Landschaften einer fernen Mutter

Said LandschaftenIn einem sehr persönlichen Kontext gab mir eine junge deutsche Frau mit Migrationshintergrund die “Landschaften einer fernen Mutter”, einen autobiographischer Text des iranischstämmigen Autors Said.

Darin beschreibt und verarbeitet er die wenige Tage nach seiner Geburt vollzogenen Trennung von seiner Mutter. Die Scheidung der Eltern vollzog sich bereits während der Schwangerschaft und es war beschlossene Sache, dass das Kind ausschließlich bei seinem Vater leben sollte. Ein einziges Mal durfte er als Zwölfjähriger die Mutter sehen.

Jahrzehnte später: Said ist inzwischen 43 Jahre alt und lebt schon seit langem im deutschen Exil. Überraschend erhält er einen Telefonanruf: die Mutter sei auf dem Weg nach Kanada und möchte ihn, Said, treffen. Nach umständlichen Pass- und Visaverhandlungen begegnen sich die beiden Fremden in Toronto in der Wohnung des ebenfalls unbekannten Halbbruders zum ersten Mal. Drei Wochen verbringen sie gemeinsam in einer Wohnung, drei Wochen, um sich zu begrüßen, kennenzulernen und sich wieder voneinander zu verabschieden.

Die Landschaften sind viel mehr als nur eine Erzählung über die allgemeine Erfahrung des Fremdseins. Ausschließlich in Kleinbuchstaben geschrieben fällt der Text den Leser ungedämpft mit all seinem Schmerz und seinen Ressentiments an, der Leser schwankt zwischen Befremden und Betroffenheit. Das zerrissene Verhältnis zur Mutter spiegelt der Autor in der Romankonstruktion wider, sich der Stilmittel des Fragmentarischen, Lückenhaften und eingefügter, scheinbar willkürlich in der Zeit springender Passagen bedienend. Über weite Strecken schafft Said eine beeindruckende Sachlichkeit, eine unterdrückte, beherrschte Traurigkeit, doch spätestens im Epilog zeigt sich seine große Verbitterung über die zweimal verlorene Mutter, die ihn nicht mehr loslässt und auch den Leser noch länger begleitet.

Die “Landschaften einer fernen Mutter” sind ein bis zur Exhibition persönliches Buch, über weite Strecken zwar pragmatisch und aus selbstauferlegter Distanz geschrieben, im Epilog dann so undiplomatisch, so radikal von der Seele geschrieben wie nur möglich. Einmal nennt er Kafka, so dass der Vergleich mit dem “Brief an den Vater” sich geradezu aufdrängt. Der große Unterschied besteht darin, daß Said weiß, daß seine Mutter den Abschiedsbrief nie lesen wird.

Das Buch an sich ist so eigenartig wie die Erfahrung, die es beschreibt. Streckenweise gerät der Leser zwischen die Fronten, fühlt sich fast zum Schöffen ernannt. Aber wünscht Said die Zustimmung seiner Leser oder die Widerrede? Entscheiden will man hier nicht. Befremden und Betroffenheit mischen sich zu einer seltsamen Leseerfahrung.

SAID ist ein im deutschen Exil lebender iranischer Schriftsteller. Er kam 1965 als Student nach München, wo sich seine literarischen Ambitionen schnell mit einem politischen Engagenment und einem Bekenntnis zur Demokratie verbanden, welches eine Rückkehr in den Iran bis heute verhindert. Seit längerem deutscher Staatsbürger schreibt er Lyrik und Prosa in deutscher Sprache mit all ihren Nuancen. Auszeichnungen erhielt er nicht nur für sein literarisches Werk, sondern auch für sein Engagement für politisch Verfolgte, u.a. im  “Writers in Prison Committee” .

Ich muss gestehen, dass mir der Schriftsteller bisher unbekannt war. Ich war von dem Buch aber tief berührt, werde sicher noch mehr von ihm lesen und empfehle das auch gerne  – schon alleine, weil es sich die intellektuelle, gebildete Schicht der Muslime wünscht.

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Genre: Biographien, Memoiren, Briefe
Illustrated by dtv München

Fische füttern

Fische füttern “Ist das Leben ein Strom von Dingen, die an uns vorbeiziehen? Sind wir mitten in diesem Fluss, kommen die Dinge, ziehen sie vorbei und verschwinden?” Oder “ist das Leben vielleicht gar kein Fluss, sondern ein Kanal? Dann sieht die Sache schon anders aus. Ein Kanal führt nirgendwohin, er bliebt schnurgerade, ohne ein Ziel, und kann höchstens hoffen, andere Kanäle zu schneiden und sich ein Zeit lang mit ihnen zu vermischen.”
Man weiß es nicht. Auch Fiorenzo weiß es nicht. Fiorenzo steht kurz vor dem Abitur, schwänzt aber vielleicht ein bißchen zu oft die Schule, um wirklich viel zu wissen.Seine rechte Hand hat er bei einem sinnfreien Experiment mit Feuerwerksböllern verloren und ist auch ansonsten “ein noch größerer Dummkopf als Galileo Galilei.”

Fiorenzo lebt im kleinem toskanischen Muglione, einem trostlosen Kaff, gelegen
an einem stinkenden Kanal, fernab jeder Postkarten-Idylle. Seine Mutter ist gestorben, sein Vater besessen davon, Mirko aus dem Nachbardorf zum kommenden Radrenn-Champion zu formen,nachdem der einhändige Sohn des Vaters Traum nicht mehr erfüllen kann. Fiorenzo musste sein Zimmer dem ungeliebten kleinen Champion überlassen und nächtigt nun im väterlichen Geschäft, einem Kramladen für Anglerbedarf, zwischen all den Würmern und Maden, die nur darauf warten, an die Killerkarpfen im stinkenden Kanal verfüttert zu werden. Einziger Lichtblick sind seine selbst im Land des schmalzigen Italo-Pop bemerkenwert erfolglose Heavy Metal Band und die schöne Tiziana. Tiziana, die nach dem Studium auf ihrem so verheißungsvoll vorgezeichnetem Lebensweg falsch abgebogen ist und sich ebenfalls im trostlosen Muglione wiederfindet. Sie vertreibt sich die Zeit mit einem Blog ohne Leser und ansonsten in ihrem mit viel gutem Willen und keinem Geld eröffnetem Jugendzentrum damit, eine selbsternannte Wächter-Gang, bestehend aus gelangweilten Späthippie- Rentnern in Schach zu halten.

Ein sehr eigenwilliges Panoptikum skurriler Figuren hat der italienische Autor Fabio Genovesi da aus der trüben Pampa der Toskana gefischt und lässt diese einen Sommer lang in einer Geschichte ohne wirkliche Handlung in einer erstickenden provinziellen Welt mit Sehnsüchten und unerfüllbaren Träumen kollidieren. Keiner bleibt in diesem bemerkenswert politisch unkorrektem Buch verschont: Die Jungen nicht, die Alten schon mal gar nicht. Blogger, Angler, Radrennfahrer, Lehrer, Eltern, Gutmenschen, Ehrgeizige – bei keiner Gruppe lässt Genovesi Gnade vor Recht ergehen.

Ohne Zweifel ist “Fische füttern” ein hochintelligentes Buch, subversiv und unkonventionell, in seinen Glanzmomenten frech, witzig und poetisch. Aber – das Buch ist im Niveau höchst schwankend. Der Einstieg ist nur mit gutem Willen noch als holprig zu bezeichnen, bei der Unterteilung von über 400 Seiten in mehr als 70 Kapitel, sehr abrupten Perspektiv- und Stilwechseln wird der Leser auch im Fortgang immer wieder höchst unsanft aus seinem Lesefluss gerissen und ist mehr als einmal geneigt, den Schlusssatz der Danksagung vorwegzunehmen und des Autors Rat zu beherzigen: “Wir leben nicht ewig hier, hier sind wir fertig, also jetzt alle raus um zu sehen, was draußen los ist.”
Seitenweise quält man sich durch aufgeblasenes Schwadronieren von Jugendlichen und renitenten Alten, Palaver mit dem Aussagewert der flachen Landschaft, die der Roman ebenfalls ausführlichst zeichnet und beklagt. Dazu kommt, dass Genovesi gelegentlich der Versuchung eindeutiger Effekthascherei nachgibt, sowie dem anscheinend unbezähmbaren Drang, einfach alles aufzuschreiben, was ihm zu seiner Geschichte einfiel. Weniger wäre in diesem Fall definitiv mehr gewesen. Zu oft endet im Klischee, was als inspiriende Lebensweisheit gedacht war.

Und dann kommt das Schlusskapitel, welches dem Leser einen Einblick in das Leben der Protagonisten zehn Jahre später gibt. Ein Kapitel, das einem die Moral der Geschichte wunderbar formuliert an die Hand gibt: Man kann erst dann gewinnen, wenn einem vorher das Verlieren beigebracht wurde. Ein Epilog, der in seiner Einfachheit berührt und den Leser mit der Geschichte gleichzeitig versöhnt und mit der Frage zurücklässt: Warum nicht gleich so? Genovesi kann es doch. Genauso wie dieser Epilog. das wäre mein Roman gewesen.

So bleibt leider nur ein durchwachsenes Fazit: Interesse am Radsport und Angeln dürfte für durchgehenden Lesegenuss förderlich sein.Für den Rest: Lesenswert, aber kein Muss.

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Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Sechs Getränke, die die Welt bewegten

Sechs GetränkeVor etlichen Jahren lernte ich in Amerika bei einer Dinner Show ein junges Paar kennen. In breitestem Südstaaten-Dialekt stellten die beiden sich mit folgenden Worten vor: “Hi, we are Betty and Jim from Atlanta. Atlanta, Georgia. Home of Coca-Cola.”

Das ließ mich damals so fasziniert wie irritiert zurück. Zig Dinge wären mir eingefallen zu Atlanta, Georgia. Scarlett. Tara. Martin Luther King. Die Peachtree Road. Die Sezessionskriege. Meinetwegen auch Coca-Cola. Jedoch nicht als Erstes, Einziges und Wichtigstes. Aber so sind sie, die Amerikaner. Unbändig stolz auf den Siegeszug der braunen Brause als global akzeptiertes, bewundertes Symbol des American Way of Life.

Genau dies bestätigt auch der englische Historiker und Journalist Tom Standage in seinem überraschenden Werk Sechs Getränke, die die Welt bewegten. Spätestens seit Coca Cola zum kriegswichtigen Gut geadelt wurde, war der Aufstieg des Getränks von der Brause aus dem Sodabrunnen zur nationalen Institution unausweichlich.

