Zwischen Menschen

zwischen Menschen, David Guterson Es gibt Autoren, deren Werke man unbedingt lesen möchte. David Guterson gehört dazu. Ich mochte Guterson seit “Schnee, der auf Zedern” fällt, ich liebte ihn seit “Ed King“. Nun ist mit “Zwischen Menschen” ein Band mit Kurzgeschichten erschienen, mit dem Guterson an den Beginn seines erstaunlichen literarischen Schaffens zurückgeht. Mit dem Short Stories Band “The Country ahead of us, a country behind” debütierte Guterson 1989.

Im Original heißt dieser Band “Problems with people“, es wäre ein schöner Untertitel gewesen für das durchaus treffende deutsche “Zwischen Menschen“. Guterson erzählt mit unbestechlicher Beobachtungsgabe von Menschen, die um ihre zwischenmenschlichen Beziehungen kämpfen (müssen). Die meisten der Charaktere in seinen Geschichten bekommen zwar nicht einmal Namen, aber ihnen allen ist eine beinahe schon krankhaft zu nennende Selbstbeobachtung zu eigen. Alle sind sie in gewisser Weise isoliert, körperlich oder emotional. Sie alle scheinen sich aus zwischenmenschlicher Interaktion zurückzuziehen oder sie unbeholfen anzugehen.

Dass “Zwischen Menschen” dennoch kein harter, unverdaulicher literarischer Brocken geworden ist, liegt an zwei Dingen. Zum einen an Gutersons akribischer Beobachtungsgabe, zum anderen an seinem lakonischen, aber dennoch pointierten Erzählstil, der ihm und dem Leser die nötige Distanz verschafft. Guterson beschreibt den Alltag, die Situationen und auch die Gefühle der Menschen, aber er nimmt daran nicht wirklich Anteil.

Jede der zehn Geschichten ist eine Momentaufnahme. Das Aufeinandertreffen der Charaktere, egal ob in der Jugend ihres Lebens oder im hohen Alter, mutet immer zunächst eher banal an, die tieferen Bedeutungen erschließen sich erst später. Zärtlich, ergreifend und manchmal unerwartet erzählt er von den Bemühungen der Menschen, sich selbst und einander zu verstehen, als Individuen oder als Teil der Gesellschaft und eines historischen Moments. Er berichtet von lange zurückliegenden Tragödien wie dem Verlust eines jungen Freundes, von Eltern, die den Tod ihres Sohnes zu verstehen suchen und wirft dabei paradigmatische Fragen zu unserer Realität und unserer Zukunft auf.

Manche Geschichten nehmen auch noch den letzten Rest Hoffnung, andere wiederum spenden neue. So wie die der Hundesitterin, die von einem grantigen alten Mann engagiert wird. Trotz aller Gegensätze entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Bindung, die auch noch hält, als der alte Herr ins Hospiz kommt. Mit dieser Geschichte beweist Guterson einmal mehr sein Geschick, trotz aller Tragikomik anrühren und die Überraschungen feiern zu können, die in den Dramen des Alltags lauern.

Die letzte Geschichte hingegen lässt den Leser ebenso traurig und ratlos zurück wie seinen Ich-Erzähler. Dieser reist mit seinem hoch betagten Vater nach Berlin. Dort hat der Vater seine frühe Kindheit verbracht, bevor er mit seinen Eltern noch kurz nach dem Beginn des Holocaust nach Amerika fliehen konnte. Die Beiden haben eine Holocaust-Gedenkstätten-Tour gebucht, doch nicht nur, dass der Vater sich an bestürzend wenig erinnert, auch ein Aufbrechen der alten Ressentiments scheint nicht machbar zu sein, ein Vergeben unmöglich. Dieser Unversöhnlichkeit gegenüber steht die junge deutsche, nicht jüdische Reiseleiterin, die an ihren Stellvertreter-Schuldgefühlen schwer trägt. Dennoch ist es so für sie einfacher. Der alte Mann mag die junge Frau, aber – er besteht darauf, dass sie eine “Krasawize” sein muss, eine richtige jüdische Klassefrau. Denn alles andere ist für ihn undenkbar.

Die Kurzgeschichten sind so unterschiedlich wie die bisherigen Romane Gutersons. Einige sind so elegisch wie der Schnee, der auf Zedern fällt, andere erinnern an den so verschmitzten wie dunklen Humor aus dem Ganovenstück Ed King. Und auch wenn in den Geschichten nicht viel passiert, passiert doch irgendwie alles. Denn die Frage, die Guterson stellt, ist nie so sehr die nach dem Warum, es ist die Frage nach dem Wie: Wie können wir leben, wir können wir lieben.

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Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Hoffmann und Campe

Töchter des Nordlichts

Kabus-Toechter-des-Nordlichts-orgFinnmark 1915: Abrupt endet das friedliche, naturverbundene Nomadenleben des Sami-Mädchens Áilu. Auf der Wanderung zu den Sommerweiden ihres Stamms wird sie von norwegischen Beamten mitgenommen, die sie in ein Internat stecken. Dort und später in einem Waisenhaus soll sie zu einem “zivilisierten” Mädchen geformt werden. Nach langem Widerstreben ergibt sie sich in ihr Schicksal und wird die Vorzeige-Schülerin Helga. Doch der Tag kommt, an dem sie ihre Herkunft nicht länger verleugnen will – koste es, was es wolle.

Oslo 2011: Die Erzieherin Nora erfährt mit Mitte dreißig endlich den Namen ihres Vaters: Ánok, ein samischer Student der Medizin. Er verschwand damals plötzlich aus dem Leben ihrer Mutter. Nora ist schon lange nicht wirklich glücklich in ihrem Leben, sie spürt, dass ihr etwas Entscheidendes fehlt, um sich selbst und das, was sie vom Leben wünscht, zu verstehen. Sie reist hoch in den Norden, auf den Spuren ihres Vaters in seine Heimat. Sie lernt die Sami und ihre Kultur kennen, ist fasziniert davon, doch es bleibt ihr lange fremd. Bis sie ihre Oma findet, mit ihr einen Teil ihrer Wurzeln und durch sie Mielat kennenlernt, einen Wissenschaftler und Hundezüchter, der in beiden Welten zu Hause ist und ihr hilft, über Generationen hinweg den Kreis zu Áilu zu schließen.

Töchter des Nordlichts” ist ein erstaunliches Buch. Anders als bei manch anderem Werk weckt die Beschreibung zunächst einmal Interesse, aber keine allzu hohen Erwartungen. Diese werden dafür dann aber um ein Vielfaches übertroffen. Man erwartet gediegene Unterhaltung, die bekommt man auch, aber – man sieht sich plötzlich mit einem Stück Geschichte konfrontiert, von dem man wenig wusste und das nun tief betroffen macht und den Leser ganz schnell ganz tief in den Sog dieser Geschichte zieht. Einerseits. Andererseits ist man aber erstaunt ob der Unwissenheit, die man bisher über dieses Kapitel europäischer Geschichte hatte. Wem ist das schon klar, dass es auch in Europa Ureinwohner gab, deren Kultur schändlich geschmäht und auszumerzen versucht wurde. So ergeht es auch Nora. Am Beginn ihrer Reise ist ihr Àilu sehr ferne, am Ende aber wird es auch Áilus Geschichte sein, die sie in der Zukunft leiten wird.

Die in Vergessenheit geratene Kultur der Samen ist durchaus geeignet, nicht nur Nora unser heutiges Wertesystem in Frage stellen zu lassen. Die Autorin Christine Kabus untermalt dies eindringlich mit wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, ehrlichen Eindrücken über das Leben im rauen Norden, gerne auch bezugnehmend auf die Sagen und Traditionen der alten Völker. Bei aller Eindringlichkeit erzhlt die Autorin in einem unaufregten, angenehm zurückgenommenen klassischen Stil. Die Zeitebenen wechseln, aber der Roman bleibt durchweg gut strukturiert, dabei hilft enorm, dass die Autorin die Technik des Cliffhangers routiniert beherrscht. Ihre Cliffhanger kommen gar nicht immer so spektakulär daher, bleiben aber lange genug in Erinnung, um beim Wechsel der Zeitebenen gut wieder an die jeweilige Geschichte anzuknüpfen und keine Fragen offen zu lassen. Ihren Charakteren bringt sie viel Verständnis und Wärme entgegen, gerade auch denen, die zunächst als stur und uneinsichtig vorgestellt werden. Deren Beweggründe werden gut erklärt in die Geschichte gewoben, ihre Entwicklung und überhaupt die aller Charaktere ist nachvollziehbar und wird gerne begleitet.

Die Töchter des Nordlichts heben sich sehr angenehm ab von den leider oft genug einfach so dahingehudelten Romanen in diesem so einfach anmutenden und doch so schwierig zu schreibenden Genre des Gesellschaftsromans. Christine Kabus hat sorgfältig und aufwändig recherchiert, man merkt es gut, dass diese Fleißarbeit ihr letzten Endes das Erzählen leicht gemacht hat. Schön, dass diese Recherchen auch in Form von sorgfältig erstellten Stammbüchern und Karten mit dem Leser geteilt werden. Schon daran merkt man direkt zu Beginn, dass man hier nicht einfach so eine Familiensaga vorgesetzt bekommt, die jemand mal eben so zusammengeschrieben hat. Da hat sich eine Autorin viel Mühe und Gedanken gemacht. Auch wenn es manchmal den berühmten Tacken zuviel ist. Die Liebesgeschichte zwischen Mielat und Nora hätte auch eine Wendung weniger vertragen, auch Àilu hätte man gut und gerne den ein oder anderen Schicksalsschlag ersparen können. Dennoch nimmt man als Leser dieses kleine bißchen zuviel gerne hin, muss man sich doch dadurch nicht so schnell von den liebgewonnenen Charakteren trennen. Und letzten Endes weckt das Buch nicht nur Verständnis und Interesse, sondern auch Sehnsucht. Nach dem Nordlicht, der Landschaft, aber auch nach den Menschen, die dort leben und deren Kultur man gerne kennenlernen würde.

Die Töchter des Nordlichts knüpfen lose an den Debütroman “Im Land der weiten Fjorde” der deutschen Autorin Christine Kabus an, der in den vergangenen zwei Jahren viele begeisterte Leser fand. Teil drei dieser Norwegen-Trilogie soll folgen, aber es ist kein Muss, diese Bücher zusammenhängend zu lesen, da es keine Fortsetzungsromane im eigentlichen Sinne sind. Die studierte Germanistin Christine Kabus arbeitete vor ihrer Autoren-Karriere als Drehbuchautorin und Regieassistentin. Heute betreut sie als Dramaturgin noch Projekte anderer Autoren und lehrt bei einer Drehbuchwerkstatt. Obwohl sie gebürtige Norwegerin ist und immer nur zu Besuch in diesem Land war, erzählt sie mit viel enthusiastischer Liebe zum Norden.

Zudem freut es durchaus, dass eine deutsche Autorin sich so couragiert an das Genre des klassischen Gesellschaftsromans wagt und dieses Feld nicht nut den versierten Britinnen und Französinnen überlässt. Allzu oft trauen sich deutsche Autoren/Autorinnen das ja leider nicht und wenn, dann wird das gerne in einem kriminalistischen oder humoristischen Mantel verbrämt.

