Gruppenbild mit Dame

boell-3Fanal der Humanität

Der 1971 erschienene Roman «Gruppenbild mit Dame» habe den Anstoß dafür gegeben, konnte man in der «London Times» lesen, dass Heinrich Böll den Nobelpreis bekam für eine «Dichtung, die durch ihre Verbindung von zeitgeschichtlichem Weitblick und einfühlsamer Charakterisierung erneuernd in der deutschen Literatur gewirkt hat», wie die Stockholmer Jury schrieb. Als wichtigster Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur hat Böll hier mit dem Stilmittel der Darstellung historischer Ereignisse anhand ihrer Auswirkungen auf den Alltag der Menschen erzählt, auf deren Lebensweise, auf deren Schicksal. Die Würde des Menschen spielt auch im vorliegenden Roman eine entscheidende Rolle, wobei es dem Autor immer wieder darum ging, mittels seiner Kunst die Individualität in den Fokus zu rücken, seine Gestalten nicht als bloße Manövriermasse der Mächtigen darzustellen. Der dabei benutzte, für ihn typische Erzählstil ist scheinbar naiv, erweist sich aber genauer besehen als klug durchdacht, er ist zudem üppig mit köstlich amüsanter Ironie gespickt, die bei einem Menschenfreund wie Böll aber nie zynisch wird.

Wir haben es mit einem Geschichtsroman zu tun, der das Deutschland der Jahre 1922 bis 1970 beschreibt, wo die Nazizeit und der Zweite Weltkrieg als Zäsur bis lange in die Nachkriegszeit hineinwirken und Verdrängungsmechanismen hervorrufen, die im Wirtschaftswunder sehr schnell die Schuld der Vergangenheit kaschieren. Hauptschauplatz der Handlung ist (ungenannt) Köln, Protagonistin die titelgebende Dame jener Gruppe, die als Figuren in großer Zahl den Roman bevölkern. Der Autor schildert seine Heldin Leni als bildschöne blonde Frau mit blauen Augen, die prompt den Preis als deutschestes Mädel ihrer Schule gewonnen hat. Gutherzig, unglaublich naiv, ungebildet, gleichwohl intelligent, auch künstlerisch begabt, eigensinnig bis zur Sturheit, von den Männern (fast immer erfolglos) umschwärmt, durchlebt sie im Verlauf des Plots den Niedergang von der verwöhnten Tochter eines reichen Kriegsgewinnlers bis zur mittellosen WG-Betreiberin Ende Vierzig, deren Sohn im Gefängnis sitzt und die ungerührt der von Spekulanten betriebenen Zwangsräumung ihrer Wohnung entgegensieht, unterstützt allerdings von einer großen Helferschar, die ihr als von allen Verehrte selbstlos beistehen. Zentrale Episode der Geschichte ist ihre in Kriegszeiten lebensgefährliche Liaison mit einem russischen Zwangsarbeiter, von dem sie bald auch ein Kind hat, der dann aber kurz vor Kriegsende bei einem Grubenunglück stirbt.

Erzählt wird in der dritten Person von einem namenlosen, stets nur als Verf. bezeichneten Erzähler, der den Leser den Entstehungsprozess seiner Geschichte über Leni miterleben lässt, von seinen vielen Gesprächen, Recherchen und Reisen berichtet, mit denen er von Weggefährten seiner zwar lebenden, aber jede Auskunft verweigernden, wortkargen Heldin fleißig Informationen zusammenträgt, die ein möglichst authentisches Bild von ihr ermöglichen sollen. Obwohl zum größten Teil fiktional, sind gelegentlich auch reale Dokumente eingebaut in sein hauptsächlich aus Gesprächsnotizen bestehendes «Gruppenbild», eine Konstruktion, die dem Autor dazu dient, das Leben der damaligen Zeit aus allen möglichen Blickwinkeln zu beleuchten, verkörpert durch seine unglaublich einfühlsam beschriebenen, lebensechten Figuren. Deren Geschichten man en passant ebenfalls erzählt bekommt, wodurch das Ganze zu einem umfassenden Panorama einer unrühmlichen Epoche wird, welches aus der Realität des Alltags eines Volkes geschichtliche Geschehnisse und typische Charaktere widerspiegelt. So mancher ältere Leser dürfte da lang Vergessenes wiederfinden, für jüngere ist es allemal ein wertvolles Zeitzeugnis.

Militarismus, Katholizismus, Kapitalismus, der unbeirrte Moralist Böll baut seine großen Themen auch in diesen Roman ein, er sieht sich auch hier als Anwalt der kleinen Leute, ohne die großen deshalb zu verteufeln. Ein fürwahr grandioser Klassiker!

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
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Fiasko

kertesz-1Vom Fiasko der Matrǫschka-Romane

Der Autor Imre Kertész gehört nach eigenem Bekunden nicht zur nationalen ungarischen Literatur, er sehe sich vielmehr in einer Reihe mit Paul Celan und Franz Kafka. Seine Befürchtung, dass er «ein ewig verkannter und missverstandener Autor bleibe» wurde durch das Nobelkomitee widerlegt, welches ihn 2002 ehrte und zur Begründung anmerkte: «Sein Werk behauptet die zerbrechliche Erfahrung des Einzelnen gegenüber der barbarischen Willkür der Geschichte». Kertész wurde 1944 als Fünfzehnjähriger nach Auschwitz deportiert und gelangte von dort nach Buchenwald, wo er bei Kriegsende befreit wurde. Diese einjährige traumatische KZ-Erfahrung ist prägend für sein gesamtes, stark autobiografisch inspiriertes Werk, hinzu kommen noch die Jahrzehnte der ebenfalls albtraumartigen Zeit während des kommunistischen Regimes in Ungarn. Sein Roman «Fiasko» ist Teil der «Tetralogie der Schicksallosigkeit», der Autor verarbeitet hierin seine Erfahrungen als Schriftsteller in einem autoritären Staatssystem.

In einer eigenwilligen, nebensatzreichen Sprache, ergänzt durch kaskadenartig in Klammer gesetzte, zahlreiche Hinzufügungen und Wiederholungen wird uns «der Alte» vorgestellt, ein erfolgloser Schriftsteller, der in armseligsten Verhältnissen lebt und dessen KZ-Roman über einen jüdischen Jungen im Vernichtungslager (sic!) vom Verlag abgelehnt wurde. Er ist zu journalistischer Gelegenheitsarbeit und zu Übersetzungen genötigt, nimmt jedoch immer wieder seinen Ordner «Ideen, Skizzen, Fragmente» zur Hand, ohne aber tatsächlich einen neuen Stoff zu entwickeln. Die Perspektive wechselt in diesem ersten Teil des Buches häufig zwischen auktorialer und personaler Erzählsituation, was Kertész hier neben seiner ungewöhnlichen Syntax bewusst als Stilmittel einsetzt. Eines Tages aber spannt der Alte plötzlich einen Bogen in seine Schreibmaschine und tippt in Grossbuchstaben «FIASKO» in die Mitte der ersten Zeile.

Im zweiten, größeren und nun ganz konventionell erzählten Teil lesen wir genau diesen Roman. Er handelt von einem Schriftsteller namens Steinig, der in die kafkaeske Welt eines nicht benannten Staates hineingerät und dort Wundersames, Willkürliches und kaum Erklärliches erlebt, ohne recht zu wissen, welche Mächte da am Werke sind. Sein Leben nimmt beruflich und privat immer wieder völlig überraschende Wendungen, und zwischendurch findet er sogar Zeit, einen Roman zu schreiben, der aber abgelehnt wird. Er lernt immer mehr Menschen kennen, sein beliebtester Treffpunkt ist ein Lokal namens «Südsee». Dort verkehrt auch Berg, ein geheimnisvoller Mann, der ebenfalls schreibt und ihm eines Tages nach langem Zureden aus seinem Manuskript mit dem Titel «Ich, der Henker» vorliest, worauf sich eine kontroverse Diskussion anschließt. Am Ende schließlich erfährt Steinig, dass sein Roman doch gedruckt wird. Der Alte aber, der all das geschrieben hat, ist skeptischer als seine Romanfigur: «Seine Person hat er zu einem Gegenstand gemacht, sein hartnäckiges Geheimnis ins Allgemeine verwässert, seine unaussprechliche Wirklichkeit zu Zeichen destilliert», sein einzig mögliches Buch würde nun «das Massenschicksal der anderen Bücher» teilen.

