Der Butt

grass-1Ilsebill salzte nach

Dieser Dreiwortsatz, der mir hier als Überschrift dient, leitet den neben «Die Blechtrommel» wichtigsten Roman von Günter Grass ein. Der Satz wurde dreißig Jahre nach dem Erscheinen von «Der Butt» in einer Internetumfrage zum schönsten ersten Satz eines deutschsprachigen Romans gekürt. Kann er Lust machen auf die folgenden fast siebenhundert Seiten, wie es seine Aufgabe ist, und halten diese Seiten dann auch, was er vorab verspricht?

Das bekannte Märchen «Vom Fischer und seiner Frau» liefert das Gerüst für eine sexistische Variante der Geschichte, die den Kampf der Geschlechter von der Jungsteinzeit bis in die Neuzeit, bis zur Guillaume-Affäre, episodenhaft beschreibt. Grass übernimmt den Namen Ilsebill als zeitlose Verkörperung der Frau, deren Mann, seinerseits stellvertretend für das männliche Prinzip, den Butt fängt. Zum Dank für seine Freilassung steht der ihm nun als gleichermaßen fachkundiger wie streitbarer Berater für die Sache der Männer zur Seite. Als zeitliches Handlungsgerüst fungiert in der ersten Erzählebene die Schwangerschaft von Ilsebill, Grass benennt seine Kapitel dementsprechend mit «Erster Monat» bis «Neunter Monat». In den so gegliederten Epochen tritt in der zweiten Erzählebene der Ich-Erzähler in immer wieder neuen Rollen als Mann auf, dem jeweils eine andere Frau als Köchin zu Seite steht, das weibliche Prinzip verkörpernd. «Bevor gezeugt wurde gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen» erfahren wir auf der ersten Seite, womit gleich noch ein weiteres Leitmotiv dieses ambitionierten Romans anklingt, die Geschichte des Kochens nämlich. Dabei steht hier die kaschubische Küche im Blickpunkt, deren ungewohnt deftigen Rezepte, das sei mir, ganz subjektiv, gestattet zu sagen, uns Heutigen eher abschreckend erscheinen dürften als appetitanregend. Vor einem spöttisch geschilderten, weiblichen Tribunal, eine bissige Parodie des RAF-Prozesses, muss sich der Butt als Spiritus Rector der männlichen Sache verantworten, auch dies ein ständig wiederkehrendes Leitmotiv.

Es dürfte klar sein, dass «Der Butt» mit einem derart komplexen Aufbau nicht gerade als leicht lesbar bezeichnet werden kann. Unendlich viele Zeitsprünge ebenso wie das völlig ausufernde Figurenensemble mit – ich habe sie nicht gezählt – gefühlt hunderten von Namen erfordern volle Konzentration vom Leser. Durch häufiges, auch mehrmaliges Rekapitulieren von wichtigen Geschehnissen hat Grass allerdings, zumindest für die Hauptfiguren, die Zuordnung ein wenig erleichtert. Schwierig aber bleibt seine, mit unglaublich vielen umgangssprachlichen, mundartlichen, zeit- und ortsbezogenen, oft derben Wörtern und originellen Wortbildungen gespickte Sprache, die selbst vor vulgärsten Ausdrücken nicht zurückschreckt, was Elke Heidenreich einst mit «ekelhafte Altmännerliteratur» quittiert hatte. Wie auch immer, die Fülle an Details ist jedenfalls erdrückend, oft wird ein dutzend Bezeichnungen allein für eine bestimmte Rübe benutzt, und ähnliches gilt für die vielen geografischen Namen im einstigen Pommern, die nur Wenigen heute noch geläufig sein dürften, um von den diversen, geschichtlich kleinräumigen Ereignissen ganz zu schweigen.

Das Buch ist, in einer extrem dichten Sprache, aus unverkennbar männlicher Sicht geschrieben, auch wenn Günter Grass sich vordergründig ganz demonstrativ auf die Seite der Frau schlägt in seiner historischen Darstellung. Die heftige Kritik in Alice Schwarzers damals gerade neu gegründeter Zeitschrift «Emma» aber ist nachvollziehbar, er entlarvt sich des Öfteren selbst. Unverkennbar jedoch ist auch seine köstliche Ironie, die sich in vielen verblüffend lakonischen, ja beißend sarkastischen Wendungen zeigt, die den oft üppig ausschweifenden Roman wohltuend zu beleben vermögen. Weder Matriarchat noch Patriarchat scheinen die ideale Gesellschaftsform zu sein, so das wahrlich nicht überraschende Fazit dieser lesenswerten Emanzipations-Satire.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Wellen

keyserling-1Baltischer Fontane

Zu den wenigen bedeutenden Schriftstellern des Impressionismus, der den bis dato in der Literatur dominierenden Realismus abgelöst hat, gehört Eduard von Keyserling, dessen 1911 erschienener Roman «Wellen» ein beredtes Beispiel ist für eine ausgesprochen subjektive, dem Jetzt verpflichtete Erzählweise, die eine sehr persönliche Erfahrung der Wirklichkeit wiedergibt. Dieser in Vergessenheit geratene Roman des estnischen Autors, 1998 neu publiziert, wurde, nicht zuletzt durch eine bemerkenswert enthusiastische Besprechung im «Literarischen Quartett», zu einem Überraschungserfolg. Zu Recht?

Der Roman des «baltischen Fontane» reiht sich ein in jene Literatur des Fin de Siècle, die dem Leser eine Welt des Adels nahebringt, dessen Ende damals bereits absehbar war, zu der man aber aus lesewütigen bürgerlichen Kreisen gerne gaffend aufgeblickt hat, Identifikationsfiguren suchend, in die man sich für einige Lesestunden hineinversetzen konnte. Und so bevölkern denn auch standesgemäß Grafen und Barone, ein Geheimrat und ein Leutnant jenen kleinen Badeort an der Ostsee, der ihnen allen für einige Zeit als Sommerfrische in der unmittelbaren Nachbarschaft bodenständiger Fischer dient. Die liebevoll beschriebene äußere Idylle wird geschickt konterkariert durch eine sich anbahnende Tragödie, die der Autor sehr behutsam in Szene setzt, ganz ohne Effekthascherei.

Nach einer unglücklichen Ehe mit dem deutlich älteren Grafen Köhne ist Doralice, eine bildschöne junge Frau, ganz unstandesgemäß mit ihrem Portraitmaler durchgebrannt, wird seither von der Gesellschaft geächtet und hat sich mit ihrem Maler, – man habe in London geheiratet, heißt es -, in diese Abgeschiedenheit geflüchtet. Nachbar ist der erzkonservative Baron Butlär mit Gattin, seiner als Generalin titulierten Schwiegermutter Gräfin Palikow, dem jüngeren Sohn und zwei erwachsenen Töchtern sowie einem Schwiegersohn in spe, dem schneidigen Leutnant Hilmar. Trotz gesellschaftlicher Ächtung kommt es allmählich doch zu Kontakten mit Doralice, nicht zuletzt auch durch Vermittlung des buckligen alten Geheimrats Knospelius, der ebenfalls dort wohnt. Der voraussehbare Eklat, – man erahnt ihn beim Lesen -, den zu beschreiben ich hier aber aus Fairness potentiellen Lesern gegenüber lieber unterlasse, dieser Skandal also führt am Ende zu einer geradezu grotesken Situation, die aber nicht unlogisch ist und als nachdenklich machende Katharsis zurückbleibt.