Fazit: Für alle Liebhaber nordischer Welten und Kulturen ein Muss, aber auch sonst uneingeschränkt empfehlenswert. (Man lasse sich da nicht vom weniger gelungenen, leicht kitschigen Cover abschrecken)

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Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Die Frauen von Tyringham Park

McLoughlin-Die-Frauen-von-Tyringham-Park-orgIrland im Jahr 1917: Die Familie Blackshaw residiert im Anwesen Tyringham Park mit allem Prunk und allen Privilegien des beginnenden 20. Jahrhunderts. Es herrscht eine gefühlskalte, egozentrische Mutter, der Vater glänzt meist durch Abwesenheit. Dazu bieten wir noch die lieben Töchterlein, eins hübscher als das andere, eine Dienstbotenriege, die das gesamte dramaturgische Spektrum von liebevoller Köchin bis hin zur grausamen Nanny abdeckt. Und jede Menge Pferde.

Eines Tages verschwindet die jüngste Tochter der Familie spurlos. Entführung, Ermordung, Unfall? Das Schicksal der Kleinen bleibt lange Jahre ungeklärt. Eine Spur führt nach Australien – klar, bißchen Fernweh und eine Prise Aussiedlerromantik schadet nie. Die andere Spur verläuft sich am nahegelegenen Fluß. Die Jahre gehen ins Land, Ungereimtheiten und heimliche, nicht standesgemäße Liebschaften kommen ans Licht, alleine das Kind bleibt unauffindbar. Sein Verschwinden wirft einen Schatten über das Leben aller, die das Kind gekannt haben. Nur mit der Wahrheit, die sich nach Jahrzehnten offenbart, hat laut Klappentext keiner gerechnet. Mit der Banalität dieser Wahrheit wohl auch der bis dahin tapfer durchhaltende Leser nicht.

Die Auflösung des Plots um die verlorene Schwester ist so flach wie nur eben geht. Das fiel mutmaßlich auch der Autorin auf, so dass sie sich ohne Vorwarnung und ohne vorherigen Bezug dazu schnell in ein esoterisches Geschwurbel rettet. Doch der Roman krankt nicht nur an dieser schon sensationell mißglückten Auflösung. Auf dem Cover steht tatsächlich: Wenn Sie Downton Abbey mögen, werden Sie diesen Roman lieben. Markige Worte. Man kann den Vergleich mutig nennen, anmaßend trifft es allerdings besser. Drehen wir es um: Wer Downton Abbey liebt, kann Tyringham Park allenfalls ansatzweise freundliches Wohlwollen entgegenbringen.

Die Handlung an sich ist gar nicht so schlecht. Ein bißchen zu konstruiert, ein bißchen zu vorsehbar, aber – aus diesem Kaleidoskop an Schicksalschlägen, die unzweifelhaft einer blühenden Phantasie entspringen, hätte man was machen können. Hat man aber nicht. Es wird eher lieblos erzählt, die Sprache ist hölzern, manche Sätze wirken wie abgebrochen und Faden verloren. Manche Szenen scheinen wie zufällig in der Entwürfe-Schublade gefunden und schnell in den Roman hineingewürfelt. Wiederholungen sind das Stilmittel der Wahl, die Charaktere sind mit der Schablone gezeichnet, Hauptsache, es entspricht den Klischees. Und wenn nicht, dann wird ganz schnell mal überzeichnet. Schwarz-weiß klappt ja immer. Nirgendwo findet sich ein Charakter, mit dem sich identifizieren oder den man wenigstens mögen könnte. Es werden weder Sympathien geweckt, noch Mitleid. Der Leser bleibt ratlos und weiß nicht, ob die wie hingeschludert wirkende Erzähltechnik Absicht ist und wenn ja warum nur? Die Autorin ist gebürtige Australierin, lebt aber schon seit Jahrzehnten in Irland. Es nimmt schon Wunder, dass die Schauplätze derart lieblos und oberflächlich gezeichnet sind.

Die größte sich an diesem Buch zeigende Begabung hat zweifelsohne der Verfasser des Klappentextes, der auf den Zug des Erfolges von Downton Abbey aufspringend es tatsächlich geschafft hat, Neugierde auf dieses Buch zu wecken. Noch einmal: Es mag ja sein, dass es in Downton Abbey auch oft nur um den British Tea zu jeder Stunde des Tages geht. Aber dieser Tee ist wenigstens erlesen und elegant, der von Tyringham Park ist allenfalls ein schaler Aufguß. So geschickt der Klappentext ist, man sollte ihn überdenken. Selbst wenn das Buch besser gewesen wäre – im Vergleich mit Downton Abbey kann man nur verlieren.

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Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Sehnsucht ist ein Notfall

“Mit Tobias geschlafen. Mit Johannes geschlafen. Und mit Oma jetzt auf der Flucht nach Italien” So sieht’s doch mal aus. Tjanun. Passiert. Eva hat sich verheddert in ihrem Leben, da kann sie sich ebenso gut mit der Oma auf den Weg nach Italien machen.

Diese Flucht hatte die Oma 10 Minuten vor der SMS so beschlossen. Schließlich ist Sehnsucht ein anerkannter Notfall und Spontanität Omas neues Markenzeichen. Hat sie doch mit 79 Jahren den Opa verlassen und wenn nicht jetzt, wann sonst ist die Zeit, endlich das Meer zu sehen? Für Oma trifft es sich ganz gut, dass auch der geliebten Enkelin, die gerade im “Chaos de luxe” steckt, der Sinn nach Flucht steht. Eva ist als Physiotherapeutin zwar beruflich angekommen, aber ansonsten plagt sie sich mit den typischen Problemen der Thirtysomethings herum. Heirat und Kinder? Wenn ja, wann? Und noch viel wichtiger mit wem? Ihr Lebenspartner Johannes hält sie zwar noch, aber leider auch für selbstverständlich. Da lernt sie den geschiedenen Vater Tobias kennen und verbringt mit ihm eine Nacht, die ebenso zauberhaft ist wie die Nachrichten, die er ihr anschließend schreibt. Eva braucht Luft, Licht und Zeit zum Nachdenken. Die will sie sich allerdings erst nehmen, wenn sie angekommen ist. Am Meer, mit der Oma. Einer Oma, wie viele ‘anne Ruhr’ sie haben. Die Oma, die sie nach dem frühen Tod der Eltern so liebevoll im alten Zechenhäuschen aufgezogen hat und die jetzt die Enkelin braucht. Nicht nur, um zu lernen, wie man diese kleinen smarten Alleswisser-Dinger bedient, um Eva damit bis zum Meer zu navigieren.

Es gibt ziemlich genau zwei Radio-Moderatorinnen, die ich schon an der Stimme erkenne. Die in der Grauzone westliches Westfalen/ östliches Ruhrgebiet geborene Sabine Heinrich ist eine davon. Beim WDR-Radio eins live ist Frau Heinrich mittlerweile eine Institution, auch Fernsehzuschauern dürfte sie bekannt sein. Sie gehört zum Team der Kultsendung “Zimmer frei” und hat seit Ende 2013 ihre eigene Talkshow “Frau Heinrich kommt”. “Und jetzt schreibt se auch noch” könnte man nun genervt aufstöhnen ob der Flut der selbstdarstellenden Möchte-Gern-Schriftsteller. Im Falle der Frau Heinrich war ich aber schon begeistert, bevor ich nur eine Zeile gelesen hatte. Denn wenn Frau Heinrich auch nur annähernd so charmant romanciert wie sie plaudert oder twittert, können es keine verlorenen Stunden werden, die man mit diesem Buch verbringt. Und ich hatte Recht.

Ihr Roman-Debüt “Sehnsucht ist ein Notfall” erzählt zwei miteinander verwobene Geschichten mit ganz unterschiedlichen Enden. Eine Geschichte endet offen, die kann sich der Leser so ausmalen, wie er es gerne hätte. Letzere ist die Geschichte von Eva zwischen zwei Stühlen Männern. Noch am Meer erstellt Eva sich eine dieser beliebten und nichts bringenden Listen, auf der sie festhält, was für den einen oder den anderen Mann spricht. (Wobei sie auf Tobias Seite der Liste vergessen hat, dass Tobias derjenige ist, der versteht, dass Sehnsucht ein Notfall ist. Vielleicht fällt ihr das ja noch ein und sie entscheidet sich für Tobias. Das wäre mein persönliches Lieblingsende.)

Aber zunächst einmal vertagt Eva diese Entscheidung, denn das Ende der anderen Geschichte, der Geschichte von der Oma, verdrängt alles andere. Diese Geschichte endet nach zu Herzen gehenden Szenen am Meer traurig mit einer Prise Trost. Und egal, wie Eva sich für ihre Zukunft entscheidet, eines wird sie immer mitnehmen: die Gewißheit, der Oma etwas immens Wichtiges ermöglicht zu haben. Eine Erinnerung wird sie ihr Leben lang tragen: “An einem sonnigen Tag im Januar gingen wir ins Meer und schrien vor Glück”

Sehnsucht ist ein Notfall” stellt die Fragen, die uns alle bewegen, egal, wie alt wir sind. Was ist Liebe, was will ich von ihr, was will ich von meinem Leben, von meinem Partner? Sabine Heinrich erzählt offen, ehrlich, ungeschminkt, wie man sie eben kennt. Manchmal melancholisch, aber oft genug blitzt auch die flapsige Art der Moderatorin durch. Sätze wie “Jetzt ist die Welt dunkelgrau und die Sterne bauen Überstunden ab” klingen allerdings vielleicht auch nur deswegen nicht kitschig, weil man ein Bild von der Autorin hat und ihre Stimme im Ohr.

Fazit: Ein Romandebüt, dass ein Glücksfall statt Notfall ist. Traurig und tröstlich zugleich. Gerne mehr davon, Frau Heinrich.


Genre: Romane
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Der Garten über dem Meer

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Ein alter Garten. Ein verlorener Ring. Ein schockierendes Familiengeheimnis. Zwei Frauen auf unbeirrbarer Suche nach dem Glück. Hört sich nach Schmonzette an? Oder doch eher nach gut gemachter Unterhaltungsliteratur? Ganz klar letzteres. Mit dem Roman “der Garten über dem Meer” legt die englische Autorin Jane Corry eine spannende Familiensaga in der guten Tradition englischer Erzählerinnen vor. Der Garten über dem Meer erzählt die Lebensgeschichten zweier Frauen, die durch den Ring und das Geheimnis verbunden sind. Die Geschichte vollzieht sich vor der Kulisse des malerischen Süden Englands auf zwei Zeitebenen, zum einen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zum anderen in der Gegenwart.