Es ist keine leichte Kost, die da auf ihren Leser wartet. Kertész hat kunstvoll nach Art russischer Matrǫschka-Puppen drei Romane ineinander verschachtelt und dabei ein unbequemes Thema aufgearbeitet. Er durchleuchtet die Düsternis der menschlichen Seele in unglaublich vielen, tiefsinnigen Gedankengängen. Wer sich die Zeit nimmt und seinen Reflexionen willig folgt, den dürfte diese Lektüre ungemein bereichern.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Brand’s Haide

schmidt-1Wer hat Angst vor Arno Schmidt

Der 1951 erschienene Kurzroman «Brand’s Haide» könnte, neben allerlei literarischen Besonderheiten, über die hier gleich zu berichten sein wird, dem saturierten Leser einer der reichsten Nationen dieser Welt ein Schlüsselerlebnis bescheren. Die Handlung ist zeitlich nämlich im Deutschland unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg angesiedelt, wo Autor und Ich-Erzähler Arno Schmidt 1946, nach der Entlassung aus englischer Kriegsgefangenschaft, in das fiktive niedersächsische Dorf Blakenhof eingewiesen wird. Die authentischen Schilderungen der damaligen Not, der äußerst bedrückenden Lebensumstände dürften selbst für ältere Leser schockierend sein. Insoweit ist der Roman geeignet, uns Heutige aus dem vermeintlichen Himmel des fast unbegrenzten Konsums wenigstens lesend mal wieder auf den Erdboden zurückzuholen.

Als Unterkunft wird dem Kriegsheimkehrer eine von ihm als «Loch» bezeichnete Rumpelkammer bei der Dorflehrerin zugewiesen. Zwei Flüchtlingsfrauen bewohnen ein benachbartes Zimmer, sie stammen wie er selbst ebenfalls aus Schlesien, was die drei von den Einheimischen scheel betrachteten Fremden natürlich zusammenschweißt. Man hilft sich gegenseitig im Kampf mit dem drückenden Mangel an allem, was man ganz elementar zum Leben braucht. Und so gehen sie gemeinsam Holz stehlen oder Äpfel, sammeln trotz Verbot heimlich Pilze und anderes mehr. Mit Lore, einer der beiden 32-jährigen Frauen, entwickelt sich bald ein Liebesverhältnis, dem aber kein Happyend beschieden ist, denn sie nimmt das Angebot eines Vetters an, der materiellen Not zu entfliehen und zu ihm nach Mexico zu kommen. Schmidt bringt sie zum Bahnhof und bleibt allein zurück.

Dieser äußere Handlungsrahmen wird ergänzt durch diverse, breit angelegte Einschübe. Der Schriftsteller arbeitet an einer Biografie von Fouqué, ein von ihm als «ewiges Lämpchen» bezeichnetes, mit Hingabe betriebenes, langfristiges Buchprojekt. Friedrich Baron de la Motte Fouqué ist bekannt als romantischer Autor der bei E.T.A. Hoffmann und Lortzing als Opernlibretto dienenden Märchennovelle «Undine». Die Frauen helfen ihm bereitwillig bei der Suche nach Lebensdaten von Vorfahren Fouqués in den örtlichen Kirchenbüchern. Einige Male trifft er auf einen geheimnisvollen «Alten» aus dem Wald von Brand’s Haide, der ihn mit seinen Kenntnissen über Fouqué verblüfft. Mit dem Sohn der Lehrerin, bei der er einquartiert ist, führt er kontroverse politische Diskussionen, in denen er sich als argumentativ deutlich überlegen erweist. Als «Ungläubiger» verwickelt er den Dorfpfarrer in interessante, für einen Kirchenmann jedoch ziemlich unerquickliche Dispute. An dunklen Winterabenden liest er den Frauen einige, im Roman komplett abgedruckte, längere Passagen von Fouqué vor, der Roman stellt mit seiner ständigen Durchdringung Fouqué/Schmidt quasi ein Abfallprodukt der Fouqué-Arbeit dar.

Arno Schmidt wird von einer Schar Getreuer geradezu kultisch verehrt. Den Normalleser jedoch stellt sein Werk vor ziemliche Probleme, so auch «Brand’s Haide». Denn abgesehen von seiner rigoros unkonventionellen Orthografie und Syntax besteht seine eigenständige, kaum einer bestimmten literarischen Richtung zuzuordnende Sprache aus einer collageartige Reihung von etwa dreihundertfünfzig Textabschnitten, von ihm «Fotos» genannt, die häufig in Form des Bewusstseinsstroms geschrieben sind. Es wimmelt dabei nur so von Anspielungen, Zitaten, kryptischen Hinweisen und Anmerkungen, all das üppig angereichert durch eigenwillige Wortschöpfungen, fremdsprachliche Einsprengsel sowie Begriffe aus Umgangssprache und Dialekten verschiedenster Herkunft, somit also geeignet, beim Leser die unterschiedlichsten Assoziationen hervorzurufen. Literarisch hochstehend zweifellos, ist dieser Roman mutmaßlich eine für aufnahmefähige Leser ebenso willkommene wie letztendlich auch bereichernde Herausforderung.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Berittener Bogenschütze

kronauer-2Das Mirakel der Realität

Man hat vom Höhepunkt ihrer Erzählkunst gesprochen bei Brigitte Kronauers 1986 erschienenem Roman «Berittener Bogenschütze», der nicht nur vom Titel her Rätsel aufgibt. Die mit vielen Preisen geehrte Schriftstellerin hat nach langen Jahren im literarischen Untergrund ihren ganz eigenen Erzählstil entwickelt, den sie nach ihrem erfolgreichen Romandebüt wie ein Markenzeichen konsequent weiterverfolgt und im vorliegenden, sechs Jahre später erschienenen Band auf die Spitze getrieben hat. Mit Realistik im Sinne üblicher Lesererwartungen hat ihr spezieller literarischer Stil rein gar nichts gemein, soviel vorweg!

Der vierzigjährige Matthias Roth ist Literaturdozent an einer nicht genannten deutschen Uni, sein Forschungsschwerpunkt scheint Joseph Conrad zu sein. Er ist allein stehend und lebt als möblierter Herr in zwei einfachen Zimmern beim Ehepaar Bartels. Nachdem Karin ihn verlassen hat, ist er zu Beginn des Romans mit der Biologiestudentin Marianne liiert, die gelegentlich bei ihm übernachtet. Frau Bartels kocht für ihn und erzählt ihm Geschichten über die Mitbewohner, die ihn wirklich nicht interessieren, die er aber aus reiner Höflichkeit über sich ergehen lässt. Als er seinen früheren Freund Fritz und dessen Frau in einer anderen Stadt besucht, staunt er über das für ihn rätselhafte Eheleben der Beiden, spekuliert darüber, wie nahe sie sich menschlich denn tatsächlich sein können. Von den alten Freunden ist nur Hans in der Stadt geblieben, er ist mit Gisela verheiratet und hat einen Job im Kulturamt; Matthias ist öfter bei ihnen eingeladen, die Drei verstehen sich gut. Als Marianne ihn wortlos verlässt, unternimmt er in den Semesterferien eine längere Reise nach Italien, wohnt einige Zeit bei Irene, einer allein stehenden Bekannten in Genua, ohne aber intim mit ihr zu werden, wie er es eigentlich vorhatte. Am letzten Tag seines Badeurlaubs hat er auf einer Wanderung in einem einsamen, mediterranen Tal eine Art Erweckungserlebnis. Zurückgekehrt trifft er zufällig Anneliese wieder, mit der er mal eine Nacht verbracht hatte, und bandelt nun wieder mit ihr an. Der Roman endet mit einer ihn vollends irritierenden Begebenheit: Als er eines Abends seine Freunde besucht, ist Hans noch nicht von der Arbeit zurück. Beim Teetrinken in der Küche kommen er und Gisela sich plötzlich für einen winzigen Moment nahe, man hört aber schon den Schlüssel von Hans in der Haustür. Völlig verwirrt nach schlafloser Nacht trifft Matthias die Beiden am nächsten Abend wieder, und alles ist wie immer, als wäre nichts geschehen.

Brigitte Kronauer versucht in ihrem Roman, den Dingen des Alltags auf den Grund zu gehen, Erkenntnisse zu gewinnen über die Geheimnisse dessen, was wir Wirklichkeit nennen. Ihr sensibler Protagonist ist ein ewiger Grübler, ein Skeptiker, der ständig sinnierend das Innere der sichtbaren Welt ebenso zu erforschen sucht wie das verbindende Beziehungsgeflecht ihrer Teile. Als sehr spezieller Entwicklungsroman, in dem nichts von Bedeutung passiert, enthält er fast ausschließlich tiefsinnige Reflexionen und äußerst detailverliebte Schilderungen. In einer kreativen, wortmächtigen Sprache lassen sie auf der Suche nach Erkenntnis, nach dem Mirakel hinter der Realität, vieles aufscheinen, das sich dem weniger genauen Betrachter völlig entzieht.