Coca-Cola ist das letzte der 6 Getränke, anhand derer Tom Standage seine Leser unterhaltsam durch die Weltgeschichte führt. Der deutsche Titel führt leicht in die Irre. In diesem Buch geht es nicht in erster Linie um Getränkekunde, sondern die Entstehungsgeschichten von sechs Getränken – neben Cola sind es Bier, Wein, Rum, Tee und Kaffee – werden verknüpft mit einer rasanten Zeitreise von der Steinzeit in die Gegenwart. Der Originaltitel A history of the world in 6 glasses trifft es wesentlich besser. Standage bietet nicht weniger als einen Crashkurs in Weltgeschichte, gepaart mit Exkursen in Technik, Chemie und Religion. Nur wenige der sorgsam recherchierten Verknüpfungen sind weithin bekannt, am bekanntesten dürfte die Boston Tea Party sein. Umso überraschender zu erfahren, dass beispielsweise die Pyramiden wohl ohne die zufällige Entdeckung des Bieres nie gebaut worden oder die Entdeckungen der Kolonialzeit ohne Rum nicht machbar gewesen wären. Besonders spannend die Geschichte des Kaffees. “Das nüchterne Geschenk der arabischen Welt”, es trat seinen Siegeszug im Zeitalters der Vernunft an. Kaffeehäuser etablierten sich als Heimstätten eines Bündnisses aus Kaffee, Innovation und Netzwerk, “eine Art Internet des 17. Jahrhunderts”.

Standage zieht destillierte Schlüsse aus dem “flüssigen Vermächtnis der Kräfte, die unsere Welt geprägt haben“. Dabei räumt er mit bis heute verbreiteten Mysterien auf und stellt neue Thesen auf. So stehe “der Konsum von Coca Cola in engem Zusammenhang mit dem Wohlstand und der Lebensqualität von Ländern”. Gewagt, aber nicht von der Hand zu weisen und daher durchaus bedenkenswert.

Dennoch irritiert seine rigorose Trennung, jeder Periode ein bestimmtes Getränk zuzuordnen. Bier kommt im Buch nur in vorchristlicher Zeit vor, von der “Amphore Kultur” (Wein) hört man nur bis zum Mittelalter und Tee war das Schmiermittel der industriellen Revolution. Die Dominanz britischer Tea-Time-Kultur bis heute interessiert nur am Rande. Selbst die Prohibition spielt allenfalls im Hinblick auf den Siegeszug von Coca Cola eine Rolle. Standage weist jedem Getränk einen Platz als Katalysator für die Förderung der Kulturen und Zivilisationen zu. Dass jedes dieser Getränke für sich genommen bis heute mehr ist als nur ein Durstlöscher, ist bei dieser Vorgehensweise uninteressant. Es ist allerdings nicht anzunehmen, dass Standage ein allgemeingültiges Standardwerk vorlegen wollte. Vielmehr dürfte es seine Intention gewesen sein, mit einem Augenzwinkern auf die Weltgeschichte zu schauen und Geschichtsmuffeln einen unterhaltsamen Rundgang zu bieten. Dies ist ihm zweifellos gelungen. Und da er seinem Gesamtbild viele unbekannte Details zufügt, dürfte dieses Werk auch den in Historie Versierteren Spaß machen.

“Die Gepflogenheit, sein Glas zu heben, ist uralt und beschwört übernatürliche Kräfte”. Und so ist natürlich auch diese Buchbesprechung nicht entstanden ohne den beherzten Einsatz diverser inspirierender Getränke. In diesem Sinne Salute, Cheers und Prösterken.

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Genre: Dokumentation
Illustrated by Artemis und Winkler

Apfeldiebe

ApfeldiebeFünf Jungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Ein großmäuliger Anführer, der aber noch gerne mit seinen Ritterfiguren spielend sich heimlich in ein Abenteuerland träumt. Der dicke Mitläufer, das Weichei. Der kleine Bruder, der nichts sehnlicher wünscht, als in der Welt der Großen akzeptiert zu werden. Der langhaarige, verträumte Einser-Schüler, bevorzugtes Mobbing-Objekt der anderen. Und schließlich der düstere Neu-zugezogene, den man ebenfalls mangels Alternativen hänselt. Denn eigentlich hat man Angst vor ihm.

Die Roggenbacher Burgruine, ein verbotener Platz. Alex, der selbsternannte Anführer findet dort eines Tages eine unerforschte Höhle mit mittelalterlichen Gerätschaften. Es sind Ferien und da er schließlich der Anführer ist, führt er die anderen dorthin. Doch was als Abenteuer für einen Tag gedacht war, endet in einer Katastrophe. Die Decke der Höhle stürzt ein, die Jungen sind gefangen. Schluss ist mit Spiel, das Abenteuer wird blutiger Ernst. So jung die Kinder noch sind, so schwer sind die Päckchen, die sie mit sich tragen. Auf sich alleine gestellt, in einer Situation, wo Hoffnung langsam in Panik umschlägt, wo das altbekannte Mobbing die Grenzen des Wahnsinns überschreitet, sind die Kinder auf sich selbst,ihre Ur-Ängste und Ur-Instinkte zurückgeworfen. Wird überhaupt einer von ihnen das Tageslicht wieder erblicken?

Nur ein Mann weiß ungefähr, wo die Kinder sein könnten. An der großangelegten Suchaktion beteiligt er sich jedoch nicht. Er ist der Dorf-Grantler, der Außenseiter, den alle fürchten. Er selbst hat nichts mehr zu verlieren, er wartet nur noch auf den Tod. Die verschwundenen Kinder interessieren ihn nicht wirklich, zunächst einmal sind es für ihn fünf Apfeldiebe weniger, um die er sich kümmern muss. In seinen letzten Lebenstagen denkt er über sich und sein verpfuschtes Leben nach, in dem er nicht einmal über seinen Schatten springen konnte. Nach einer durchwachten Nacht wird ihm klar, dass er sich nur einmal hätte umdrehen müssen, um über eben diesen Schatten zu springen. Schafft er jetzt diese Umdrehung und kann er die Kinder noch retten? Vor der Höhle und vor sich selbst?

Das Thema mutet bekannt an. Natürlich. Doch wer liest heute noch Herr der Fliegen? Leider wohl kaum einer. Daher ist es nicht verwunderlich, dass dieses Thema nach einer Neuauflage schrie, um in die heutige Zeit transkribiert zu werden. Der Autor Michael Tietz, dem mit “Rattentanz” ein Überraschungserfolg gelang, wagt dieses Wagnis. Und er macht es gar nicht mal schlecht. Seine Apfeldiebe können zwar nicht mit der Symbolträchtigkeit und der Intertextualität eines Herrn der Fliegen mithalten, doch was das Grauen angeht, das dieser Roman mit seinen klaustrophobischen und befremdlichen Szenen auslöst, kann er durchaus mithalten. Er macht vor nichts halt, scheut vor nichts zurück. Der Kampf ums Überleben wird nicht nur zu einem Kampf gegen die fast aussichtslosen Umstände, in der sich die Jungen befinden, sondern vor allem zu einer Grenzerfahrung im Umgang mit sich selbst und den Freunden. Während die einen dem Wahnsinn nicht mehr fern sind, finden andere erst zu ihrer wahren Stärke.

Tietz entfaltet sein Szenario bildgewaltig, verliert sich zuweilen aber in Details. Fast hat man den Eindruck, dass er seiner eigenen Sprachmacht noch nicht so recht traut. Zu diesem Eindruck passt auch, dass seine Charaktere zwar sorgfältig ausgewählt und gegenübergestellt, aber gelegentlich einfach zu stereotyp gezeichnet sind.

Im Gegensatz zu seiner gelegentlich überbordenden Detailverliebtheit steht jedoch das Ende. So versöhnlich einige Schlußzenen den Leser stimmen mögen, so irritiert bleibt er doch mit der Wertung zurück. Exemplarisch sei da Timis Mutter genannt. Ohne hier zuviel verraten zu wollen, auch sie hat ein Verbrechen begangen. Dies mit einem einzigen, noch dazu recht freundlichen Satz abzuhandeln, das geht und passt gar nicht.

Dennoch: ein atmosphärisch und psychologisch dichter, spannungsgeladener Thriller, der durchaus kunstvoll zu schocken vermag, aber auch berührt und Fragen aufwirft.

Der Autor: Michael Tietz lebt mit seiner Familie als Krankenpfleger im Schwarzwald, wo auch seine Bücher spielen.

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Genre: Thriller
Illustrated by Bookspot

Bugatti taucht auf

Bugatti Es ist ein eher unbekannter Bugatti, der zu Beginn auf den Seiten dieses erstaunlichen Romans auftaucht: Rembrandt Bugatti, jüngerer Bruder des legendären Erfinders und Konstrukteurs Ettore. Dieser Rembrandt lebt zurückgezogen und unglücklich als Bildhauer, Aus seinen Tagebüchern aus den Jahren 1914/15 erfährt der Leser einiges über die stilprägende italienische Dynastie, aber auch aus dem tragischen, unglücklichen Leben des Rembrandt Bugatti, eines Menschen, für den “die Routine des Wiederkehrenden” nicht tröstlich ist, sondern “der Beweis, dass es kein Entkommen gibt.”

Szenenwechsel: Gegenwart. Februar 2008. Im schweizerischen Locarno wird die “Stranociada”, der Tessiner Karneval gefeiert. Ein junger Mann, Luca, gerät unbeabsichtigt in eine alkoholisierte Auseinandersetzung, wird kaltblütig zu Tode geprügelt und getreten. Aus nüchternen Protokoll-Aufzeichnungen ergibt sich die Chronik eines beiläufigen und völlig sinnlosen Todes, das unfassbare, weil “triste Bild von jungen Leuten zwischen Langeweile und Überforderung, die nicht wissen, was sie tun und deren Lebensgefühl man vermutlich so zusammenfassen könnte: Was soll der ganze Scheiß?”