Da ist zunächst die junge Mary Rose Marchmont, deren Mutter ihr 1866 auf dem Totenbett einen Rubinring anvertraut. Dieser Schutz gebende Ring wird seit Generationen über die Mütter an ihre Töchter weitergegeben. Doch gerät er in die falschen Hände, wird er Unglück über alle nachfolgenden Generationen bringen. Mary Rose ist noch sehr jung, als sie den Ring erhält. Zu jung. Sie kann weder verhindern, dass ihr Vater den Ring seiner zweiten berechnenden Frau gibt, noch kann sie das Unglück, welches über sie und ihre Familie kommt, verstehen oder gar aufhalten. Ihr innig geliebter Stiefbruder wird noch als Baby mit zertrümmertem Schädel aufgefunden, Mary Rose des Mordes beschuldigt und für 20 lange Jahre eingekerkert. Der einzige Halt in ihrem trostlosen Dasein werden bis zu ihrem Tod Sticktücher sein, die mit beachtlichem künstlerischen Talent angefertigt ihre Erinnerung an ihr verlorenes Zuhause wachhalten und in die sie kleine geheimnisvolle Botschaften einarbeitet.

130 Jahre später glaubt Mary Rose’ Ururenkelin Laura ihr Glück gefunden zu haben. Auch ihr Leben ist von einem tragischen Unglück überschattet. Lange hat sie sich in eine selbst gewählte Einsamkeit geflüchtet, bis sie sich Hals über Kopf in den Architekten Charles verliebt und diesen überstürzt heiratet. Sie wagt mit ihm einen Neuanfang in Devon in einem wunderbarem Haus mit einem alten Garten direkt über dem Meer. Doch Lauras Glück ist fragil. Es wird nicht nur von ihrem beharrlich gehütetem Geheimnis bedroht, sondern auch von Charles’ Töchtern aus erster Ehe, die sich mit der ganzen Raffinesse zweier pubertierender Mädchen gegen Laura stellen. In dieser Situation erbt Laura von ihrer Großmutter ein Sticktuch, auf dem sie ihren jetzigen Garten erkennt. Doch auf dem Sticktuch ist noch mehr zu finden (die Botschaften! ) und Laura beginnt zu recherchieren. Schon bald erkennt sie die Verbindung zu Mary Rose und zu ihrem eigenen Geheimnis. Sie ist fest entschlossen, Mary Rose’ Unschuld zu beweisen. In der Vorahnung, dass dieser Beweis auch die Schatten aus ihrem Leben vertreiben kann.

So verschieden Mary Rose und Laura selbst als auch ihre Lebensumstände sind, beide eint ihre Hartnäckigkeit und der unbedingte Wille, für sich, ihre Nachkommen und ihr Glück zu kämpfen. Und so wiederholt Geschichte sich manchmal doch. Wenn auch in diesem Roman unter umgekehrten Vorzeichen. Während Mary Rose das Unglück der verstoßenen Stieftochter erleidet, ist in der Gegenwart Laura in der undankbaren Rolle der Stiefmutter und läuft Gefahr, ihre Stieftöchter von sich zu stoßen. Durch ihre Recherchen schließt sich nach Generationen ein Kreis und es erwächst aus dem tief Bösen der Vergangenheit etwas Gutes. Laura erwirkt eine späte Wiedergutmachung, mehr noch eine Würdigung ihrer Urahnin und schafft es dadurch, ihre eigene Patchwork-Familie zusammenzuhalten.

Jane Corry, die schon mit ihrem Debüt “Perlentöchter” nicht nur in Großbritanien sehr erfolgreich war, erzählt ihre Saga bemerkenswert gut recherchiert und mit viel Liebe zu ihren beiden Protagonistinnen. Erfreulich unsentimental lässt sie beiden Geschichten ihr jeweils eigenes Tempo. Sie verzichtet auf billige Effekthascherei und baut ihre Spannung langsam, unaufgeregt, aber unausweichlich auf. Somit hat jede Geschichte, jede Zeitebene ihren ganz eigenen, ganz speziellen Reiz. Geschickt widersteht sie der Versuchung, ihre Heldinnen allzu rosarot zu malen und bringt sie gerade dadurch ihren Lesern nahe. So kann man Laura durchaus ansatzweise hysterisch finden, aber jede besorgte Mutter wird sich ehrlicherweise in ihr wiederfinden.

Der Garten über dem Meer erhebt den Anspruch, gute Unterhaltungsliteratur zu sein. Nicht mehr und nicht weniger. Schwierig genug. Selten genug. Doch der Roman erfüllt diesen Anspruch durchaus. Auf beiden Zeitebenen kommt man schnell gut rein in die Geschichte. Die Atmosphäre ist dicht gezeichnet, ohne überladen zu langweilen. Die Handlung ist nicht zu vorsehbar und interessant genug, um dem Leser an das Buch zu fesseln. Einiges mag in der Zusammenfassung klischeehaft anmuten, doch Corrys unsentimentale und pragmatische Ader hält die Geschichte vom Kitsch fern. Kurz – das Buch ist perfekt für den, der sich gerne von einer gut erzählten Geschichte in ein anderes Leben ziehen lassen möchte und gleichermaßen historische wie Gegenwartsromane mag.

Jane Corry war nach ihrem Englischstudium für The Times, The Daily Telegraph und andere Medien tätig. Eine Zeitlang arbeitete sie als Gefängnisreporterin in einem Hochsicherheitsgefängnis für Männer, was wohl ihren unsentimentalen Blick auf die Welt geschult hat. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern an der Küste im englischen Devon. Die Liebe zu ihrer Heimat ist ganz sicher ein Teil des Geheimnisses der Jane Corry, ihre Leser so tief mit in die Atmosphäre ihres Romans zu ziehen.

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Genre: Romane
Illustrated by Blanvalet

Der Distelfink

“Ich nehme an, es gab eine Zeit in meinem Leben, da hätte ich eine beliebige Anzahl von Geschichten gewußt, aber jetzt gibt es keine andere mehr. Dies ist die einzige Geschichte, die ich je werde erzählen können.” Zwanzig Jahre ist es her, dass dieser Satz den Prolog von Donna Tartts geheimer Geschichte beendete,  zwanzig Jahre, in denen von der Autorin außer einem kleinen, schmalen Band nichts zu lesen war und man zu fürchten begann, dieser Satz wäre zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung geworden.

Die geheime Geschichte. Viele werden sich erinnern, als Anfang der 90er Jahre dieses wortgewaltige Debüt wie aus dem Nichts auftauchte und unzählige Leser in seinen Bann zog. Es war eines der nachdrücklichsten Werke des ausgehenden 20. Jahrhunderts, ein Buch, das auch Jahrzehnte später unvergessen und präsent im Gedächtnis seiner Leser ist. Immer verbunden mit dem Wunsch, diese Autorin möge noch einmal so ein monumentales, berührendes, verstörendes Werk schreiben. Zwanzig Jahre Zeit hat sie sich dafür gelassen, zehn Jahre davon verbrachte sie damit, das so sehnlich erwartete zweite Meisterwerk zu verfassen. Zehn Jahre nicht nur für die Entstehung des Buches, zehn Jahre ist auch genau die Zeitspanne, den das Buch umfasst. Spannend, sich vorzustellen, wie die Autorin zehn Jahre in genau diesem Zeitraum mit ihrer Geschichte gelebt hat.

Der Distelfink. Genauso verstörend, genauso begeisternd, genauso meisterhaft und monumental wie die geheime Geschichte. Noch bevor ich die erste Seite aufschlug, hatte ich meine ganz eigene Geschichte mit diesem Buch. Die geheime Geschichte gehört ganz sicher zu den “Büchern meines Lebens”, meine Erwartungshaltung an ein nachfolgendes Werk war enorm und meine Aufregung groß, als ich vor 2 Jahren in einer holländischen Buchhandlung “het puttertje” sah. Mein Wunsch nach einem zweiten, ebenso epochalen Werk schien endlich erhört zu werden, doch ich musste mich noch lange gedulden, bis das Werk endlich auch dem deutschen Markt zugänglich war. Der Distelfink wurde zeitgleich in den USA und den Niederlanden veröffentlicht, was schon nach kurzer Lektüre nicht mehr verwundert. Ein entscheidender Teil des Buches spielt in Amsterdam, der Ich-Erzähler bezeichnet die Stadt als sein persönliches Damaskus und noch vor der Lektüre schien es mir eine gute Wahl. Das Bild, das ich mir von der Autorin und ihren Geschichten gemacht hatte, passt außerordentlich gut in diese Stadt.

Der titelgebende Distelfink ist ein kleines, auf den ersten Blick unscheinbares Bild des holländischen Malers Carel Fabritius. Fabritius war ein Rembrand-Schüler, der 1654 bei einer Explosion der Delfter Pulvermühle ums Leben kam. Bei dieser Explosion ging auch ein Großteil seiner Werke verloren. Der bis heute erhaltene Distelfink ist ein Kunstwerk von unschätzbarem Wert und im den Haager Mauritshuis zu besichtigen. In Donna Tartts Roman wird dieses Bild wiederum durch eine Explosion bedroht. Im Roman ist das Bild eine Leihgabe im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Der junge Theo Decker besichtigt es mit seiner Mutter, als sich die (fiktive) Explosion ereignet. Die Mutter verliert ihr Leben, das Kind Theo überlebt und nimmt im Chaos und der Panik der Explosion das Bild von der Wand und flieht mit diesem in eine ungewisse Zukunft. Das verstörte Kind wird von einem Ort zum anderen gereicht, seine einzige Konstante ist der Distelfink. Das kleine Bild ist Millionen wert, was ihm aber (noch) nicht klar ist. Für ihn ist es die letzte Verbindung zur Mutter, sein Trost inmitten seines von Einsamkeit und Verlassenheit geprägten Lebens.

Donna Tartt, der Distelfink

Einen Teil seiner Jugendjahre verbringt er in der surrealen Wüste unweit von Las Vegas. Dort lernt er den charismatischen, furchtlosen aber auch unzuverlässigen Ukrainer Boris kennen. Durch Boris erfährt Theo erstmals wieder ein Gefühl der Zugehörigkeit und Anerkennung, allerdings um den Preis einer nicht mehr endenden Sucht nach der Welt halluzinierender Drogen, in die Boris ihn mitnimmt. Es entwickelt sich eine Freundschaft, die Theos Leben bestimmen und überschatten wird. Boris Hang zur selbstverliebten Selbstzerstörung führt trotz mancher Wendungen, die die Handlung noch zurück ins Gute hätte führen können, zur Katastrophe. Wenn überhaupt etwas die mittlerweile erwachsenen Männer aus dieser Katastrophe herausholen kann, wird es die Liebe zur Kunst und zu Geschichten sein. Nur dieser “polychrome Rand zwischen Wahrheit und Unwahrheit” macht es ihnen “überhaupt erträglich, hier zu sein.” “Unheil und Katastrophen sind diesem Gemälde durch die Zeiten gefolgt, aber auch die Liebe.” Und so fügt Theo Decker seine Geschichte den “Geschichten der Menschen hinzu, die schöne Dinge geliebt und auf sie geachtet haben, […] die sie buchstäblich von Hand zu Hand weiterreichten, strahlend singend aus den Trümmern der Zeit zur nächsten Generation von Liebenden und zur nächsten.”