Der komplexe Roman erscheint mir ziemlich artifiziell, er ist wahrlich nicht einfach zu lesen mit seinen zuweilen komplizierten Satzgebilden, die partout alles, was ist, zu benennen suchen. Damit erfordert er einiges an Geduld, nötigt zudem den Leser auch zur Mitwirkung bei der Überfülle an Details, die da auf ihn einströmen und sich zu Bildern formen, permanent neue Assoziationen generierend. So sehr die exzessive, fast schon manische Beschreibungslust der Autorin auch zu bewundern ist, das Gros der Leser dürfte den Roman kaum wirklich goutieren, zu abseitig ist diese spezifische Erzählweise, von der schwierigen Thematik ganz zu schweigen.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Klett-Cotta Stuttgart

Mein Herz so weiß

marias-2Was nun?

Die Halbwertszeiten aktueller Romane sind oft nach Monaten gezählt, allenfalls ein Bruchteil davon interessiert nach Jahren noch die Leser, einer jahrzehntelangen Wertschätzung aber erfreuen sich nur ganz wenige. Zu diesen besonderen Romanen gehört zweifellos «Mein Herz so weiß» von Javier Marías, einst hoch gelobt vom Feuilleton und seiner damaligen Lichtgestalt Marcel Reich-Ranicki. «Hingehen, kaufen, lesen» hatte Andreas Isenschmid in der «Weltwoche» geschrieben. Auch ich war damals begeistert von diesem Buch, und ich bin es nach erneutem Lesen heute immer noch, soviel sei vorab schon mal gesagt. Lady Macbeth spricht die Worte aus, denen der Titel des Romans entlehnt ist, «I shame to wear a heart so white». Sie hat den Mord an Duncan nicht begangen, ihr Herz ist weiß, aber sie hatte dazu angestiftet, eine Schuld, die sie letztendlich in den Selbstmord treibt. Dies ist auch das Hauptmotiv des vorliegenden Romans, der wie mit einem Paukenschlag beginnt, dem Selbstmord einer jungen Frau unmittelbar nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise. Niemand wird das Buch aus der Hand legen, bevor er nicht erfahren hat, was die Ursache war für diese rätselhafte Verzweiflungstat, der Autor hat seine Leser also fest an der Angel, und das bis zum Schluss. Und auch ich werde mich hüten, die im Roman vierzig Jahre lang eisern verschwiegenen Hintergründe wie ein Spielverderber vorab preiszugeben.

Es geht um die Macht der Worte in diesem Roman, um die Sprache als Werkzeug, um ihre Auswirkung auf das Geschehen. Ich-Erzähler Juan ist Dolmetscher von Beruf, Worte sind also sein Metier, von ihm überaus virtuos beherrscht. Er arbeitet für internationale Organisationen, ist dauernd unterwegs zwischen seiner Heimatstadt Madrid und New York, Genf, Brüssel. Bei einem seiner Aufträge lernt er Luisa kennen, die ihm als Ko-Dolmetscherin beigestellt ist, seine Übersetzung also überwachen muss. Amüsant zu lesen, wie der Small Talk zwischen zwei drögen Staatslenkern mangels Gesprächsstoff peinlich zu werden droht, wie Juan plötzlich, abweichend von den Politikerworten, eine ganz andere Frage stellt ‑ Luisa greift zum Glück nicht ein ‑ und damit erst wirklich ein sinnvolles Gespräch in Gang bringt. Als er später Luisa heiratet, nimmt ihn sein Vater bei der Hochzeitsfeier zur Seite und fragt lapidar: «Was nun»? Ehe und Liebe mit allen ihren Gefährdungen sind ein weiteres dominantes Thema dieses Romans, dargestellt an den deprimierenden, zum Scheitern verurteilten, letztendlich rein sexuellen Männerkontakten von Juans New Yorker Kollegin über die drei Ehen seines lebensgierigen Vaters Ranz bis hin zu seiner eigenen, jungen Ehe, die wenig emotional, eher cool dargestellt wird. Ranz ist im berühmten Prado-Museum angestellt, verfasst nebenbei private Gutachten über Gemälde und tätigt mancherlei dubiose, juristisch grenzwertige Geschäfte auf eigene Rechnung. Neben den Details aus der Dolmetscher-Szene erfährt der Leser also auch viel Interessantes aus der Welt der Malerei und der Museen, von Fälschern und von Kunst-Spekulanten.

Der raffiniert aufgebaute Plot ist in einer anspruchsvollen Sprache geschrieben, die mit langen Satzkaskaden und häufig zusätzlich (in Klammern) eingefügten Anmerkungen alles andere als leicht lesbar ist. Das Geschehen ergibt sich zum überwiegenden Teil direkt aus den Schilderungen des Ich-Erzählers, die Geschichte ist auffallend dialogarm aufgebaut. Weite Passagen des Romans werden in Form des Bewusstseinsstroms erzählt, und oft handelt es sich dabei um ausgesprochen kontemplative Einschübe. Dezidiert leitmotivisch erscheinen mehrmals rätselhafte, nächtliche Beobachter auf der Straße, wartend zu einem Fenster hinaufschauend. Auch das Feuer wird, ziemlich unterschwellig allerdings, als Leitmotiv verwendet, und das Macbeth-Motiv taucht ebenfalls ein zweites Mal auf, vorspielartig gleich zu Beginn. Über allem Erzählten schwebt ein elegischer Hauch, südländisch lebensfroh wirkt keine der Figuren, vor allem aber Juan nicht.

«Ich wollte es nicht wissen» beginnt der erste Satz des Romans, dessen Geschichte also keine forcierte Suche ist nach der Wahrheit über ein vierzig Jahre zurück liegendes, schreckliches Ereignis. Die enthüllt sich nämlich weitgehend zufällig durch Gespräche, die unversehens Licht in die düstere Vergangenheit bringen. Der Romanheld wirkt bei alledem recht unheldisch, und pessimistisch ist er obendrein. «Was nun?» lautet denn am Ende auch für ihn die Frage. Der Wirkung all dessen kann man sich als Leser kaum entziehen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Wenn ein Reisender in einer Winternacht

calvino-1L’ironique amusé

Von seinen Freunden in den literarischen Zirkeln von Paris erhielt er den Spitznamen «Der amüsierte Ironiker», sein Entdecker und Mentor Cesare Pavese bezeichnete ihn als «Eichhörnchen der Feder». Beides kennzeichnet äußerst treffend den Stil des italienischen Autors, die in dem 1983 auf Deutsch erschienenen Meta-Roman «Wenn ein Reisender in einer Winternacht» ihre gelungenste Ausformung erhielt. Sprachlich flockig leicht und beweglich, thematisch kunstvoll durchwoben mit nicht zu übersehender Ironie, widersetzt sich dieser so noch nicht dagewesene, ebenso dichte wie komplexe Erzähltext jedem Versuch einer Zuordnung, er ist vielmehr ein kreatives Spiel mit so ziemlich allen modernen literarischen Gattungen auf einmal.

Kann man einem Leser mehr Ehre antun, als ihn zum Protagonisten eines Romans zu erheben? Es wird konsequent in der zweiten Person erzählt, und das hört sich so an: «Vielleicht hast du schon im Laden ein bisschen darin geblättert. Oder du konntest es nicht, weil das Buch noch eingeschweißt war. Nun stehst du im Bus, eingezwängt zwischen anderen Leuten, hängst mit der einen Hand an einem Haltegriff und versuchst mit der freien anderen, das Buch auszupacken, ein bisschen zappelig wie ein Affe, der eine Banane schälen und dabei weiter an einem Ast baumeln will. Pass auf, du stößt die Nachbarn an. Entschuldige dich wenigstens». Natürlich trägt dieses soeben frisch erworbene Buch den Titel «Wenn ein Reisender in einer Winternacht», es bringt dem Helden, seinem Leser also, allerdings wenig Freude. Denn nach 14 Seiten wiederholt sich der erste Textblock des spannenden Romans um eine konspirative Kofferübergabe fortlaufend bis zum Schluss, ein Bindefehler womöglich. Nach diesem Schema werden nicht weniger als zehn Romananfänge erzählt, die aus unterschiedlichen Gründen alle abbrechen. Sie werden jeweils eingeleitet von einem weiteren Teil der Geschichte, die der Leser erlebt auf den Spuren dieses mysteriösen Buches, von der Buchhandlung über Uni, Hörsaal, Café, Verlag bis zur Wohnung von Ludmilla, einer ebenso verunsicherten Leserin wie er. Ergänzt werden diese Einleitungen, welche listenreich die Rahmenhandlung bilden, durch das kuriose Tagebuch eines Schriftstellers. Überhaupt ist die turbulente Geschichte gespickt mit Details verschiedenster Aspekte zum Thema Buch, aus der Werkstatt von Autor und Übersetzer natürlich, aus der Druckerei, dem Verlag, dem Buchhandel und, last but not least, der Lesestube des Buchkäufers. Denn die Lust am Lesen und die Liebe zu Büchern ist das beherrschende Thema dieses Romans.

