen wenig. Es ist eher eine Ansammlung von Satzfragmenten, schwankend zwischen Lyrik und abgegriffenen Weisheiten a la “Sentimentalität ist die Schwester der Brutalität.” Zu Beginn ist das Buch noch einigermaßen klar und begreifbar. Die Betonung liegt auf einigermaßen! Doch je weiter K. in ihrer Larmoyanz fortschreitet, desto mehr verliert sie ihren roten Faden, mäandert zwischen tatsächlichen Ereignissen, die sie aber sofort überhöht, Alb- und Wachträumen und vollkommen absurden Vorstellungen, wie der, dass sie Ferdinand in sich eingenäht habe und nun amputiert werden müsse. Intention war es wohl, Momente einzufangen, die alles verändern und der Frage nachzugehen, ob man es wagen kann, sich fallen zu lassen, wenn man nicht weiß, ob einen jemand fängt. Dies bezogen vor allem auf die Frage einer eventuellen Mutterschaft. Man kommt nicht umhin, zu denken, dass einem das Kind schon vor der Zeugung leid tut. Wer Mutterschaft schon vorher derart thematisiert und problematisiert, sollte es wirklich besser bleiben lassen.

Kjersti Annesdatter Skomsvold wird nach wie vor als große Nachwuchshoffnung der norwegischen Literatur gehandelt, auch wenn sie mittlerweile mehrere Werke veröffentlicht hat. Ihr Debütroman “je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich” war ein verstörendes, aber auch berührendes, versponnenes Märchen. “33” nun ist zwar auch noch versponnen, aber zumindest mich hat es nicht berührt. “33” ist vor allem verstörend. Wo ist die Leichtigkeit hin, mit der sie in ihrem ersten Roman erzählte? In diesem Buch gelang noch die Mischung aus Melancholie, Empathie und Witz. In “33” gelingt ihr diese Mischung nicht. Was dort bleibt, ist unterm Strich nichts als Larmoyanz. Natürlich – der Erzählerin ist viel zugestossen, sie hat es nicht leicht. Aber durchgehendes Selbstmitleid hilft nun mal nicht. Weder der K. noch einem ungeborenen Kind.

Stilistisch ist Kjersti A. Skomsvold durchaus begabt. Sie handhabt ihr Handwerk mittels Bildern und Allegorien gekonnt und die Fähigkeit, Schmerz und körperliche Empfindungen in Worte zu kleiden, ist nur wenigen Autoren derart gegeben. Wenn diese Fähigkeit aber nur dazu dient, Selbstmitleid auszukleiden, ist es nicht genug, um die ersehnten surrealistischen Sphären auch nur zu streifen. Da helfen auch die mehr oder weniger subtilen Hinweise auf Samuel Beckett nichts.

Der Roman ist krampfhaft um Exzentrik bemüht. Aber Exzentrik muss man sich erstmal leisten können. Souverän gehandhabtes Handwerk reicht dafür nicht. Um Exzentrik zu goutieren, müssen dem Leser schon mehr als exzessiv gelebtes Selbstmitleid und ausformulierte Mätzchen geboten werden. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich keinen Roman lese, sondern allenfalls Zeuge exzessiver literarischer Übungen werde.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Frühe Störung

früheStörungEs gibt Menschen, die haben Stimmen im Ohr und verstehen sie nicht. Franz Walter hört nur eine einzige Stimme und die versteht er sehr gut. Es ist die seiner Mutter. Nach halbwegs geglückter Psychotherapie hört er auch diese nicht mehr, dafür hält nun ein einziges Wort sein Ohr besetzt. „Mutter, Mutter, Mutter“ – so kreist es unablässig in seinem Ohr. Und nicht nur dort.

Das Wort Mutter kreist in seinem Kopf, ach was: in seinem ganzen Leben. Da hilft es auch nichts, dass die biestige und zwanghaft besitzergreifende Mutter sich längst aus dem Leben verabschiedet hat. So wie auch schon der charmante Berliner Kiez nichts geholfen hat, wenn dieser auf ein Bett zusammenschrumpft, in dem der kleine Franz Walter mit seiner Mutter Mittagsschläfchen halten muss und dabei ihren Schweiß riecht. Es hilft erst recht nicht, wenn der zumindest dem Alter nach erwachsene Franz Walter mit seiner Mutter auf die kleine Insel Darß reist und zur Sicherheit das immer gleiche Fischrestaurant aufsucht. Über diese Insel und ihre Region schreibt der zumindest dem Alter nach erwachsene Franz Walter Reiseführer, die eher Gebrauchsanweisungen ähneln und so mutlos sind wie sein ganzes Leben.

Sonst noch was? Ach ja, die Mutter hatte Brustkrebs, der Sohn weilte während der OP in Rom. Die Mutter lag im Sterben, der Sohn weilte in Kalkutta. Nachsehen, ob man nicht vielleicht auch Mutter Teresa ein paar negative Seiten nachweisen kann. Sonst noch was? Nicht wirklich. Im Großen und Ganzen ist dies der Inhalt von Hans-Ulrich Treichels neuem Roman „Frühe Störung“.

Schade nur, dass man über diese Inhaltsfragmente schon nach gut einem Viertel des Romans Bescheid weiß. Noch bedauerlicher, wenn man danach auf knapp 190 Seiten bis auf eine Entblößung der zerstörten Mutterbrust und zwei ungelenken Beziehungsversuchen nichts Neues mehr erfährt. Der Rest ist Wiederholung, langweilende, irritierende, nervende Wiederholung ohne jede Variation. Die Speisekarte des Fischrestaurants kennt der Leser bald besser als die Mutter, der Mittagsschlaf schafft es gefühlt auf jede zweite Seite und was der arme Therapeut dazu zu sagen hatte, das können wir alsbald auch auswendig repetieren.

Vollkommen ratlos lässt einen dieses Buch zurück. Nicht ratlos ob der „frühen Störung“ des auf ewig in kindlichen Animositäten verharrenden Franz Walter. Dessen Störung reicht noch nicht mal für einen ordentlichen Ödipus-Komplex, sondern ist eher lapidar. (Vielleicht liegt darin das Problem des Romans. Hätte ein ordentlicher ausgewachsener Ödipus-Komplex mehr hergegeben?) Dazu kommt die leider gesicherte Existenz des ewigen Muttersöhnchens. Leider, denn müsste Franz Walter sich mit etwas so Profanem wie Existenzsicherung auseinandersetzen, wäre wohl weniger Zeit, derart episch und larmoyant sein Zivilisationsproblem einer überbehüteten Kindheit wieder und wieder durchzukauen. Nein, das Buch lässt einen ratlos mit der Frage zurück: Wer bitte, soll und will das lesen?