Wie schon die geheime Geschichte ist auch der Distelfink getragen von Donna Tartts einzigartigen, unverwechselbaren Art zu erzählen. Sie erzählt leichtfüßig, manchmal bewusst lakonisch, um ihrer Erzählung das Schwere, die Tiefe zu nehmen. Doch so leicht man das Buch auch liest, so schwer hallt es nach, so schwer ist es zu ertragen. Auf der einen Seite ist es ein trauriges Buch, das auf die so banale wie bittere Wahrheit “aus diesem Leben kommt keiner lebend raus” hinausläuft. Auf der anderen Seite vermag das Buch auch Hoffnung geben. Nie wurde schöner klar, warum die Unsterblichkeit der Kunst solch ein Trost sein kann. Die Kunst zeigt uns “dass das Schicksal grausam ist, aber nicht beliebig” und dass das unausweichliche Gewinnen des Todes nicht bedeuten muss, dass “wir um Gnade winseln müssen. Es ist unsere Aufgabe, geradewegs hindurchzuwaten, mitten durch die Jauchegrube und dabei Augen und Herz offen zu halten” damit die “Gegenwart eine strahlende Scherbe der Vergangenheit in sich tragen kann”. Schlussendlich sind es die buntesten Exzentriker aus dem Distelfinken, die den Leser mit der tröstlichen Gewissheit entlassen, “dass es zwischen der Realität auf der einen Seite und dem Punkt, an dem der Geist die Realität trifft” “eine mittlere Zone, einen Regenbogenrand”,gibt, “wo die Schönheit ins Dasein kommt, das ist der Raum, in dem alle Kunst existiert und alle Magie.” Kunst als Magie, die den Tod und allem Kummer überwindet.

Der Distelfink ist aber nicht nur eine Reflexion über den Trost der Kunst, es ist auch ein Buch über Verlust, Obsession, Lebenskraft und die gnadenlose Ironie des Schicksals und vor allem über die Freundschaften, die all das mit sich bringen. Theo Decker hat sich nie von dem frühen, seine Welt erschütternden Ereignis der Explosion im Museum erholt, und es sind seine Freundschaften gewesen, die ihn bei aller zerstörerischen Kraft überhaupt am Leben erhalten haben. Und so endet dieses Buch in einem schon fast pilosophischen Diskurs nicht nur über die Macht der Kunst und der Freundschaft, sondern auch übergeordnet in der Frage, ob aus Gutem Böses erwachsen kann und umgekehrt.

Der Distelfink ist ebenso wie die geheime Geschichte eine uralte, sich über die Jahrhunderte immer wieder wiederholende Geschichte, aber trotzdem ein klarer Gegenwarts-Roman. Der Vergleich mit einem anderen Buch der jüngeren Zeit drängt sich auf und es bleibt nur ein Schluss: Der Distelfink ist das, was Bonita Avenue gerne gewesen wäre. Anders als Peter Buwalda traut Donna Tartt ihren Lesern aber einiges zu. Risikofreudiger als sie kann man keine Bücher schreiben. Angefangen davon, wie unbeeindruckt sie sich die Zeit nimmt, die sie für ihre Bücher braucht bis hin zum Anfang des Buches, wo sich ein völlig kaputter Erzähler schon bald als Mörder entpuppt. Donna Tartt schreibt nicht, um Erwartungen zu erfüllen, sie schreibt, um ihre Geschichten zu erzählen. Man möge ihr folgen oder es lassen.

Ich empfehle dringend: Folgen und sich auf die Geschichte einlassen, auch wenn es nicht einfach ist. Und wer die geheime Geschichte noch nicht kennt: Dringend nachholen.
Sehr dringend.

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Genre: Romane
Illustrated by Goldmann München

Zum Tod von Gabriel Garcia Marquez

“Wir müssen lernen, stark zu werden, ohne die Zärtlichkeit zu verlieren”. Diesen Aufruf von Che Guevara zitierte Gabriel Garcia Marquez – GABO, wie ihn seine Landsleute liebe- und respektvoll nannten – im Vorwort meiner Ausgabe von Hundert Jahre Einsamkeit.

Hundert Jahre Einsamkeit – Cien Anos de Soledad. Das wichtigste Buch meines Lebens. Das Buch, welches seit Jahrzehnten immer griffbereit neben meinem Bett liegt. Das Buch, welches ich unzählige Male gelesen habe, nicht immer chronologisch, manchmal auch nur in Auszügen. Immer, wenn ich einen Rat brauche, einen Fingerzeig, greife ich zu diesem Buch. Lasse mir von Ursula eine ihrer Geschichten erzählen, folge Amarantha in ihren Träumen, ziehe mit den diversen Aurelios, Aurelianos und dem Rest der Familie Buendia in ihre unzähligen Schlachten, verliere nie meine Würde, wenn auch sonst schon alles und auch wenn ich keine hundert Jahre alt werde, einsam werde ich nie sein. Denn auch wenn mich keiner sonst begleiten sollte, die Bücher, die Worte und ganz besonders die von Gabriel Garcia Marquez werden mich immer begleiten.

Er ist alt geworden, 87 Jahre alt. Seine letzten Jahre waren nicht gesegnet, möge er nun über den Regenbogen gegangen, sein eigenes Macondo wiederfinden. Für alles, was seine Bücher mir bedeutet haben, an dieser Stelle ein trauriges, aber nicht mutloses Danke dafür und für so vieles mehr.

F

F. Ein einziger Buchstabe. So viele Interpretionsmöglichkeiten. So viele Fehlinterpretationsmöglichkeiten. So viele wie das Leben. F – mit diesem simplen Buchstaben ist Daniel Kehlmanns neuer Roman betitelt.

F wie Familie? Wie Fatum (lateinisch für Schicksal)? Wie Fälschung, wie Fiktion oder doch F für das berüchtigte, mittlerweile aber selbst in US-Diplomatinnen-Kreisen gebräuchliche Fuck? Vielleicht aber auch nur für den Namen Friedland, den Namen der Familie, die im Mittelpunkt des Romans steht.

Daniel Kehlmann jedenfalls steht nach seinem Sensationserfolg “Die Vermessung der Welt” sofort im Mittelpunkt des Interesses, wenn er einen neuen Roman veröffentlicht. Die Ansprüche, die an ihn gestellt werden, sind immens. Man möchte nicht in seiner Haut stecken, wenn man liest, wie sich die Kritikerszene mit ihm auseinandersetzt. Für die Feuilletonisten muss es bei Kehlmann ja unbedingt der ganz große Wurf sein, der nächste Welterfolg, die nächste Sensation. Dass auch Daniel Kehlmann vielleicht einfach nur erzählen möchte, wird nicht goutiert. Umso bemerkenswerter, dass er es tut. Einfach nur erzählen.

In F erzählt er zunächst von Arthur Friedland, einem bisher glücklosen Autor, der auf den ganz großen Wurf wartet. Erst die Begegnung mit einem Hypnotiseur verändert sein Leben und das seiner Söhne gleich mit. Arthur entzieht sich allen Erwartungen und Verantwortlichkeiten und schafft fernab von diesen seinen großen Wurf. Doch um Arthur geht es in F nur am Rande. Erzählt wird im weiteren Laufe des Romans die Geschichte seiner Söhne.

Diese treffen wir im Sommer vor der Wirtschaftskrise wieder. Jeder der drei Brüder ist auf seine eigene Weise ein Betrüger, Lügner, Fälscher. Wirklich Großes werden sie nicht leisten in ihrem Leben. Weder der ungläubige Priester Martin, weder Eric, der als Vermögensberater den Versuchungen eines Schneeballsystems erliegt und dem die Krise als willkommene Ausrede dient, noch Iwan, der Kunstkenner, der das Falsche im Echten verwaltet.

Kehlmann erzählt vom üblichen Leben, vom Mittelmaß, über das so viele nicht hinauskommen. Und wenn, dann nur in seltenen Momenten wie der Hypnotiseur, der auch noch ausgerechnet den Namen Lindemann trägt. Ein Name, der seit Loriot der Inbegriff spießigen Mittelmaßes ist. Dieser Hypnotiseur ist eigentlich der sprichwörtliche Ritter von der traurigen Gestalt. Einzig im Zusammentreffen mit Arthur und seinen Söhnen läuft er zur Hochform auf und so bleibt wenigstens ihm in fremden Leben der zweifelhafte Ruhm des Schicksal-Auslösers.

Daniel Kehlmann erzählt manchmal lakonisch, manchmal empathisch von den Schicksalen seiner Protagonisten, immer aber elegant, leicht und kraftvoll zugleich. Manchmal funkelt listige Bosheit durch, gehässig aber wird er nie. Wie sein Titel ist der Roman vielfältig deutbar, nur zwei Dinge sind am Ende des Romans klar: Das Leben ist und bleibt ein unlösbares Rätsel und Daniel Kehlmann ist ein Autor, der Unterhaltung auf höchstem Niveau bietet.

F wie Familie? Wie Fatum? Wie Fälschung, wie Fiktion, wie Fuck? Letztendlich ist es völlig egal, wofür das F nun steht. Jeder mag in diesen kleinen Buchstaben selbst hineinprojezieren, was ihm wichtig ist. Genauso wie in sein eigenes kleines Leben. Und mit etwas Glück bleibt jeder selbst von all diesen Projektionen so unbeeindruckt wie Daniel Kehlmann. Ihm und seinen Lesern ist es zu wünschen.


Genre: Romane
Illustrated by Rowohlt

Raketenmänner

Raketenmänner

Bei Elton Johns Song “Rocket Man” heisst es : “I’m not the man they think I’m at home”. Frank Goosen selbst sagte in einem Interview*, diese Zeile sei ihm die Inspiration für seinen Buchtitel gewesen. So erzählt er in seinem neuen Buch Geschichten von Männern, die die Rakete starten wollten, aber mit diversen Fehlzündungen hadern. Er erzählt von geschiedenen Vätern, von Chefs, die in Konferenzen von einem Haus am Meer träumen, von alten Schulfreunden, die in grauer Vergangenheit leidenschaftlich gemeinsam in einer Band schrammelten, von Männern, für die das Leben eine einzige Spätpubertät ist.

Es sind kleine Geschichten, die doch von den großen Lebensthemen handeln: Wehmut, Ernüchterung, die Macht von Vergangenheit und Erinnerung, Träume, Pläne und was am Ende davon übrig bleibt. So erzählen Goosens Raketenmänner vom Leben und vom Tod sowie dem Frieden, den man damit machen kann – oder eben nicht. Geschichten, jede für sich stehend, aber doch zusammengehörig. Manche Männer treffen wir in einem anderen Umfeld, einer anderen Geschichte wieder. Manch loser Faden fügt sich wieder zusammen, so dass das Buch am Ende keine Sammlung von Kurzgeschichten ist, sondern ein in sich gut abgerundeter Episodenroman.

Im Buch ist “Raketenmänner” der Titel einer vergessenen, unbekannten Schallplatte (für die jüngeren Leser unter uns: Das sind diese runden, schwarzen Dinger aus Vinyl). Die Raketenmänner tauchen aus dem Dunkel eines alten Plattenladens auf und stehen für das einzig Perfekte, das ein Musiker mit dem bezeichnenden Namen Moses je hervorgebracht hat. Wie ein roter Faden zieht sich diese Platte durch die Geschichten und spielt im Leben mehrerer Männer eine wichtige Rolle.

Goosens Stil in diesen Geschichten ist wie die Musik auf der Platte: “schlicht, ohne Show und Schnörkel. Da trifft einer, ohne zu zielen.” Mit feinem Sprachwitz und trockenem Humor lässt Goosen zeitweilig auch Melancholie und Nostalgie zu. Rechtzeitig findet er aber immer wieder zurück zu ironischer Distanz, so dass Sentimentalität gar nicht erst aufkommt. “Raketenmänner” ist ein wesentlich reflektierteres Buch als die beiden letzten des vor allem im Ruhrgebiet äußerst beliebten Autors.

Nach dem kommerziell völlig zu Unrecht nicht so erfolgreichem Roman “So viel Zeit” konnte man bei Goosen ja die Befürchtung hegen, er würde sich mit Büchern wie “Radio Heimat” oder “Sommerfest” auf eine Art ruhrischen Heimatroman beschränken. Die “Raketenmänner” nun zerstreuen diese Befürchtung, sie sind sozusagen die Quintessenz des lachenden Pokorny mit So viel Zeit. Die beliebten Gassenhauer legt Goosen nun klugerweise seinen Protagonisten in den Mund, der Erzähler selbst gönnt sich schöne einfühlsame Bilder wie die “vom Himmel über den abgeschlossenen Geschichten” oder “vom Irgendwann, dem Land, in dem die schönsten Dinge passieren“. Sätze, für die man manche Geschichten schon vom ersten Absatz an mag, auch wenn man noch gar nicht weiß, worum es geht. Sätze, die so für sich alleine stehen bleiben könnten, eine ganze Geschichte, ein ganzes Leben, in einem Satz erzählt. (Er sollte twittern.)

Natürlich sind es wie immer Geschichten mit hohem Wiedererkennungswert. Eins der größten Talente des Autors ist seine exzellente Beobachtungsgabe. Der Tonfall eines jeden Charakters ist wunderbar getroffen, man hat sie sofort vor Augen: den schnöseligen Unternehmensberater, den träumerischen Schallplattenverkäufer, die Frau, die Mann nur noch als Frau Dingenskirchen in Erinnerng hat. Und so manche Szene – man fragt sich, wie kann der wissen, was bei uns zuhause abgeht? War er dabei? Dann fällt einem ein, ach ja, der Goosen, er hat auch zwei Söhne, wie tröstlich zu wissen, dass wir alle die gleichen Probleme haben. Woanders iss eben auch scheisse.

Wie so oft bei Frank Goosen werden viele Geschichten von Musik begleitet. Die lautlosen Geschichten, die keinen Soundtrack haben sind auch die hoffnungslosen. In den anderen Geschichten ist es die Musik, die Leben retten, begleiten und beenden kann. Wie in der letzten Geschichte, die ein würdiger Schlusspunkt geworden ist. Eine Geschichte wie ein Traum von einem Rockkonzert, einem Konzert von “einfachen Leuten” für “Raketenmänner” oder umgekehrt. So sind die Raketenmänner ihre eigene Hymne geworden: Auf die Freundschaft, für die Verwirklichung von Träumen und eine verständnisvolle Liebeserklärung an die Männer mit all ihren Bemühungen und all ihrem Scheitern. Kurze Geschichten, geschrieben von einem Mann über Männer, bei weitem aber kein Buch nur für Männer. Schließlich wollen auch wir Frauen gerne wissen, wie Männer ticken. Vor allem die, die so gerne Raketenmänner wären

Erstveröffentlichung von Teilen dieser Rezension am 13.02.2014 in den Revierpassagen.de


Genre: Kurzgeschichten und Erzählungen
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Montags sind die Eichhörnchen traurig

Eichhörnchen Montag Happy End. Die Guten haben ein verdient gutes, die Bösen ein verdient böses Ende bekommen. Alle sind glücklich.
Bis auf die Eichhörnchen und den Leser.

Nachdem wir 2011 die Welt mit den gelben Augen der Krokodile sahen und 2012 den langsamen Walzer der Schildkröten tanzten, ist der Leser in diesem Jahr nun mit den Eichhörnchen traurig. Traurig aus nur einem einzigen Grund: Weil er sich mit dem dritten Band der Josephine-Trilogie, mit der sich die französische Überraschungs-Erfolgsautorin Katherine Pancol in die Herzen von Millionen Lesern geschrieben hat, von liebgewonnenen Charakteren und wundersamen Geschichten verabschieden muss.

Aber vor die Trauer hat die Autorin das Lesen gestellt. Und zum dritten Mal in Folge enttäuscht sie nicht, wird den mittlerweile hoch geschraubten Erwartungen gerecht. Die ersten Rezensionen des dritten Teils, die im letzten Jahr aus Frankreich rüberschwappten, waren nicht eindeutig positiv. Keine Ahnung warum, vielleicht ist auch einfach mein Französisch zu schlecht. Ich für meinen Teil habe auf jeden Fall wiederum keine 20 Seiten Lektüre gebraucht, um vollends in den Bann der Geschichte gezogen zu sein und am liebsten die ganzen 823 Seiten in einem einzigen Rutsch zu lesen. Eichhörnchen sind zwar keine Schildkröten, aber Walzer tanzen können sie auch.

Einmal noch dürfen wir ein Wiedersehen mit der ganzen verrückten Sippschaft feiern. Diesmal steht kein einzelner Protagonist im Vordergrund, allen Charakteren wird gleichberechtigt Raum gegeben, alle Handlungsstränge werden zusammengeführt – schließlich ist es ja auch eine erkleckliche Menge an Geschichten, die zu Ende erzählt werden wollen, auf deren Inhaltsangabe hier aber aus Gründen des Lesevergnügens weitestgehend verzichtet wird.

Zu Beginn des dritten Teils spürt man die Nachbeben der schrecklichen Ereignisse, mit denen Band zwei endete. Die Wogen sind noch lange nicht geglättet, aber sie sind dabei, abzuebben. Josephine durchquert noch einmal ein Tal der Tränen, bevor sie zu sich selbst und ihren Bedürfnissen findet, als Vorbild dient dabei durchaus ihre ehrgeizige Tochter Hortense, der der Erfolg Recht gibt. Shirley muss sich von ihrem Sohn Gary abnabeln und umgekehrt, ihre verrückte Geschichte und das, was diese Geschichte mit ihr gemacht hat, bekommt breiten Raum. Nicht fehlen darf natürlich auch der naseweise Junior, seine knuddeligen Eltern und schon mal gar nicht die abgrundtief böse Mutter Josephines.

Es bleibt beim Charakter eines modernen Märchens. Ausgiebig wird wieder Stellvertreter-Gerechtigkeit geübt, die böse Hexe wird zwar nicht auf den Scheiterhaufen, aber immerhin aus ihrer Wohnung gezerrt. Einige wenige neue Figuren werden sparsam eingeführt, gerade diese tragen aber zur Katharsis bei. So wie Josephines ehrgeizige Tochter Hortense unermüdlich auf der Suche nach dem gewissen Etwas ist, so ist es auch die Autorin. “Manche Menschen leben wie hinter einem Nebelschleier und dieser Schleier muss sich erst heben. Aber alle haben – auch ohne es zu wissen – einen Platz hinter dem Nebel.”

Katherine Pancol hat ihren ganz eigenen, sehr besonderen Stil. Sie liebt Sprache und behandelt diese genauso sorgfältig wie ihre Charaktere und Geschichten. Man merkt, dass die Autorin sich viel Arbeit mit ihren Büchern macht. Bei aller Phantasie sind ihre Bücher immer sorgfältig recherchiert, die Geschichten an keiner Stelle hingeschludert. Wohlgemerkt, viel Arbeit! Keine Mühe. An den Worten, die sie Josephine über das Schreiben in den Mund legt, merkt man deutlich, wie viel Freude die Autorin an ihren Figuren und ihrer Erzählung hat. Genau dieses Fehler jeglicher Last zeichnet Pancols Schreibstil aus. Die Bücher – insgesamt fast zweieinhalbtausend Seiten – wirken an keiner Stelle bemüht, ihre Sätze sind mit leichter, froher Feder geschrieben. An keiner Stelle gibt sie dem heute üblichen Drang, alles zu verdichten, nach und gibt ihrer Geschichte Raum und Zeit. Ich bleibe dabei: eine Scheherazade im besten Sinne.

Fazit: Alle drei Bände dieser außergewöhnlichen Trilogie sind ein seltener Glücksfall für alle, die Schmöker lieben. Selten noch hat man so mitreißend über Erfolg, Demut, Lügen, Verrat, Familien, die Liebe und das Leben gelesen.

Kleine Bemerkung am Rande: Meiner Meinung nach eignen sich alle drei Bände außerordentlich gut für Lesekreise. Ich habe alle Bände zeitgleich mit einer Freundin gelesen und sich über die verschiedenen Charaktere und ihre Entwicklung auszutauschen, war noch einmal ein Extra-Vergnügen für sich.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Bertelsmann München

Abaton – Im Bann der Freiheit

Abaton Teil drei

Der Kreis ist geschlossen, das Gute hat gesiegt. Allerdings nur um Haaresbreite. Der finale Band der Abaton-Trilogie des Autorenduos Christian Jeltsch/Olaf Kraemer ist erschienen und zieht den Leser tief in den Bann der Freiheit. Nach dem spannungsgeladenen ersten beiden Teilen muss sich im dritten Teil der Jugendbuch-Trilogie nun das Rätsel um Abaton klären.

Rückblick: Edda, Simon und Linus sind drei ganz unterschiedliche Jugendliche. Sie lernen sich in einem Feriencamp kennen, entdecken seltsame Gemeinsamkeiten und bilden gemeinsam eine “kritische Masse”, die Erstaunliches bewirken kann. Vom im zweiten Weltkrieg kaltgestellen Wissenschaftler, der eine erstaunliche, die Welt zu ändern vermögende Entdeckung machte bis hin zu Fragen von brennender Aktualität – Stichwort Prism – spannt sich der Bogen der Abaton-Trilogie. Im Bann der Freiheit nun müssen die Autoren beweisen, dass sie die vielen gesponnenen Fäden wieder zusammen und die Welt in eine wie auch immer geartete Balance zurück führen können. Es gelingt ihnen, wenn auch teils unter Zuhilfenahme sehr “lostiger” Erzählstränge und Ideen. An manchen Stellen sieht man Damon Lindelof (Drehbuchautor der Serie Lost) förmlich freundlich winken.

Edda und Simon, die im Cliffhanger von Band zwei mit Kurs auf ein unbekanntes Ziel verschwanden, finden sich auf einer Plattform mitten im Meer wieder. Dort haben sich auf Hochtechnologie spezialisierte Rebellen versammelt, die den ultimativen Schlag gegen GENE-SYS und die Macht des Geldes planen. Edda, Simon und Linus sind mit ihrer Fähigkeiten der wichtigste Teil des Planes. Doch Linus bleibt verschwunden und so mißlingt der erste Versuch eines großen Showdowns. Die Rebellen werden bis auf wenige vernichtet, das Böse droht unaufhaltsam seinen Lauf zu nehmen. Die Chance, Linus und mit ihm Abaton noch zu retten, ist erschreckend gering.

Dieser erste Teil auf der Plattform ist spannend, rasant und teilweise atemberaubend. Danach jedoch droht die Geschichte zu kippen, nur mühsam fängt sie sich wieder. Alle Protagonisten tauchen noch einmal auf, alle Geschichten werden geklärt. Das Gute siegt. Allerdings nicht, ohne dafür einen hohen Preis zu bezahlen. Damit bleiben die Autoren ihrer bewusst ehrlichen Erzählweise treu. Wie immer verkneifen sie sie sich auch Anbiederung und Oberlehrer-Gehabe. Das Buch bewirkt sicher eine Sensibilisierung für die Gefahren des Internet, eine moralische Instanz hingegen will es dankenswerterweise nicht sein. Edda, Simon und Linus dürfen Fehler machen, die Autoren gestehen ihnen sogar Aggressivität zu. Dabei werten sie das Verhalten ihrer Protagonisten nie oder versuchen, diese in Schutz zu nehmen. In Band zwei war der Unterton sehr düster, auch Band drei nimmt diesen ernsten Ton auf, allerdings schimmert Hoffnung durch. Vielleicht auch, weil Band drei stärker noch als die beiden anderen in der Erlebniswelt jugendlicher Leser verankert ist.

Wie alle Teile ist auch der dritte wieder aufwändig gestaltet, hochwertige typographische Illustrationen ergänzen das Lesevergnügen. Anders aber als in den ersten beiden Teilen haben die Autoren das Stilmittel Drehbuch weitestgehend verlassen und begeben sich mehr in die traditionelle Romanform. Die offizielle Altersangabe lautet ” für Jugendliche ab 14, aber wie jedes gute Jugendbuch auch für Erwachsene”. Dazu bleibt zu sagen, dass der Ton der Erzählung gleich dem Älterwerden seiner Protagonisten erwachsener wird. So ist es sicher gut, wenn man mit der Trilogie im gleichen Alter wie Edda, Linus und Simon (14) anfängt und dann mit ihnen Jahr für Jahr erwachsener wird. So wie Malte, der Abaton von Anfang an begleitet hat. So auch diesmal, gute Tradition in der Literaturzeitschrift: Das Wort hat der Vertreter der Zielgruppe 

Malte, 16 Jahre

Wie bereits erwähnt, habe ich die beiden vorangehenden Teile gelesen und rezensiert. Während der erste Teil mich beeindruckte, kränkelte der zweite Teil an zähen Passagen, besonders im ersten Teil des Buches.

Doch wie hat sich der dritte Teil geschlagen? Es fängt mit vielen Erzählsträngen an, die am Anfang noch etwas zusammenhangslos dastehen, sich mit der Zeit aber immer mehr verdichten und am Ende hat man eine Vereinigung dieser verschiedenen Handlungen zu einer. Die Art und Weise, wie die Autoren dies bewerkstelligt haben, hat mich sehr beeindruckt und an das Buch gefesselt, ebenso wie die grundsätzlich spannende Handlung, die aus dem Erscheinen neuer Figuren und dem Wiederauftauchen von alten Bekannten besteht.

Das Buch nimmt ein bißchen Abstand vom “Wir machen die Welt perfekt”, gibt diese Thematik jedoch nicht ganz auf und schafft es so, dieses in vorher schon zwei Büchern behandelte Thema aufzufrischen und in eine neue Art zu verwandeln. Dass das Buch ein bisschen “lostig” wirkt, kann ich nicht bestätigen, was vielleicht daran liegen mag, dass ich mir Lost noch nie angetan habe, aber andererseits daran, dass wenn man das Buch aufmerksam verfolgt und sich an die beiden vorhergehenden Bücher erinnert, die Thematik klar und kein Stück verworren wirkt. (Vielleicht lässt bei der erwachsenen Rezensentin da schon partielle Amnesie grüßen……..)

Genug gescherzt, ich möchte mich zum Abschluss mit einem ganz anderen Thema beschäftigen. Seit ich die erste Rezension verfasst habe, hat auch mich das Schicksal des Alterns ereilt und so möchte ich mich damit beschäftigen, ob das Buch auch noch für einen 16-jährigen lesenswert ist und ob die Autoren es geschafft haben, in Ausdrucksweise und Schreibstil mit ihrer Zielgruppe zu gehen. Edda, Linus und Simon werden in diesem dritten Teil durchaus als junge Erwachsene dargestellt, die zum einen wie Erwachsene handeln, in anderen Situationen aber wie der typische pubertierende Jugendliche wirken.

Die Ausdrucksweise der Charaktere ist zwar noch nicht perfekt, aber im Gegensatz zum ersten Teil, wo man sich als Jugendlicher teilweise dachte “So würde ich niemals reden”, schafft das Buch es, die Charaktere wirklich als Jugendliche von heute darzustellen, zumindest in der Ausdrucksweise. Jetzt aber genug des Applauses an die beiden Schreiberlinge, man muss halt auch leider sagen, dass man den dritten Teil nicht unbedingt einem 12-jährigen geben würde. Nicht aufgrund der Ausdrucksweise und sexuellen Handlungen, die Jugend ist ja aufgeklärt, aber das Buch ist in seiner Thematik eben auch sehr komplex und so eher für ältere Jugendliche zu empfehlen. Für ein Jugendbuch ist es keine leichte Kost und ich kann mir vorstellen, dass jüngere Leser Schwierigkeiten haben, allem zu folgen.

Mein persönliches Fazit: Die Abaton Reihe hat mich gefesselt, sie hat mich gefordert und sie war eine Abwechslung zu anderen Jugendbüchern, die teilweise so simpel waren, dass ich Jugendbüchern eigentlich schon den Rücken zugewandt hatte. Doch Abaton zeigt, dass man auch für Jugendliche ein spannendes, gut geschriebenes und anspruchsvolles Buch schreiben kann. Um nicht weiter auszuschweifen, zitiere ich mich einfach selbst
“Bevor ich vor lauter Schwärmerei noch einen Roman über den Roman verfasse, komme ich zu meinem persönlichen Fazit, welches,[…],kaum noch überraschend, sehr positiv ausfällt. Eine grandios inszenierte Geschichte”

Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Unser Beider Fazit: Die Abaton-Trilogie ist ein außergewöhnliches Buchprojekt, nicht nur für Jugendliche spannend, dazu professionell virtuell begleitet. Wir waren über alle drei Bände hinweg prima unterhalten und von der Handlung gefesselt. Und das ist doch immer noch das Beste, was man über ein Buch sagen kann, oder?

(Nach der Lektüre dieses kryptischen Gesamtkunstwerkes sei mir als Bloggerin, der man gerne das Etikett “Queen of Kryptik” anheftet, eine persönliche, kryptische Mitteilung an die Autoren gestattet: Das Easter Egg im Epilog, Absatz 7: Ganz grosses Kino! Sehr gelungen. Chapeau.Mein persönliches Highlight aus Band Drei. )

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift 

Rezension Teil eins: Abaton – Vom Ende der Angst 
Rezension Teil zwei: Abaton – Die Verlockung des Bösen 


Genre: Kinder- und Jugendbuch
Illustrated by Mixtvision München

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Ein Shootingstar der Literaturszene. Eine Schreibblockade. Ein Mentor, der plötzlich eines Jahrzehnte zurückliegenden Mordes bezichtigt wird und was bald noch schlimmer wiegt, der Pädophilie. So beginnt der Fall Harry Quebert, in dem wenig so ist, wie es scheint.

Mitte der Nuller Jahre ist Marcus Goldman der Überflieger des New Yorker Buchszene. Schon zu College-Zeiten firmierte er als
“der Fabelhafte”, was allerdings weniger seinen tatsächlichen Qualitäten geschuldet war denn seiner unbestrittenen Begabung zur Hochstapelei. Nun aber ist er wirklich wer, er hat einen Bestseller geschrieben und wird überall gefeiert. Doch Ruhm ist vergänglich und er müsste nachlegen, wenn ihn nicht das Grundübel eines Schriftstellers befallen hätte: die gefürchtete Schreibblockade.

So nimmt er nur zu gern die Einladung in das im idyllischen Küstenstädchen Aurora gelegene Haus seines früheren College-Professors Harry Quebert an, der ihm väterlicher Freund und Mentor in einem ist. Harry indes braucht bald selber Hilfe. In seinem Garten wird das Skelett der 1975 verschwundenen, damals 15jährigen Nola Kellergan gefunden. Harry hat vor 33 Jahren den Roman Der Ursprung des Übels publiziert, der als konkurrenzloser Maßstab der zeitgenössischen amerikanischen Literatur gilt. Doch Amerika muss plötzlich erkennen, das Werk ist tatsächlich nicht nur ein Ursprung. sondern auch ein Übel. Die darin thematisierte, vorgeblich fiktive Beziehung hat es tatsächlich gegeben, übler noch, die weibliche Protagonistin war minderjährig, sie war niemand anders als die Jahrzehnte lang verschwunden geglaubte Nola.

Marcus Goldman erfuhr erst kurz vor dem Aufsehen erregenden Fund der leiblichen Überreste Nolas von den Hintergründen des immer bewunderten Buches seines Mentors. Was er indes nicht weiß, ist die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Es fällt ihm schwer genug, zu akzeptieren, dass der bewunderte Harry tatsächlich eine Minderjährige geliebt hat. Dass er auch noch ein Mörder sein soll, das kann und will er nicht glauben. Ungeachtet aller Drohungen und der nahenden Abgabefrist seines noch ungeschriebenen zweiten Romans nistet er sich in Harrys Haus ein, rauft sich mit dem Polizisten Gahalowood zusammen und trägt mit diesem gemeinsam Schicht für Schicht vom Berg möglicher Wahrheiten ab. Schließlich präsentiert er nicht nur einen Täter, sondern auch einen neuen Bestseller, den Fall Harry Quebert. Harry kommt frei, Marcus ist wieder ganz oben und alles könnte schick und schön sein.

Ist es aber nicht. Denn obwohl wir seit Oscar Wilde wissen, dass am Ende alles gut wird und es nicht das Ende ist, solange nicht alles gut ist, ist es hier umgekehrt. Bei Marcus, Gahalowood und Harry ist zwar alles gut, aber es ist leider nicht das Ende. Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist mindestens genauso vielschichtig wie der Blick der Protagonisten auf die Liebe. Die Wahrheit offenbart sich auch nach mehreren Blicken nicht recht und der wahre Täter ist noch lange nicht entlarvt. Denn bis zu diesem Punkt hat jeder nur die Wahrheit gesehen, die er sehen wollte. Marcus lässt der Fall keine Ruhe, er stochert weiter im wieder undurchdringlichen Dickicht und mit ihm der Leser.

Ein Buch wie ein Autounfall. Man will nicht hinsehen, tut es aber doch. Hier will man nicht glauben, dass es immer noch nicht das Ende ist, dass noch eine Wendung wartet und noch eine. Irgendwann denkt man auch, es sei jetzt mal gut gewesen, noch einmal will man nicht umdenken und man tut es doch. Kann man es doch selber gar nicht fassen, auf welches Glatteis man sich da vom Autor hat führen lassen. Unwiderstehlich ist der Sog, den dieses Buch ausübt, geradezu unfassbar die Menge an Drehungen und Wendungen, die dieser Plot nimmt. So viele Wahrheiten, Gewissheiten, die plötzlich keine mehr sind und die ständig neu geschrieben werden müssen. Man wartet förmlich darauf, dass der Autor sich in seinen eigenen Fallstricken verheddert.Tut er aber nicht, was diverse Wiederholungen in neuen Blickwinkeln untermauern.

Unterteilt ist das Buch in 31 Kapitel, die den 31 Regeln entsprechen, welche Harry Quebert dareinst seinem Schüler Marcus Goldman für sein Schriftsteller-Leben an die Hand gab. Die Kapitel sind von hinten nach vorne nummeriert, was den Leser von vornherein darauf hinweist, wie weit zurück hier gegraben werden wird. Das Ganze ist flüssig geschrieben, mit einem sehr sicheren Gespür für Stimmungen, gerade auch weil man sich gelegentlich nicht in Aurora, sondern in Twin Peaks wähnt. Auffällig ist die Begabung des Autors für Dialoge, die Tonlagen seiner handelnden Personen hält er genauso mühelos wie die vielen Fäden seiner Geschichte. Letztendlich ist es auch nicht eine Geschichte, die er erzählt, sondern viele. Und auch wenn er den Kreis fulminant schließt, wir werden nie wissen, wo genau der Ursprung des Übels jetzt wirklich lag. Aber das sollen wir wahrscheinlich auch gar nicht. Nach Harrys Regeln sollte das letzte Kapitel eines Buches das schönste sein, dasjenige, nach welchem man das Buch mit tiefem Bedauern aus der Hand legt. Nun ist hier das letzte Kapitel nicht wirklich schön, es endet eben doch nicht gut. Trotzdem verabschiedet man sich schwer.

Bei aller Begeisterung gibt es ein paar kleine Abzüge in der B-Note: Ab und an trägt der Autor zu dick auf. Subtilität ist seine Stärke nicht durchgehend. Man nehme nur den Namen des jungen Mädchen. Nola – Lola. Man darf wohl noch froh sein, dass er sie nicht Nolita genannt hat. Und bitte – es reicht jetzt an ringenden oder boxenden Schriftsteller-Figuren. Das hat sich jetzt wirklich langsam auserzählt, es wird inflationär und erzeugt nicht mehr als ein genervtes Gähnen.

Joël Dicker lebt als Schriftsteller in der französisch-sprachigen Schweiz und seine Wahrheit über den Fall Harry Quebert ist sein zweiter Roman. Das Werk ist in der Schweiz bereits preisgekrönt und scheint sich auch in Deutschland in einer guten Auflage zu verkaufen. Durchaus zu Recht, denn der Fall Harry Quebert ist Unterhaltung im besten Sinne. Liebhaber von Betroffenheitsgeseiere sowie von stilpuristischen Thrillern werden nicht so ganz auf ihre Kosten kommen, aber die breite Masse dazwischen, die einfach nur gut und abwechslungsreich unterhalten werden möchte, ganz sicher.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

Warum fragt uns denn keiner

Melda Akbas, Warum fragt uns denn keinerIn fast allen Bundesländern sind die Sommerferien zu Ende und das neue Schuljahr hat begonnen. Neues Spiel – neues Glück? Manchmal scheint es so, als wäre Bildung Glückssache und als würde viel zu oft mit den Bildungswegen unserer Kinder gespielt. Deshalb gibt es passend zum Thema Schule eine der in diesem Blog seltenen Sachbuchvorstellungen: Warum fragt uns denn keiner? – Ein Buch von Melda Akbas, Untertitel: Was in der Schule falsch läuft.

Die Autorin ist von Haus aus Berlinerin, dort als Tochter türkischer Eltern geboren und zur Schule gegangen. Mit ihrem noch als Schülerin veröffentlichten Erstling So wie ich will – Mein Leben zwischen Moschee und Minirock war sie 2010 eine der jüngsten Bestseller-Autorinnen überhaupt. In ihrem neuen Buch nun also die umfassende Thematik Bildung. Eine Thematik, die zwar viele in dieser Republik bewegt, die aber allzu oft zum Gegenstand diverser Sonntagsreden verkümmert.

Die heutige Jurastudentin Melda Akbas weiß, wovon sie redet. Bis zum Abitur erlebte sie Unterricht bei insgesamt 51 Lehrern in 15.522 Unterrichtsstunden. Sie war stellvertetende Schulsprecherin und engagierte sich im Landesschülerausschuss. Es sind ihre Erfahrungen und die von vielen anderen Schülern, die sie in ihrem Buch zusammengetragen hat und die sie immer wieder auf eine Kernfrage zurückkommen lassen: Warum fragt denn keiner mal die Schüler? Schließlich sind sie es, für deren Zukunft in der Schule die Weichen gestellt werden. Die Schülersicht auf Unterrichtsgestaltung, Zensuren, Unterrichtsausfälle und den Umgang der Pädagogen mit ihren Schutzbefohlenen ist schon eine ganz andere als die in Sonntagsreden der Politik verkündete, als die Sicht der Schulbehörden und auch der Lehrer. Aber es fragt sie keiner, die Meinung derer, die betroffen sind, wird zu selten noch wahrgenommen, ernst genommen oft erst recht nicht.

Schulpolitik wird in Deutschland traditionell von Behörden, sogenannten Experten und Politikern gemacht. Selbst wenn man ihnen nicht unterstellt, die Interessen der Schüler und der Lehrer zu ignorieren, sie haben auch andere Dinge im Auge zu behalten, die mit Bildung an sich nichts zu tun haben. Entsprechend weit sind die Vorschläge, Maßnahmen und die immer wieder mit heißer Nadel gestrickte Reformen vom Alltagsleben der Schüler entfernt. So nimmt es nicht wunder, dass viele Schüler und Lehrer demotiviert und frustriert sind. Melda Akbas betreibt mit den in ihrem Buch dokumentierten Gesprächen und Berichten Ursachenforschung, die sie in ihrem Hauptkritikpunkt, der mangelnden Schüler-Mitbestimmung bestärkt.

Bei ihren Befragungen kommen Schüler/innen, Lehrer und Bildungsbeauftragte aus verschiedenen Bundesländern und Schulformen zu Wort. Dabei kommt auch dem Thema Integration immer wieder eine große Bedeutung zu. Es ist in Deutschland leider immer noch zu oft ein Tabu, dieses Thema im Klartext anzugehen. Melda Akbas scheut sich da weniger. Sicher gut, dass da mal von einer Autorin klare Worte kommen, die sich auch in der türkischen Gemeinde engagiert. Generell malen die im Buch dokumentierten “Zeugnisse” ein sehr viel klareres Bild vom Zustand der schulischen Bildung in unserem Land, als es sämtliche trockenen und rein theoretischen Berichte je könnten.

Melda Akbas ist dabei sehr bemüht, keine Einseitigkeit aufkommen zu lassen und den verschiedensten Blickwinkeln gerecht zu werden. Diese Vorgehensweise birgt naturgemäß die Gefahr der Schwammigkeit und dieser Gefahr erliegt die Autorin durchaus an manchen Stellen. Vor allem, wenn klar wird, dass es den alleinig selig machenden goldenen Weg wohl nie geben wird und dass einfach nicht alle Vorstellungen unter einen Hut zu bringen sind. Darüberhinaus ist ihre Herangehensweise sehr speziell, sie springt gerne zwischen Thesen und Erlebten hin und her, was dem Buch eine gewisse Unruhe und Unübersichtlichkeit gibt. So manche Lösungsansätze gehen schier unter in der Masse der Informationen. Da ist es gut, dass die Autorin zum Abschluß des Buches noch eine Sammlung ihrer Änderungsvorschläge dem Buch hintenanstellt.

Natürlich muss man auch sagen: Vieles von dem, was Melda Akbas fordert, gibt es schon. Viele Schulen bemühen sich sehr, Schüler mit einzubeziehen und die Schülervertretungen in ihrer Arbeit zu unterstützen, zu bilden und zu stärken. Doch bei allen Bemühungen bleibt dafür einfach nicht genug Zeit, da immer neue unausgegorene Reformen den Schulalltag erheblich erschweren. Man hat in der Tat den Eindruck, dass Schülerbeteiligung von “oben” zu oft belächelt und als unwichtig abgetan wird. Unterstützung erfahren die in dieser Sache Engagierten definitiv nicht.

Warum fragt uns denn keiner ist mit viel Herzblut, viel Engagement und persönlicher Betroffenheit geschrieben, das macht es glaubwürdig. Es bleibt das ungute Gefühl, welches beim Thema Bildung immer mitschwingt. Denjenigen, die dazu wirklich etwas zu sagen haben, wird nicht zugehört. Könnte ja ein Ende der ach so bequemen Flickschustereien bedeuten. Das Buch bietet gute Einblicke, die viele Beteiligte sicher bestätigen können. Es wäre wünschenswert, dass diesem Buch Aufmerksamkeit von richtiger Stelle geschenkt wird. Auch wenn man sich manche Lösungsvorschläge konkreter erhofft hätte: Warum fragt uns denn keiner ist eine wirklich gute Diskussionsgrundlage

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Erfahrungen
Illustrated by Bertelsmann München

Erika Mustermann

Erika Mustermann Da ist es ja. Genau das Buch, auf das ich gewartet habe. Keine Ironie! Nur Pointen. Die allerdings im Buch, um das es hier geht. Erika Mustermann von Robert Löhr. Ein kleiner, feiner Begleitroman zur Bundestagswahl mit Hilfe einer gepflegten Innenansicht aus dem politischen Leben der Piratenpartei. Und weil wir hier nicht bei der Heute-Show sind, ist es nicht die FDP , die zusätzlich ihr Fett wegkriegt, sondern Bündnis 90/die Grünen.

Zunächst lernen wir Friederike kennen. Sie ist eine waschechte Grüne, in der Bundeshauptstadt der Geldvernichtung politisch aktiv, soweit es ihr Leben als alleinerziehende, berufstätige Mutter zulässt. In letzter Zeit ärgert sie sich jedoch zunehmend über die Piratenpartei, die ihren Grünen in der öffentlichen Wahrnehmung das Image der erneuernden Revolutionäre streitig machen. Für sie sind die Piraten nur raubkopierende blasse nerdige Einzelgänger, die sich einen Teufel um die Umwelt scheren, solange nur ihr gelobtes Land, das Internet, frei bleibt. Sie beschließt einen Feldzug gegen die Piraten, geht zu diesem Zweck als Erika Mustermann undercover und schleust sich in die Partei ein. Als erstes Opfer hat sie Volker Plauschenat auserkoren, einen eigentlich harmlosen Abgeordneten. Bloß dumm, dass nicht alles schlecht ist, was orange scheint und als dann auch noch Gefühle ins Spiel kommen, wünscht sie sich, nie an Bord der Piraten gegangen zu sein.

Der Autor Robert Löhr lebt in seiner Geburtsstadt Berlin. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er auch als Journalist und Drehbuchautor. Für Erika Mustermann ist er tief eingetaucht in das Paralleluniversum der Piratenpartei. Er besuchte Sitzungen, Parteitage und Stammtische und ließ die Ergebnisse seiner Recherchen fiktional in Erka Mustermann einfliessen. Erika Mustermann beschäftigt sich vordergründig mit den Piraten und den Grünen, den beiden Parteien, von denen immer noch genug erwarten, dass sie das politische System updaten. Das Buch ist aber auch eine überaus gelungene Zustandsbeschreibung des unübersichtlichen Themenkomplexes politisches Leben im orientierungslosen Berlin anhand geschliffener Porträts von Parlamentariern und ihrer Basis.

Erika Mustermann ist rasant geschrieben, der Autor zögert an keiner Stelle und es wurde – soweit ich es beurteilen kann – ordentlich recherchiert. Löhr beschert dem Leser jede Menge überraschende Wendungen, die manchmal nur aus einem kleinen Wink bestehen, seine Protagonisten sind zwar knapp, aber gut charakterisiert, man kann sie gut vor sich sehen. Eingestreute Tweets und Mails sorgen für den nötigen Schlüssellocheffekt und zeigen so als kleine Nebenwirkung noch das Dickicht und die Fallstricke unserer digitalen Umwelt und die immer noch unterschätzte Macht sozialer Netzwerke. Sogar Freunde von virtuellen und reellen Rollenspielen werden in einigen Sequenzen voll auf ihre Kosten kommen. An diesen Stellen bin ich mir allerdings nicht ganz sicher, wie leicht das Buch für Leser zu lesen sein wird, die nicht so firm in digitalen Thematik sind. Ich für meinen Teil war zumindest froh, mich in der Twitterwelt recht gut auszukennen.

Das Buch ist immer wieder für einen lauten Lacher gut, ebenso für ein zustimmendes Nicken oder ein irritiertes Kopfschütteln. Bei aller Ironie, allem Witz bleibt Löhr jedoch durchgehend fair. Es gibt keine Witze auf Kosten real existierender Personen, auch seinen Protagonisten nähert er sich durchaus mit Sympathie. Sein Tempo hält Löhr bis zum Ende durch. Gerade auch für das Finale hat er sich große Mühe gegeben, es macht auch gar nichts, dass er da seiner Phantasie freien Lauf ließ. Das Romanende von Friederike ist noch eher erwartbar und zwangsläufig. Aber nun gut – Friederike ist als alleinerziehende Mutter konzipiert, da sind der Möglichkeiten nun mal nicht allzu viele. So gesehen bleibt Löhr da konsequent. Während also Friedrikes Entwicklung zum Schluss nicht ganz so überrascht, hat der Autor beim Romanende von Plauschenat alle Register gezogen und sich nicht lumpen lassen.

Plauschenats Romanende ist großartig, phantastisch im Wortsinne und trotzdem im Bereich des Möglichen. Ich habe dieses Ende – welches völlig unerwartet kommt, hat man als Leser doch schon so gut wie abgeschlossen mit der Geschichte – sehr befriedigt zur Kenntnis genommen, mich großartig amüsiert. Nachgerade filmreif, großes Kino entstand da vor meinem geistigen Auge. A propos großes Kino, ich bin ehrlich davon überzeugt, dass dieser Roman eine feine Vorlage für eine dieser neudeutschen Screwball-Komödien abgeben würde. Herr Florian David Fitz, Herr Justus von Dohnanyi, lesen Sie bitte freundlicherweise dieses Buch, überreden den Herrn Löhr, ein schickes Drehbuch zu stricken, übernehmen selbst die männlichen Hauptrollen und teilen sich die Regie? Gute Idee? Ja? Ja. Bitte. Danke.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.de


Genre: Romane
Illustrated by Piper München, Zürich

Überlebensgroß

Mark Watson? Überlebensgroß? Da war doch was? Richtig -. ich war das. Ich hatte Mark Watson 2011 für seinen ersten auf Deutsch erschienenen Roman Elf Leben hochgejubelt, für überlebensgroß erklärt  und dieses Buch letztendlich sogar zu meinem Buch des Jahres 2011 gekürt. 

Mark Watson ist ein Romanautor, der in England auch als Kolumnist, Radio- und Fernsehmoderator sowie als Stand-Up Comedian Kultstatus genießt. Wörtlich schrieb ich 2011, dass ich inständig auf weitere ins Deutsche übersetzte Bücher von ihm hoffe. Ein bißchen habe ich warten müssen, was möglicherweise mit der Suche nach einem neuen Verlag zusammenhing. Aber nun bin ich zufriedengestellt, Überlebensgroß ist da und  im Juli erschien zudem als Taschenbuch eines der ersten Bücher Watsons auf Deutsch, Rückwärtsleben. .

Man ahnt es, meine Erwartungshaltung also war überlebensgroß und das ist nie fair. Fazit vorab: Überlebensgroß hat mich nicht ganz so gepackt wie Elf Leben. Es mag daran liegen, dass der Schreibstil Watsons mir schon vertrauter war und mich nicht mehr so überraschen konnte. Möglicherweise aber auch daran, dass Watson in Überlebensgroß ein ganzes Füllhorn von Themen über den Leser ausschüttet, in Summe vielleicht ein bißchen arg viel für knapp 400 Seiten. Es geht um Familie, um Liebe, um Freundschaften, um das Alter, um Alzheimer, um unerfüllte Sehnsüchte, in Summe darum, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, im Überbau gibt es noch ein fein gezeichnetes Zeitbild des Lebens kleiner Leute in den 60ern dazu. Dennoch ist es ein Buch, welches lange nachwirkt und eine uneingeschränkte Empfehlung bekommt.

MarkWatsonUeberlebensgroß Überlebensgroß die Geschichte von Dominic Kitchen und seiner Familie. Eigentlich ist es eine einfache Geschichte, alles andere als überlebensgroß, an und für sich ist es eher eine Geschichte all der kleinen Dinge, die das Leben lebenswert oder schwer machen. Dominics Familie ist auf der einen Seite geprägt von liebenswerten Schrullen, auf der anderen von Ignoranz. Wie in allen Familien gibt es Familiengeheimnisse, Streitigkeiten und Schwierigkeiten. In der Familie Kitchen ist man aber meist damit zufrieden, allem einen schönen Schein zu geben und diese unter den Teppich zu kehren. Bloß nicht dran rühren ist das Credo. Dominic ist in dieser Familie der Jüngste, derjenige, auf dem die wenigsten Hoffnungen ruhen und von dem am wenigstens erwartet wird. Seinem Bruder Max begegnet er mit wenig Sympathie, alleine seine schöne, wilde Schwester Victoria, die immer für eine Überraschung gut ist, betet er an und stellt sie auf ein überlebensgroßes Podest.

Dominic entdeckt früh seine Leidenschaft für die Fotografie. Sein Brot verdient er als Hochzeitsfotograf und hält so die glücklichsten Momente im Leben anderer Menschen fest, während Glück für ihn selbst unerreichbar scheint. Die Kunst der Fotografie ist für ihn auch die Möglichkeit, der Unsichtbare zu bleiben, der Mann hinter der Kamera, den man meistens nicht zur Kenntnis nimmt. Günstig für ihn, denn Dominic baut nach außen zwar eine Scheinwelt auf, die gesellschaftlichen Normen entspricht, doch er wird getrieben von einer unerlaubten, unerhörten Sehnsucht, von der keiner je erfahren darf. Und genau an dieser Stelle bricht hier mit Absicht die Inhaltsangabe ab, denn es wäre wirklich schade, dem Leser das dunkle Geheimnis zu verraten und ihn so des – ohne Übertreibung – wirklich schockierenden und unerwarteten Momentes zu berauben.  Nur soviel: Mark Watson bricht da ganz en passant eins der letzten Tabus, ein Tabu, über das auch jenseits sämtlicher existierender Feuchtgebiete nicht gesprochen wird.

Im Original heisst das Buch the Knot – der Knoten und auch wenn mir hier ausnahmsweise einmal der deutsche Titel besser als das Original gefällt, passt natürlich der Verweis auf den  Knoten ganz gut. Dominic ist erfüllt von einer Sehnsucht, die niemand billigen würde oder verstehen könnte. Einer Sehnsucht, die ihm den Hals zuschnürt und einen Knoten in seinem ganzen Lebensentwurf knüpft, den er niemals wird auflösen können, der nicht einfach mit einem Klick auf den Auslöser zu entwirren ist. Auch nicht in der Aufarbeitung.

Mark Watson ist für seine Experimentierfreude auf allen Gebieten bekannt, auch für Unerschrockenheit und klare Worte. Des gilt umso mehr für Überlebensgroß. Er schreibt in einer schönen, klaren, flüssig zu lesenden Sprache, hat dabei aber einen ganz eigenen Stil. Nur auf den ersten Blick wirken seine Sätze leicht, wie hingeworfen. Auf den zweiten Blick ist er ein Meister der Lakonie, verbunden mit viel Empathie für seine Charaktere und deren Geschichten. Er ist komplett unerschrocken, packt Themen an, denen die meisten Schriftsteller sich nicht einmal nähern würden. Gelegentlich hat er einen leichten Hang zum Pathos, doch da er nie kitschig wird, schadet das aber nicht. Im Gegenteil – dadurch werden seine Geschichten nachempfindbar und das vorher so leicht und lakonisch Hingeworfene trifft den Leser mit voller Wucht. Es sind die Gegensätze, derer sich Mark Watson gerne bedient. So geht der Schluß des Romans einerseits tief zu Herzen, andererseits befreit er Dominic und mit ihm den Leser mit dem Wagnis eines alle Konventionen verletztenden unerhörten Befreiungsschlags.

Mark Watson ist ein Ausnahme-Sschriftsteller. Auch wenn ich elf Leben immer noch den berühmten Tacken besser fand, ist auch Überlebensgroß weit lesenswerter als so ziemlich alles, was derzeit als Bestseller hochgejazzt wird, mir tausendmal lieber als das zigste Remake von Forrest Gump, Love Story oder ziemlich beste Freunde. Sorry, aber das war mir jetzt ein Anliegen. Dazu demnächst mehr.

Ein freundlich gemeinter Rat zum Schluss: Wenn Sie ein Mann sind, schenken Sie dieses Buch NICHT ihrer Schwester. Jedenfalls nicht, ohne es vorher gelesen zu haben. Glauben Sie mir.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift

*Elf Leben gibt es mittlerweile auch im Heyne Verlag, die dort verlegte Taschenbuchausgabe trägt den Titel Ich könnte am Samstag.
Alle Bücher auch als E-Book, Hörbuch oder Audio-Download


Genre: Romane
Illustrated by Heyne München