Calvino unternimmt stilistisch einen Parforceritt durch fast alle Spielarten der modernen Literatur, persifliert sie sehr gekonnt, man muss häufig schmunzeln, der Autor als Schelm und Nestbeschmutzer! In seinem labyrinthischen Plot ohne Ariadnefaden, der wie eine literarische Schnitzeljagd anmutet, finden sich neben einigen ins Nichts führenden Abzweigungen zehn wunderbar gelungene, an Stilübungen erinnernde Textfragmente. Dazu gehören, mit der Zensur in einer osteuropäischen Diktatur zum Beispiel, Anklänge an Kafka, es finden sich ferner Elemente des typischen Campusromans, des Liebes- und des utopischen Romans ebenso wie Sex and Crime des Thrillers, völlig gleichberechtigt übrigens neben solchen des Nouveau Roman, des magischen Realismus oder des Symbolismus.

Der Seitenhieb auf die Bibliophilen mit ihren ungelesenen Büchern, «die sie böse anschauen», wenn schon wieder neue angeschleppt werden, wird manchen Leser wenig freuen, dass Calvino den weitverbreiteten Wunsch nach stringenter Handlung ad absurdum führt, gewiss noch mehr. Wo sonst aber kann der Leser, also du, so viel über sich selbst und seine Leidenschaft erfahren? Das allein schon macht dieses als Jahrhundertroman apostrophierte Buch sehr lesenswert, und das glaubst du dem Rezensenten. Also liest du es einfach …

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Wendekreis des Krebses

miller-1Surrealistischer Klassiker

Der in New York als Sohn deutscher Eltern geborene Schriftsteller Henry Miller hat 1934 mit «Wendekreis des Krebses» einen Roman vorgelegt, der schnell Kultstatus erreicht hat, woran der nach seinem Erscheinen wegen der vulgär sexuellen Textpassagen verursachte Skandal nicht unerheblichen Anteil hatte, das Buch stand lange auf dem Index. Dabei wurde völlig unterschätzt, welchen literarischen Rang der stark autobiografisch beeinflusste Roman in Wahrheit einnimmt, ist er immerhin mehr als achtzig Jahre später noch lange nicht in Vergessenheit geraten, vermag auch heute noch viele Leser zu begeistern. Eindeutig also ein literarischer Klassiker, welcher, folgt man der Definition von Heinz Schlaffer, «gleichermaßen vergangen, erinnert und gegenwärtig» ist oder, wie es Vladimir Nabokov umschreibt, ein «zeitloses Kunstwerk, dem ein individueller Genius innewohnt».

Um es gleich vorweg zu nehmen, ein Klassiker sicherlich nicht der obszönen Stellen wegen, die heutzutage niemanden mehr «hinter dem Ofen hervorlocken können». Im Gegenteil, der Sex ist hier plump, vulgär, primitiv anatomisch, hat zudem einen derart beiläufigen Status, nichts Aufregendes, Ersehntes, Beglückendes, dass Voyeure eher abgeschreckt werden, – was da beschrieben wird hat keinerlei Reiz! Fast alle Frauenfiguren des Romans sind Prostituierte der untersten Kategorie, aus der Gosse, unattraktiv, oft abstoßend, der Umgang mit ihnen ist geschäftsmäßig, die Männer verachten sie abgrundtief. Eine unerträglich überhebliche, machohafte Perspektive des Autors, die selbst manche einschlägig geprägten südamerikanischen Kollegen noch weit in den Schatten stellt in ihrer rigiden Frauenfeindlichkeit.

In teils tagebuchartigen Fragmenten werden, ohne erkennbare Zusammenhänge und chronologisch plausible Abfolge, einzelne Episoden aus der Pariser Zeit des Autors erzählt, wobei Alltagsszenen durchmischt sind mit eigenen Reflexionen und philosophischen Betrachtungen. Der tägliche Kampf ums Dasein in einem prekären Milieu steht dabei im Vordergrund, vergebliche Jobsuche, das Schnorren um einen Drink, um Essen, Unterkunft, käuflichen Sex. Die drastischen Schilderungen sind oft grotesk überzeichnet und erzeugen mit häufig surrealistischen Einschüben erstaunliche Assoziationen, die so gar nicht den üblichen Leseerfahrungen entsprechen. Dieser originäre Stil unterstreicht die unverhohlene, aber auch verzweifelte Kritik des Autors an den gesellschaftlichen Zuständen, die zu ändern auch die Literatur aufgerufen sei, wie er mal angemerkt hat. Miller bezieht den Akt des Schreibens mit ein in seine Sinnsuche, benutzt seinen provokanten Erzählstil als Analogie für ein anzustrebendes, von allen äußeren Zwängen befreites Leben des Individuums. In diesem Sinne sind auch seine bewusst drastischen sexuellen Schilderungen zu verstehen, sie sind ein radikales Mittel zur Entlarvung des lebensfeindlichen Wertesystems der puritanischen Gesellschaft seiner Heimat.

Sprachmächtig und gedankenreich führt Miller seine Leser in eine Welt ein, die als extrem abstoßende Subkultur die schlechtesten aller menschlichen Lebensumstände jener Zeit darstellt, ohne ihr je, als Gegenpol sozusagen, behaglichere gegenüber zu stellen. Damit verstärkt er bewusst deren ohnehin niederschmetternde Wirkung, verstört aber zugleich sicherlich auch manchen Leser, den das trostlose Milieu irgendwann mental doch allzu sehr niederdrückt. Überraschende Begegnungen mit Settembrini oder Molly Bloom, überhaupt eine üppige Intertextualität, wirkten da erfreulich aufhellend: «Verloren war ich wie einst, als ich im Schatten junger Mädchenblüte im Speisesaal jener riesigen Welt von Balbec saß und mir zum ersten Mal der tiefere Sinn jener inneren Stille aufging, die sich durch die Verbannung von Sicht- und Greifbarem äußert». Ein philosophischer Streifzug also durch die nihilistische Gedankenwelt eines unkonventionellen Autors, dessen zeitloser Roman ein Klassiker ist, den man gelesen haben sollte.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Leviathan

green-julien-1Ein Evergreen

Der 1929 erstmals erschienene Roman trägt als markanten Titel den Namen jenes mythologischen Meeresungeheuers, das in der Bibel bekanntlich gottfeindliche Mächte personifiziert. Leviathan ist, wen wundert’s also, deshalb nicht nur der Name auffallend vieler Kriegsschiffe, sondern findet sich auch häufig als Titel in der Literatur. Autoren wie Joseph Roth, Arno Schmidt und Thomas Hobbes mit seinem berühmten staatsphilosophischen Werk müssen da genannt werden, aber auch aus jüngerer Zeit das gleichnamige Theaterstück von Dea Loher. In Julien Greens Roman steht der Titel für Gottferne, mit einem unbenannten Provinznest in Frankreich als düsterem Handlungsort, in dessen unheilschwangerer Atmosphäre niemand eine glückliche Fügung erwarten kann, niemand eine Chance zu haben scheint.

Und so sind denn auch Greens Protagonisten allesamt schicksalhafte Figuren, deren Seelenleben bis in die äußersten Winkel durchleuchtet wird, wobei Unglaubliches zutage kommt. Wir lernen in Madame Londe eine herrschsüchtige Wirtin kennen, deren Obsession darin besteht, möglichst viel über ihre ausschließlich männlichen Gäste in Erfahrung zu bringen, einzig und allein, um eine gewisse Macht über sie zu erhalten. Als willige Spionin benutzt sie ihr blutjunges, ebenso hübsches wie naives Hausmädchen Angèle, die sie den Männern sexuell zur Verfügung stellt, ohne jeden Skrupel zwar, aber nicht des Geldes wegen, sondern um an Informationen über deren Privatleben zu gelangen. Seelisch nicht weniger verkorkst ist der linkische, schüchterne Hauslehrer Guerét, der überraschende Bösewicht des genial konstruierten Plots, und in der total verbitterten, kaltherzigen Mutter seines Privatschülers schlummert ebenfalls völlig unvorhersehbar ein glühendes Verlangen, das sie geradezu zwanghaft zur Komplizin eines gesuchten Mörders macht.