Es scheint, als ob sich jemand diese „frühe Störung“ von der Seele hat schreiben müssen. Das ganze Buch wirkt wie eine dringend benötigte Aufarbeitung frühkindlicher Traumata ohne Rücksicht auf den, der es lesen soll. Der Klappentext verkauft es als Literatur mit schmerzlich-ironischem Unterton. Ein bißchen Ironie fehlt in der Tat schmerzlich, aber das war wohl nicht gemeint. Wo jedenfalls der Autor und der Verlag diese Ironie gefunden haben wollen, bleibt ihr Geheimnis.

Ganz besonders irritierend ist das Buch auch deshalb, weil es formal und sprachlich außerordentlich gut geschrieben ist. Erzähltechniken wie das Einfügen von Rückblenden beherrscht Treichel perfekt. Seine Sätze sind elegant und kristallklar formuliert, man liest sie der Fomulierungen wegen mit Respekt und auch Freude an der Sprache. Das ist aber auch fast der einzige Grund, der einen zum Weiterlesen bewegt. Manches, etwa das Alltagsleben auf dem Darß, ist durchaus angenehm schrullig beschrieben und macht Freude beim Lesen. Aber eben nur einmal. Danach wird es – aber egal. Ich will mich jetzt nicht auch noch ständig wiederholen.

Noch irritierender wirkt der Roman, wenn man an das bisherige literarische Werk Hans-Ulrich Treichels denkt. Der promovierte Germanist und Mitglied des PEN-Zentrums begeisterte mit seinen bisherigen Werken Publikum wie Kritik gleichermaßen. Zwar setzt er sich auch in seinem wohl bekanntesten Roman „Der Verlorene“ mit Schuldgefühlen innerhalb einer Familie auseinander und der titelgebende „Verlorene“ ist auch in diesem Buch der Sohn, aber im Punkt erzählerischer Dichte sind es Welten, die diese Bücher trennen. So gesehen, erscheint „frühe Störung“ eher als eine späte Störung.

Zu autobiographischen Bezügen seiner Romane äußerte sich Hans-Ulrich Treichel bisher ambivalent. Angenommen, der Autor habe sich selbst die „Mutter, Mutter, Mutter“ von der Seele schreiben müssen, bleibt die Hoffnung, dass er sein unbestreitbar enormes schriftstellerisches Talent in seinen nächsten Werken störungsfreier entfalten möge.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de


Genre: Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Was wir nicht wussten

WaswirnichtwusstenDa traut eine Autorin sich aber was. Mit “Was wir nicht wussten” legt die Amerikanerin TaraShea Nesbit ein ganz erstaunliches Debüt vor. Sie wagt sich an ein totgeschwiegenes Thema und nutzt dafür eine überaus seltene literarische Form.

Ihr Thema ist das Manhattan Project: Während des zweiten Weltkriegs schickten die Amerikaner Tausende Physiker und Techniker in die Wüste, nach Los Alamos. Ihr geheimer Auftrag: Der Bau der Atombombe. Mit den Wissenschaftlern kamen ihre Frauen und Kinder. Sie kamen von überall auf der Welt und ihre Gemeinsamkeit bestand in einem Geheimnis, welches sie selbst nicht kannten. Zwar brauchten sie nicht um an der Front stationierte Männer bangen, doch diese relative Sicherheit bezahlten sie mit einem improvisierten Leben hinter Stacheldraht. Die Geheimhaltung war absolut und durchdrang alle Aspekte ihres Lebens. Namen wurden geändert, Kontakte zu Familien und Freunden rigoros unterbrochen. Ihr Alltag definierte sich nur durch das , was sie nicht tun konnten. Briefe, die sie nicht schreiben durften, Freiheiten, die sie nicht mehr hatten, Dinge, über die sie nicht reden durften, Fragen, die nicht gestellt werden durften, nicht einmal Mutmaßungen waren gestattet.

Und doch oder gerade deshalb etablierte sich in der unwirtlichen Gegend, der im Nichts aus dem Boden gestampften Forschungsstadt eine Gemeinschaft. Man zog in identische olivgrüne Häuschen, kämpfte mit Wasserknappheit und um das Privileg einer Badewanne. Freundschaften entstanden, Kinder wurden geboren, der Alltag behauptete sich, man feierte Partys, lernte Klavierspielen und Reiten. Es waren vor allem die Frauen, die zusammenwuchsen, während ihre Männer an einer bis heute unvorstellbaren Zerstörungskraft arbeiteten. Erst als im Sommer 1945 Hiroshima und Nagasaki dieser Zerstörungskraft zum Opfer fielen, begriffen die Frauen, woran ihre Männer gearbeitet hatten. Und sie wussten, dass sie es aller Geheimhaltung, allem Bemühen um Normalität zum Trotz schon immer gewusst hatten.

An dieser Stelle endet die Erzählung. Was aus den Frauen, aus den Familien wurde, wie sie mit diesem Wissen weiterlebten, ist nur eine der vielen Fragen, die dieser erstaunliche Roman aufwirft. Man erfährt gerade so eben noch, dass bei aller Unfasslichkeit doch auch ein hoffnungsvoller Gedanke durch die Köpfe der Frauen ging, der fromme Wunsch, dass nun endlich alles vorbei sein könnte. Neben allem anderen Entsetzen entsetzt auch diese Erkenntnis: dass zu jeder schrecklichen, grausamen Tat eben auch die Menschen gehören, die diese umsetzen und am Randgeschehen ihre Familien.

TaraSheaNesbit erzählt von den drei Jahren in Los Alamos als einer unwirklichen Zeit . Was ihren Roman so berührend macht, ist die Tatsache, dass er auf historischen Ereignissen beruht. Sie erzählt von Geschehnissen, die bis heute von Mythen und Geheimhaltung umrankt und schwer zu begreifen sind. Wie sehr diese Zeit im Nebel des Mythos verschwunden ist, wieviel Recherchearbeit nötig war, um wahrhaftig zum Kern vorzustoßen, lässt die Danksagung am Ende des Romans erahnen. Wie sie diese Schicksale und die Ausnahmesituation schildert, ist dabei erstaunlich spröde und distanziert. Sie erzählt nur Bruchstücke, es gibt Dutzende Personen, deren Schicksal man nur streift. Doch Tara Shea Nesbit schafft es, in einem einzigen Satz eine ganze Geschichte zu erzählen. Ihr eigenwilliger Stil entfaltet einen sehr besonderen Sog, dem sich der Leser nur ganz schwer entziehen kann.