Im stimmig geschilderten, sympathischen Figurenensemble fallen zwei Protagonisten besonders auf, sie liefern nämlich durch ihre köstlichen Beiträge in den erfrischend lebhaften, ungekünstelten Dialogen jenen Lesespaß, der Literatur zum reinen Vergnügen werden lässt. Da ist zum einen die verwitwete Generalin, hier wie sie beispielsweise Doralice die Leviten liest: «Mich hat zwar noch nie jemand entführt, ich hatte es auch nicht nötig, ich war mit meinem Palikow immer recht zufrieden, […] Aber mit dem Herrn, der einen entführt, leben, dass ist die Kunst. Glauben sie mir, man kann sehr gut leben, auch ohne dass ein Mannsbild immer vor einem auf den Knien liegt.» Und der gnomenhafte Knospelius räsoniert bei der Einladung zu seinem Geburtstag: «Na ja, das Älterwerden mag ja seine guten Seiten haben, aber zum Feiern wäre ja schließlich keine Veranlassung. Diese Welt hier ist zwar recht fragwürdig, allein besondere Eile herauszukommen hat man nicht […] Sehen sie, eine Welt ohne Knospelius und eine Welt mit Knospelius, das ist für mich ein gewaltiger Unterschied.» Es steckt viel handfeste Lebensweisheit in diesem wunderbaren Roman, der eine Behaglichkeit erzeugt beim Lesen, welche in der Tat stark an Fontane erinnert. Sprachlich allerdings ist der hier aus wechselnder Perspektive mit feinem psychologischen Gespür erzählende Keyserling deutlich moderner, es geht aber auch dramatischer zu bei ihm als beim Großmeister des Plaudertons. Wie schön für uns Leser, dass ein so großartiger Schriftsteller glücklich wiederentdeckt wurde.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Der Fangschuss

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Tiefenwirkung

Die unter Pseudonym schreibende Autorin mit belgisch-französischen Wurzeln hat ihren 1939 erschienenen kurzen Roman «Der Fangschuss» in Sorrent verfasst, fernab vom Handlungsort ihrer Geschichte im Baltikum. Marguerite Yourcenar stellt ihren Ich-Erzähler, der morgens um fünf am Bahnhof von Pisa auf seinen Zug nach Deutschland wartet, auf den ersten eineinhalb Seiten kurz vor. «Es war die Dämmerstunde», schreibt sie, «in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen».

Und nun erzählt Erich von Lhomond, ein vierzigjähriger ehemaliger preußischer Offizier, der in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg ein Jahrzehnt als Kommandeur an verschiedenen Fronten gekämpft hat, seinen beiden Kameraden eine Episode aus dem Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken in Estland und Kurland, wo er ein Freikorps befehligt hat. Man ist als Leser sofort mitgerissen durch seinen, entfernt an Fontane erinnernden, ebenso angenehmen wie kurzweiligen Plauderton, den man förmlich hört, nicht liest. Marodierende Banden aus aufgelösten Truppenteilen sorgen für chaotische Zustände, der Tod ist allgegenwärtig. In diesem Schlamassel nimmt Erich mit seinen Männern Quartier im zerschossenen Schloss seines besten Freundes und Kampfgefährten Konrad von Reval und trifft dort auf dessen Schwester Sophie. «Auch in der Liebe bin ich, nebenbei bemerkt, fürs klassisch Einfache», sind seine Worte, und in der Tat erweist er sich im Verlauf der Geschichte als nahezu emotionsloser, kühl denkender Mensch, dem Frauen prinzipiell suspekt sind. Die burschikose zwanzigjährige Sophie aber, die nichts von jungen Männern hält, hat sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Erich erfährt, dass sie Opfer einer Vergewaltigung war, spricht aber nie mit ihr darüber. Als sie ihm schon bald offen ihre Liebe erklärt und sich ihm unverblümt anbietet, ist er zwar in seiner Eitelkeit geschmeichelt, hält sie jedoch auf Abstand, lässt außer inniger Freundschaft keine intime Nähe entstehen – und stürzt sie damit in tiefste Seelenpein.

Sophie reagiert schließlich verzweifelt, sucht Abenteuer mit anderen Männern, nur um ihn eifersüchtig zu machen, seine Liebe zu erzwingen. Erichs bisexuelle Orientierung wird an lediglich einer Stelle nur sehr vage angedeutet. Eines Tages verschwindet sie überraschend ohne Abschied aus dem Schloss. Ihre Spur verliert sich schnell, einiges deutet jedoch darauf hin, dass sie sich den Bolschewiken angeschlossen hat. Nach einigen Monaten stehen beide sich ganz unerwartet plötzlich gegenüber. Der Showdown, und hier speziell die letzte Seite des Romans – ein wahrlich wirkungsstarker dramaturgischer Ablauf, erhebt in seiner aufwühlenden Tragik die ganze, überaus fesselnde Geschichte in die Problemsphären eines antiken Dramas, mehr will ich aber nicht verraten. Mich hat diese letzte Szene jedenfalls, obwohl ich nicht gerade zart besaitet bin, nicht nur zutiefst erschüttert, sie hat bei mir sogar körperliche Symptome ausgelöst, ist mir auf den Magen geschlagen, so ungeheuerlich fand ich das Geschehen. So was hat noch kein anderes Buch je geschafft.

«Das Geschehnis hat mich bewegt, und ich hoffe, dass es auch den Leser bewegt», schreibt Yourcenar im Nachwort, eine in Romanen ja recht selten anzutreffende Ergänzung des fiktionalen Textes, die sich hier als äußerst wertvoll erweist. Denn eine derart berührende Geschichte wirkt nach, wirft Fragen auf, und was könnte da hilfreicher sein als entsprechende Hinweise der Verfasserin? Ihre Geschichte beruhe auf einer wahren Begebenheit, erfahren wir, und auch ihre drei Hauptfiguren entsprächen im Wesentlichen der realen Vorlage. Deren Psychogramme sind fein durchdacht und wirken stimmig, überhaupt beweisen Handlung wie auch sprachliche Umsetzung der komplexen Geschichte große literarische Könnerschaft, die das Lesen zum Hochgenuss werden lässt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Gruppenbild mit Dame

boell-3Fanal der Humanität

Der 1971 erschienene Roman «Gruppenbild mit Dame» habe den Anstoß dafür gegeben, konnte man in der «London Times» lesen, dass Heinrich Böll den Nobelpreis bekam für eine «Dichtung, die durch ihre Verbindung von zeitgeschichtlichem Weitblick und einfühlsamer Charakterisierung erneuernd in der deutschen Literatur gewirkt hat», wie die Stockholmer Jury schrieb. Als wichtigster Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur hat Böll hier mit dem Stilmittel der Darstellung historischer Ereignisse anhand ihrer Auswirkungen auf den Alltag der Menschen erzählt, auf deren Lebensweise, auf deren Schicksal. Die Würde des Menschen spielt auch im vorliegenden Roman eine entscheidende Rolle, wobei es dem Autor immer wieder darum ging, mittels seiner Kunst die Individualität in den Fokus zu rücken, seine Gestalten nicht als bloße Manövriermasse der Mächtigen darzustellen. Der dabei benutzte, für ihn typische Erzählstil ist scheinbar naiv, erweist sich aber genauer besehen als klug durchdacht, er ist zudem üppig mit köstlich amüsanter Ironie gespickt, die bei einem Menschenfreund wie Böll aber nie zynisch wird.