Szenenwechsel: Wir lernen Jordi kennen, einen Freund der Familie des getöteten Jungen. Jordi aus dem Nachbarort Ascona, der dort eine Unterwasserfirma besitzt und sich “ungeheuerlich schämte, ohne zu wissen, wofür. Einfach für das, was passiert war.” Jordi ist ein durch und durch integrer, moralischer Mensch. Er will es nicht hinnehmen, dass diese Tat ungesühnt bleibt, er will der im Tessin schwelenden, zuweilen hysterischen Aufregung etwas entgegenhalten, den Tätern keine größere Bühne bieten als unbedingt nötig. Er will der Sinnlosigkeit, dem Unfassbaren “eine andere Handlung entgegensetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte, etwas gutartig Schönes [….] etwas, was dem Schrecken [….] trotzen konnte [….] eine Geschichte, die von irgendwo her kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes.”
Jordi erinnert sich an einen alten Asconeser Mythos. Es geht die Legende, dass auf dem tiefsten Grund des Lago Maggiore ein alter Bugatti ruht. Bewiesen wurde diese Legende nie, mehr denn ein vage als Radnabe zu interpretierendes Etwas hat kein Taucher je gesichtet. Jordi versucht mit Hilfe von Freunden und Familie, das Unmögliche möglich zu machen und nach einigen Rück- und Schicksalsschlägen gelingt es ihnen in der Tat. Sie bergen den erstaunlich gut erhaltenen Bugatti, lassen Piazza und Promenade sperren und den Bugatti aus dem See öffentlichkeitswirksam auftauchen. “Sie machten es für Luca, der am 1. Februar ermordet wurde. Und dann organisierten sie ein großes Fest. An einem Sonntagmorgen. Und es kamen viele Leute, viel mehr Leute, als sie erwartet hatten.”

Die Geschichten, die Dea Loher in ihrem Romandebüt erzählt, fußen allesamt auf realen Ereignissen. Im Roman wird er Luca genannt, in der ebenso unfassbaren Realität war es der junge Student Damiano, der in einer Februarnacht beim Locarneser Karneval jenen grundlosen und brutalen Tod starb. Seine Familie und seine Freunde gründeten zur Trauerbewältigung die Fondazione Damiano Tamagni und kamen auf die Idee, dem Mythos des Bugatti-Wracks im Wortsinne auf den Grund zu gehen. Beide Ereignisse haben im Tessin hohe Wellen geschlagen. Als der Bugatti auftauchte, war es ein Riesen-Ereignis im kleinen Ascona und auch ein kollektives Aufatmen. Der Bugatti wurde für 230.000 Euro versteigert, dieses Kapital bildete den Grundstock für die bis heute bestehende Stiftung.

Auf nur etwas mehr als 200 Seiten hat die Autorin ein Werk von beeindruckender Komplexität geschaffen. Für jeden Erzählstrang der miteinander verwobenen Geschichten findet sie eine eigene, authentische Sprache. Die schreckliche Tat beschreibt sie dokumentarisch, nicht die ihrer Schuld ausweichenden Täter macht sie zu Romanfiguren, sondern Jordi, seine Freunde und seine weisen Ratgeber. Nicht die Gewalttat ist das Thema des Romans, sondern der Versuch, dem Verlust von Lebensträumen eine Aktion gegen Sinn- und Hilflosigkeit entgegenzusetzen. So wie Asconas berühmter Berg, der Monte Verita, nie sein Versprechen auf Wahrheit einlöst, so kommen auch die Freunde des Ermordeten der Wahrheit oder dem Sinn hinter der schrecklichen Tat nicht näher.

Der Bugatti im See war lange nicht mehr als eine Legende der Moderne, die Fondazione ist eine Sühne, ein Versuch der Wiedergutmachung. Beidem setzt Lea Doher nun ein bewegendes literarisches Denkmal. Die vorgeschaltete Geschichte der Familie Bugatti sowie die später von einem Ratgeber Jordis enthüllten Geschehnisse rund um den Bugatti und dessen unvergessenem Fahrer Rene Dreyfus dienen der Gegenwartsgeschichte dabei als Reflektor. Der radikal kühlen Sprache in den Protokollen zur Tatnacht setzt die Autorin bei der Erzählung von Jordis Geschichte eine vorsichtige, rücksichtsvolle, poetische Sprache entgegen, die das filigrane Gewebe von Schuld und Sühne, Trauer, Verlust und Aufarbeitung schützt. Manche Sätze entfalten eine ungeheure Leuchtkraft, leuchtend wie das berühmte Tessiner Licht in seinen besten Momenten.

Bugatti taucht auf wurde von der Kritik bisher einhellig gelobt und gefeiert. Ich stimme diesen Pressestimmen uneingeschränkt zu, möchte aber aus persönlichen Gründen noch einen Aspekt zufügen, der bisher wenig bis kaum Erwähnung fand.
Auch für meine Familie spielt Ascona seit Jahrzehnten eine große Rolle, genau wie Jordi stehe auch ich manchmal auf der Piazza und gerate ins Fantasieren, wie es in Ascona früher gewesen sein mochte, seit ich –wie Jordi – bei den Großeltern ein Foto von früher fand:
 Ascona
Wie Jordi sind viele, die Ascona kennen, dem Ort in einer Art ambivalenter Hassliebe verbunden. Ascona war ungeachtet seiner pittoresken Fassade noch nie eine leichte Adresse. Es war sicher nicht Dea Lohers Hauptanliegen, Ascona und seine Bewohner zu charakterisieren, aber dennoch ist ihr dies ausgezeichnet und bei aller spürbaren und berechtigten Kritik an Ascona doch liebevoll und wahrhaftig gelungen. Es ist auch der Ort und das über ihm schwebende Flair eines bedauernden “Tempi passati”, die eine Geschichte wie die des Bugatti erst möglich machten. Die unterschwelligen Schwingungen und Befindlichkeiten des Ortes, der seit Jahren zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, erfasst sie ebenso genau wie das Entsetzen über die unfassbare Tat, welches das gesamte Locarnese lange gefangen hielt. Sätze wie die über den sich esoterisch spreizenden, schlussendlich aber traurigen Monte Verita formulieren eine Wahrheit, wie ich sie besser formuliert noch nicht gelesen habe. Sätze, die ich am liebsten auswendig lernen würde, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzubringen.

Fazit: Gut möglich, dass ich mein Buch des Jahres bereits gefunden habe, Bugatti taucht auf ist eins der beeindruckendsten Romandebüts, die ich bisher gelesen habe. Prädikat: Sehr empfehlenswert.

Die Autorin: Dea Loher ist eine der bekanntesten Theater-Dramatikerinnen unserer Zeit. Sie studierte u.a. bei Heiner Müller und erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen. Ihre Werke beschäftigen sich oft mit den Themen Schuld, Trauer und Vergebung.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift 

Links zu den Hintergründen der real existierenden Geschehnisse: 
Die Bergung des Bugatti und 
Die Geschichte der Fondazione Damiano Tamagni


Genre: Romane
Illustrated by Wallstein Göttingen

Seelenfeuer

SeelenfeuerBis zu ihrem 19. Lebensjahr führte die junge Hebamme Luzia Gassner ein beschauliches Leben in einem kleinen Weiler am Bodensee. Eigentlich ist sie damit zufrieden, doch als eine Berufung aus der großen Stadt kommt, beugt sie sich und wird im Jahre des Herrn 1483 die neue Hebamme der Stadt Ravensburg.

Wie viele weise Frauen ihrer Zeit, die das Wissen um die Kräfte der Natur und ihrer Gaben bewahren, verlässt sich auch Luzia bei ihrer Arbeit nicht alleine auf Gebete und erregt so das Missfallen der Kirche. Als ein verheerendes Unwetter die Stadt heimsucht und auch noch die Pest ihre schwarzen Klauen ausfährt, holt der Kaplan der Stadt den gefürchteten Großinquisitor Heinrich Institoris. Es beginnt ein Hexensabbat, in dessen Folge sich alle Bewohner der Stadt von der vormals verehrten Hebamme abwenden. Einzig ihr Onkel, der geachtete Apotheker und ihr Verlobter, Medicus Johannes von der Wehr verteidigen sie vehement. Doch es kommt, wie es kommen muss. Luzia wird der Hexerei angeklagt und in den Kerker geworfen. Dem unerschrockenen Johannes bleiben nur wenige Tage, um Luzia zu retten.

Das Thema ist nicht neu. In Buch und Film hatten wir schon mehr als eine Hebamme, die als Geburtshelferin für einen Mittelalter-Roman zu fungieren die Ehre hatte. Dies war wohl auch der Autorin klar. Sie setzte das Ganze in einen stark regional bezogenen Kontext und thematisierte vordergründig die zu jener Zeit aufkommende Hexenjagd. Dank aufwändiger Recherchen wahrte sie so ihre Chance, kenntnisreich und mit viel Liebe zum Detail mit einem bereits ergiebig verwursteten Thema zu punkten. Die Gegend um den Bodensee war zum Ende des 15 Jahrhunderts eins der Zentren des Hexenwahns und der daraus entstandenen Hexenverfolgung in Europa. Es ist historisch belegt, dass Heinrich (Institoris) Kramer , der Verfasser des Malleus Maleficarum ( Hexenhammer) in Ravensburg, Konstanz und anderen Orten der Umgebung an die fünfzig Schauprozesse abhielt, die auf dem Scheiterhaufen endeten. Der Hexenhammer ist in engem Zusammenhang mit der päpstlichen Hexenbulle zu sehen, beides pseudowissenschaftliche Legitimationsschriften für den Wahn jener Tage. Cornelia Haller hat sicher ausgesprochen genau recherchiert, nach der Lektüre ist man umfassend und nachvollziehbar über damalige Gedanken – und Gefühlswelten informiert. Doch gelegentlich sind ihre detailverliebten Schilderungen zu überbordend und überfordern die Geduld des Lesers, der auf den Fortgang der Geschichte hin fiebert.

Die Autorin wurde gefördert und empfohlen vom ebenfalls in der Bodensee-Region ansässigen Martin Walser. Walser ließ die Gelegenheit, sich bei der Buchvorstellung mit aufs Podium zu setzen, nicht verstreichen und lobte die Genauigkeitsleistung der Autorin. Zwar ein Kompliment mit ungesagt mitschwingender Wertung, aber in Ravensburg reichte es für Begeisterung und Vorschußlorbeeren.

Cornelia Haller selbst sagte in einem Interview, das Formulieren sei für sie das Handwerk. Um Gerechtigkeit walten zu lassen, hat sie es dafür sehr gut gemacht. Ihr Stil ist flüssig und stockt selten. Manchen Dingen merkt man jedoch das mangelnde Vertrauen in ihre Formulierkunst an. So musste die Hebamme natürlich Luzia (von Luzifer) heissen und rotes Wallehaaar ihr Eigen nennen, damit auch der Letzte versteht, welche Projektionsfläche die Hebamme bot. Die Detailverliebtheit der Autorin führt dazu, dass sie sich manchmal im Fabulieren verliert, aber es gelingen ihr auch Sätze von allgemeiner Gültigkeit, die nachhallen und berühren. So wenn sie die Hebamme Luzia über die Mysterien der Geburt nachdenken lässt. “Erst wenn sie (die Frau) dem Tod als Unterpfand ein kleines Stück ihrer Seele überlässt, darf sie die heilige Flamme des Lebens weiterreichen. So lautet der Handel. Das ist der Preis”. Ein Wort, welches gerade Frauen, die schon geboren haben, tief ins Herz trifft und das viele bestätigen werden. Für ein Kind ist die Geburt der Eintritt in die Welt, für die Mutter aber auch der Eintritt in den Kreis der Frauen, die ein uraltes Wissen in sich tragen.