Ausgesprochen ungewöhnlich ist die Form des Erzählers. So wie es im gesamten Buch nicht DIE eine Hauptperson gibt, so gibt es auch nicht DIE eine Erzählerin. Erzählt wird durchgehend in der 1.Person Plural. Sehr ausgefallen, sicher auch nicht leicht zu erlesen. Und ganz sicher nicht jedermanns Fall. Lässt man sich aber darauf ein, ist es toll. Nicht nur, weil es anders ist. Wahrscheinlich ist es gerade die literarisch so ungewohnte Wir-Form, welche den Sog des Buches ausmacht. „Wir kamen als Jungvermählte oder im verflixten siebten Jahr“, heißt es, „manche von uns waren noch nicht US-Bürgerinnen; wir kamen aus Feindesland, aus Deutschland, aber wir waren nicht der Feind“. “Unsere Kinder logen wir an; wir packten, behaupteten wir, um den August bei den Großeltern zu verbringen oder wir sagten, wir wüssten nicht, wo es hinging, was ja auch stimmte oder wir sagten, es handle sich um ein Abenteuer” oder oder oder. Oder ist das meistgebrauchte Wort in diesem Roman, das Wort, welches den Leser immer wieder an die Hand nimmt und ihn gleichzeitig bei der Stange hält, weil er erfahren will, wo der nächste Weg hinführt.

Man kommt keiner einzelnen Frau, keiner einzigen Familie wirklich näher, ist aber tief berührt von den Geschehnissen. Das “oder” und die “Wir-Form” arbeitet die Unterschiede zwischen all den Frauen genau heraus, zeigt aber so die Wichtigkeit und Bedeutsamkeit der Gemeinsamkeiten. Glasklar erkennt der Leser, dass es Situationen gibt, die man nur gemeinsam bestehen kann, auch wenn man dennoch alleine bleibt im tiefsten Inneren. An keiner Stelle wertet die Autorin die Geschehnisse oder die Gefühle der Frauen. Das überlässt sie dem Leser. Gerade dadurch aber wirkt das Buch lange nach.

Ich fand das Buch ohne Wenn und Aber großartig und habe es relativ gierig gelesen. Dennoch ist der Stil der Autorin ausgesprochen gewöhnungsbedürftig und ganz sicher nicht jedermanns Fall. Meine Empfehlung: Leseprobe runterladen und wenn man mit dem Stil klar kommt, unbedingt weiterlesen. Dann gehört dieser Debütroman zu den Büchern, die man nie mehr vergisst. Man muss sich aber darauf einlassen.

TaraShea Nesbit ist Dozentin für Creative Writing an der University of Denver und der University of Washington. Texte von ihr erschienen bisher lediglich in zahlreichen Literaturzeitschriften. Die Geschichte der Frauen von Los Alamos ist ihr erster Roman.Die Handlung beruht auf historischen Ereignissen.


Genre: Historischer Roman, Romane
Illustrated by dumont Köln

Magical Mystery oder die Rückkehr des Karl Schmidt

Magical Mystery Die Magical Mystery Tour! In der Rockmusiker-Szene so etwas wie eine globalgalaktische Sehnsuchtsbestimmung. Bei den Beatles 1967 ging es mehr oder weniger schief, der Funke sprang nicht so recht über. Besser läuft es damit hingegen bei einer bekannten PunkrockCombo aus dem Dorf an der Düssel, die mit ihren Magical-Mystery-Wohnzimmer-Konzerten dem beschworenen Ideal von love and peace noch am nächsten kommen. Der Musiker und Schriftsteller Sven Regener nun verlegt dieses Sehnsuchtsding kurzerhand in die Elektromusik/ Raverszene, denn “Raver machen dies, Rocker machen das, das ist doch alles nur vorgeschobener Scheiss!” Und zur Freude seiner Fans hat Regener Karl Schmidt an’s Steuer des Tourbus gesetzt.

Karl Schmidt? Wer war das noch gleich? Karl Schmidt mit dt, genannt Charlie. Richtig. Der Charlie! Der nicht zu Ruhm und Ehre gekommene Installationskünstler, bester Freund von Herrn Lehmann, DEM Regener-Helden. Charlie, der eifrige Konsument diversester bewusstseinsverändernder Drogen, der großherzige Charlie, der es fertig brachte, just am Tag der Maueröffnung mit einer Psychose in der Klapse zu landen, dieser Charlie sitzt nun am Steuer eines Sprinters auf Magical Mystery Tour oder wie die eigentlich geschäftstüchtigen Raver sagen: “Dieses Ding mit der Liebe“. Denn “das ist das, was die Sachen sexy macht, dass man zugleich jung ist und doof und trotzdem schlauer als alles anderen

Doch bevor die Tour losgeht, erfährt der geneigte Leser zunächst, was dem guten Charlie nach seiner Einlieferung in die Klapse geschah. Wir treffen Charlie wieder in einer wolkigen Parallelwelt namens “Clean Cut”, einer drogentherapeutischen Einrichtung in Hamburg. wo er sich in alter Gutmütigkeit und bewusster Unauffälligkeit übt. Sogar in das ganz normale Berufsleben hat er sich integriert und gibt als Hilfshausmeister und Streichelzoowärter eines Kinderkurheimes alles. Bis er eines Tages zum einen erfährt, dass er einen neuen Haupt-Hausmeister vor die Nase gesetzt bekommt und zum anderen in einer Altonaer Eisdiele eine Begegnung mit seiner Vergangenheit hat. Er trifft Raimund. einen der alten Raver-Kumpels, der es doch erstaunlicherweise in der Zwischenzeit als Mitinhaber des Labels “BummBumm” zu etwas gebracht hat, vor allem zu Geld.