In weiten Teilen aus der Innensicht seiner Figuren erzählt, mit vielen inneren Monologen angereichert, entwickelt sich eine spannende Geschichte um Liebe der besonderen Art, nicht glückstrunken wie bei Romeo und Julia, sondern schwermütig und nichts Gutes verheißend, unabwendbar auf ein böses Ende hinführend. Die Schicksale der meisterhaft herausgearbeiteten Charaktere sind tragisch ineinander verwoben, sie haben von vornherein keine Chance, verirren sich in ihren seelischen Abgründen, zerstören sich selbst in oft sinnlosen Aktionen. Der Leser erlebt ambivalente Figuren in ausweglos erscheinenden Situationen, ein beklemmendes Drama menschlicher Schwächen und Seelenzustände, das aber nicht in eine Katharsis mündet, dessen Ausgang Julien Green bewusst offen lässt.

Kein leicht zu lesendes Buch mithin, natürlich auch kein froh stimmendes, aber ein Werk, das unter die Haut geht und den Leser unwillkürlich dazu zwingt, moralisch Stellung zu nehmen, von seiner erhabenen Warte herabzusteigen und sich selbst an dem zu messen, was ihm da an menschlichen Untiefen vorgeführt wird. Der französische Autor amerikanischer Abstammung wurde für seinen dritten Roman vom Feuilleton allenthalben überschwänglich gelobt, auch wenn, wie ich meine, der Lesespaß ein wenig zu kurz kommt bei dieser düsteren, schon fast depressiv machenden Thematik. Wen das nicht stört, der kommt voll auf seine Kosten, dieser immer wieder lesenswerte Roman ist genial erdacht und meisterhaft geschrieben, somit als gute Lektüre also absolut zeitlos. Völlig zu Recht könnte man deshalb sagen, wenn mir dies kleine Wortspiel mit dem Namen des Autors erlaubt ist: Ein Evergreen!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
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Madame Bovary

flaubert-2Die Lust am Ehebruch

Emma, Anna und Effi heißen die drei großen Frauengestalten, die in den berühmten Romanen von Gustave Flaubert, Lew Tolstoi und Theodor Fontane als Ehebrecherinnen im Mittelpunkt stehen. «Madame Bovary», 1857 erstmals in Buchform erschienen, markiert dabei den Übergang vom romantischen Roman zum realistischen, eine literarische Zeitenwende. Wegen unmoralischer Verherrlichung des Ehebruchs wurde Flaubert denn auch prompt der Prozess gemacht, obwohl der beanstandete Vorabdruck in einer Zeitschrift bereits entsprechend zensiert war. Nach seinem Freispruch hat der Autor dem nun ungekürzt veröffentlichten Roman die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger sowie das Gerichtsurteil im Wortlaut beigefügt.

Die schöne Emma, aus einfachen, bäuerlichen Verhältnissen stammend, heiratet den farblosen Landarzt Charles Bovary, an dessen Seite sie sich ein besseres, aufregenderes Leben erhofft. Vergebens allerdings, der dröge, kleinbürgerliche Alltag ihrer Ehe bedrückt sie zunehmend, löst Depressionen bei ihr aus. In Léon, einem in der Nachbarschaft wohnenden Kanzleiangestellten, findet sich ein junger, wie sie selbst an Literatur und Musik interessierter Mann, der sie unbeholfen umschwärmt, ohne dass er sich traut, sich ihr zu nähern. Als er beruflich bedingt fortzieht, verfällt sie in einen hemmungslosen Kaufrausch, mit dem sie ihre unerfüllte Sehnsucht nach Liebe zu kompensieren sucht. Bis sie schließlich in Rodolphe, dem reichen Don Juan der Provinz mit eigenem Schloss, einen Liebhaber findet, mit dem sie sich in eine wilde Liaison stürzt. Als sie ihn zu Flucht überreden will, um der bedrückenden Enge ihres Lebens zu entfliehen, verlässt er sie kurzerhand. Im Theater von Rouen trifft sie einige Zeit danach Léon wieder, die Beiden beginnen eine heiße Affäre, die ihren Anfang in einer wahrlich meisterhaft erzählten Fiakerszene nimmt. Während die später im Hotelzimmer ausgelebte, anfangs hemmungslose Leidenschaft für Emma allmählich an Reiz verliert, nehmen zuhause die von ihr ausgelösten finanziellen Probleme immer bedrohlichere Ausmaße an. Als sie in äußerster Not Léon zu einer Straftat anstiften will, um der drohenden Pfändung zu entgehen, wendet Léon sich entsetzt von ihr ab. Verzweifelt nimmt Emma daraufhin Arsen und stirbt jämmerlich.

Die Vorliebe von Flaubert für seine «unmoralische» Thematik ist in seiner eigenen Biografie angelegt, er wusste aus leidvoller Erfahrung, wovon er schreibt. «Diese Moral brandmarkt die realistische Kunst, nicht weil sie Leidenschaften malt, […] sondern weil sie ohne Zügel malt, ohne Maß. Kunst ohne Regeln ist nicht mehr Kunst; das wäre wie eine Frau, die alle Kleider ablegt.» Auch wenn wir heute nur müde lächeln über diese Sätze aus dem staatsanwaltlichen Plädoyer, feiert Flaubert doch ziemlich unverhohlen den besonderen Reiz des Verbotenen in seinem Roman. Denn Emmas Leidenschaft speist sich zu einem nicht geringen Teil eben auch aus dem Tabubruch, den sie ganz bewusst begeht, eine insoweit hemmungslose Lebensgier, die sich partout keiner Moral beugt.

Fünf Jahre hat Flaubert an seinem Erstling gearbeitet, in seinem schier grenzenlosen Streben nach erzählerischer Perfektion ist ihm dabei ein Meisterwerk gelungen. Als personaler Erzähler enthält er sich aller Kommentare, beschreibt einprägsam und stimmig seine verschiedenen Figuren, erzählt mit viel Liebe zu Detail die wohldurchdachten Szenen seines Plots und überlässt seinen Lesern sämtliche Wertungen. Seine Sprache ist in Satzbau, Rhythmus und Wortwahl genial durchkomponiert, sie sucht als begeisternde Erzählkunst ihresgleichen bis in unsere Tage hinein. Dass Emma in ihrer Getriebenheit sozusagen mit dem Tode bestraft werden musste vom Autor, ist zweifellos auf die Entstehungszeit dieses großen Romans zurückzuführen, heutzutage könnte eine Selbstverwirklichung dieser Art, ein verzweifelter Ausbruch aus der als grausam empfundenen Mittelmäßigkeit, weniger moralinsauer durchaus auch anders enden, – damals undenkbar.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Hanser

Kassandra

wolf-1Mythischer Determinismus

Einem verpassten Flug nach Athen verdanken wir die Erzählung «Kassandra» von Christa Wolf, sie habe sich nämlich die Wartezeit lesend mit der «Orestie» des Aischylos verkürzt. Und sei dabei besonders von der Figur der Kassandra, Lieblingstochter des trojanischen Königs Priamos, beeindruckt gewesen. Von Apoll umworben und mit der Gabe einer Seherin beschenkt, wurde sie, als sie Apolls Liebe abwies, mit dem Fluch belegt, dass niemand je ihre Weissagungen glauben sollte. Eine Tragik, der sich Christa Wolf durch die DDR-Zensur damals wohl ganz ähnlich ausgesetzt sah, auf unbequeme Wahrheiten reagierten die Herrschenden auch mehr als zweieinhalbtausend Jahre später mit kleinlicher Zensur und nicht selten auch mit Repressalien. Die 1983 veröffentliche Erzählung wurde inhaltlich, zur Zeit des Nato-Doppelbeschlusses, in Ost und West gleichermaßen geschätzt als versteckte Mahnung an die Politik, wurde aber, des Mythos wegen ebenso wie der modernen sprachlichen Umsetzung des Stoffes, auch geschätzt von einem eher unpolitischen Bildungsbürgertum in beiden deutschen Staaten. Und so gehört diese Erzählung noch heute zu den meistgelesenen Büchern dieser hochgeehrten, trotz ihrer Courage aber nicht unumstrittenen Schriftstellerin.

