Der Fangschuss

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Tiefenwirkung

Die unter Pseudonym schreibende Autorin mit belgisch-französischen Wurzeln hat ihren 1939 erschienenen kurzen Roman «Der Fangschuss» in Sorrent verfasst, fernab vom Handlungsort ihrer Geschichte im Baltikum. Marguerite Yourcenar stellt ihren Ich-Erzähler, der morgens um fünf am Bahnhof von Pisa auf seinen Zug nach Deutschland wartet, auf den ersten eineinhalb Seiten kurz vor. «Es war die Dämmerstunde», schreibt sie, «in der schöne Seelen zu Bekenntnissen und Verbrecher zu Geständnissen neigen und in der selbst schweigsame Menschen gern Geschichten erzählen oder Erinnerungen auskramen, um nicht einzuschlafen».

Und nun erzählt Erich von Lhomond, ein vierzigjähriger ehemaliger preußischer Offizier, der in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg ein Jahrzehnt als Kommandeur an verschiedenen Fronten gekämpft hat, seinen beiden Kameraden eine Episode aus dem Bürgerkrieg gegen die Bolschewiken in Estland und Kurland, wo er ein Freikorps befehligt hat. Man ist als Leser sofort mitgerissen durch seinen, entfernt an Fontane erinnernden, ebenso angenehmen wie kurzweiligen Plauderton, den man förmlich hört, nicht liest. Marodierende Banden aus aufgelösten Truppenteilen sorgen für chaotische Zustände, der Tod ist allgegenwärtig. In diesem Schlamassel nimmt Erich mit seinen Männern Quartier im zerschossenen Schloss seines besten Freundes und Kampfgefährten Konrad von Reval und trifft dort auf dessen Schwester Sophie. «Auch in der Liebe bin ich, nebenbei bemerkt, fürs klassisch Einfache», sind seine Worte, und in der Tat erweist er sich im Verlauf der Geschichte als nahezu emotionsloser, kühl denkender Mensch, dem Frauen prinzipiell suspekt sind. Die burschikose zwanzigjährige Sophie aber, die nichts von jungen Männern hält, hat sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Erich erfährt, dass sie Opfer einer Vergewaltigung war, spricht aber nie mit ihr darüber. Als sie ihm schon bald offen ihre Liebe erklärt und sich ihm unverblümt anbietet, ist er zwar in seiner Eitelkeit geschmeichelt, hält sie jedoch auf Abstand, lässt außer inniger Freundschaft keine intime Nähe entstehen – und stürzt sie damit in tiefste Seelenpein.

Sophie reagiert schließlich verzweifelt, sucht Abenteuer mit anderen Männern, nur um ihn eifersüchtig zu machen, seine Liebe zu erzwingen. Erichs bisexuelle Orientierung wird an lediglich einer Stelle nur sehr vage angedeutet. Eines Tages verschwindet sie überraschend ohne Abschied aus dem Schloss. Ihre Spur verliert sich schnell, einiges deutet jedoch darauf hin, dass sie sich den Bolschewiken angeschlossen hat. Nach einigen Monaten stehen beide sich ganz unerwartet plötzlich gegenüber. Der Showdown, und hier speziell die letzte Seite des Romans – ein wahrlich wirkungsstarker dramaturgischer Ablauf, erhebt in seiner aufwühlenden Tragik die ganze, überaus fesselnde Geschichte in die Problemsphären eines antiken Dramas, mehr will ich aber nicht verraten. Mich hat diese letzte Szene jedenfalls, obwohl ich nicht gerade zart besaitet bin, nicht nur zutiefst erschüttert, sie hat bei mir sogar körperliche Symptome ausgelöst, ist mir auf den Magen geschlagen, so ungeheuerlich fand ich das Geschehen. So was hat noch kein anderes Buch je geschafft.

«Das Geschehnis hat mich bewegt, und ich hoffe, dass es auch den Leser bewegt», schreibt Yourcenar im Nachwort, eine in Romanen ja recht selten anzutreffende Ergänzung des fiktionalen Textes, die sich hier als äußerst wertvoll erweist. Denn eine derart berührende Geschichte wirkt nach, wirft Fragen auf, und was könnte da hilfreicher sein als entsprechende Hinweise der Verfasserin? Ihre Geschichte beruhe auf einer wahren Begebenheit, erfahren wir, und auch ihre drei Hauptfiguren entsprächen im Wesentlichen der realen Vorlage. Deren Psychogramme sind fein durchdacht und wirken stimmig, überhaupt beweisen Handlung wie auch sprachliche Umsetzung der komplexen Geschichte große literarische Könnerschaft, die das Lesen zum Hochgenuss werden lässt.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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