Dieser Raimund plant gemeinsam mit seinem Partner Ferdi just jene Magical-Mystery-Tour, die den Gummistiefel Techno und den Rave der 90er mit der Love-and-Peace Sehnsucht vereinen soll. Charlie, der sich nur noch einen kleinen Schritt entfernt von einem selbstbestimmten Leben fühlt, kommt ihm gerade recht. Denn sie brauchen noch einen Steuermann, der nicht nur den Bus, sondern auch die Geschicke der Tour lenken soll. Dave, der es eigentlich machen sollte, hat für den Geschmack der idealistisch Beseelten zu sehr das Gemüt eines Erbsenzählers. Man braucht einen, der nüchtern bleiben muss und im Gegensatz zu den Mitreisenden halbwegs klar denken kann, zugleich aber auch an die von “BummBumm” ausgerufenen Ideale glaubt. Kurz, Charlie soll es machen. Und Charlie macht. Wenn man ihn schon nicht zum “richtigen” Hausmeister befördert.

Denn dadurch, dass man ihn bei der längst fälligen Beförderung in der kleinen Spießerwelt übergeht, mit der er sich gerade so mühsam versucht zu arrangieren, bekommt der nach Zugehörigkeit und Anerkennung suchende Charlie einmal mehr die Bestätigung, dass er in dieser Welt wohl auf immer der “Psycho-Dödel” bleiben wird. Genau in diesem Moment tritt die Magical-Mystery-Nummer in sein Leben. Das muss doch ein Zeichen sein. (Dass er auch diesen Job nur angeboten bekommt, weil einigen die Nase des eigentlich vorgesehen Dave nicht passt, blendet er dabei geschickt aus) Er sieht es als Chance, in die von ihm nie vergessene und immer geliebte Welt durchgeknallter Künstler zurückzukehren.

Eine Welt, in der man sich Hosti Bros nennt, Saxophon-Stücke als Lied mit der Flöte hypet und in der manchmal auch nur ein Arschwackeln reicht, um zu reüssieren. Eine Welt, die alles nicht ganz so ernst nimmt, aber mittlerweile auch zu Charlies großem Erstaunen eine Welt geworden ist, die Riesendinger a la Mayday Dortmund (im Buch Springtime in Essen) mit Erfolg auf die Beine zu stellen vermag. Wenn auch noch nicht mit dem mega Erfolg, den ElektroMusic, Djs und Rave heutzutage haben. Regeners Buch spielt eher in der Zeit, als German dance noch so etwas wie der ganz heisse Scheiss war und Ideale noch salonfähig. Wenn man auch mitunter den Eindruck hat, dass Charlie der letzte echte Idealist in der Bummbummtruppe ist.

Glücklicherweise hilft diesem seine pragmatische Art, mit der er den Aushilfs-Hausmeister im Kinderkurheim gegeben hat, nun auch prima das Magical-Mystery-Getingel einigermaßen zu wuppen. Und wer weiß, vielleicht findet er ja einen Weg, nach der Tour ein neues Leben in einer alten Welt gut auf die Reihe zu kriegen. Denn seine Künstlervergangenheit ist ihm lange noch nicht egal, wie sich zeigt, als er in einem Antiquariat zum ersten Mal den Katalog für seine eigene, dareinst in den 80ern geplante und dann geplatzte Ausstellung findet.

Charlie ist ein großartiger Held, ein sympathischer noch dazu. Letzten Endes sogar einer, mit dem man schneller warm wird, als mit Herrn Lehmann. Von dem im übrigen im Buch auch immer mal wieder mehr oder weniger wehmütig die Rede ist. “Frankie, die alte Socke… wir hätten ihn nicht dauernd Herrn Lehmann nennen dürfen” Soviel sei gespoilert: Ja, der Leser wird erfahren, was aus Herrn Lehmann geworden ist. Aber – nein, es wird kein Wiedersehen mit Herrn Lehmann geben. So billig macht es ein Sven Regener glücklicherweise nicht. Hat auch eine gewisse Logik: Die Geschichte von Herrn Lehmann war weitestgehend auserzählt, er war ja auch nicht wirklich ein Typ, um den man sich hätte Sorgen machen müssen. Das war einer, der immer wieder auf seine Füße fallen würde. Es waren ganz andere Typen, die in den vorangegangenen Büchern hinten rüber gefallen sind und deren Geschichte noch zu Ende erzählt werden kann. Wie die von Charlie eben.

Seinem Helden zur Seite gestellt hat Regener mit den Ravern Figuren, die von Apfelwein und anderen Drogen beseelt ununterbrochen die Dinge des Lebens bequasseln und den Begriff Laberflash aufs beste illustrieren, gelegentlich aber auch mal was Erhellendes sagen. So atemlos wie die Raverszene in der äußeren Wahrnehmung daherkommt, so atemlos liest sich das Buch streckenweise auch. Gequirltes Gesabbel de luxe. Manchmal witzig, manchmal nervtötend, aber immer authentisch, Grammatikfehler in wörtlicher Rede absichtlich inbegriffen. Milieugenauigkeit war schließlich schon immer eine der großen Stärken Sven Regeners. Das kann er wie kein Zweiter. Hier eine Szene, dort ein Dialog und schon hat man die jeweilige Welt in ihrer ganzen Surrealität vor Augen. Egal, ob es die zwischen Nostalgie, Geschäftstüchtigkeit und Idealismus sich nicht entscheiden könnende großmäulige Techno Szene ist oder die zwischen Bevormundung und Weltverbesserer-Gehabe schwankende Clean-Cut-Welt.

Regeners Figuren haben alle eine Macke, aber man muss sie mögen. Er hat ganz einfach ein Herz für die Bekloppten dieser Welt. Doch so entlarvend manche Szenen sind, so wenig schaut Regener und mit ihm der Leser auf sie runter. Eine ganz große Stärke entwickelt das Buch in den Momenten, wo es Karl Schmidt über seine paronaiden Schübe, “das Dunkel, das ihn bedroht” und wie er damit umgeht, erzählen lässt. Im Buch ist es die DJane Rosa, in die Charlie sich so ein bißchen verliebt, die stellvertretend für den Leser wissen will, wie es so ist, wenn man verrückt wird. Das erzählt einem ja sonst keiner. Aber Charlie erzählt es jetzt. Ganz nüchtern, nicht wehleidig, nicht pathetisch und genau darum so berührend erzählt er es Rosa und mit ihr dem Leser in bester Hausmeister-Manier, wie es ist mit “der Schraube, die einmal überdreht wurde und nie wieder richtig fest sitzt