Wir haben es mit einem Geschichtsroman zu tun, der das Deutschland der Jahre 1922 bis 1970 beschreibt, wo die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg als Zäsur bis lange in die Nachkriegszeit hineinwirken und Verdrängungsmechanismen hervorrufen, die im Wirtschaftswunder sehr schnell die Schuld der Vergangenheit kaschieren. Hauptschauplatz der Handlung ist (ungenannt) Köln, Protagonistin die titelgebende Dame jener Gruppe, die als Figuren in großer Zahl den Roman bevölkern. Der Autor schildert seine Heldin Leni als bildschöne blonde Frau mit blauen Augen, die prompt den Preis als deutschestes Mädel ihrer Schule gewonnen hat. Gutherzig, unglaublich naiv, ungebildet, gleichwohl intelligent, auch künstlerisch begabt, eigensinnig bis zur Sturheit, von den Männern (fast immer erfolglos) umschwärmt, durchlebt sie im Verlauf des Plots den Niedergang von der verwöhnten Tochter eines reichen Kriegsgewinnlers bis zur mittellosen WG-Betreiberin Ende Vierzig, deren Sohn im Gefängnis sitzt und die ungerührt der von Spekulanten betriebenen Zwangsräumung ihrer Wohnung entgegensieht, unterstützt allerdings von einer großen Helferschar, die ihr als von allen Verehrte selbstlos beistehen. Zentrale Episode der Geschichte ist ihre in Kriegszeiten lebensgefährliche Liaison mit einem russischen Zwangsarbeiter, von dem sie bald auch ein Kind hat, der dann aber kurz vor Kriegsende bei einem Grubenunglück stirbt.

Erzählt wird in der dritten Person von einem namenlosen, stets nur als Verf. bezeichneten Erzähler, der den Leser den Entstehungsprozess seiner Geschichte über Leni miterleben lässt, von seinen vielen Gesprächen, Recherchen und Reisen berichtet, mit denen er von Weggefährten seiner zwar lebenden, aber jede Auskunft verweigernden, wortkargen Heldin fleißig Informationen zusammenträgt, die ein möglichst authentisches Bild von ihr ermöglichen sollen. Obwohl zum größten Teil fiktional, sind gelegentlich auch reale Dokumente eingebaut in sein hauptsächlich aus Gesprächsnotizen bestehendes «Gruppenbild», eine Konstruktion, die dem Autor dazu dient, das Leben der damaligen Zeit aus allen möglichen Blickwinkeln zu beleuchten, verkörpert durch seine unglaublich einfühlsam beschriebenen, lebensechten Figuren. Deren Geschichten man en passant ebenfalls erzählt bekommt, wodurch das Ganze zu einem umfassenden Panorama einer unrühmlichen Epoche wird, welches aus der Realität des Alltags eines Volkes geschichtliche Geschehnisse und typische Charaktere widerspiegelt. So mancher ältere Leser dürfte da lang Vergessenes wiederfinden, für jüngere ist es allemal ein wertvolles Zeitzeugnis.

Militarismus, Katholizismus, Kapitalismus, der unbeirrte Moralist Böll baut seine großen Themen auch in diesen Roman ein, er sieht sich auch hier als Anwalt der kleinen Leute, ohne die großen deshalb zu verteufeln. Ein fürwahr grandioser Klassiker!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Leviathan

green-julien-1Ein Evergreen

Der 1929 erstmals erschienene Roman trägt als markanten Titel den Namen jenes mythologischen Meeresungeheuers, das in der Bibel bekanntlich gottfeindliche Mächte personifiziert. Leviathan ist, wen wundert’s also, deshalb nicht nur der Name auffallend vieler Kriegsschiffe, sondern findet sich auch häufig als Titel in der Literatur. Autoren wie Joseph Roth, Arno Schmidt und Thomas Hobbes mit seinem berühmten staatsphilosophischen Werk müssen da genannt werden, aber auch aus jüngerer Zeit das gleichnamige Theaterstück von Dea Loher. In Julien Greens Roman steht der Titel für Gottferne, mit einem unbenannten Provinznest in Frankreich als düsterem Handlungsort, in dessen unheilschwangerer Atmosphäre niemand eine glückliche Fügung erwarten kann, niemand eine Chance zu haben scheint.

Und so sind denn auch Greens Protagonisten allesamt schicksalhafte Figuren, deren Seelenleben bis in die äußersten Winkel durchleuchtet wird, wobei Unglaubliches zutage kommt. Wir lernen in Madame Londe eine herrschsüchtige Wirtin kennen, deren Obsession darin besteht, möglichst viel über ihre ausschließlich männlichen Gäste in Erfahrung zu bringen, einzig und allein, um eine gewisse Macht über sie zu erhalten. Als willige Spionin benutzt sie ihr blutjunges, ebenso hübsches wie naives Hausmädchen Angèle, die sie den Männern sexuell zur Verfügung stellt, ohne jeden Skrupel zwar, aber nicht des Geldes wegen, sondern um an Informationen über deren Privatleben zu gelangen. Seelisch nicht weniger verkorkst ist der linkische, schüchterne Hauslehrer Guerét, der überraschende Bösewicht des genial konstruierten Plots, und in der total verbitterten, kaltherzigen Mutter seines Privatschülers schlummert ebenfalls völlig unvorhersehbar ein glühendes Verlangen, das sie geradezu zwanghaft zur Komplizin eines gesuchten Mörders macht.

In weiten Teilen aus der Innensicht seiner Figuren erzählt, mit vielen inneren Monologen angereichert, entwickelt sich eine spannende Geschichte um Liebe der besonderen Art, nicht glückstrunken wie bei Romeo und Julia, sondern schwermütig und nichts Gutes verheißend, unabwendbar auf ein böses Ende hinführend. Die Schicksale der meisterhaft herausgearbeiteten Charaktere sind tragisch ineinander verwoben, sie haben von vornherein keine Chance, verirren sich in ihren seelischen Abgründen, zerstören sich selbst in oft sinnlosen Aktionen. Der Leser erlebt ambivalente Figuren in ausweglos erscheinenden Situationen, ein beklemmendes Drama menschlicher Schwächen und Seelenzustände, das aber nicht in eine Katharsis mündet, dessen Ausgang Julien Green bewusst offen lässt.