Was mir überhaupt nicht gefallen und die Freude am Buch deutlich geschmälert hat, waren die äußerst ergiebigen Folterszenen. Hexengemetzel aus der fixen Meisterklasse de luxe. Mir war es wirklich mehr als nur den berühmten Tick too much. Denn spätestens nach zwei Seiten Folterei hat man es kapiert. Ja, sie wurde gefoltert. Ja, es war grausam. Spätestens nach vier Seiten genüsslicher Folterei wünschte man sich eine ebenso detaillierte Schilderung darüber, wie man solches Gemetzel überleben kann. Um sich nach glücklicher Rettung auch noch romantischer Gefühle zu erfreuen.

Dafür hat sich Cornelia Haller um einen wichtigen Nebeneffekt verdient gemacht: Das Thema der Inquisition wieder auf den Schild zu heben. Schliesslich leben wir in einer Zeit, in der mit Herrn Ratzinger ein Mann die roten Pantöffelchen trägt, welcher noch vor wenigen Jahren Inquisition als Fortschritt im Rechtsbewusstsein bezeichnete.

Fazit: Trotz einiger Längen und Übertreibungen sind einem am Ende des Buches die Figuren ans Herz gewachsen und man wüsste schon gerne, wie es vor allem mit Luzia und Johannes weitergeht. Das Seelenfeuer, es lodert nicht heiß und ungezähmt, aber als wärmende, gut gemachte Unterhaltung taugt es durchaus.

Seelenfeuer ist das Debüt der Autorin. Die ausgebildete Heilpraktikerin lebt mit Mann und zwei Töchtern am Bodensee.

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Genre: Historischer Roman
Illustrated by Hoffmann und Campe

Geschwisterkinder

GeschwisterkinderMilla und Ritschie sind Geschwister, gemeinsam verlebten sie eine wohl als normal und behütet zu bezeichnende Kindheit. Mittlerweile sind sie in ihren Zwanzigern, leben beide in Berlin, räumlich nicht weit voneinander entfernt und einander doch entfremdet. Es gab keinen greifbaren Anlaß für die Distanz, die zwischen ihnen entstand. Eher war es die Trivialität ihrer Alltage, die beide verstummen ließen und dazu führte, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Was sie noch eint, sind die Erinnerungen an die Zeit, als der große Bruder die kleine Schwester Milla beschützte und ihr den Weg ebnete. Wenn auch jeder von ihnen sich seiner Erinnerungen nicht sicher ist, “wie viele Erinnerungen es geben mochte, die niemals wieder hervorgerufen wurden.”

In ihrer in fünf Abschnitte gegliederten Erzählung Geschwisterkinder berichtet die junge Autorin Hanna Lemke von einer langsamen Wiederannäherung zweier Geschwister im oft flüchtigen Umfeld einer hektischen Großstadt. Der Besuch eines alten Freundes ihrer Familie und die Einladung zu einer Hochzeit von Bekannten sind die Auslöser dafür, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Sie beginnen zu reden, über ihre Gedanken und Gefühle. Über die Zeit, die sie hatten und die Zeit, die vor ihnen liegt. Sie erkennen, dass nicht jede Erinnerung eine glaubwürdige sein muss und sie es verdienen, einander ganz neu kennen zu lernen und ihre erstarrte Beziehung zu beleben. Sich gegenseitig die Angst vor all dem zu nehmen, was sich in ihrem Leben falsch und fremdbestimmt anfühlt. Schließlich wagt der ältere Bruder ein klares, ehrliches Hilfsangebot. Für die nächste Zeit wird er wieder derjenige sein, der die kleine Schwester beschützt und unterstützt auf ihrem Weg zu sich selbst. Auch wenn ihrer beider Leben scheinbar einfach nur seinen Lauf fortsetzt, die Gangart in diesem Lauf wird eine andere sein.

Hanna Lemke legt mit ihrer Erzählung zwei fein gezeichnete Charakterstudien vor. Ihr klarer Bericht zwingt den Leser zur Langsamkeit, dazu jeden ihrer poetischen Sätze so genau und bewusst zu lesen, wie sie auch geschrieben wurden. Hanna Lemke erzählt geschliffen, sie beobachtet genau, fast schon detailverliebt, aber sie wertet nicht. Der Leser mag seine eigenen Schlüsse ziehen. Zwar kommt er den Geschwistern näher, doch so richtig versteht er sie nicht. Zur Identifikation wird er nicht aufgefordert. Er bleibt seltsam distanziert und ein Beobachter aus der Ferne. Man legt das Buch tief beeindruckt aus der Hand, doch richtig begeistert ist man nicht. Das Bemühen der Autorin, die Beziehung der Geschwister auf das Wesentliche zu reduzieren – vielleicht ist es zu radikal. Auch wenn man die Abgründe hinter der Banalität des Lebens spürt, der letzte entscheidende, empathische Funke – mir hat er gefehlt.

Nachwirken werden Hanna Lemkes Sätze. Sätze wie gemalt, fein komponiert. Es sind Sätze, die man sich in die eigene Erinnerung mitnehmen und von denen man sich begleiten lassen kann.

Die gebürtige Wuppertalerin Hanna Lemke studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. 2010 debütierte sie mit dem Kurzgeschichtenband Gesichertes, welcher von der Kritik hoch gelobt wurde. Auch Geschwisterkinder ist in Summe eine lesenswerte Erzählung, die Lust auf mehr von dieser jungen Autorin macht.

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kunstmann München

Ed King

Guterson / Ed King Ed King, der fünfte Roman des amerikanischen Bestseller Autors David Guterson, sorgte in seiner Heimat bereits für reichlich Schlagzeilen. Die Fachzeitschrift Literary Review verlieh ihm den Preis für die schlechteste literarische Beschreibung einer Sex-Szene. Wenn das nicht Erwartungen weckt. Genau wie das Thema des Buches. Ödipus in die Moderne transferiert. Es braucht wohl neben guten Nerven auch eine besondere Form literarischer Obsession, das Wagnis einzugehen, ein Motiv aus der klassischen Antike zu entlehnen. Das Fazit vorab: Es ist Guterson durchweg gelungen, des Königs Drama neu, relevant und glaubwüdig ins 21. Jahrhundert zu übertragen. Schlechter Sex hin oder her.

Gutersons König ist kein Royal per se, sondern sein zeitgenössisches Äquivalent. Ein Milliardär und Hightech-Titan. Ed King ist das Ergebnis einer flüchtigen Affäre zwischen einem verheirateten Mann und einem jungen Au-pair-Mädchen. Auf einer Türschwelle abgelegt, von einem wohlmeinenden, gut situierten Ehepaar adoptiert, mathematisch hochbegabt. Strotzend vor Selbstvertrauen, bar jeden Zweifels nutzt er die Chancen seiner von Technologie besessenen Zeit und steigt auf zum König der Suchmaschinen. Er führt das beste Leben, das man für Geld kaufen kann, “der Wind der Freiheit weht aus seinen Servern“. Und doch bleibt ihm am Ende nur die Frage, was ihm all die technischen Errungenschaften genutzt haben, wenn er vor der Unveränderbarkeit fundamentaler Gewissheiten menschlicher Natur steht.

Ed King ist ein schillerndes Buch. Guterson nimmt den Leser mit auf einen mal traurigen, mal wilden Parforceritt durch die letzten fünfzig Jahre amerikanischer Geschichte. Der Leser kennt zwar den Zielort, doch der Weg dorthin ist wie eine literarische Route voller Sehenswürdigkeiten. Manche Handlung ist arg weit hergeholt, doch die Persönlichkeiten und das Verhalten seiner Figuren sind immer glaubwürdig und dabei sympathisch. So ist Diane, die tragische Mutter und Ehefrau, zwar ein ausgekochtes Rabenaas, aber eins, das man mögen muss. Guterson erzählt von normalen Menschen, die ihr Bestes geben, um sich durch ihr Leben zu kämpfen. Er bündelt seinen Roman aus einzelnen Erzählsträngen, jeder einzelne in Ruhe auserzählt und am Ende eines jeden Kapitels lakonisch zusammengefasst. Seine bisherigen Romane waren oft getragen von einem elegischen, fast melancholischen Ton. Die Prosa in seinem neuen Roman ist gewohnt gestochen scharf, mit elegisch oder melancholisch ist aber größtenteils Schluss. Er erzählt gewinnend gutmütig, ab und an mit dreckigem Humor gewürzt, absichtlich ins Lächerliche abdriftend. Auch wenn er gelegentlich zwar nicht gerade die Moralkeule schwingt, den mahnenden Zeigefinger hebt er durchaus. Es ist schließlich eine Jahrtausende alte Geschichte, eine von denen, die uns sagen, dass man hingehen und Tabus brechen kann, dass man aber den Folgen von Hybris, übermäßiger Arroganz und lang zurückliegender Sünden nie ausweichen kann.

Ob der rasanten Handlung läuft man oft Gefahr, das Buch schneller zu lesen, als ihm gut tut. Man riskiert dabei, etliche klug versteckte Anspielungen – beispielsweise bei der Namensgebung handelnder Personen oder Erfindungen – zu überlesen. So gönnt der Autor sich einen äußerst geschickten Cameo-Effekt in Gestalt von Ed Kings Privat-Piloten Guido Sternvad. Dieser Pilot geht dem Leser mit seinem nicht enden wollenden Spaß an Anagrammen unsäglich auf die Nerven – bis man dahinter kommt, was ein mögliches Anagramm von Guido Sternvad wäre..Man kann nicht anders, als Guterson für diesen geschickten Schachzug zu bewundern. Ausgerechnet der Wegbereiter, von Ed King auch seine persönliche schwarze Nemesis genannt. Solcher Rätsel durchziehen den Roman wie ein roter Faden und machen, auch gerade weil sie reichlich Allgemeinwissen und Kenntnis klassischer Geschichten voraussetzen, einfach Spaß.