Was bleibt nach der Lektüre? Ein Einblick in die goldene Aufbruchzeit der Raver, Freude, Hoffnung und trotz gelegentlicher Längen und Überdruss ob des allzu breitgetretenen Gelabers die wiederholte Erkenntnis, dass es wenige gibt, die wie Regener mit der deutschen Sprache umgehen können. Texte von ihm machen einfach immer wieder Freude, egal ob es Liedtexte oder Prosa sind. Weit und breit ist wohl keiner zu finden, der Wörter derart kunstvoll zu gebrauchen weiß und damit entzückt, egal ob es der gesungene “Schwachstromsignalübertragungsweg” oder die “Verlaufskontrollpreußen” in der “Bummbummigkeit” der Magical Mystery Tour sind. Und alte abgenudelte Sponti-Sprüche à la “Profile sind nur was für Reifen” in Literatur umzuwandeln, das muss man auch erstmal fertig bringen. Darüberhinaus möchte man ihm schon ziemlich gerne den Titel “Meister der ersten und letzten Sätze in einem Roman”verleihen. Auch wenn diese hier absichtlich nicht zitiert werden, da man sie sich ruhig selbst erlesen sollte, sie sind extremst gelungen – Chapeau.

Sven Regener lebt in Berlin. Bekannt und beliebt wurde er einem eingeschworenen Fankreis als Frontmann der Band Element of Crime. Mit seiner Trilogie über Herrn Lehmann machte er sich auch als Schriftsteller einen Namen und brachte das Kunststück fertig, seitdem mit diversen Projekten gleichermaßen als Lieblings des Feuilletons und der Indie-Szene die deutsche Kulturszene aufzumischen. Dass einem während der Lektüre der Magical Mystery ständig EoC Liedtexte in den Sinn kommen, gehört wohl ebenso zu den Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen des Regener-Universums wie die Tatsache, dass man während des Lesens immer Detlef Buck als Karl Schmidt vor Augen hat.

Nachsatz zur Rezension am 03.12.2015:

Der Kollege Kretzler hat dieses Buch in der Kindle-E-Book-Version gelesen. Neben der Begeisterung für das Werk hat er aber eine kritische Anmerkung, die durchaus in eine Buchbesprechung gehört. Ich zitiere deshalb auch an dieser Stelle aus untenstehendem Kommentar des geschätzten Kollegen:

Was mir bei der Kindle-Version negativ auffiel waren wiederholt unmotivierte Zahlen in eckigen Klammern mitten im Text, da wurde geschlampt.”


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Grosse Liebe

Kermani grosse Liebe Was löst Liebe aus bei einem Menschen und wie verändert er sich dadurch? Dieser Frage geht Navid Kermani in seinem Roman „Grosse Liebe“ in Gedanken nach. Die Liebe – so das Fazit des Romans – ist, muss es sein, was Menschen über alle Kulturen, Religionen und Jahrhunderte hinweg verbindet.

Navid Kermani erinnert sich an seine Schulhofliebe in den 80er Jahren. Fünfzehn Jahre war er alt und es waren nur wenige Tage, in denen er alle Phasen der Liebe durchlebte. Von der alle Sinne verwirrenden Schwärmerei für die Allerschönste aus der Raucherecke im gymnasialen Pausenhof über den ersten Kuss, die erste Aufopferungsbereitschaft bis schließlich hin zum radikalen Bruch, der schroffen Zurückweisung durch die Geliebte. Kermani erzählt von dieser Liebe vor dem Hintergrund der friedensbewegten 80er Jahre und verknüpft seine Erinnerungen mit Erzählungen islamischer Liebesmystiker aus dem 12. und 13. Jahrhundert.

Der zwischen Unschuld und Verzweiflung schwankenden Liebe des 15jährigen stellt er die Erzählung Ibn Arabis über die sagenhaft schöne Leila und den ihr verfallenen Madschnun gegenüber. Die Erkenntnis hier wie dort: Würdevoll und töricht zugleich ist die Liebe, sie adelt den Menschen und gibt ihn gleichzeitig der Lächerlichkeit preis. Nicht ohne Erleichterung kommt der erwachsene Erzähler dennoch zu der Erkenntnis, dass bei aller Narrheit des 15jährigen die hemmungslose Demut des Madschnun seiner Lebenswirklichkeit nicht entspricht und entsprach. „Ich glaube allerdings, der Junge hätte Ibn Arabi den Vogel gezeigt“.

„Grosse Liebe“ ist ein Roman, der von Erinnerungen eines ungestümen Jugendlichen lebt, doch das Buch ist weder als klassischer Liebesroman noch als Coming-of-Age-Geschichte angelegt. Auch die schwärmerische Huldigung an die Schönste ist nur mehr ein Mosaikstein zur Lösung des Rätsels der Liebe. Die Erzählungen der arabisch-persischen Liebesmystik sind das ureigene Metier des habilitierten Orientalisten Kermani. Es sind diese alten, aber zeitlosen Geschichten, mit denen er zeigt, dass sich Liebe nie ändert und mit denen er einen ganz eigenen, sehr behutsamen beschriebenen Beitrag zum Verständnis untereinander über alle Kulturen hinweg leistet.

Doch es ist nicht nur das Wesen der Liebe, das er mit der Erzählung dieser (von ihm als rein und wahrhaftig empfundenen) ersten Liebe erinnern will. Gleichzeitig reflektiert er auch die Angst vor dem Verlust, es ist ein Versuch, diese Angst in ihre Schranken zu verweisen. Er will nicht nur seinem eigenen 15jährigen Ich nachspüren, es ist auch sein Weg, seinen nunmehr 15jährigen Sohn zu verstehen.

Der Sohn entgleitet ihm jäh und unvermutet, er verschmäht den häuslichen Geburtstags-Frühstückstisch mit dem liebevoll gebackenen Schokoladenkuchen zugunsten eines Treffens mit Freunden in einer neumodischen Kaffeehaus-Kette. Kermani erinnert sich an den Kummer, den sein durch die Liebe verursachtes irrationales Handeln seinen Eltern bereitet hat. Nicht nur, dass er ohne Meldung über Nacht wegblieb, einmal musste der Vater ihn sogar aus einer Arrestzelle holen. Da ist die Kaffeehaus-Kette ja noch das kleinere Übel.