Kein leicht zu lesendes Buch mithin, natürlich auch kein froh stimmendes, aber ein Werk, das unter die Haut geht und den Leser unwillkürlich dazu zwingt, moralisch Stellung zu nehmen, von seiner erhabenen Warte herabzusteigen und sich selbst an dem zu messen, was ihm da an menschlichen Untiefen vorgeführt wird. Der französische Autor amerikanischer Abstammung wurde für seinen dritten Roman vom Feuilleton allenthalben überschwänglich gelobt, auch wenn, wie ich meine, der Lesespaß ein wenig zu kurz kommt bei dieser düsteren, schon fast depressiv machenden Thematik. Wen das nicht stört, der kommt voll auf seine Kosten, dieser immer wieder lesenswerte Roman ist genial erdacht und meisterhaft geschrieben, somit als gute Lektüre also absolut zeitlos. Völlig zu Recht könnte man deshalb sagen, wenn mir dies kleine Wortspiel mit dem Namen des Autors erlaubt ist: Ein Evergreen!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Unfall in der Nacht

modiano-1Der wassergrüne Fiat

«Leben heißt, beharrlich einer Erinnerung nachzuspüren» lautet ein Zitat, dem Nobelpreisträger Patrick Modiano in vielen seiner Werke als Leitgedanken folgt, so auch in dem Roman «Unfall in der Nacht». Peter Handke ist es zu danken, dass der in Frankreich hochangesehene Autor auch in Deutschland bekannt wurde, ohne allerdings den Durchbruch bei einem breiteren Lesepublikum erreichen zu können. Wie der vorliegende Roman eindrucksvoll belegt, ist eine derartige Zurückhaltung nicht nur unbegründet, sie stellt vielmehr einen unnötigen Verzicht der Leserschaft dar, ein Versäumnis besser gesagt, wird doch Modiano als skeptischer Romantiker schon zu Lebzeiten als ein Klassiker der Weltliteratur angesehen. Ein Schriftsteller, der eine Fülle zeitloser Kunstwerke geschaffen hat, denen zweifellos eine sehr individuelle, so nur ihm eigene schöpferische Intention zugrunde liegt.

In Form einer literarischen Collage beschreibt der Autor die Suche des zwanzigjährigen Ich-Erzählers, der als Fußgänger Opfer eines Autounfalls wurde, nach der jungen Lenkerin des Wagens und ihrem wassergrünen Fiat. Ein geheimnisvoller Mann, dessen Funktion zunächst unklar bleibt, im Roman als brünetter Klotz bezeichnet, hatte ihn und die Fahrerin nach dem Unfall in die Klinik begleitet, ihn später ein Dokument unterschreiben lassen und ihm einen Umschlag überreicht, in dem sich ein dickes Bündel Geldscheine befand. Die spannende Geschichte ist in den 1960ziger Jahren angesiedelt, und auch hier finden sich die für Modiano so typischen, minutiösen geografischen Angaben, denen andererseits recht vage Zeitangaben gegenüberstehen. Namen unzähliger Straßen und Plätze also, Cafés und Kneipen der französischen Metropole, die der orientierungslose Protagonist, stundenlang und oft nachts, seltsam rastlos durchstreift. Bei diesem odysseeähnlichen Herumstreifen begegnet er, von dessen Vergangenheit und gegenwärtigen Lebensumständen der Leser nur andeutungsweise etwas erfährt, einem mysteriösen Philosophen, der wie ein Guru eine Schar von Jüngern um sich versammelt, zu denen auch Hélène gehört, die Musik studieren will. Ihre kurze Zweisamkeit endet abrupt, als sie nach London geht. Geradezu traumverloren sucht der Held der Geschichte nach Orientierung, nach festem Boden unter dem Treibsand seines Lebens. «Und ich zählte», heißt es dazu im Roman, «auf den wassergrünen Fiat und seine Fahrerin, um ihn zu entdecken». Er findet schließlich beide, und ganz Modiano-untypisch geht die nebulöse Geschichte diesmal gut aus.

Der kurze Roman ist flüssig geschrieben, in einer eleganten Sprache, die stark der gesprochenen Sprache ähnelt, wie die Übersetzerin angemerkt hat, zugleich aber sehr poetisch sei, ohne deshalb jedoch in einen gehobenen Ton zu verfallen. Eine Fülle von Assoziationen drängt sich dem Leser auf, mysteriös ineinander verwoben, dem Ätherrausch ähnelnd, der sich leitmotivisch in der Geschichte findet und die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Vergangenheit und Gegenwart verwischt. Es ist eine leise Stimme, mit der Modiano da spricht, lakonisch oft von unwichtig scheinenden Dingen erzählend, die uns gleichwohl aber in Bann schlagen, die uns geradezu zwingen, dem Fluss der Erzählung zu folgen, die subtilen Prozessen des Seelenlebens nachzuspüren. Ihm ist es wichtig, Stimmungen einzufangen, das Vergessene wiederzuentdecken.

Mit den Anklängen an die «Ewige Wiederkehr» Friedrich Nietzsches, wie sie sich im Verschwinden der Fahrerin, der Freundin Hélène oder des unnahbaren Vaters, ja auch dem eines Hundes zeigt, mit dem stets Nebelhaften seiner Geschichte zudem, in der vieles nur angedeutet wird, fordert der Autor vom Leser ein reflektierendes Mitwirken über die bloße Lektüre hinaus. Wer dazu willens ist, wird reich belohnt.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Anna Karenina

tolstoi-2Literarische Zauberei

Ohne Zweifel ist «Anna Karenina» von Lew Tolstoi auch ein Eheroman, oft verglichen mit Fontanes «Effi Briest» oder Flauberts «Madame Bovary», primär aber ist er, was man ziemlich unbesorgt den größten Gesellschaftsroman der Weltliteratur nennen mag. Der 1878 erschienene, grandiose Roman bedeutet außerdem eine entscheidende Wegmarke hin zu dem radikalen Moralismus dieses russischen Schriftstellers, der sich dann bekanntlich, in seiner geradezu peinlichen Spätphase, ins völlig Absurde hineingesteigert hat. Hier aber, in diesem voluminösen Epos über die adelige russische Gesellschaft des 19ten Jahrhunderts, fungiert noch eine Art Räsoneur als Statthalter des Autors, ein Sinnsucher und – wie man heute sagen würde – unermüdlicher Querdenker, das Alter Ego von Tolstoi also mit nahezu kongruenter biografischer Konstellation, nur das Künstlertum fehlt seinem Helden Lewin. Genau diese unvergleichliche Begabung aber hat der literarische Olympier zunehmend negiert, hat von «all dem künstlerischen Geschwätz» gesprochen, mit dem sein Werk gefüllt sei und dem dessen Leser «eine unverdiente Bedeutung beimäßen».

Anna also ist nicht die Hauptfigur des Romans, auch wenn sie titelgebend ist und ihr unübersehbar die ganze Sympathie des Autors gilt. «Im Hause der Oblonskijs herrschte große Verwirrung» heißt es im – ursprünglich – ersten Satz, Annas Eingreifen verhindert jedoch das Auseinanderbrechen der Ehe ihres untreuen Bruders und führt zu einem verlogenen Modus Vivendi mit seiner Frau. Deren Schwester gibt Lewin einen Korb, der von ihr als sicher angesehene Heiratsantrag des strahlenden Helden Wronskij aber bleibt aus. Er hat sich nämlich in die mit einem ungeliebten Mann verheiratete Anna Karenia verliebt, ihr leidenschaftliches Verhältnis endet jedoch tragisch. Lewin endlich bekommt beim zweiten Versuch keinen Korb mehr und findet zu seinem späten Eheglück. In mehreren parallelen Handlungssträngen des achtteiligen Romans präsentiert Tolstoi die gescheiterte Ehe- und Liebesgeschichte von Anna Karenina, das heuchlerische Ehe-Arrangement ihrer Schwägerin und die geradezu idealtypisch erscheinende, glückliche Ehe von Lewin.

All das ist eingebettet in ein großartiges Panorama der Adelsgesellschaft Russlands, die in allen ihren Facetten dargestellt ist, mit unzähligen, wunderbar stimmig beschriebenen Figuren, deren mitreißende Dialoge uns Einblick in ihr innerstes Wesen geben. In diesem üppigen personalen Ensemble findet man sich als Leser aber jederzeit zurecht, so treffend skizziert sind Tolstois literarische Geschöpfe. Von denen der Gutsbesitzer Lewin mir regelrecht ans Herz gewachsen ist, verkörpert er doch, obwohl selbst adelig, den ländlichen Gegenpol zum Luxusleben des Champagner trinkenden städtischen Adels. Sein Wissensdrang, seine Gedankenwelt, seine zahlreichen Dispute, seine Geradlinigkeit und gutmütige Offenheit sind geradezu herzerfrischend, die vielen ihm gewidmeten Kapitel sind jedenfalls sehr amüsant zu lesen. Man lernt ihn letztendlich so gut kennen, dass man seine Reaktionen, seine Gedanken nicht nur nachvollziehen, sondern oft auch voraussehen kann. Und so findet er schließlich dann durch die Worte eines einfachen Bauern zu der Erkenntnis, dass wir nicht leben, «um unseren Wanst zu füllen», sondern dass man «für das Gute» lebt, ein außerhalb der Vernunft liegender Gedanke, für den der wissenschaftliche Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung nicht gilt. Ein Wunder also, das sich dem Verstande schlichtweg entzieht und doch von jedem begriffen wird.

Dieser Roman selbst aber ist auch ein Wunder, er ist literarische Zauberei, die alle Maßstäbe sprengt. Ich habe noch nie etwas Besseres gelesen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Ansichten eines Clowns

boell-1Das muss ihm erst mal einer nachmachen

«Ich glaube, dass kein Buch so missverstanden worden ist wie die Ansichten eines Clowns. Es war eigentlich nur eine Liebesgeschichte, wirklich nicht mehr.» Darf man als Leser dem Autor widersprechen? Und dem Großkritiker Reich-Ranicki gleich mit, der vom «Alltag einer Liebe» sprach? Ich meine ja, denn für mich ist dieser berühmte Roman von Heinrich Böll keine Liebesgeschichte, es wäre nämlich eine lausig schlechte. Es geht um viel mehr in diesem Roman, die Liebe spielt keinesfalls die Hauptrolle, und wenn Böll das anders sieht, dann hat er das Grandiose in seinem Werk ungewollt und unbewusst geschaffen. – Was ja nicht weiter stört beim Lesegenuss!

Schon der Buchtitel spricht doch Bände: Es geht um Ansichten, also Subjektives, dem in der Regel andere Meinungen gegenüberstehen, was Streit bedeutet. Und es geht um einen Clown, eine komische Figur mithin, der immer auch Tragik anhängt, wo Lachen und Weinen zusammengehören, wie jeder weiß, der mal im Zirkus war. «Ich bin ein Clown», lässt Böll seinen Helden sagen, «und ich sammle Augenblicke». Und so ist es denn auch diese sehr spezielle Perspektive eines gesellschaftlichen Außenseiters, die entlarvend und anklagend zugleich ist und einem die Augen öffnet für die alltägliche Unmenschlichkeit, gestern wie heute, für das permanente Versagen Derjenigen, die Gottes Ebenbild sind, wie wir uns einreden lassen von der Bibel. Das ist Thema dieses Romans, nicht die Liebe zwischen Mann und Frau!

Fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen ist Bölls Roman als hintersinnige Parabel auf die Gnadenlosigkeit der menschlichen Gesellschaft immer noch unvermindert gültig und nach wie vor ergreifend. Konformismus, Oberflächlichkeit, Scheinmoral, Heuchelei und Verlogenheit seiner Mitmenschen machen Bölls Protagonisten Hans Schnier, Clown von Beruf, wütend und angriffslustig, aber auch zutiefst melancholisch in einer Geschichte, die kein gutes Ende nehmen kann, das merkt der Leser schon am Anfang sehr deutlich. In der Ich-Perspektive, mit einfachen Worten und ohne komplizierte Syntax erzählt, in wenigen Stunden eines einzigen Nachmittags sich ereignend, zeigt uns der Roman in vielen Rückblenden, oft in Form ausgedehnter innerer Monologe, die Geschichte einer nur wenige Jahre andauernden Beziehung zwischen Hans und seiner Marie, eine von ihrer Umgebung argwöhnisch betrachtete, außereheliche Liaison, gemischt konfessionell obendrein.

Als Roman, was die Rezeption anbelangt, leicht verständlich also, schwer verdaulich allerdings, was die Thematik betrifft. Denn es gelingt dem begnadeten Erzähler Böll, dass der Leser sich, ungewollt und unbewusst zunächst, mit seinem Protagonisten identifiziert, die gleiche Ohnmacht spürt wie er, genau so leidet an der Lieblosigkeit und Gedankenlosigkeit vieler Mitmenschen, am damals wie heute fragwürdigen Zeitgeist, am Tanz ums Goldene Kalb. Getroffene Hunde bellen, und so war denn der Aufschrei der Katholiken im Erscheinungsjahr 1963 entsprechend laut, denn jede Form von Doppelmoral, die ganze verlogene Religiosität entlarvt Böll äußerst gekonnt aus einer ironisch-sarkastischen Perspektive. Als kleines Beispiel sei der ehrwürdige, hochangesehene Prälat genannt, in dessen Haus gleich mehrere gestohlene Madonnen stehen. Und dass der Hund am Wahlplakat der CDU sein Bein hebt und nicht nebenan bei der SPD, das kann doch auch kein Zufall sein. Trotz aller Tragik gibt es also öfter Grund zum Schmunzeln für den Leser dieses grandiosen Romans. Wenn am Ende der Clown als bettelnder Straßenmusikant am Bahnhof sitzt, ist er nicht gescheitert, sondern ist er selbst geblieben, hat sich nicht verbiegen lassen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Respekt, das muss ihm erst mal einer nachmachen!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Frösche
by Mo Yan

yan-1Halluzinatorischer Realismus

Es ist wahrlich ein sperriges Sujet, an das sich Nobelpreisträger Mo Yan herangewagt hat mit seinem Roman «Frösche», und prompt sah er sich auch etlichen Anfeindungen ausgesetzt bei seiner literarischen Aufarbeitung der Ein-Kind-Politik Chinas. Wäre es besser gewesen, wenn der mit richtigem Namen Guan Moye heißende Autor seinem Pseudonym gefolgt wäre – Mo Yan bedeutet nämlich «Sprich nicht» – und geschwiegen hätte zu diesem äußerst schwierigen Thema? Politisch jedenfalls hat das rigide umgesetzte Staatsdogma «Ein Kind ist gut, zwei Kinder sind korrekt, drei Kinder schlecht» trotz vieler Ausnahmen die erwünschte Wirkung gehabt und das explosionsartige Bevölkerungswachstum stark gedämpft. Der Preis aber, den die einfachen Leute dafür haben zahlen müssen, war und ist zu hoch, ganz abgesehen von den diversen negativen Folgen für das soziale Gefüge der Gesellschaft und die Wirtschaft dieses Riesenstaates.

«Weil er mit halluzinatorischem Realismus Märchen, Geschichte und Gegenwart vereint» habe man Mo Yan den Preis zuerkannt, heißt es 2012 in der Begründung des Nobelkomitees. «Kaulquappe», der Ich-Erzähler, hinter dem man unschwer den Autor erkennen kann, beschreibt die turbulente Lebensgeschichte seiner Tante Gugu in Form eines vierteiligen Briefromans, wobei sein japanischer Briefpartner, wie wir im Nachwort des Autors erfahren, niemand Geringerer ist als Kenzaburō Ōe, der Nobelpreisträger von 1994, der ihn tatsächlich zu diesem Buch animiert hat. Die Protagonistin Gugu ist eine von allen hoch geachtete, wahrhaft begnadete Hebamme, die Tausenden von Babys auf die Welt hilft. Aus der Wohltäterin wird nach der Verkündung der Ein-Kind-Politik eine inzwischen zur Frauenärztin ausgebildete, gnadenlose Funktionärin, die für die Umsetzung dieser Doktrin in ihrem Distrikt verantwortlich ist. Unser Vorstellungsvermögen übersteigende Restriktionen, von der vorher einzuholenden Genehmigung beim Kinderwunsch über zwangsweise eingesetzte Spiralen, massenhafte Sterilisation von Männern bis hin zur staatlich mit allerlei Repressalien erzwungenen Abtreibung, manchmal sogar erst im spätesten Stadium der Schwangerschaft, all dies wird nüchtern und ohne viel Empathie erzählt. So indolente Charaktere wie in diesem Roman begegnen einem nicht oft in der Literatur, für mich war das sogar ein, alles andere als erfreuliches, Novum.

Die geradezu holzschnittartige Erzählweise in der ersten Hälfte des Romans verwandelt sich analog zur fortschreitenden Handlungszeit in einen moderneren Sprachstil, wodurch nicht zuletzt auch das Lesen flüssiger vonstatten geht. Man ist schließlich sogar froh, nicht vorzeitig aufgegeben zu haben bei der ebenso mühsamen wie unerquicklichen Lektüre. Das mag auch daran liegen, dass sich die Standpunkte wandeln. Gugu jedenfalls erkennt irgendwann ihre ungeheure Schuld und wird von Alpträumen geplagt, die ihren Höhepunkt an einem Froschteich erreichen, als sie von unzähligen Fröschen bedrängt wird, den Geistern der unzähligen Föten, die sie zu Tode gebracht hat als fanatische Funktionärin eines menschenverachtenden Regimes. Fast vergnüglich wird es dann im fünften Teil des Romans, der das Theaterstück enthält, welches aus den vier vorangehenden Teilen entstanden ist, in denen der Ich-Erzähler seine Geschichte seinem Brieffreund und uns Lesern in Prosaform geschildert hat. Berthold Brecht hat für seinen Azdak in «Der kaukasische Kreidekreis» den populären chinesischen Richter Bao Cheng als Vorlage verwendet, der nun auch bei Mo Yan ein gleichermaßen weises Urteil fällt in einem ähnlichen Mutterschaftsstreit.

Wie immer bei fremdsprachigen Romanen dürfte auch hier, leider unvermeidbar, einiges an sprachlichen Raffinessen der Übersetzung zum Opfer gefallen sein. Dazu kommt noch die völlig fremde Mentalität und der fehlende Erfahrungshintergrund, dessen Konventionen und Moralverstellungen einem westlichen Leser absolut nicht vertraut sind. Gerade deshalb aber lohnt es sich trotzdem, den Roman zu lesen, man taucht ein in eine völlig andere Welt und wird, so man aufnahmefähig und –willig ist, zu allerlei Recherchen animiert, wobei das Nachwort des Autors wie auch die Anmerkungen am Ende eine erste Anlaufstelle bilden.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
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Teufelsbrück

kronauer-1Im Prinzip Ja

Fast alle Werke der Belletristik schmücken sich heute spätestens im Stadium der Taschenbuchausgabe verkaufsfördernd mit Zitaten des Feuilletons auf dem Umschlag, die, manchmal trickreich aus dem Gesamttext einer Rezension oder aus einem Interview herausgelöst, einen Kauf des Buches dringend nahelegen. Die ehemalige Deutschlehrerin Brigitte Kronauer trat nach langen Jahren im literarischen Untergrund 1980 erstmals mit einem Roman an die breite Öffentlichkeit und hatte dann 1983 mit «Berittener Bogenschütze» ihren literarischen Durchbruch, die Zahl der Ehrungen seither ist ebenso beeindruckend wie ihr vielschichtiges Œuvre. Über den schon zum Alterswerk zählenden, im Jahre 2000 erschienenen Roman «Teufelsbrück» schrieb die ZEIT: «Dieser Roman wird Literaturgeschichte machen». Der Literaturpapst seliger Zeiten MRR wird kurz und bündig im Klappentext zitiert: «Brigitte Kronauer ist die beste Prosa schreibende Frau der Republik». Stimmt das alles, grübelt man resümierend, nachdem man, neugierig geworden, das Buch glücklich zu Ende gelesen hat. Im Prinzip Ja, würde ich wie Radio Eriwan antworten, aber …

Der Roman ist in die drei Kapitel «EEZ», «Holunderburg» und «Schnee» eingeteilt, die jeweils wieder in drei durchnummerierte und mit «Abend» betitelte Unterkapitel gegliedert sind. Damit wird zeitlich die Erzählsituation umrissen, die Ich-Erzählerin Maria Frauenlob spricht an jenen neun Abenden zu einer imaginären Zuhörerin, deren Identität sich dem Leser erst ganz am Ende erschließt. Es geht um die Liebe zu einer Art Traummann, auf den Maria an einem äußerst profanen Ort trifft, im Konsumtempel des Elbe-Einkaufs-Zentrums. Leo verkörpert für sie das Idealbild eines Mannes mit einer maskulinen Ausstrahlung, der sie rauschhaft verfallen ist. Ihre Romanze erreicht den Höhepunkt auf einer gemeinsamen Reise nach Heidelberg, kühlt dann aber, einem Naturgesetz? folgend, allmählich ab und endet schließlich, ein für Maria langer mentaler Prozess, im Gebirge, in Fels, Eis und Schnee. So weit und so profan die Story, die wir auswendig kennen, so oft haben wir sie schon gelesen, da ändern auch zwei Tote und ein erfolgloser Selbstmörder nichts dran!

Gleich auf den ersten paar Seiten wird dem Leser klar, dass hier nicht der Plot im Mittelpunkt stehen wird, dass er es vielmehr mit der geradezu manischen Beschreibungswut einer kreativen Schriftstellerin zu tun hat, deren Phantasie und Wortgewalt in der Tat ihresgleichen sucht in der deutschen Literatur. Hier geht es nicht um Realität oder Plausibilität, hier wird ausnahmslos der inneren Wirklichkeit gehuldigt ohne Rücksicht auf zeitliche, räumliche oder logische Gesetze. Wir befinden uns hier im märchenhaften Reich der Poesie und Phantasie, im Zentrum von Marias romantischer Gedankenwelt, die sie genüsslich vor ihrer imaginären Zuhörerin ausbreitet. Das Alles ist durchtränkt von Anspielungen, Wahrnehmungen, Sehnsüchten aus Marias Innerstem, dem Unterbewussten. Die üppige Symbolik dieses Romans beginnt schon bei der Namensgebung der Figuren, sie bezieht deren berufliche Tätigkeiten ebenso mit ein wie den besonderen Charakter der Handlungsorte oder die grenzenlos ausschweifenden Exkursionen in Flora und Fauna, die selbst kleinste Details nicht aussparen und ihnen, geradezu beflügelnd, metaphysische Bedeutungen zuweisen.

Um auf Radio Eriwan zurückzukommen bleibt die Erkenntnis, dass dieser Roman in der Tat ein glänzendes Stück Prosa ist, weit über den Niederungen massentauglicher Romanproduktion schwebend, aber genau damit nun wirklich nur eine äußerst kleine, aufnahmefähige und –bereite Leserschaft erreichend, die elitär der «hohen» Literatur huldigt. Das ist nicht jedermanns Sache, dafür braucht man auch mehr als nur Spaß am Lesen, am angenehm unterhalten werden, man braucht Entdeckergeist auf der Suche nach neuen Horizonten, nach dem, was als in der Regel unsagbar in den Köpfen anderer vorgeht, so wie hier als berauschende Illusion in dem von Maria Frauenlob.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Reise im Mondlicht

szerb-1Was noch geschehen kann

Er wolle nicht als Literaturhistoriker gesehen werden, sondern als Schriftsteller, «dessen Thema vorübergehend die Literaturgeschichte war», notierte Antal Szerb in sein Tagebuch; bis heute ist er einer der meistgelesenen ungarischen Autoren des 20ten Jahrhunderts. Sein belletristisches Œuvre ist überschaubar klein und wurde erst spät auch in Deutschland entdeckt, als sein bedeutendstes episches Werk gilt der vorliegende, 1937 in Ungarn veröffentlichte Roman, der erst 40 Jahre später auf Deutsch herausgegeben wurde, in Neuübersetzung dann 2005 unter dem Titel «Reise im Mondlicht». «Szerb nicht gekannt zu haben ist ein Versäumnis» hieß es in der Süddeutschen Zeitung. Nach der Lektüre kann ich dem nur beipflichten, soviel vorab.

Mich an den Spielfilm «Brot und Tulpen» erinnernd geht auch hier auf einer Reise durch Italien die Frau verloren, nur ist es diesmal eine Hochzeitsreise. Der 36-jährige Mihály erzählt während der Fahrt seiner frisch angetrauten Erzsi von der Jugendzeit, von den Rollenspielen mit den Geschwistern Támas und Éva im Hause der Familie Ulpius, die ausnahmslos vom Tod handelten in immer neuen Varianten. Auf der Fahrt nach Rom steigt er nach einer Kaffeepause in den falschen Zug und landet allein in Ravenna. Schon in Venedig hatte er gemerkt, dass Erzsi seine große Begeisterung für die antiken Kulturen nicht teilen konnte, und so besichtigt er jetzt die berühmten Mosaiken in Ravenna allein. Er beschließt sogar kurzerhand, auch alleine weiter zu reisen, seine Sehnsucht nach Italien voll auszuleben, den bürgerlichen Konventionen und Zwängen vollends zu entfliehen, sein früheres Bohemeleben wieder aufzunehmen. So kommt er also nicht nur seiner Frau abhanden, sondern auch sich selbst, auf der Suche nach seiner wahren Identität einer rebellischen Jugendzeit nachtrauernd, die der angepasst lebende Unternehmersohn nach der Heirat nun endgültig entschwinden sieht.

In seiner Weltfremdheit zwischen Traum und Realität herumirrend, diffus einer «Reise im Mondlicht» gleichend, holen ihn seine Jugendträume immer wieder ein. Während seine Frau Erzsi die Realität verkörpert, steht sein bester Freund Támas für alle Utopien, seine Gedanken kreisen häufig um dessen Freitod. Er besucht seinen ins Kloster gegangenen Jugendfreund Ervin, trifft schließlich in Rom Éva wieder, seine Jugendliebe, die auch jetzt unerreichbar bleibt. Szerb baut um seine Protagonisten eine Reihe von wunderbaren Randfiguren auf, liebevoll gezeichnet und stimmig in die Handlung integriert. Es sind allesamt markante Typen wie der «Taschendieb» und Luftikus János Szepetneki, der als «brennender Tiger» erscheinende persische Potentat, der überaus verständnisvolle englische Arzt, die naive amerikanische Studentin, der exzentrische Religionswissenschaftler, schließlich Vannina, das magere römische Mädchen, die hellseherische Fähigkeiten zu haben scheint und ihn am Ende als Kindspate in die Realität zurückholt im Verlaufe einer typisch italienischen Familienfeier. Die wahrhaft klassisch zu nennende Katharsis endet mit den Worten: «Und solange man lebt, weiß man nicht, was noch geschehen kann».

Antal Szerb erzählt seine sentimentale Geschichte über die Zwänge des Lebens, über Liebe und Tod in einer klaren, unverschnörkelten Sprache, die so perfekt gegliedert ist, dass Kapitel und Abschnitte in fast schon mathematischer Logik stets punktgenau aufeinanderfolgen. Einen derart perfekt aufgebauten Plot erlebt man nicht so oft als Leser, man merkt ihm an, dass da ein Wissenschaftler am Werke war. Es ist eine Menge Lebensweisheit drin enthalten, viel Alltagsphilosophie bei einer sehr realitätsnahen Suche nach dem Sinn des Lebens, die sich oft in überaus stimmigen Dialogen artikuliert. Eine besinnliche Lektüre mithin, die viele Leser nicht unberührt lassen dürfte, was übrigens auch für die mitreißende Beschreibung von Bella Italia gilt, die mich in ihrer ehrfürchtigen Bewunderung unwillkürlich an Goethe erinnert hat.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Stoner

williams-1Kompliment an die Literatur

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Wiederentdeckungen gehören für mich zu den erfreulichsten Ereignissen in der Welt der Literatur, weil sie, oft ja erst post mortem, ein Geständnis sind, dass einem vergessenen Autor mutmaßlich Unrecht widerfahren ist von Seiten der Leserschaft. Der Roman «Stoner» von John Williams, bei seinem Erscheinen 1965 wenig beachtet und erst mehr als vierzig Jahre später in den USA neu publiziert, ist mal wieder ein Beispiel dafür. Erfolg ist launisch und unberechenbar, der plötzlich ausbrechende Hype um dieses Buch hat die als «worst case» angenommene Auflage von 4000 Exemplaren für den 2013 erstmals ins Deutsche übersetzten Roman auf weit über zweihunderttausend hochschnellen lassen, wie man einem Interview mit der Lektorin entnehmen konnte. Und «Stoner» ist plötzlich in aller Munde, warum eigentlich?

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Dieser Roman ist doch nur die schlichte, keine Besonderheiten aufweisende Biografie eines Mannes, der als Bauernsohn aus einfachsten Verhältnissen kommend an der Universität von Missouri Agrarwissenschaft studieren soll. Er entdeckt seine Liebe zur Literatur, wechselt das Fach und bleibt dann zeitlebens dort, wird Professor der literaturwissenschaftlichen Fakultät. Insoweit kann man auch von einem Campusroman sprechen, der Unibetrieb nimmt jedenfalls einen breiten Raum ein in dieser Lebensgeschichte eines eher linkischen, wenig zugänglichen Mannes. In 17 Kapiteln begleiten wir William Stoners mühsamen Weg zum angesehenen Hochschullehrer, der oft allerlei Anfeindungen und Querelen ausgesetzt ist, sich allzu häufig desinteressierten Studenten gegenübersieht und seine wissenschaftlichen Ambitionen bald schon dem kräftezehrenden Lehrbetrieb opfern muss, in dem er ebenfalls unauffällig bleibt, jede Karrierechance für sich ausschlagend. Sein Privatleben ist ähnlich unglamourös, er findet eine merkwürdig gehemmte Frau, heiratet sie und bekommt eine Tochter, die er weitgehend alleine großziehen muss, weil die psychisch labile Mutter sich wenig um sie kümmert, und auch seine Ehe scheitert kläglich, wird zum Alptraum für ihn. Die Affäre mit einer jungen Doktorandin bringt ihm nur ein kurzes Glück, auf Druck der Uni muss sie die Stadt bald Hals über Kopf verlassen, der Kontakt zwischen ihnen bricht für immer ab. Als Stoners innig geliebte Tochter schwanger wird und heiraten muss, verliert er in ihr seine letzte familiäre Bindung; sie wird Kriegerwitwe, hat Alkoholprobleme, gibt das Kind zu den Schwiegereltern. Und wir begleiten Stoner weiter bis zu seinem Krebstod, kurz vor der anstehenden Emeritierung.

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Ein solch konventioneller Plot kann, wie man sieht, kaum ausschlaggebend sein für eine derart erfolgreiche Rezeption. Auch sprachlich bietet dieser Roman nichts Besonderes, er ist stilistisch dem unspektakulären Sujet angepasst, nüchtern erzählt, knapp und sparsam, leicht lesbar also. Mit einer unterschwellig permanent spürbaren Spannung allerdings, die einen an den Text fesselt, weil man stets einen Umschwung erwartet, eine überraschende Wende. Die aber bleibt aus in der einsträngig und strikt chronologisch erzählten Geschichte, – trotzdem ist man fasziniert und darüber hinaus tief betroffen von ihr.

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Es wird nämlich nichts beschönigt in dieser Biografie eines stets aufrichtigen, uneitlen, integeren Mannes, dessen unerschütterliche Leidenschaft für die Literatur seinem äußerlich wenig erfreulichen Leben den Sinn gibt, allen Fährnissen zum Trotz. Und genau darum beneiden wir ihn in unserem tiefsten Inneren, begleiten ihn am Ende – buchstäblich bis zum letzten Atemzug -mit einer ängstlichen Faszination, wie man sie ganz ähnlich auch beim «Jedermann» empfinden mag. John Williams hat wagemutig Grundfragen des Menschseins aufgegriffen in seinem Roman und philosophisch Handfestes geliefert statt intellektuellem Geschwafel. Ihm ist ein formidables Meisterwerk gelungen, in dem die Literatur die Hauptrolle spielt, Lebenssinn verkörpernd. Kann man der Literatur denn überhaupt ein schöneres Kompliment machen?

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Im diplomatischen Dienst

41KYJ73ECEL._SX261_BO1,204,203,200_Auf Empfehlung eines Freudes, der im Berliner Auswärtigen Amt seinem Leben als Berufsbeamter frönt, habe ich dieses Buch verspeist. Im Vorfeld wurde mir gesagt, es sei erstaunlich, wie exakt der Autor den Zustand im Bauche der deutschen Diplomatie beschrieben habe.

Protagonist Harry von Duckwitz hängt seinen Beruf als Anwalt an den Nagel und tritt in den diplomatischen Dienst ein, der ihn unter anderem nach Kamerun und Ecuador führt. Er gibt sich dabei als Enfant terrible der Behörde und versucht auszuloten, wie weit man mit Indiskretionen und Provokationen gehen kann, um entlassen zu werden. Letztlich interessiert ihn jedoch nur die Damenwelt. Er heiratet Rita, eine bildschöne Inderin und pflegt eine Ménage-à-trois mit seiner alten Freundin Helene. Weiterlesen


Genre: Romane
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Riven Rock

riven_rock-9783423127844Nahezu überschwappend dieser Irrsinn. Der arme Mr McCormick, ein Gejagter seiner inneren Richter, der Unfähigkeit Sexualität als etwas Normales sehen und fühlen zu können, eine übermächtige Mutter, eine ebenfalls psychisch kranke große Schwester. Dann die Jahrzehnte, in denen der Millionär weggesperrt leben muss. Wechselnde Psychiater, die “Redekuren” verordnen, sprich Psychoanalyse, die damals völlig unbekannt war, dazwischen einer, der die Affen und ihre Sexualität im Park des Anwesens erforscht. Sehr schräg, amüsant und gut gemacht. Weiterlesen


Genre: Belletristik, Romane
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Bad Monkeys

41f8RoyD1JL._SX339_BO1,204,203,200_Jane Charlotte, eine junge Frau aus San Francisco, hat ein Problem. Sie wurde wegen Mordes festgenommen und erzählt jetzt ihre schier unglaubliche Geschichte einem Psychologen. Demnach nämlich gehört sie zu einer mächtigen Organisation, die sich „Bad Monkeys“ nennt und die wirklich üblen Typen aus dem Verkehr zieht. Dabei bedient man sich vorzugsweise geheimnisvoller Wunderwaffen wie Pistolen, die einen Herzinfarkt verursachen und eines nahezu unerschöpflichen High-Tech-Repertoires. Jane berichtet von ihrer nicht allzu glücklichen Kindheit und ihrem ersten Kontakt mit den „Bad Monkeys“ als sie mit 14 auf eigene Faust einen Kindermörder verfolgte. Ihre Jugend verlief eher ziellos, dazu kamen Drogenprobleme und so war sie durchaus bereit, gegen das Böse zu kämpfen, als die Organisation sie einige Jahre später anwirbt und auf erste Missionen schickt.

Janes Geschichte ist zweifellos faszinierend, aber als der Psychiater einige Fakten dazu recherchiert, stößt er recht bald auf Widersprüche und Ungereimtheiten. Besonders die Beziehungen zu Bruder und Mutter stellen sich dort doch entscheidend anders dar, als von der Geheimagentin geschildert. Ihre Erklärung dafür, die Affen-Chefs hätten die Dokumente gefälscht, um Spuren zu verwischen vermag nicht ganz zu überzeugen und so entwickelt sich ein Showdown, in dem sich die Ereignisse überstürzen…

Regelmäßige Besucher und Leser dieses famosen Blogs wissen, dass Matt Ruff einer meiner Lieblingsautoren ist und er hat mich auch dieses Mal nicht enttäuscht, denn wieder einmal hat er mit „Bad Monkeys“ eine völlig neue Richtung eingeschlagen, die Festlegung auf ein bestimmtes Genre ist ganz klar seine Sache nicht. Wir haben es hier mit einem Thriller zu tun, voll futuristischer Elemente und die Komplexität der Handlung weckt Erinnerungen an die Matrix-Filme. Obwohl vordergründig ein Zwei-Personen-Stück, erschließen sich aus Janes Erzählung mehrere Dimensionen in einer Welt, in der unter der Oberfläche der Normalität Konflikte von beinahe biblischen Ausmaßen ausgetragen werden. Natürlich nur dann, wenn die Geschichte stimmt und der Kampf nicht ausschließlich in der Psyche der jungen Frau tobt…

Die gewohnte Sprachgewandtheit des Autors, gepaart mit seinem feinsinnigen Humor tut ein Übriges, um das Buch zu einem höchst spannenden Lesevergnügen zu machen, bei dem man ehrlich bedauert, wenn die letzte Seite umgeblättert ist. In diesem Fall wiederhole ich mich gern und appelliere erneut an alle hier versammelten Literaturfreunde: Lest endlich Matt Ruff, ihr werdet es nicht bereuen!


Genre: Romane
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