Und der bad sex in fiction award? Zugegeben – Sexszenen sind Gutersons Stärke nicht. Mit etwas bösem Willen ließen sich seine hölzernen Umschreibungen auch direkt auf jedes beliebige zu verrichtende Handwerk übertragen. Aber geschenkt. Die Literatur hat schon weit schlechtere Szenen dieser Art hervorgebracht. Auch wenn der Autor den Leser kurz vorher direkt anspricht. “Also gut, wir nähern uns dem Teil der Geschichte, bei dem wir es dem Leser nicht verübeln können, wenn er gleich bis hierher gesprungen ist” und vermutet, dass es wegen voyeuristischer Neugier auf eine Sexszene zwischen Mutter und Sohn sei – weit gefehlt. Die Erwartungshaltung, mit der man an ein Buch zu diesem Thema herangeht, beinhaltet andere Erregungszustände als ausgerechnet solche sexueller Art. Das Interessante, das Gelungene an Ed King ist, wie er dieses Jedem bekannte Motiv in die Moderne überträgt und die Spannung durchweg hält. Die Frechheit und die Chuzpe, mit der der Autor an das vermeintliche übergroße Thema herangeht, sind das halbe Lesevergnügen. Der Autor kommentierte die zweifelhafte Auszeichnung im übrigen mit der Aussage, Ödipus habe schlechten Sex praktisch erfunden. Er sei also nicht im Mindesten überrascht. Umso überraschter dürften etliche auch seiner treuen Leser dafür über sein gewagtes, aber im Großen und Ganzen gelungenes neues Buch sein.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Das geheime Prinzip der Liebe

40096_1_gremillion_bb_web1Ein ungewöhnlicher Brief erreicht die junge Verlegerin Camille in Paris. Ein langer Brief ohne Unterschrift, aber an sie persönlich adressiert. Sie findet ihn unter den Kondolenzschreiben zum Tode der geliebten Mutter. Der Brief drückt kein Beileid aus, er berichtet von den bittersüßen Anfängen einer Geschichte aus längst vergangenen Tagen. Camille glaubt zunächst an eine Verwechslung. Doch sie erhält weitere Briefe, immer pünktlich an einem Dienstag. Ihr Argwohn ist geweckt, möglicherweise hat sie es mit der besonders raffinierten Methode eines Autors zu tun, der ihr auf diese Weise sein Manuskript anbietet. Gegen ihren Willen ist sie von der Geschichte gefesselt. Sie beginnt zu verstehen, dass “Geheimnisse doch nicht mit denen sterben, die sie getragen haben”. Lange wehrt sie sich gegen den in ihr aufkeimenden Verdacht, sie selbst könne weit mehr mit der Geschichte zu tun haben, als ihr lieb ist. Nur zaghaft beginnt Camille, den verschlüsselten Hinweisen in den Briefen zu folgen.

Die Briefe schreibt ein geheimnisvoller Louis, er erzählt die Geschichte einer fatalen Frauenfreundschaft. Er erzählt von seiner Lebensliebe Annie, einer jungen, begabten Malerin, mit der er gemeinsam in einem kleinen Dorf unweit von Paris aufwächst. Annie freundet sich mit Elisabeth, auch Madame M. genannt, an. Eine weltgewandte Dame, die kurz vor Ausbruch des 2.Weltkrieges mit ihrem Ehemann das Herrenhaus im kleinen Dorf bezieht. Madame M. erkennt das Talent der jungen Annie. Sie wird ihre Mäzenin und stellt ihr im Herrenhaus ein “Zimmer ohne Wände” zur Verfügung. Die Gönnerin ist eine unglückliche Frau, ihr sehnlichster Wunsch – ein Kind – bleibt ihr verwehrt. Noch dazu treibt sie ihr gesellschaftliches Umfeld zur Verzweiflung. “Macht Kinder! Die Verluste von 1914 müssen ausgeglichen werden.” Es ist Annie, die der von ihr verehrten Madame M. einen Ausweg bietet und sich aus Dankbarkeit bereit erklärt, ein Kind für sie zu empfangen und auszutragen. Doch “Irrtümer beruhen oft auf Überzeugungen” und was als Freundschaftsdienst entstand, entwickelt sich bald nicht mehr zur geheimen Kraft der Liebe, sondern zu ihrer zerstörerischen. Vor dem Hintergrund des erbarmungslosen Weltkriegs beginnt eine ebenso erbarmungslos geführte private Schlacht, ausgetragen um ein infames Konstrukt aus Lüge, Hass, Rivalität und Manipulation, welches seine grausamen Kreise bis in Camilles Gegenwart zieht.

Das “geheime Prinzip der Liebe” ist ein Roman, der auch von unvorhersehbaren Wendungen und Erkenntnissen lebt, die dem Leser erst Schritt für Schritt klar werden. Die manchmal groteske, aber immer realistisch anmutende Geschichte wird von gleich vier Ich-Erzählern entschlüsselt. Erst ganz zum Schluss meint man, wirklich alle Zusammenhänge verstanden zu haben. Vorausgesetzt, die eigene Phantasie hat einem keinen Streich gespielt. Somit eins der Bücher, über die man vorab nicht mehr als oben getan verraten möchte, um seine sorgsam komponierte Wirkung nicht zu schmälern. Es ist ein beeindruckender, manchmal bedrückender, manchmal berückender Roman, den die Französin Hélène Grémillon als ihr Debüt vorlegt. In Frankreich ist das Buch bereits ein Bestseller, in Deutschland soeben erschienen schickt es sich an, in mehr als 20 Sprachen übersetzt zu werden und die geheime Kraft des Buches global zu entfalten. Der Roman beginnt vorsichtig, fast zart, um bis zu einem leichten Aufatmen am Schluss den Leser zunehmend in den düsteren Bann eines verhängnisvollen Dramas zu ziehen. Mit einer eleganten, aber nicht charmanten Sprache spielt die Autorin eindringlich mit dem Grundgedanken der Ambivalenz. Sie führt dem Leser erschreckend klar vor Augen, dass Schuld und Sühne, Opfer und Täter nur zwei Seiten einer Medaille sind. “Es sind nicht die anderen, die uns die schlimmsten Enttäuschungen bereiten, sondern der Zusammenprall der Wirklichkeit mit unserer überschwänglichen Phantasie.” Die Charaktere sind überzeugend gezeichnet, mit fortschreitender Handlung ändert sich das Bild, dass der Leser von ihnen hat. Alleine dadurch, dass sie ihr Handeln erklären, wandeln sich die empfundenen Sympathien und Antipathien fast mit jedem neuen Kapitel. Das andere, große Thema der Autorin ist die Lüge, genauer die Lebenslüge. Eine Lebenslüge, die sich fortsetzt und nie “zu einer unverrückbaren und über jeden Verdacht erhabenen, endgültigen Wahrheit” wurde. Eine Lüge, deren zerstörerische Kraft nur dann aufgehalten werden kann, wenn irgendwann der Erste den Mut aufbringt, sie zu beenden.

Fazit: Wer sich gerne überraschen lässt, wer gerne eigene Theorien –zur Geschichte und den Leitmotiven- immer wieder umstößt und neu überdenkt, ist mit diesem Buch bestens beraten. Zum Schluss eine Warnung: Es besteht große Suchtgefahr. Jedem, der dieses Buch zur Hand nimmt, sollte klar sein, dass es die geheime Kraft des Buches ist, es kaum mehr aus der Hand legen zu können. Die Autorin versteht es meisterlich, den Leser in den Bann ihrer Geschichte zu ziehen. Mit Sicherheit kann man schon jetzt sagen, dass mit dem “geheimen Prinzip der Liebe” eines der beachtlichsten Debüts des Jahres vorliegt.

Die Autorin: Die studierte Literaturwissenschaftlerin Hélène Grémillon hat sich in Frankreich bisher vor allem als Drehbuchautorin einen Namen gemacht, was der sorgsam komponierten Dramaturgie des Buches zugute gekommen sein dürfte. Im Poitou geboren, lebt sie heute mit dem Sänger Julien Clerc und ihrem Sohn in Paris. In Frankreich wurde sie für ihr Debüt mit dem Prix Robles ausgezeichnet

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Wer reinkommt, ist drin

VerenaCarlMünchen in den 90er Jahren. WG-Küchen, Boots zum Mini-Rock, die erste E-Mail Adresse, Szene-Clubs und die berüchtigten
harten Türen – wer reinkam, war drin.
“Wer reinkommt, ist drin” war einst titelgebend für die allererste Folge der unvergessenen Fernsehserie Kir-Royal, nun ist es der Titel von Verena Carls neuem Roman. Passt prima, spiegelt auch ihr Buch das mitunter absurde Leben in der Münchner Lifestyle-Gesellschaft. Die Autorin nimmt uns mit auf eine Zeitreise in die 90er, dem möglicherweise letzten Jahrzehnt der Sorglosigkeit und wirtschaftlicher Unbekümmertheit. In eine Zeit, als ein schlichtes “Wir gehen bald online” auch harte Türen öffnen konnte. Verena Carl entwirft ihr Panorama der 90er mit Hilfe zweier ganz unterschiedlicher Frauen, beide Mitte Zwanzig und auf der Suche nach einem möglichst anspruchsvollem Platz im Leben, am liebsten in der medialen Avantgarde jener Tage.

Zuerst lernen wir Ulli kennen, Tochter aus gutem pfälzischen Gastronomen-Haus, eine Land-Pomeranze wie aus dem Bilderbuch. Sponsered by Daddy, inklusive Kleinwagen und erstem PC macht sie sich auf zum Studium in die Weltstadt München und findet sich aus purem Zufall in einer WG wieder mit Johanna, genannt Jo. Jo, die weiß, was und wie es geht, Scheidungskind, dafür mit hippen Eltern. Jo, die das Wort Generation Praktikum erfunden haben könnte, trotzdem aber unbeirrt an ihre große, glamouröse Medienkarriere glaubt. Die beiden Frauen haben zunächst wenig gemeinsam, verbindende Konstante, besser Nicht-Konstante ist Sascha. Sascha kommt aus dem Osten, was ihm aber allenfalls eine interessante exotische Note verleiht – mit der Politik haben es weder Ulli noch Jo so, auch wenn man sich gerne abgeklärt gibt. Ulli begehrt Sascha, dieser wiederum Jo, diese weiß nicht so recht. Eigentlich ist es ihr lieber, nicht nur von Praktikum zu Praktikum zu hüpfen, sondern auch von Mann zu Mann. Im Zuge der beginnenden New Economy stolpern dann allerdings erst Ulli und dann der eigentlich gar nicht ehrgeizige Sascha die Karriereleiter hoch, während Jo…… “München, diese Glücksversprechungsmaschine, dieser einarmige Bandit mit den bunten Knöpfen. Was hatten sie da alles hineingeworfen, Jo und sie. Aber nie war herausgefallen, was sie sich gewünscht hatten in diesem lang vergangenen Sommer.” Denn dann kommt alles anders und zweitens, als man denkt. Der Roman lebt von den unterschiedlichen Figuren, deren Geschichten sich nicht im Seichten verlieren, sondern durchaus auch Brüche durchleben und die sich überraschend und geschickt konträr, aber dennoch aufeinander zu entwickeln.