Kermani erzählt diese Geschichte auf allen Ebenen in einer sehr melodiösen, wohlgesetzten, gleichwohl leicht zu lesenden Sprache, die den Leser angenehm durch die Geschichte gleiten lässt. Wenn überhaupt etwas den Lesefluss unterbricht, dann seine gelegentlichen, bemüht wirkenden Abstecher in die Meta-Ebene. Einhundert Schreibtage habe er sich gegeben, einhundert kurze Abschnitte sollten es werden und sind es geworden. Doch nicht immer passt es so, wie es der um stete Perfektion bemühte Erzähler wünscht. Da wird der Plan mal nach vorne, mal nach hinten geschoben, solange bis die Schönste aus der Raucherecke auch genau in der Mitte der Erzählung ihre Schenkel öffnet. Die Geschichte wirkt dadurch gewollt harsch unterbrochen, warum der Erzähler das allerdings möchte, bleibt im Verborgenen. Vielleicht will er seine gelegentlich ins Schwärmerische abgleitenden Beschreibungen dadurch relativieren, doch das hätte es nicht gebraucht.

Navid Kermani gilt in der deutschen Kulturszene als bedeutender Intellektueller, nicht zuletzt auch durch die Gründung der Kölner Akademie der Künste der Welt. Er ist vielfach preisgekrönt, nicht immer unumstritten und hat sich sowohl als Wissenschaftler wie auch als Autor einen Namen gemacht. Er selbst sagt, seine Aufgabe als Autor sei die (Selbst-)Kritik und Versöhnung der europäischen und der islamischen Kultur. Im deutschen Bundestag hielt er eine vielbeachtete Laudatio zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes. Getreu seiner selbstgestellten Aufgabe konfrontierte er die Abgeordneten und mit ihnen das ganze Land mit Lob und Kritik gleichermaßen. Die Wichtigkeit solch besonnener Worte kann jederzeit kaum hoch genug geschätzt werden.

„Grosse Liebe“ ist kein politisch motivierter Roman, aber die Handlung ist eingebettet in die Zeit der Friedensbewegung, der Demos im Bonner Hofgarten, der Hausbesetzerkommunen. Bis ins kleinste Detail, vom Räucherstäbchenduft über selbstgetöpferte Teetassen bis hin zu den unvergessenen Latzhosen jener Tage lässt Kermani die Atmosphäre wieder auferstehen und rahmt seine Erinnerungen darin ein. Es sind Erinnerungen, die ein Teil seiner Generation kennt und die heute phantastisch naiv anmuten. Leider. Wie auch Kermani bedauernd anmerkt. Denn so unpolitisch sein Roman auf den ersten Blick daherkommt, ist er denn doch nicht.

Es ist eine der ganz großen Stärken des Erzählers, dass immer wieder ein Nebensatz, eine beiläufig gezogene Schlußfolgerung kommt, von der man erst Tage später merkt, dass man dauernd darüber nachdenkt. So zum Beispiel, wenn er aufrichtig bedauert, dass von der Zeit der 80er nichts im kollektiven Gedächtnis der heutigen Bundesrepublik blieb, so dramatisch und umstürzlerisch sie den Beteiligten auch damals vorgekommen sein mag. Er schätze diese Zeit, „weil sie eines nicht war, nämlich cool und ironisch„. Es sei „das bisher letzte Mal in der westlichen Welt gewesen, dass das Gutmeinen, Altruismus, Sanftmut als Tugend galt“ – genau wie in den traditionellen arabischen Geschichten.

Diejenigen aus Kermanis Generation, die seine Erinnerungen an etliche im Buch beschriebene Ereignisse teilen, werden – wenn sie ehrlich zu sich selber sind – zu der Schlußfolgerung kommen: Er hat recht. So idealistisch, so begeisterungsfähig, so vom Glauben an den Frieden beseelt war keine Generation mehr danach und auch diese Generation hat sich längst in den Zynismus geflüchtet. Was daraus resultierte und noch resultieren mag – diese Frage sollte man sich in der Tat stellen, diesen Gedanken in der Tat zu Ende denken.

Und so ist dieses Buch über die Liebe vielleicht auch grundsätzlich zu verstehen. Als Buch nicht nur über die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auch zu den Menschen.

(Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de 2014)


Genre: Erinnerungen, Romane
Illustrated by Hanser Verlag München

Die Frau auf der Treppe

SchlinkFrauaufTreppe Drei völlig unterschiedliche Männer, vordergründig geeint durch eine unerfüllte Liebe: der narzisstische Künstler, der schwerreiche Unternehmer, der Anwalt, der nur solange vermitteln will, wie er Recht behält. Eine Frau, die sich allen drei Männern gleichermaßen entzogen hat.

Die Frau, Irene, stand einst Modell für ein Frühwerk des heute bedeutenden Künstlers Karl Schwind. Seit Jahrzehnten hat niemand mehr „die Frau auf der Treppe“ gesehen, der Verbleib des Gemäldes ist unklar, von Geheimnissen umwittert. Irenes erster Mann, der Unternehmer Gundlach hat es 1968 bei dem damals noch unbekannten Schwind in Auftrag gegeben, „um den Lauf der Zeit anzuhalten“. Zwischen Künstler und Modell entbrennt eine stürmische Liebschaft, woraufhin Gundlach das Werk systematisch beschädigt. Der Künstler erkennt, dass er nur weitermalen kann, wenn er selbst entscheiden kann, was mit seinen Bildern geschieht.

Es folgt ein erbitterter Streit um die Eigentumsrechte an dem Bild, um das Recht des Künstlers an seinem Werk. In dieser Phase betritt ein junger, aufstrebender Anwalt, Schlinks-Ich-Erzähler die Szene. Von ihm verlangen die Rivalen einen Vertrag, der den Tausch Frau gegen Bild vorsieht, ohne dass die Frau davon weiß. Denn für den einen ist sie doch nur die Muse, für den anderen die Vorzeigegattin, für beide eine Verschiebemasse. Der junge Anwalt verbündet sich mit Irene. Der Vertrag wird nur zum Schein geschlossen, er hilft Irene bei einem gewagten Vorhaben. Irene flieht, mit ihr das Bild. Der Anwalt, der zum ersten Male in seinem Leben die Liebe erahnte, bleibt zurück. Soweit die im Roman in Rückblenden erzählte Vorgeschichte.