Eine Nebenfigur aus Homers «Ilias» also dient der Autorin als Ich-Erzählerin, wir erleben das Ende des trojanischen Krieges aus der ebenso reizvollen wie ungewohnten Perspektive dieser als Kriegsbeute des Agamemnon verschleppten Königstochter. Auf dem Karren vor den Toren von Mykenae sitzend, den unmittelbar bevorstehenden Tod durch Klytaimnestra, Agamemnons rasend eifersüchtiger Frau, erhobenen Hauptes erwartend, zieht ihr Leben im Zeitraffer noch einmal an ihr vorbei. In Rückblenden erscheint sie als Prophetin der bevorstehenden Niederlage Trojas, als unbeirrbare Mahnerin im Rat von Troja, vom Vater in den Kerker gesperrt deswegen. Als Frau letztendlich ist sie hoffnungslos unterlegen in einem Patriarchat, in der nur der Held etwas gilt, die Frau hingegen wie ein Objekt angesehen und behandelt wird, da ist auch die Königstochter nicht von ausgenommen.

Ohne sich durch 15.693 Hexameter quälen zu müssen werden wir Leser hier geradezu kurzweilig durch die wesentlichen Geschehnisse eines Epos geführt, das zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur gehört. Hand aufs Herz, welcher Normalleser kennt schon alle diese Figuren, alle Hintergründe der ausufernden griechischen Mythologie, die Heldengestalten und die Verwandtschaftsverhältnisse der Götterwelt mitsamt den unzähligen Halbgöttern? Insoweit ist die Erzählung auch eine den Horizont erweiternde Lehrstunde der griechischen Antike, die ja das Fundament unserer europäischen Kultur bildet und deren Spuren sich tagtäglich finden, nicht nur in Begriffen wie dem Kassandraruf.

Kassandra ringt, wenn auch vergeblich, um Autonomie, versucht ihren eigenen Weg zu gehen, eine feministische Außenseiterin in der männerdominierten Gesellschaft Trojas. «Ich versuche, einen Raum zu erzeugen, in dem das Irrationale, wenn es Macht hat, wie in Kassandra […], durch, ja: humane Werte ein Gegengewicht bekommt», sagte Christa Wolf in einem Interview. Die Sprache, die sie findet für ihre Geschichte, ist wohltuend knapp, geradezu komprimiert, leicht und angenehm lesbar, zuweilen verblüffend direkt in einem heutigen, modernen Stil. Der nicht selten sogar leicht ironisch wirkt und damit durchaus auch zu amüsieren vermag. Ein Kontrast zur hochgestochenen, lyrischen Dichtung des homerischen Originals jedenfalls, der angenehm überrascht von der ersten Seite an. Die politischen Seitenhiebe auf die Stasi zum Beispiel, der ein gleichermaßen rigides Spitzelsystem in Troja entspricht, die Utopie einer zwangfreien sozialistischen Gesellschaft, die im Buch etwa dem entspricht, was Kassandra bei den Armen vor den Mauern Trojas findet, Christa Wolfs Themen sind geschickt verwoben in einer deterministischen Antikriegsgeschichte, die man gelesen haben sollte.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Justine

durrell-1Genius Loci

Der britische Schriftsteller Lawrence Durrell fand mit dem Alexandria-Quartett erstmals weltweite Beachtung, vier unanhängig von einander zu lesende Romane, deren erster den Titel «Justine» trägt, sicher nicht zufällig auf das Hauptwerk des Marquis de Sade hinweisend. Nur dass hier eine Nymphomanin die Protagonistin ist, alles andere als ein Ausbund von Tugendhaftigkeit also. In dem 1957 erschienenen Roman spielt außerdem die ägyptische Hafenstadt Alexandria die Hauptrolle, der kosmopolitisch geprägte Autor hat in dieser levantinischen Metropole einige Jahre seines Lebens verbracht. Seine Erzählkunst wurde mit Proust und Joyce verglichen; niemand Geringerer als Walter Jens, aber auch das begeisterte englischsprachige Feuilleton, forderte den Nobelpreis für ihn. Das macht natürlich neugierig!

Der Ich-Erzähler lebt in Alexandria, ein erfolgloser Schriftsteller, der unter anderem als Sprachlehrer ein bescheidenes Einkommen erzielt. Als Ausländer verkehrt er mit vielen Intellektuellen, ist aber auch mit reichen Arabern gleichermaßen befreundet wie mit käuflichen Damen, ein kurioses Figuren-Ensemble mithin, dessen dreizehn wichtigste Mitglieder in einem ausführlichen Anhang unter Charakterbilder benannt sind, zusammen mit weiteren Marginalien. Er wird der Geliebte von Justine, der faszinierenden Frau eines steinreichen Bankiers, bei der Untreue die Normalität ist, nicht nur ihrem Ehemann, sondern auch dem Liebhaber gegenüber. Im Verlaufe der ausufernd erzählten Geschichte, thematisch üppig mäandernd wie das Nildelta, erfahren wir ziemlich beiläufig, dass Justine ein Kind hatte, das entführt wurde und nie wieder aufgefunden wurde, in einer kurzen Passage sucht sie es verzweifelt in einem Kinderbordell. Der entscheidende seelische Schock aber, auch das eher nebenbei erzählt, war für sie eine Vergewaltigung als blutjunges Mädchen, und paradoxerweise versucht sie dieses traumatische Erlebnis durch eine extensiv ausgelebte Promiskuität zu kompensieren, die alles andere als lebenslustig erscheint. Justine wird vielmehr als nachdenkliche, grüblerische Frau geschildert, deren Schlussfolgerungen man nicht trauen konnte, «weil sie ständig wechselten, niemals feststanden. Sie streute Erkenntnisse und Betrachtungen um sich her wie Blütenblätter».

Durrells Roman umkreist, konzentrischen Ringen gleich, in vier Teilen sein Kernthema, die Bindungskräfte zwischen den Menschen, die mit dem abgenutzten Begriff Liebe nur unzureichend benannt sind und den Tod als obligatorisches Element beinhalten. In einem endlosen Wechselspiel zwischen seinen rätselhaften Figuren und der geheimnisvollen Stadt, diesem Schmelztiegel am Grenzpunkt gleich dreier Kontinente, beschreibt er mysteriöse, albtraumartige, irrwitzige Geschehnisse, zwischen dem Jetzt und der Vergangenheit oszillierend. Wenn Walter Jens euphorisch Proust heranzog als Vergleich, ist damit schon viel gesagt über den sprachlichen Stil von Lawrence Durrell. Nur wenige Schriftsteller sind mir bisher begegnet, die ihre Protagonisten so präzise und eindringlich, ihr innerstes Wesen so stimmig und glaubwürdig beschrieben, ja geradezu fassbar gemacht haben. Und das Fluidum einer quirligen Stadt wie Alexandria mit ihren Türmen und Minaretten, mit ihrer Ehrfurcht heischenden Geschichte, wirkt zusätzlich ein auf die individuelle Persönlichkeit, «denn der Mensch ist nur eine Erweiterung des Genius Loci», wie Durrell schreibt.

Auch wenn die orientalisch üppige Erzählung ganz am Ende etwas Fahrt aufnimmt, fast spannend wird, ist «Justine» ein extrem handlungsarmer Roman, dessen Stärke die meisterhafte Erzählweise ist, bunt und vielfältig wie ein Bazar, sowohl lebensecht wie mysteriös, aufregend und besänftigend gleichzeitig. Eine kontemplative Lektüre, untrennbar mit Alexandria verbunden; für Genießer geeignet, die sich wohlig mitreißen lassen wollen in eine polyphone Welt, die zu traumartigen Reflexionen anregt. Chapeau, kann ich da nur sagen!