Verena Carl erzählt leicht und locker, ohne ins allzu Seichte oder Kitschige abzurutschen. Gerne erinnert man sich mit ihr an die vielen Attribute jener Epoche und schwelgt für eine kurze Zeit wieder im damaligen Gefühl der Leichtigkeit des Seins. Schnell erkennt man aber auch die Geschichten wieder, die klarmachen, wie zerbrechlich Lebensträume sind, und wie oft eine Chance nur durch den Zufall bestimmt wird. Der Buch ist sehr auf die persönliche Ebene seiner Figuren ausgerichtet, es ist ganz sicher kein politisch motiviertes. Und dennoch – ist es nicht gerade das Fehlen der politischen Diskussionen und Intentionen, die entlarvend sind für diese Zeit? Gerade heute kommt man bei der Lektüre nicht umhin, sich zu fragen, ob vieles von dem Chaos, der Nicht-Bereitschaft zu Verantwortung nicht auch in diesen schaumschlagenden 90er Jahren begründet liegt.
Fazit: Ungeachtet dieser Gedanken sei “Wer reinkommt, ist drin” denjenigen empfohlen, die sich gerne noch mal an die 90er erinnern mögen, die gerne gut erzählte Lebensgeschichten lesen und die ein längst vergangenes Lebensgefühl noch einmal aufleben lassen möchten.

Die Autorin: Für die entworfenen Lebensläufe von Ulli und Jo hat Verena Carl Anleihen bei sich selbst getätigt. Die gebürtige Freiburgerin ging fürs Studium nach München, über die in den damals ganz neu aufkommenden, bis heute beliebten Poetry Slams kam sie zum Schreiben und lebt heute als freie Autorin und Journalistin in Hamburg. Sie absolvierte die Berliner Script Akademie, was dem Buch im Übrigen auch durchaus anzumerken ist. Dürfte sich prima als Drehbuch-Vorlage eignen. Da die Geschichte gerade auch für Akteure jedweden Medienzirkus sentimentale Erinnerungen an verschwenderischere Zeiten birgt, ist die Prognose, Ulli und Jo demnächst wenigstens im Fernsehfilm der Woche agieren zu sehen, wohl nicht allzu gewagt.
Mehr über die Autorin auf ihrer Homepage der schönen Worte.

Kleine Anmerkung zum Schluss:
“Wer reinkommt, ist drin” ist eins der ersten Bücher, welches der Eichborn-Verlag in seinem neuen Zuhause unter dem Bastei Lübbe Dach herausgebracht hat. Bastei Lübbe hatte versprochen, den Stil des “frechen Verlages mit der Fliege” beizubehalten. Der Anfang ist gemacht, hier stelle ich erfreut fest, ein typisches Eichborn-Buch in den Händen zu halten. Wenn es was zu meckern gibt, dann allenfalls am ziemlich pinken Cover. Hätte ich es so in der Buchhandlung gesehen, ohne vorher etwas darüber zu wissen, ich wäre daran vorbei gegangen. Fälschlicherweise in die Sorte Frauenlektüre eingeordnet, die ich nicht lese. Das ursprüngliche geplante Cover, noch auf der Webseite des Eichborn Verlags zu sehen, gefällt mir schon alleine wegen des im Buch so oft erwähnten Tulpenvorhangs wesentlich besser. Aber wie gesagt – wenn mehr nicht zu meckern ist – ist das Buch gut.

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Genre: Romane
Illustrated by Eichborn Verlag

Sommerfest

Sommerfest/ GoosenDa steht er nun. Der Wahl-Münchner Stefan auf dem Sommerfest seines alten Bochumer Fußballclubs, die Tulpe mit frisch gezapftem “Pilsken” in der Hand, ein Lokalderby im Blickfeld, im Kreise alter Freunde und Wegbereiter. Stefan, gebürtiger Bochumer und leidlich begabter Schauspieler, hat sich vor 10 Jahren gegen Halden und für die Alpen entschieden. Dummerweise wurde sein Theater-Engagement nicht verlängert, man hat wohl gemerkt, dass seine Kunst mehr leidlich denn begabt ist. Seine Beziehung zu Schauspielkollegin Anka hat auch schon bessere Zeiten gesehen und der einzig greifbare Strohhalm ist ein Casting-Termin für eine neue Vorabendserie. Just in dieser Phase seines Lebens verabschiedet sich Onkel Hermann von der Welt. Onkel Hermann hat in Bochum die Stellung im alten Bergarbeiter-Reihenhäuschen von Stefans viel zu früh verstorbenen Eltern gehalten. Stefan bleibt nichts anderes übrig, er muss tief in den Westen, wenigstens für ein Wochenende, um den Verkauf seines Elternhauses in die Wege zu leiten. “Vor manchen Dingen kann man sich nicht drücken, das hat er gelernt, das hat ihm sein Vater klargemacht, da muss man einfach durch. Schnell rein, schnell raus, keine Gefangenen. Das war der Plan.” Nur einige wenige Leute, die es verdienen, will er treffen. Allen voran natürlich die geliebte Omma Luise, den alten Kumpel Frank und dessen noch immer verwirrend schöne Frau Karin, auch ein Besuch inne Bude vonne Tante Änne sollte drin sein. Zu allem Überfluss ist es das Wochenende der Sommerfeste. Nicht nur bei seiner alten Spielvereinigung wird gefeiert, es ist auch noch das Wochenende des größten Sommerfestes, dass der Pott je zelebriert hat. 60 km Tische und Aktionen auf der A 40, dem berüchtigten Ruhrschleichweg. Es ist das Wochenende vor der LoveParade, als das Ruhrgebiet noch trunken von seiner Kulturhauptstadtwichtigkeit war. Da Stefan jetzt schon mal da ist, muss er natürlich auch auf der Autobahn mitfeiern. Nicht, dass die alten Freunde denken, er hielte sich für was Besseres. Denn im Pott kann man “sich nämlich einiges zuschulden kommen lassen, aber sich für was Besseres halten, das ging nun gar nicht.” Und so wird dieses Heimatwochenende für Stefan zur Tour de Ruhr, zum Wiedersehen mit alten Freunden und Feinden und nicht zuletzt mit seiner unvergessenen Sandkastenliebe Charlie, der Tochter des “masurischen Hammers”, Kirmes-Preisboxer und lokale Berühmtheit. Charlie, die sich verändert hat und doch wieder nicht. Charlie, die immer schon wusste, was gut für ihn ist und die ihm auch heute noch seinen Weg zeigen könnte, wenn Stefan sie nur mal lassen würde.

Da sind wir nun. Der neue Goosen ist raus. Seit Wochen schon kloppen sich die Menschen im Ruhrgebiet um die letzten, vereinzelten Restkarten für seine Lesereise, in den lokalen Medien ist er omnipräsent, bei West-Art erleichtert der Autor höchstselbst die Recherche, indem er bestätigt, dass Sommerfest das erste Goosen Buch ist, in dem die Stadt Bochum explizit als Ort des Geschehens genannt wird. Und? Hält der Titel, was er verspricht? Von mir ein klares Ja. Der Titel ist das Programm. Sommerfest ist auch ein Fest für den Leser. Ein Fest, bei dem das Leben und die Freundschaft gefeiert werden, ein Fest, auf dem aber auch ernste und melancholische Gedanken ihren Platz haben. Heimat und der Platz, den man im Leben inne hat oder gerne hätte, die wiederkehrenden Themen des Frank Goosen. Ging es in seinen ersten Romanen noch ums Erwachsenwerden, sind es wie in “So viel Zeit” nun auch in “Sommerfest” die Weichenstellungen und Korrekturen, die der FortySomething noch vornehmen kann.”Einmal falsch abgebogen und dafür ewig und drei Tage auf die Fresse gekriegt” – das muss ja nicht unbedingt so bleiben. Was unbedingt so bleiben sollte und was zu bewahren Goosen ein erklärtes Anliegen ist, sind “die bedrohte, schützenswerte Sprache” und die Geschichten des Ruhrgebiets. “Man müsste all die schönen Geschichten mal aufschreiben, die Storys, die auf der Strasse liegen und die man nur aufheben muss”. So wünscht es sich Omma Luise im Buch. Genau das ist es, was Frank Goosen tut. Er schreibt nicht nur die Chronik der schönen Geschichten, er bewahrt uns Ruhrgebietlern auch all die schönen Wörter wie Killefit oder Klümpchen, “Wörter, die schon in Köln keiner mehr versteht.” Nebenbei haucht er den alten Sprüchen, die nicht nur er seiner Omma verdankt, neues Leben ein. Und sei es auf den Souvenirs zum A 40 Event, worüber er seine Hauptfigur Stefan selbstironisch den Kopf schütteln lässt, denn sowas sei ja eigentlich “der Gipfel der Albernheit”.

Fazit: Auch in Sommerfest bleibt Goosen sich selber treu, ohne auf der Stelle zu treten. Sein Stil ist unverwechselbar, er wird mit jedem Buch allerdings klarer, behält seine Ironie und verliert an Lakonie, was seiner Intention durchaus zugute kommt. Einen Extrapunkt dafür, wie geschickt Goosen seine Figur Stefan nutzt, um die im Ruhrgebiet beliebte Sitte, das Gestern zu verkommerzialisieren oder zu “vergotten”, durchaus differenziert zu beleuchten. Sommerfest ist aber beileibe kein Buch, welches sich nur für hartgesottene Ruhrgebietler empfiehlt. Goosens Blick auf die Welt ist zwar vom Pott geprägt, aber seine Sicht der Dinge ist über lokale Grenzen und nebenbei bemerkt auch über Altersgrenzen hinaus lesenswert.

Der Autor: Frank Goosen, Jahrgang 1966, lebt in seiner Heimatstadt Bochum, aus der es ihn nicht einmal fürs Studium fortzog. Beliebt und bekannt wurde er im Ruhrgebiet mit dem Kneipen Literaturkabarett “Tresenlesen”, seit 1995 ist Goosen Gründungsmitglied und Vorstand des PrinzRegent Theaters in Bochum. 2001 erschien mit “Liegen lernen” sein erstes Buch, welches ihn verdient über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus bekannt machte. Es folgten weitere Romane, Kurzgeschichten und natürlich Kolumnen in den einschlägigen Fußball-Magazinen, Herzenssache für den fußballverrückten stellvertetenden Aufsichtsrat des VFL Bochum. Mit Lesungen seiner Bücher, aber auch mit eigenen kabarettistischen Programmen tourt Frank Goosen regelmäßig. Wem es gelingt, eine Karte zu ergattern, seien seine Vorstellungen ans Herz gelegt. Der gelernte Tresenleser hat nichts verlernt, treffsichere Spitzen sowie seine Begabung für spontane Repliken machen solche Abende zuverlässig zum Erlebnis.

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Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Wie man erfolgreich E-Books verkauft


Kindle E-Book-Marketing Titel
In seinem neuen Werk veröffentlicht Wilhelm Ruprecht Frieling exclusive Interviews mit E-Book Autoren, die es geschafft haben. Es geschafft haben, sich abseits oft eingefahrener Verlagswege und aus eigener Kraft in die Kindle-Bestsellerlisten zu schreiben. Die Autoren plaudern aus ihrer Schatzkiste, geben Tipps und verraten Tricks, verhehlen aber auch nicht, wieviel eiserner Wille und Herzblut für diesen steinigen Weg nötig ist. Frieling -selbst einer der erfolgreichsten deutschen E-Book-Seller- weiß, wovon seine Interview-Partner sprechen. Er ist bei seiner stetig wachsenden Fangemeinde nicht nur als eloquenter Erzähler, sondern auch als begabter Zuhörer mit dem speziellem Talent des “zwischen den Zeilen lesen und hören” beliebt und berüchtigt. Frieling war sein Leben lang ein Pionier und so nimmt es nicht weiter Wunder, dass er sich binnen eines Dreivierteljahres auch einen exzellenten Ruf als Vorreiter der E-Book-Szene erarbeitet hat. In Summe nur folgerichtig, dass dieser in der Verlagsszene durchaus gefürchtete Querdenker nun das hier vorliegende Interview- und Ratgeber-Buch herausgegeben hat. Welches im Übrigen nicht als statisches Werk angelegt ist, sondern als Fortsetzungsgeschichte. Im Laufe der Entwicklung sollen weitere Autoren interviewt werden, um so eine umfassende Dokumentation der Erfolgsgeschichte deutschsprachiger Kindle-Autoren entstehen zu lassen. Frieling interviewt Autoren quer durch alle Genres. So erklärt Fantasy Autor Michael Erle seine Einschätzung und Nutzung sozialer Netzwerke, Dirk Bongardt, Verfasser der erfolgreichen Al Wolfson Chroniken, erklärt, warum zielgruppenorientiertes Schreiben zum Erfolg führt und Krimi Autorin Birgit Böckli gibt ehrlich zu, einen Teil ihres Erfolges auch an den im Kindle Segment möglichen Kampfpreisen auszumachen.  Nicht alle Interviewpartner sind so en Detail auskunfsfreudig. Manche plaudern freundlich, bleiben aber wie Matthias Matting, die Nr.1 unter den Kindle Autoren, in Sachen Tipps doch recht zugeknöpft und lassen allenfalls erahnen, warum auch in Sachen E-Book Marketing Apple als Vorbild taugt. Der “NullPapier”Verleger Jürgen Schulze, der sich auf die Aufbereitung und Herausgabe gemeinfreier Schriften (Grimms Märchen) spezialisiert hat, bringt es als Essenz pragmatisch auf den Punkt.”Pioniergewinne einstreichen, investieren, Rationalisierungspotenziale suchen und offen für Neues sein”. Wie ein roter Faden zieht sich aber auch die Erkenntnis von Emily Bold, Verfasserin historischer Liebesromane, durch die Interviews: Self-Publishing ist ein Vollzeitjob. Fast alle können ein Lied von nächtlicher Heimarbeit singen, fast alle verweisen auf die Knochenarbeit abseits ihrer eigentlichen Berufung, nicht wenige wünschen sich eine professionellere Betreuung. Es bleibt spannend, wieviel Bewegung diesbezüglich noch in die Verlagsszene kommen wird. Jedem designierten E-Book-Autor sei Frielings Interview Band ans Herz gelegt. Er findet dort wichtige Tipps, durchaus aber auch so manches, worüber sich nachzudenken lohnt. Denn vor den Erfolg hat der liebe Gott auch bei Kindle  Schweiß und Fleiß gesetzt.

Frieling ergänzt den Band mit einer ausführlichen Schilderung der Techniken des  US-Erfolgsschriftstellers John Locke, welcher mit zielgerichtetem Marketing 1.100.000 E-Books in fünf Monaten verkaufte und allen künftigen E-Book-Autoren den klugen Rat mit auf den Weg gab: Wer Dein Buch nicht mag, gehört nicht zu Deiner Zielgruppe.

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Genre: Ratgeber
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin, Unbekannter Verlag

Familienbande

Familienbande
“Dein Vater wird auch dann noch am Leben sein, wenn längst niemand mehr weiß, dass es Nachkommen von ihm gegeben hat.” *1 Diesen Satz sagt die Mutter nach dem Tod des Vaters zu ihrem jüngsten Sohn Michael. Sie meint das nicht böse, sie sagt es nicht im Streit. Das ist eben ihre Sicht der Dinge, ihre Sicht auf die Bande, die ihre Familie umschlingen. Die Mutter ist Katia Mann und der Vater, das ist Thomas Mann, der Zauberer. Kaum eine Familiengeschichte ist so umfassend dokumentiert wie die der Manns. Doch im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit stand stets der Zauberer selbst, allenfalls die Söhne Klaus und Golo und die Tochter Erika erfuhren relevantes Interesse.Über den jüngsten Sohn, Michael, liest man meist nur eine Randnotiz wie “Michael ist Musiker und hat ein Programm vorzubereiten.” *2
Michael Degen erzählt in seinem Roman Familienbande von Michaels Leben, seiner zerrissenen Persönlichkeit, seiner Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe im kalten Umfeld einer intellektuellen Familie. Michael war von den sechs Kindern Thomas Manns das ungewollte, das ungeliebte Kind. Ein Kind, dem der große Schriftsteller mit Distanz, zeitweise mit Verachtung und Ekel begegnete. Die Mutter stellte ihren Gatten und sein Ausnahmetalent über alles, auch über ihre Kinder. Michael, Bibi genannt, ist als Kind schon schwierig, früh zeigt sich ein Hang zur jähzornigen Gewalttätigkeit. .Seine Frau Gret, Gefährtin seit Jugendtagen, wird die Einzige sein, der es gelingt, ihn halbwegs in der Spur des Lebens zu halten. In den Kriegsjahren, als die Familie in alle Winde zerstreut wird, erblüht Michael Manns Liebe und Talent zur Musik. Er wird zu einem der besten Bratschisten des letzten Jahrhunderts. Gemeinsam mit Yaltah Menuhin gibt er umjubelte Konzert auf ausgedehnten Tourneen. Doch es reicht nie. Der Vater verweigert die Anerkennung. Ein Musiker sei lediglich reproduzierender Künstler, keiner, der etwas erschaffe. Bis zum Lebensende Thomas Manns schaffen es Vater und Sohn gerade eben, ein Arbeitsverhältnis zu haben, als Thomas Mann Hilfestellung Michaels zum Dr. Faustus annimmt. Michaels ältester Sohn, Frido wird hingegen vom Großvater mit Liebe überschüttet, “für dieses junge Leben trägt er Segenswünsche im alten Herzen” *3
Auch dies löst in Michael Mann äußerst ambivalente Gefühle aus, welche seine eigene kleine Familie zu zerstören drohen. Nach dem Tode des Vaters bricht Michael jäh mit seiner bisherigen Karriere und beginnt eine zweite als Germanist. Auf Bitten der Mutter gibt er schliesslich die unveröffentlichten Tagebücher des Vaters heraus. Doch mit dem, was er darin über sich selbst lesen muss, wird er zeitlebens nicht fertig werden können. Wie Klaus hat auch Michael einen Hang zur Selbstzerstörung, schließlich stirbt auch er in einem Exzess aus Alkohol und Drogen.

Michael Degen ist ein großartiger Roman von bemerkenswerter Dichte gelungen. Man merkt an jeder Stelle des Romans, wie sehr dem Autor Sprache am Herzen liegt und wie virtuos er damit umzugehen versteht. Er beschönigt nichts, er wirbt auch nicht um Verständnis, er erklärt. Doch dem Leser sind die Charaktere stets nah. Darin liegt eine große Stärke dieses Buches. Ganz sicher ist es auch ein großer Verdienst des Autors, das Schicksal Michael Manns aus einer Ecke herausgeholt zu haben, in die es nicht gehörte und Dinge zu beleuchten, die bisher kein großes Interesse fanden. So war mir neu, dass Michael Mann gemeinsam mit Yaltah Menuhin konzertierte. Diese Tatsache alleine ist schon so interessant, dass ich mich ernsthaft frage, warum dies niemand bisher eines Romans für würdig befunden hat. Der Sohn eines berühmten Vaters, die Schwester eines berühmten Bruders – “wir haben beide unser Päckchen zu tragen”. So lässt es Michael Degen die schöne Geigerin sagen. Welch ein Thema. Zwei hochbegabte Künstler, gefeiert, aber nie aus dem übermächtigen Schatten der berühmten Verwandschaft heraustreten könnend. Sie werden bejubelt auf ihren Reisen, doch in den Behelfs-Schaufenstern der Nachkriegszeit hängen nur Plakate des Zauberers.

Dennoch – Familienbande ist ein Roman. Keine Biographie.Ich bin hinlänglich, aber nicht in allen Details mit der Geschichte der Familie Mann vertraut und bin mir nicht sicher, was in diesem Roman Fiktion und was wirklich so geschehen ist. Degen belegt zwar seine Zitate, verweist im Roman selbst auch auf verschiedene Quellen, aber ich hätte es schon gerne etwas genauer gehabt. Ich wüsste gerne, ob Katia Mann den eingangs erwähnten Satz wirklich so gesagt hat. Auch erschien mir die Person Gret Mosers zu verklärt. In Interviews mit Frido Mann liest sich das signifikant anders. Darüber hinaus hat mich irritiert, dass die Adoptivtochter von Gret und Michael, Raju, Degen nicht eine einzige Erwähnung wert war.

Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen ist Familienbande ein tief berührender, aber auch verstörender Roman, der auch abseits der Thomas-Mann-Gemeinde sein Publikum finden sollte. Er zeigt eindrücklich, was Familienbande lebenslang unabänderlich anrichten können Man ist versucht, während der Lektüre zu seinen Kindern zu gehen und zu fragen: Ihr wisst schon, dass ich Euch lieb habe und stolz auf Euch bin?

Der Autor: Michael Degen ist einer der renommiertesten Schauspieler Deutschlands. Seit seiner Autobiographie “Nicht alle waren Mörder” ist er auch als Schriftsteller überaus anerkannt. Als Schauspieler ist er mir vor allem erinnerlich als Meister der leisen Töne und genau diese sind es auch, welche die Familienbande so lesenswert machen.

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Quellenangabe: 
*1 S.461, Familienbande
*2 aus Heinrich Breloer, die Manns
*3 aus Briefwechsel Thomas Mann/ Agnes Meyer


 


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit Henry Ingram verdient sein Brot im London unserer Tage mehr schlecht als recht mit der Schauspielerei. Nach langer Durststrecke bekommt er endlich ein ordentliches Engagement. Er gibt den Captain Macheath in der “Bettleroper”, zu der schon Brecht anmerkte, dass sie richtig “des Bettlers Oper” heißen müsse. Die Premiere ist umjubelt, doch dann verlässt ihn sein Glück. Am Tag nach der Premierenfeier wacht er reichlich verkatert im verlotterten Keller von “Mother Blake’s Gin Shop ” auf. An viel kann er sich nicht erinnern. Irgendetwas war da mit einer Eisenstange, mit Blut und mit leidenschaftlichen Küssen seiner Freundin, die nur dummerweise nicht ihm galten. Als er noch benommen auf die Straße tritt, ist seine Verwirrung komplett. Er steht nicht zwischen Wolkenkratzern, sondern zwischen windschiefen Häusern auf einer kopfsteingepflasterten Strasse, er hat zwar noch sein Smartphone, aber kein Netz. Und die ihn umgebenden Menschen sehen mit ihren Perücken, ihren Miedern und Kniebundhosen auch nicht so aus, als ob sie gerade die News of the World in den Orbit twittern würden. Dummerweise ist auch die Suche nach der versteckten Kamera gänzlich erfolglos, dafür darf Henry sogleich eine rühmliche Rolle bei der Befreiung von Londons berühmtesten Dieb Jack Sheppard spielen. Als Hirngespinst haben Zeitreisen sicher etwas unbestreitbar Reizvolles. Henry aber, plötzlich ins London des Jahres 1724 versetzt, hat mit Gefahren zu kämpfen, aus denen ihn mehr als einmal nur sein schauspielerisches Talent zu retten vermag. Plötzlich findet er sich inmitten von Macheath’ Umfeld wieder, er gehört zur Bande von Sheppard, arrangiert sich notgedrungen mit dem Gauner Blueskin, verliebt sich in die Hure Bess und wird ins berüchtigte Irrenhaus Bethlem Royal eingewiesen. Schließlich lernt er gar die Schöpfer der Bettleroper kennen, nicht ohne ihnen seinen Captain Macheath ans Herz zu legen, damit dessen Rolle auch ja eine bedeutende werden wird. Sein Schicksal verwebt sich immer mehr mit der Handlung der Bettleroper, ein Ausweg scheint ungewiss…..

“Gegen alle Zeit ” ist ein gewagter Genre Mix aus historischem Roman, Krimi, Fiktion und Milieustudie, gewürzt mit ein wenig Romantik und einem guten Sinn für Situationskomik, insbesondere wenn Henrys Verständnis der Welt und seine ungewohnte Situation kollidieren. Der Roman spielt in den heruntergekommenen Vierteln Londons, seine Helden sind die gewitzten Diebe und die durchtriebenen Huren jener Zeit. Die Geschichte entwickelt sich rasant, Atempausen sind dem Leser nur vergönnt, wenn die Erzählperspektive wechselt. Der Leser erlebt das Geschehen meist aus der Sicht Henrys, einige Kapitel sind jedoch aus der Sicht anderer Protagonisten erzählt, was einem besseren Verständnis durchaus dienlich ist. Der Roman ist nicht nur sorgfältig recherchiert und von Anfang bis Ende gut durchdacht konzipiert, sondern auch atmosphärisch überzeugend. Als Leser fühlt man sich zurückversetzt in ein dreckiges, lautes und verruchtes London des frühen 18. Jahrhunderts. Die grundlegenden Zusammenhänge sind schnell durchschaut, doch sich entwickelnde Widersprüche führen dazu, dass man selbst als mit dem Hintergrund der Bettleroper vertrauter Leser nicht immer weiß, wo die Historie aufhört und Fiktion anfängt. Die vorherrschende Sorgfalt wird unterstrichen durch die sehr ansprechende Gestaltung des Buches. Großartige, teils ganzseitige Illustrationen von Tina Dreher untermalen die Handlung trefflich, darüberhinaus finden sich in den Klappendeckeln Stadtschnitte und Pläne der britischen Hauptstadt des 18. Jahrhunderts.

Der Autor: Hinter dem Pseudonym Tom Finnek steht der im Westfälischen recht bekannte Autor Herbert “Mani” Beckmann, der sich mit münsterländischen Krimis und der historischen Moor Trilogie aus dem Book on Demand Bereich heraus bereits einen Bekanntheitsgrad erarbeitet hat. Sein Pseudonym setzt sich aus den Vornamen seiner Söhne zusammen und soll einen Leserkreis über lokale Verbindungen hinaus ansprechen. Gegen alle Zeit ist bereits der zweite historische Roman unter dem Namen Tom Finnek. Der erste “Unter der Asche” spielt ebenfalls im historischen London, im ausgehenden 17. Jahrhundert. Der dritte ist in Arbeit und soll die London-Trilogie abschließen. Für die große Fangemeinde historischer Romane dürfte Tom Finnek dank seiner detailgetreuen, aber rasanten Erzählweise eine echte Bereicherung sein.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Historischer Roman
Illustrated by Ehrenwirth München

Die gelben Augen der Krokodile

Pancol_KDie_gelben_Augen_der_Krokodile_111265Es ist schon einige Zeit her, dass ein Bericht im Sonntags-Feuilleton über eine französische Neuentdeckung und eine nicht nur in Frankreich Erfolge feiernde Trilogie meine spontane Neugier weckte. Die Rede war von einem fein gezeichneten, mitreißenden Familienroman, einem echten Schmöker – genau das, was ich zu gerne lese und was mir allzu oft als übersteigerte, intellektuelle Selbstbeweihräucherung oder als Kitsch pur serviert wird. Zum Ende des Bücherjahres 2011 ist es soweit. Teil eins der Trilogie ist übersetzt und enttäuschte mich nicht. Auch in Deutschland kann man sich nun mit den gelben Augen der Krokodile in eine französische Sippe verlieben. 

Witzig und anrührend erzählt die Autorin Katherine Pancol ein modernes Märchen über eine Pariser Familie. Im Mittelpunkt stehen zwei Schwestern, die schöne Iris und die komplexbeladene Josephine. Iris mit den vorstellbar blauesten Augen der Welt wird zwar von einem zwanghaften Geltungsbedürfnis getrieben, hat aber weder Lust noch Disziplin, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Josephine, frisch verlassen von ihrem nichtsnutzigen Ehemann, der mit einer Jüngeren skurrilen Selbstverwirklichungsideen hinterher jagt, ist Historikerin am Küchentisch, Expertin für das 12. Jahrhundert und schlägt tapfer die Alltagsschlachten einer alleinerziehenden Mutter. Die Geschichte der Schwestern dreht sich um einen Roman im Roman. Iris behauptet auf einer Soiree aus einer Laune heraus, einen Roman über das 12. Jahrhundert in Arbeit zu haben und kommt aus der Nummer nicht mehr heraus. Josephines Geldsorgen lassen sie ein unmoralisches Angebot ihrer Schwester annehmen. Sie schreibt den Roman, Iris veröffentlicht ihn unter ihrem Namen und vermarktet ihn erfolgreich nach allen Regeln medialer Kunst. Für Josephine ist das Schreiben zunächst nur ein Mittel zum Zweck, doch ihre neu entdeckte Kreativität verändert sie. Sie wird selbstbewusster, aufbegehrender, verliebt sich sogar und bekommt ihr Leben in den Griff. Iris aber erkennt im Strudel der nachfolgenden Ereignisse, dass es für sie schon zu spät könnte, um aus ihrem Leben mehr als eine Farce zu machen.

In diese Kernhandlung sind diverse Nebenhandlungen eingeflochten, nach und nach werden immer mehr Figuren und ihre Geschichten eingeführt  Ein gewagtes Unterfangen, doch dank der leichten, aber klaren Sprache der Autorin verliert der Leser nie den Überblick über die ganze Sippschaft und ihren eigenwilligen Dunstkreis. Katherine Pancol nutzt die Aschenputtel-Thematik, um mitreißend über Erfolg, Demut, Lüge, Verrat, Familien und das Leben zu erzählen. Ihre Charaktere und Geschichten sind gelegentlich so surreal und abstrus überzeichnet, dass man sich unwillkürlich fragt: Ist das nun wirklich so kitschig, fantastisch absurd oder spielt die Autorin hier gekonnt mit Klischees? Ihr sprachliches Niveau, der Wechsel zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit, der immer wieder aufscheinende bissige Humor, all dies führt mich zu der Meinung: Katherine Pancol jongliert geschickt mit Klischees und Stilmitteln. Auf hohem Niveau gelingt es ihr, eine besondere Atmosphäre zu verdichten und ihre Charaktere tief emotional zu begleiten. Sie beweist augenzwinkernden Sinn für Alltagskomik – etwa, wenn es um Josephines Kinder geht, den schlussendlich nur noch trotteligen Ex-Ehemann oder um den liebenswerten Stiefvater und seine junge Geliebte. Die Schilderung französischer Lebensart und der boshafte Blick auf die Pariser High Society tun ihr Übriges, um dieses Buch zu einem besonderen Lesevergnügen werden zu lassen. Der Stilmix weckt Erinnerungen sowohl an den Filmklassiker “eine einfache Geschichte” als auch an “die fabelhafte Welt der Amelie”.
Ich habe dieses Buch gerne gelesen. Endlich mal wieder ein Schmöker, der diesen Namen verdient, mit dessen Charakteren ich so mitgefühlt habe, dass ich gelegentlich der Versuchung nicht widerstehen konnte, vorzublättern, um wenigstens grob den Fortgang der Geschichte zu erfahren, bevor ich das Buch abends aus der Hand legen musste. Aber auch ein Buch, welches den an vielen Fronten kämpfenden Frauen unserer Zeit durchaus kathartische Erlebnisse beschert. Wenn nämlich genau die Frauen vom Karussell des Lebens fallen, die anderen schon immer auf die Nerven gingen und deren Leben unnötig noch schwerer machten.

Fazit: Wer gerne ohne Verzicht auf geistreiches Niveau in Familiengeschichten schmökert, ist mit den gelben Augen gut beraten. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die sich laut Verlagsinformation in Vorbereitung befindlichen Teile zwei und drei der Trilogie, um schnellstens zu erfahren, wie es mit Josephine und ihren Lieben weiter geht.
Die Frage, was dies alles mit Krokodilen zu tun hat, werde ich hier übrigens nicht beantworten. Dieser Einfall ist viel zu skurril, fantastisch, überraschend und wirklich witzig, als dass ich ihn in einer Rezension vorwegnehmen werde.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München