In der Gegenwart begleiten wir den Anwalt auf einer Geschäftsreise nach Australien. In seiner Freizeit besucht er eine Kunstausstellung und findet sich plötzlich völlig unvermutet vor der „Frau auf der Treppe“ wieder. In diesem Moment sieht er ganz klar, dass seine Geschichte mit Irene noch nicht auserzählt ist. Er lässt seine Kontakte spielen, recherchiert und findet sie nach einer für seine Verhältnisse abenteuerlichen Reise schließlich wieder. Sie lebt – oder besser gesagt – stirbt auf einer einsamen Insel. Er ändert seine Pläne und bleibt bei ihr.

Ganz so einfach gestaltet es sich auch diesmal nicht, das Wiederauftauchen des Bildes hat sowohl den Maler als auch den Unternehmer auf den Plan gerufen. Auch sie finden Irenes Aufenthaltsort heraus und sich auf der Insel ein. Man reflektiert, streitet, spreizt sich und resigniert schließlich. Der Verbleib des Bildes wird geklärt, Irene hat ihren letzten großen Auftritt. Zum Schluß bleibt nur der Anwalt zurück und begleitet Irenes Sterben. Sie ziehen Bilanz, erträumen sich aber auch einen ganz anderen Lebens-Verlauf. Schlussendlich ist es ausgerechnet der Tod seiner ersten unerfüllten Liebe, der dem Anwalt zu einem neuen Leben verhelfen wird.

Hintergründig eint die drei Männer weniger ihre unerfüllte Liebe als ihr egozentrisches Wesen und ihr unbedingter Wille, ein Lebenswerk vorweisen zu können, dem sie alles opfern. Vor allem ihr eigenes Glück. Irene hingegen will – den nahenden Tod vor Augen – einmal noch die längst vergessen geglaubte Bewunderung „ihrer“ Männer spüren. Schade, dass ihre Figur derart reduziert wird, denn eigentlich hat gerade sie mit einer nicht näher beschriebenen RAF-Vergangenheit den spannendsten Lebenslauf.

Es ist ein ganzes Füllhorn voller Themen, welches Schlink über den Leser ausgießt. Feminismus, Kapitalismuskritik, Terrorismus, die Bedeutung der Kunst, Liebe und Tod, das Alter, Spießertum, Drogensucht – man kann dem Autor nicht vorwerfen, er hätte etwas ausgelassen. Leider wird vieles nur angerissen, weniges vertieft. Den Leser beschleicht das Gefühl, dass man es hier mit einem typischen Problem der Alt-68er-Generation zu tun hat: Sucht der Autor zwanghaft etwas, was geblieben ist und bleiben wird? Gerade diese Generation bedauert ja sehr, dass vieles von dem wegbricht, was sie einst erfolgreich machte und bewegte. Dazu passt auch die resignierte Erkenntnis des Anwalts, dass es doch meist die kleinen Niederlagen im Leben sind, die nachwirken. „Die kleinen Splitter sind schwerer zu entfernen als die großen… “

Seit dem „Vorleser“ scheint Schlink es keinem mehr recht machen zu können. Vielleicht sind die Erwartungen auch deshalb so hochgeschraubt, weil „der Vorleser“ es in den Lektüreschlüssel der gymnasialen Oberstufe geschafft hat, in dem z.B. Bertolt Brecht selten zu finden ist. Diesbezüglich kann man Schlink natürlich überbewertet finden, allerdings kann der Autor selbst wohl am allerwenigsten dafür. Mit der Frau auf der Treppe erzählt Bernhard Schlink einfach eine Geschichte, zwar etwas überfrachtet, aber nicht langweilend. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein leiser Hauch von Melancholie ist spürbar, eine leise Trauer über verpasste Chancen nachvollziehbar. Manchmal ist die Atmosphäre erstaunlich dicht, dann wiederum wird es doch arg schwülstig: „An der Kathedrale der Gerechtigkeit arbeiten viele Steinmetze!“ Ein Sympathieträger fehlt völlig.

Müßig sind Spekulationen, ob Schlink sich bei der Figur des Malers Schwind an Gerhard Richter orientiert hat. Schlink selbst verweist in einem Nachsatz darauf, dass ihn Richters Werk „Ema. Akt auf einer Treppe“ inspiriert habe, der Künstler Schwind jedoch frei erfunden sei.

Erstveröffentlichung dieser Rezension in den Revierpassagen.de


Genre: Romane
Illustrated by Diogenes Zürich

Die gleissende Welt

SiriHustvedt “Die gleißende Welt” – im 17. Jahrhundert gab es diesen Buchtitel schon einmal. Margaret Cavendish, eine der ersten Frauen, die unter eigenem Namen publizierten, betitelte so einen utopischen Roman. Im 21. Jahrhundert dient die Cavendish der New Yorker Künstlerin Harriet Burden als Vorbild. Harriet Burden ist die Hauptfigur in Siri Hustvedts neuem Roman und ihr Nachname ist Programm. Denn es sind schon mannigfache Bürden, welche die arme Frau trägt. Zwar verfügt sie über ein Millionenvermögen, aber ach. Ach.

Geld alleine macht ja nicht glücklich. Noch dazu ist es “nur” das von ihrem verstorbenen Mann, einem einst gefeierten New Yorker Galeristen, ererbte Vermögen und keines, welches Harriet sich selbst erarbeitet hätte. Ein großes Unglück für die Ärmste, ist sie doch in Wahrheit eine hochtalentierte Installationskünstlerin und hätte mit eigenen Millionen überhäuft werden müssen – nur erkennt es leider keiner. Schlimmer noch, ihre Kunst wird verhöhnt und wenn sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, dann immer nur als Frau an der Seite von. Tief gekränkt zieht Harriet sich aus dem öffentlichen Leben zurück und beginnt ein zweites Leben als Mäzenin. Zudem bleibt sie ihrer Kunst treu, doch zu sehen bekommen nur wenige Auserwählte ihre Werke. Harriet ist überzeugt davon, dass eine Frau in der Kunstszene eh keine gerechte Chance bekommt. Schließlich verfällt sie auf ein gewagtes Experiment. Sie zeigt ihre Kunst doch noch öffentlich. Aber nicht als sie selbst, sondern sie bedient sich im Laufe der Jahre dreier “Maskenmänner”, die als Strohmann ihre Werke in Ausstellungen zeigen – und natürlich dafür gefeiert werden. Doch die große “Enthüllung”, welche Harriet Burden für sich gleichermaßen als Rache und Katharsis geplant hat, findet nicht statt. Der letzte ihrer “Maskenmänner” durchkreuzt ihre Pläne und dreht den faustischen Handel gegen Harriet.