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt

Das Ungeheuer

mora-1On the Road mit Urne und Laptop

Dieser buchpreisgekrönte Roman wirkt polarisierend wie kaum ein zweiter, und das nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Layouts. Welches so neu allerdings nicht ist, schon Arno Schmidt benutzte ja 1960 diese auch drucktechnisch realisierte, zweisträngige Erzählweise, in seinem Roman «KAFF auch Mare Crisium» nämlich. Zehn Jahre später, in «Zettels Traum» dann, wurde es bei ihm sogar dreisträngig. Während bei Schmidt diese Erzählstränge vielfach ineinander verwoben sind, fehlt bei «Das Ungeheuer» eine vergleichbare Intertextualität, es sind deshalb eigentlich zwei Bücher, die man da liest, eines oben auf der Seite und eines unten, beide durch einen Strich getrennt. Oben handelt es sich um eine im Stil eines Roadmovies erzählte, moderne Odyssee des lethargischen Romanhelden Darius Kopp, den Mora-Fans als IT-Spezialisten schon aus dem vorhergehenden Band «Der einzige Mann auf dem Kontinent» kennen, in der unteren Hälfte liest man fragmentarische Tagebucheinträge und wirre Notizen seiner manisch depressiven Ehefrau. Flora hat sich das Leben genommen, seitdem lebt Darius apathisch dahin, denn er hat zeitgleich auch noch seinen Job verloren. Auf ihrem Laptop findet er autobiografische Skizzen, in ihrer ungarischen Muttersprache verfasst. Er lässt sie übersetzen und begibt sich spontan auf eine Reise in ihre Heimat, um dort die Urne mit ihrer Asche zu bestatten, ein letzter Liebesdienst an seiner Frau, von der er wenig wusste, wie er nun erkennt. Entfremdung also ist das Generalthema dieses Romans.

Nach der für mich seinerzeit unerquicklichen Lektüre von Moras Roman-Erstling «Alle Tage» hätte ich dieses Buch wohl links liegen lassen, wäre da nicht der Buchpreis gewesen, der einen denn doch neugierig macht. Und so fand ich nun auch hier wieder das schon erwartete Panoptikum ziemlich seltsamer Figuren, von denen einem keine wirklich sympathisch wird, alle erscheinen seltsam distanziert und rätselhaft, mir jedenfalls. Die Situationen auf der chaotisch verlaufenden Osteuropa-Reise sind teilweise grotesk, es entfaltet sich ein sehr gekonnt erzählter, kunterbunter Bilderbogen an Eindrücken und Geschehnissen auf dieser schier endlosen Autofahrt, die man zu Recht als Fahrt ins Blaue bezeichnen könnte, deren Etappen jedenfalls weitgehend der Zufall bestimmt.

Immer wieder schwenkt die detailreiche Erzählung zwischen Realität und Imagination hin und her, wechselt die Perspektive vom Er- zum Ich-Erzähler, nicht selten sogar im gleichen Satz. Auch Flora taucht da plötzlich auf und redet mit Darius, ganz souverän wendet die Autorin in ihrem neuen Roman viele moderne Stilmittel an, der innere Dialog zum Beispiel, aber sehr häufig auch Bewusstseinsstrom und inneren Monolog, an den «Ulysses» von James Joyce erinnernd. Wagemutig gebraucht die Autorin durchgestrichene Wörter, Sätze ohne jedwede Interpunktion, ungarische Textstellen, Buchstabensalat á la J. S. Foer, psychiatrische Diagnosen, Medikamenten-Beipackzettel, ja sogar ein Kochrezept für ihren Romantext, und all das ist wohltuend unkonventionell, wie ich finde.

Thematischer Nährboden dieses Romans ist mithin der Kontrast zwischen dem technisierten, gnadenlos auf Effizienz getrimmten Leben des IT-Menschen Darius und Floras Lebensuntüchtigkeit, ihre sich zur Pein auswachsende Angst, das titelgebende «Ungeheuer» in ihr also, das sie in den Suizid getrieben hat. Mir wäre, um einen Begriff der IT-Branche zu benutzen, zwar eine sequenzielle Druckfolge lieber gewesen als die parallele, die Terezia Mora gewählt hat, aber ihrer Erzählweise kann der Leser mit Hilfe der Kapitelnummern auch so mühelos folgen, gleich zwei Lesebändchen helfen ihm dabei und deuten ja darauf hin, wie es gedacht ist. So mancher Leser dürfte sich freuen über eine nicht alltägliche Lektüre, die ihm womöglich sogar eine spürbare Erweiterung seines Lesehorizonts beschert.

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Alle Seelen

marias-1Ein Panoptikum mit viel Hintersinn

Wo er recht hat, hat er recht, unser Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki, und deshalb verzichtet auch kein Verlag auf jenen verkaufsträchtigen Satz, den auch mein Buchexemplar zitiert: «Begeistert bin ich von diesem Marías, ich glaube, das ist einer der größten im Augenblick lebenden Schriftsteller der Welt». Vor etlichen Jahren habe ich «Mein Herz so weiß» von Javier Marías gelesen, der als sein bester Roman gilt und mich seinerzeit begeistert hat. Deshalb war ich nun sehr gespannt, ob sein drei Jahre vorher erstmals erschienener Roman unter dem rätselhaften Titel «Alle Seelen», der auch mit dem Untertitel «Die Irren von Oxford» herausgebracht wurde, ebenso lesenswert ist. Was ich an dieser Stelle schon mal bejahen kann.

Das einzige, was mich stört an diesem Buch, um es vorweg zu sagen, ist die Art, wie die verschiedenen Verlage es anpreisen, sei es im Untertitel, der suggeriert, es gehe um schrullige britische Figuren in diesem Roman, im Coverfoto mit einer aufreizenden weiblichen Pose, die in der Erzählung kaum Entsprechung findet, oder im Klappentext, der die Liebesaffäre ins Zentrum rückt und mit einem Zitat aufwartet, in dem von «offener sexueller Bewunderung» die Rede ist. All das kommt auch vor, aber es ist beileibe nicht das, was diesen Roman ausmacht, worauf ja schon der Buchtitel «Alle Seelen» deutlich hinweist. Der Autor ist ein Könner im Beschreiben von Menschen, denen er in seinem Roman tief in die Seele schaut, ihr Innerstes offenlegt, ihr Wesen erfasst, sich also nicht nur mit ihrem Äußerlichen, Sichtbaren begnügt. Und er ist ein Meister im Erfinden unterschiedlichster Figuren, die für uns sehr lebendig werden in seinen Schilderungen, allesamt markante Individuen, die in großer Zahl auftreten in seinem literarischen Panoptikum. Es sind wahrlich skurrilen Typen darunter, von denen uns einige gleich zu Beginn bei einem «high table» genannten Essensritual an der Universität von Oxford vorgeführt werden, vom Autor allerdings satirisch ziemlich überzeichnet. Marías hat sich da wohl einiges von der Seele schreiben müssen aus seinen Erfahrungen im Umgang mit Spinnern, Genies und Exzentrikern verschiedenster Couleur während seiner Zeit als Dozent an dieser berühmten Uni.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Der Ich-Erzähler geht für zwei Jahre als Gastdozent für spanische Literatur nach Oxford (sic!) und bandelt schon bald mit seiner verheirateten Kollegin Clare an, von der er sich, das ist vorhersehbar, am Ende wird trennen müssen. Für ihn als Spanier ist und bleibt Oxford fremd und unwirtlich, sein Aufenthalt ist also nur ein berufliches Zwischenspiel, und seine Geliebte andererseits wird Mann, Kind und Oxford niemals verlassen. Eine Liaison auf Zeit also, auch wenn er das am Ende nicht wahrhaben will und versucht, ihr beim letzten Rendezvous eine gemeinsame Zukunft schmackhaft zu machen. Sie erzählt ihm daraufhin ein beklemmendes Erlebnis aus ihrer Kindheit, das sensiblen Lesern unter die Haut gehen dürfte. War in «Mein Herz so weiß» gleich zu Beginn der Selbstmord einer gerade erst von der Hochzeitsreise zurückgekehrten jungen Frau ein ziemlicher Schock, dessen Hintergründe dann in Rückblenden erzählt werden, so ist in Clares Erzählung ganz am Ende der ebenso überraschende Selbstmord ihrer Mutter der Schock. Von Marías sehr raffiniert konstruiert auch hier, denn Clare ist als kleines Kind völlig ahnungslos, als sie ihre Mutter vom Garten aus auf einer hohen Eisenbahnbrücke entdeckt und dann mit ansehen muss, wie sie sich hinunterstürzt in den Fluss. Auch dabei ging es um Ehebruch.

Die Stärken dieses Romans sind sein klug konstruierter Plot, seine wunderbar detailgenau beschriebenen Figuren, das universitäre Ambiente mit der Literatur im Mittelpunkt. Hinzu kommen viele kluge Gedanken philosophischer Art, so zum Beispiel auch Reflexionen über den Tod, die ein genialer emeritierter Professor äußert, – etwas vergleichbar Weises zu diesem permanent verdrängten Thema habe ich noch nie gelesen.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Himmel und Hölle

stefansson-1Ein verlorenes Paradies?

Bestimmt liegt es am Klima der Insel, an der rauen Umgebung, an den harten Lebensbedingungen im Island vor etwa hundert Jahren, dass Menschen zu solchen urigen Typen geformt werden, wie Jón Kalman Stefánsson sie uns in seinem Roman vorstellt, sehr eigen jedenfalls, unverwechselbar, wahre Unikate der menschlichen Spezies. Für mich liegt die Stärke dieses Romans in der meisterhaften Figurenzeichnung, mit der es dem Autor gelingt, uns seine vielen Charaktere glaubhaft nahe zu bringen, uns vor allem ihr Innerstes, ihre Gedankenwelt, ja geradezu ihre Seele zu präsentieren. Protagonist der Geschichte ist ein namenlos bleibender junger Mann, «der Junge», wie er im Roman genannt wird, Jüngster in einer Gruppe von sechs Fischern, die aus ihrem Fjord im offenen Holzboot auf Dorschfang ins Polarmeer hinausrudern.

Die Substantive des Buchtitels finden sich in umgekehrter Reihenfolge im Roman wieder, der Leser erlebt also zunächst die «Hölle» im ersten Teil der Geschichte. Es ist eine äußerst realistisch geschilderte Fahrt zum Fischen, beginnend beim Aufstehen der kleinen Mannschaft mitten in der Nacht, spannend und detailreich beschrieben, ein für heutige Menschen unvorstellbar hartes Gewerbe, mit geradezu archaischen anmutenden einfachen Mitteln betrieben, das kaum so viel einbringt, um davon sein karges Leben bestreiten zu können. Der enge Freund «des Jungen» kommt dabei ums Leben, weil er vor dem Ablegen des Bootes unbedingt noch einen Blick in John Miltons Hauptwerk «Das verlorene Paradies» werfen muss, dessen Verse ihn geradezu verzaubern. Und so vergisst er in seiner literarischen Begeisterung, seinen wetterfesten Anorak mitzunehmen, was ihn das Leben kosten wird, ein heranziehender Sturm mit Schnee und eisigen Winden wird ihm zu Verhängnis. Literatur kann also zuweilen auch tödlich sein, zumindest indirekt! Dieses Motiv wiederholt sich sogar, an anderer Stelle wird eine Frau beim Lesen eines Buches vom Tode überrascht. Nebenbei bemerkt ist für Bücherwürmer ja eigentlich kaum eine idealere Art denkbar, diese Welt zu verlassen, wenn’s denn unbedingt sein muss.

«Der Junge» macht sich umgehend auf, das verhängnisvolle, nur ausgeliehene Buch seinem Eigentümer, einem erblindeten Kapitän, zurück zu bringen, danach will er nicht mehr weiterleben. Er denkt nur noch an Selbstmord nach dem Verlust des Freundes. Bei seinem nächtlichen Gewaltmarsch zum Nachbarort entgeht er nur knapp dem Kältetod, ist zeitweise im Delirium, welches der Autor als kurzen philosophischen Einschub dem zweiten Teil der Geschichte voranstellt. Der dann eher als «Himmel» bezeichnet werden könnte nach den kargen Maßstäben für das menschliche Wohlergehen, die der Leser im ersten Teil kennen gelernt hat. Auch hier im Dorf begegnet man wieder vielen Originalen, amüsant beschriebenen Figuren aus dem prallen Leben jedenfalls, einer skurriler als der andere. «Der Junge» aber gewinnt seinen Lebensmut zurück in dieser neuen Umgebung, denn als Fischer wird er nie mehr arbeiten, soviel steht fest für ihn. Und auch sein erfrorener Freund entschwindet am Ende aus seinen Fieberträumen, er wird ihm nicht ins Totenreich folgen.

Stefánsson erzählt seine nur wenige Tage dauernde Geschichte in einer eminent metaphernreichen, oft auch lyrischen Sprache, die den Leser regelrecht mitschwimmen lässt in einem Strom wohlgesetzter Worte, häufig als innerer Monolog und in wechselnden Tempora erzählt. In vielen kleinen, kunstvoll ineinander verwoben Episoden werden uns quicklebendige Figuren vorgestellt, und die grandiose Landschaft Islands ist anschaulich und gekonnt überall mit einbezogen in den Plot. Der Roman ist ein intensives Leseerlebnis für Leser mit Sinn für solch ein fremdartig anmutendes, karges Milieu, – ein verlorenes Paradies?

Fazit: erfreulich

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Tschick

herrndorf-2Urlaub vom Alltag

«Tschick» heißt der Roman, der 2010 den schriftstellerischen Durchbruch für Wolfgang Herrndorf brachte, mit Millionenauflage und lang anhaltender Platzierung auf den Bestsellerlisten. Die nach einem der beiden Protagonisten benannte Coming-of-Age-Story ist mit Jugendroman nur unzureichend klassifiziert. Was die Zielgruppe anbelangt, dürften die meisten der begeisterten Leser die Adoleszenzphase längst hinter sich haben, die Thematik dieses Romans geht andererseits aber auch weit über das für Jugendliche als Lesestoff so anziehend Abenteuerliche hinaus, sie bietet wenig Sensation und Action, wie sie reizüberflutete Kids heute nun einfach mal erwarten.

Der Plot ist kunstvoll aufgebaut und beginnt mit dem Ende einer Ausreißertour, die Maik und Tschick, zwei 14jährige Klassenkameraden aus ganz unterschiedlichem Milieu, während der großen Ferien spontan in einem gestohlenen Lada unternehmen. Ich-Erzähler Maik ist wohlstandsverwahrlost, oft sich selbst überlassen, die Mutter Alkoholikerin, der Vater Unternehmer hart am Rande des Bankrotts, er betrügt die Mutter ungeniert mit seiner jungen Assistentin. Tschick, aus einer russlanddeutschen Familie stammend, in prekären Verhältnissen in einem Plattenbau am Rande Berlins lebend, hat die Idee zur «Reise», er ist auch derjenige, der als geübter Autoknacker den Lada «besorgt». Beide werden als Außenseiter von den anderen Schülern ignoriert, sind nicht zu Tatjanas Geburtstagsparty eingeladen wie all die anderen, empfinden das als Demütigung und wollen nur noch weg. In die Walachei, zu seinem Opa, schlägt Tschick vor. In einer Rückschau wird von dieser odysseeartigen Reise während der großen Ferien berichtet, die etwa eine Woche dauert. Und die natürlich allerlei Überraschungen birgt, die Jungs immer wieder in haarsträubende Situationen bringt, wo sie nicht weiterwissen. Erstaunlicherweise finden sich aber auch fast immer Menschen, die helfen, die ganz OK sind. «Seit ich klein war, hat mein Vater mir beigebracht, das die Welt schlecht ist. […] Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war».

Heraus aus dem Einflussbereich der Erwachsenen, die weite Reise ins Unbekannte, der Beengtheit des eigenen kleinen Welt entfliehen, das waren die Motive, die der Autor bei einer Rückbesinnung auf seine eigene Jugend fand als Auslöser für derartige Abenteuerlust, wie er in einem Interview erklärte. In einer wunderbar stimmigen Sprache hat er den Jargon der Jugend getroffen, ohne ins Vulgäre, Unverständliche abzugleiten. Er hat behutsam, fast unmerklich, sein tieferes Wissen in die naive Gedankenwelt von Maik einfließen lassen, andererseits dessen noch unverdaute Eindrücke und Erlebnisse ironisch in die Erzählung eingebaut – und erzeugt damit oft große Heiterkeit beim Leser. Denn meist sind es die Erwachsenen, die da eulenspiegelhaft vorgeführt werden und sich lächerlich machen. Ein guter Teil des Lesespaßes liegt darin, die Welt einmal aus dieser unverdorbenen Perspektive zu betrachten, auch lassen sich erstaunliche Erkenntnisse daraus gewinnen.

Mit Freundschaft, Liebe, Treue, Eifersucht, Hilfsbereitschaft, Ausgrenzung, Einsamkeit, Krankheit und Tod berührt der Roman viele Themenbereiche unseres Lebens, macht nachdenklich, auch wenn das turbulente Geschehen dominiert. Kein Wunder übrigens, dass eine Verfilmung schon in Arbeit ist, der Stoff schreit geradezu danach. Vieles im Roman entwickelt sich aus stimmigen Dialogen, wobei die lebensnahen Figuren allesamt sympathisch wirken. Diese positive Grundstimmung und der rasante Plot macht es dem Leser schwer, das Buch aus der Hand zu legen, ich jedenfalls habe es in einem Rutsch durchgelesen. Leichte Kost sicherlich, aber nicht niveaulos, Urlaub vom Alltag, um den Kopf mal frei zu bekommen von dem vielen Negativen, das medial pausenlos auf uns einwirkt.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Rowohlt