Wie ihre Protagonistin ist auch Siri Hustvedt auf ein gewagtes Experiment verfallen, um ihren geplanten Parforce Ritt durch die Gemengelage aus Vorurteilen, Begierde, Ruhm, Geld und Selbstverwirklichung dem Leser als auch wirklich von allen Seiten durchleuchtetes Paket zu präsentieren. Amerikas Ausnahme-Autorin schlüpft dafür in die Rolle der Herausgeberin und präsentiert die Geschichte der Harriet Burden als fingierte Spurensuche. Zu Wort kommen alle (fingierten) Weggefährten Harriets, Freunde wie Feinde, Gönner wie Kritiker und die mittlerweile unvollendet gestorbene Harriet selbst, deren (ebenfalls fingierte) Tagebücher der “Herausgeberin” Hustvedt anvertraut wurden. Ein geschickter Kniff – und anhand der unbestrittenen Wortmächtigkeit und literarischen Begabung der Hustvedt hätte es ein ganz großes Buch werden können.

Ein Buch, welches – wie der Verlag nicht müde wird, zu erwähnen – alle großen Themen Siri Hustvedts vereint. Literatur, Kunst, Psychologie und Naturwissenschaften. Nur das allergrößte Thema der Hustvedt hat der Klappentexter vergessen zu erwähnen: Nämlich sie selbst. Nichts interessiert Siri Hustvedt bzw. ihre Stellvertreterin Harriet Burden so sehr wie die eigene Befindlichkeit, vornehmlich in der gespiegelten Wahrnehmung anderer. Und so wurde aus der Vereinigung eines großes Talents mit einem großen Thema leider nur eins: Das hohe Lied der sich selbst bemitleidenden Larmoyanz und Siri Hustvedt avanciert von der von einer ganzen Generation bewunderten Schriftstellerin zur Hohepriesterin regressiver Luxusprobleme.

Denn um nichts anderes geht es in diesem Buch: First world problems in platin. Es tut geradezu weh, dieses Buch zu lesen. Siri Hustvedt kann schreiben, ihr Talent ist unbestritten und nahezu unerreicht. Es hätte ein kluges, ein berührendes Buch werden können – aber irgendwann hilft auch der wundervollste Stil nicht mehr. Dann ist gejammerte Selbstgerechtigkeit nur noch ein nervtötendes Ärgernis. Man möchte in das Buch hineingehen, Harriet und Siri gleichermaßen schütteln und sie von ihrem selbstgerechten Ego-Trip runterholen. Nach den Erfolgen der Vergangenheit tut Siri Hustvedt viel, um ihren eigenen Nimbus zu festigen. Zuviel, denn mit der “gleißenden Welt” hat dieser Nimbus bereits begonnen zu bröckeln. Sie wollte zuviel. Zu viele Themen, die sie ausgräbt und nur anreißt. Zuviele Genres, durch die sie mäandert. Und dann noch die unzählbar vielen Fußnoten, in denen sie sich gelegentlich nicht entblödet, als Quelle auf ihr eigenes Werk zu verweisen und die ansonsten nur dazu dienen, ihre Bildung auszubreiten. Darin ihrer Protagonistin nicht unähnlich verheddert sie sich schlußendlich nur noch in ihren Manierismen, scheitert an diesen und ihrem eigenen Anspruch.

Viel hatte man von diesem Buch erwartet – versprach es doch, dass Siri Hustvedt mit der “gleißenden Welt” in die New Yorker Kunstwelt zurückkehrt, Immerhin die Welt ihres größten Erfolges “Was ich liebte”. Doch nicht ein einziges Mal löst sie die Emotionen aus, die dieses Buch hinterließ. Aus der ans Innerste ihrer Leser rührenden Erzählerin ist eine selbstgerechte Autorin geworden, die sich aller Erfolge und Lobeshymnen zum Trotz nicht genug gewürdigt fühlt. Möglicherweise liegt es daran, dass Siri Hustvedt sich immer noch an ihrem Mann, dem gefeierten Schriftsteller Paul Auster abarbeitet. Zwar finden sich genug Stimmen, die der Meinung sind, sie habe Auster mittlerweile in den Schattten gestellt, aber ihr Drang, sich selbst zu beweisen, scheint immer größer zu werden. Denn – ganz egal, wie oft es abgestritten wird – auch “die gleißende Welt” ist mit Sicherheit zu einem Teil autobiographisch. Die Parallelen sind einfach nicht zu übersehen, gerade wenn man auch ihre anderen Werke kennt.

Oder – es liegt daran, dass Siri Hustvedt in Wahrheit gar nicht so begabt ist, wie es ihre Wortmächtigkeit suggeriert. Denn – auch in “Was ich liebte” hat sie letzten Endes nur nacherzählt. Auch dieser Roman fußte auf eigenem Erleben, schlimmer noch auf Leben, die sie nur als Beobachterin miterlebte. Welchen Preis die als Vorlage dienenden Personen – ihr Stiefsohn und die erste Frau von Paul Auster – dafür gezahlt haben, das will man lieber gar nicht wissen. Dann schon lieber ihre eigene Befindlichkeit – aber auch von der will man eben nicht endlos lesen. So gesehen ist es kein Wunder, dass Hustvedt mit der epischen Darbietung ihrer eigenen Klugheit den Mangel an Phantasiebegabung kaschiert.

Um den Bogen zurück zu schlagen: Da ist ja noch der entlehnte Titel. Margaret Cavendish wird heute als Universalgenie gefeiert und es bedarf schon einer gewissen Chuzpe, sich einfach einen Buchtitel von einem Universalgenie zu entlehnen. Passt aber dazu, dass Hustvedt sich auch ihre Themen bisher immer nur geliehen hat. Bitter, dass sie das eigentlich gar nicht nötig hat. Und schon gar nicht hat sie es nötig, sich hinter vorgeblichen oder tatsächlichen Vorurteilen wie die von Harriet Burden immer wieder angeprangerte Bevorzugung männlicher Künstler zu verstecken.

So heißt es in der “gleißenden Welt” : „Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiß, dass sie hinter dem großen Werk oder dem großen Schwindel einen Schwanz und ein paar Eier ausmachen kann.“ Hier sei die zugegeben platte Anmerkung, dass man auch als Frau durchaus Eier zeigen kann, erlaubt. Und wer, wenn nicht eine Autorin mit dem Renommee einer Siri Hustvedt wäre dazu besser in der Lage. Eine große Chance – vertan.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt