Young Donald Duck: Immer ich! Vom Pech verfolgt – Ein Comic-Roman

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Schon der 12-jährigeDonald ist vom Pech verfolgt: Der Hof seiner Großmutter, und damit sein Zuhause, soll verkauft werden. Donald könnte den Hof retten, wenn er an der Elite-Schule PRIMA als Schüler aufgenommen werden würde. Aber leider ist Donald nicht gerade ein guter Schüler.

Seine Freundin Dolly beschließt ihm zu helfen und schickt heimlich eine Bewerbung anstelle Donalds an die PRIMA. Und tatsächlich: Donald wird als Schüler aufgenommen – allerdings nur wegen eines Missverständnisses. Er soll angeblich Meister von “Lagoo” sein. Aber niemand weiß, was das eigentlich ist, schon gar nicht Donald.

Damit er an der Schule bleiben und damit Omas Hof retten kann, überlegen er und die anderen Schüler, den Begriff “Lagoo” mit Inhalt zu füllen und veranstalten den ersten Lagoo-Wettbewerb der Geschichte.

“Lustiges Taschenbuch Lesespaß” heißt das neue Experiment von Ehapa, welches Comic und Lesebuch miteinander kombinieren und so mehr Spaß am Lesen erzeugen will. Um es vorweg zu sagen: Dieses Crossover ist durchaus gelungen.

Zum einen werden die beiden Genres gut miteinander verzahnt, was sich schon im Textbild widerspiegelt. Erzählertext, Panels, Geräusche und unterschiedliche Textfarben für die verschiedenen Figuren gehen geschmeidig ineinander über. Betonungen im Text werden über Schriftgröße und Großbuchstaben geregelt. Zum anderen interagiert der fiktive Erzähler mit der Leserin /dem Leser und den Figuren, sodass auch hier Grenzen aufgelöst werden.

Das alles erzeugt ein lebendiges Leseerlebnis, das durch den Humor des fiktiven Erzählers noch verstärkt wird. “Lustig” und “Lesespaß” können also selbstbewusst die Brust herausstrecken.

Natürlich wird auch mit den Farben gespielt und so Stimmung erzeugt. Kater Karlo und Hugo kommen in gedeckten, dunklen Farben daherher; auch gefährliche Situationen werden mit dunklen Farben unterstützt. Der (blut-)rote Pulli Donalds steht für seine impulsive und lebendige Seite, ebenso seine in rot gedruckten Wortbeiträge. Wobei leider auch hier das Rollenklischee zuschlägt: Donald trägt eine (marine-)blaue Hose, die berockten Mädels Minnie, Dolly und Daisy trifft man v.a. in Lila und Rosa an.

Dazu ein erhellendes Zitat aus dem Lady’s Home Journal von 1918: “Die allgemein akzeptierte Regel ist Rosa für Jungen und Blau für Mädchen. Der Grund dafür ist, dass Rosa als eine entschlossenere und kräftigere Farbe besser zu Jungen passt, während Blau, weil es delikater und anmutiger ist, bei Mädchen hübscher aussieht.”

Der Hintergrund: Rosa galt lange Zeit als das kleine Rot. Und Rot wurde mit Blut, Krieg, dem Kriegsgott Mars assoziiert und war damit eine männliche Farbe. Die neue Farbe Blau für das männliche Geschlecht konnte sich erst nach der Vorbereitung durch die marineblaue Kleidung, die Blue Jeans und die blaue Arbeitskleidung in den 1940ern durchsetzen. Vorher galt Hellblau als Mädchenfarbe und Blau wurde als Sinnbild von Ganzheit und Zyklus des ewig wiederkehrenden Kreislauf des Seins gesehen, sowie als Suche  nach der Geborgenheit im Mutterschoß und als Farbe des Matriarchats.

Ähnliches gilt für Rock, Hose, Kleid und Stöckelschuhe, die allesamt bei weitem nicht so geschlechtszementiert waren, wie man es uns heute weismachen will. Dafür steht auch die seit den 1990ern (wieder) aufkommende Männerrockbewegung. Wer sich darüber schlau machen möchte: https://dress2kilt.eu/ferdi.htm. Auch mein kleiner Sohn ärgert sich darüber, dass Mädchen unkritisiert Röcke und Kleider tragen dürfen und er nicht. Die patriarchalisch-einseitigen Klischees wenden sich also auch gegen die XY-Chromosomträger.

Damit wären wir bei einer allgemeinen Kritik an Comics angekommen: Gerade Comics, die von Männern gezeichnet und getextet werden, transporierten immer noch unhinterfragt die unrühmlichen und einengenden, oft genug diskriminierenden Rollenklischees. Da macht auch dieser Comic-Roman keine Ausnahme. Zeit, dass sich was ändert. Schließlich sind wir schon im 21. Jahrhundert angekommen.

Fazit: Gekonntes humorvolles Crossover von Comic und Lesebuch, das auch für ältere LeserInnen durchaus lesenswert ist. Leider werden aber auch hier – wie in der Comic-Branche bisher großteils üblich – Rollenklischees unkritisch übernommen.


Genre: Comic, Roman
Illustrated by Egmont Ehapa

Die langen Abende

Wer bin ich gewesen?

Der Name ‹Olive Kitteridge› ist seit der Verleihung des Pulitzer Preises für den gleichnamigen Roman von Elisabeth Strout bekannt, nun hat sie zwölf Jahre später mit «Olive, Again» eine Fortsetzung geschrieben, die kürzlich unter dem Titel «Die langen Abende» auch auf Deutsch erschienen ist. Ein Blick in ihre Vita erklärt die Thematik ihrer Geschichte, die amerikanische Autorin hat neben Jura auch Gerontologie studiert und ist folglich bestens vertraut mit der Misere des alternden Menschen. Wie der deutsche Titel schon andeutet, geht es um Verlorenheit und Einsamkeit in diesem Roman, eine innere Leere, von der auch die toughe Protagonistin im Alter nicht verschont bleibt.

Die Heldin ist pensionierte Mathematik-Lehrerin in einer kleinen Küstenstadt des US-Bundesstaats Maine, sie ist für ihre kratzbürstige Art berüchtigt. Nachdem ihr Mann gestorben ist, bahnt sich zwischen ihr und einem ehemaligen Harvard-Professor eine Beziehung an. Beide sind sehr einsam, ihre Kinder sind ihnen fremd geworden, sie haben kaum noch Kontakt zu ihnen. In Rückblenden erzählt die Autorin von den Vorbedingungen dieser Entfremdung, deren Ursache oft auch in ihnen selbst zu finden ist. Und zwar in ihrem wenig empathischen Verhalten sowohl den eigenen Kindern gegenüber, für das es im Nachhinein kaum eine Erklärung gibt, ebenso aber auch zu den Enkeln. Sie heiraten und erleben ziemlich überraschend und von Olive unerwartet doch noch eine zufriedenstellende, fast glücklich zu nennende Zeit miteinander. Zusätzlich werden anekdotisch diverse andere Figuren eingebunden, die alle nur lose mit der zynischen, geradezu verbiesterten alten Frau verbunden sind. Die schließlich durch alle Plagen des Alterns hindurch muss, als 83Jährige aber noch munter Auto fährt, auch wenn sie schon mal das Brems- mit dem Gaspedal verwechselt.

Elisabeth Strout erzählt ihre beklemmende Geschichte aus einer resignativen Sicht und in einer nüchternen, auf das Nötigste reduzierten, manchmal etwas holperigen Sprache. Zu den wenigen Lichtblicken gehören die in der Biestigkeit ihrer Heroine liegenden, komischen Situationen, aber auch deren verblüffende Schlagfertigkeit gibt öfter mal Anlass zum Schmunzeln. Als Olive am Pick-up ihrer Putzfrau einen Aufkleber «mit dem Namen dieses orangehaarigen Kotzbrockens, der jetzt Präsident war» entdeckt, «hätte sie fast den nächsten Herzinfarkt bekommen». Schließlich stellt sich bei ihr im Verlauf der Erzählung aber ein gewisses Maß an Altersmilde ein, ihre Kampfeslust lässt jedenfalls deutlich nach, und Vieles, was sie sonst in Rage gebracht hätte, lässt sie schon mal unkommentiert einfach so durchgehen. Ihre zunehmenden Selbstzweifel machen sie am Ende fast sympathisch, und so notiert sie als Schlusssatz ihrer Erinnerungen, mit denen die Hochbetagte sich so manches von der Seele geschrieben hat: «Ich könnte nicht sagen, wer ich gewesen bin. Ganz ehrlich, ich begreife gar nichts».

Dieser episodisch angelegte Roman lässt kaum ein Klischee aus, um die familiären Zerrüttungen zu beschreiben, die beim Lesen ein frostiges Klima erzeugen. Der Plot plätschert vorhersehbar und an immer den gleichen Schauplätzen in einer drögen Kleinstadt nahezu ereignislos vor sich hin. Auch die wortkargen Dialoge der wenig sympathischen, blutleeren Figuren tragen kaum etwas dazu bei, ihre psychischen Leerstellen aufzudecken als mögliche Ursache ihrer bedrückenden Hoffnungslosigkeit. So etwas wie Lebensfreude ist bei keiner der geradezu verstockten Figuren zu erkennen, auch bei den Nebenfiguren nicht. Großenteils also Menschen, die man als Leser nicht kennen möchte in der Realität, – und die so geballt wohl auch nur in einem Roman vorkommen! Es herrscht nur Bitternis, schicksalhafte Tragik dominiert das Narrativ. Als Versuch, heutiger Lebenswirklichkeit näher zu kommen, scheitert dieser Roman grandios an der unzureichenden stilistischen Umsetzung, ein kreativer oder gar originärer Impetus ist vor lauter Stereotypen nicht erkennbar.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Luchterhand

Der abenteuerliche Simplicissimus

Die Weisheit des Narren

«Der abenteuerliche Simplicissimus» von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen, dessen erste fünf Bücher 1668 erschienen sind, ein Jahr später von «Continuatio» als Fortsetzungsband gefolgt, zählt als barocker Schelmenroman nach pikareskem Vorbild des Don Quijote zum literarischen Kanon. Der umfassend belesene Autor verarbeitet in seinem als erster deutschsprachiger Prosaroman von Weltrang geltenden, vielschichtigen Hauptwerk eigene Erfahrungen während des Dreißigjährigen Krieges. Er stützt sich aber auch auf eine schier unüberschaubare Fülle von Versatzstücken aus der Mythologie und aus antiken Werken, ferner verwendet er zahlreiche Erkenntnisse seiner Zeit aus den unterschiedlichsten Wissengebieten für seine Geschichte. Stellt ein vor mehr als 350 Jahren geschriebenes Werk auch für den heutigen Leser eine bereichernde und erfreuliche Lektüre dar? Beides kann vorab schon mal bejaht werden!

Als Kind lebt der Romanheld als Viehhirte auf dem Bauernhof seiner Eltern, er flüchtet nach der Brandschatzung des Elternhauses durch marodierende Soldaten in den tiefen Wald. Dort wird er von einem frommen Einsiedler aufgenommen, der ihn Simplicius nennt, ihn zu asketischer Frömmigkeit erzieht und ihm Lesen und Schreiben beibringt. Als der Einsiedler zwei Jahre später im Sterben liegt, legt er ihm als Tugenden für seine künftige Lebensführung Selbsterkenntnis, Beständigkeit und Welterkenntnis ans Herz. Nach dieser Initiationsphase gelangt Simplicius in das von Schweden besetzte Hanau und wird zunächst Page des Kommandanten. Seiner Einfalt wegen wird er als «Simplicissimus» schon bald ins höfische Narrenkostüm gezwungen, schließlich gerät er in Gefangenschaft kroatischer Soldaten. Sein weiteres Leben gestaltet sich als wildes Auf und Ab, er wird selbst Soldat, lebt in Saus und Braus und erlangt schließlich durch sein furchtloses Draufgängertum als ‹Jäger von Soest› hohes Ansehen bei Freund und Feind. Auf seinen vielen Raubzügen macht er reiche Beute, verliert aber eben so oft alles wieder, auch seine zwei Ehen enden tragisch. Bei einem unfreiwilligen Aufenthalt in Paris wird er als ‹Beau Alman› berühmt, er verdient viel Geld als Gigolo hochgestellter Damen, wird erneut ausgeraubt, kommt aber als Quacksalber schnell wieder zu Geld. Ein Husarenstück reiht sich an das andere in diesem turbulenten Roman, und auch die Geisterwelt kommt nicht zu kurz mit einem Ritt auf den Hexentanzplatz und einer Begegnung mit dem Wassergeist am Mummelsee. Nach vielen haarsträubenden Abenteuern auf seinen Reisen in alle Welt endet der Roman schließlich in einer Robinsonade, die für den selbstreflexiven Helden zu einem Erweckungserlebnis wird. Er erkennt sein bisheriges frevelhaftes Leben und kehrt bußfertig in die Askese eines frommen Einsiedlers zurück, womit sich narrativ der Kreis schließt.

Leitmotiv dieser häufig allegorisch hinterlegten Handlung ist die individuelle Desillusionierung, ‹erkenne dich selbst› ist seine Botschaft. Neben allem Pikaresken und christlich erbaulicher Frömmelei enthält diese satirische Geschichte mit ihrem episodisch angelegten Plot sehr deutliche gesellschaftskritische Anspielungen auf die Verwilderung der Sitten. Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass der Roman anfangs noch unter Pseudonym erschien.

Thomas Mann sprach begeistert von einem «Literatur- und Lebens-Denkmal der seltensten Art». Nun ist ein barockes Werk wie dieses trotz sorgfältiger sprachlicher Überarbeitung für uns Heutige natürlich nicht leicht zu lesen. Ein umfangreiches Register hilft dem Leser aber über fast alle Verständnisklippen hinweg und erweitert en passant auch seinen Horizont in Sachen ‹Dreißigjähriger Krieg›. Die atmosphärisch dazu passende, derbe Sprache schildert das oft grausame Geschehen scheinbar ungerührt, und auch die vielen Romanfiguren wirken emotional eher unterkühlt. Wer Geduld hat mit der geradezu ausufernden Reihe von Szenen und Episoden, der wird seine Freude haben an diesem satirischen Roman.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Patmos Verlag Eschbach

Echos Kammern

Ziel erreicht

Wohl dem Leser, der wie die Schriftstellerin Iris Hanika in der Sprache das beste Mittel sieht, die Gegenwart auszuhalten, wie sie im Interview erklärte, und mit Sprache spielt sie dann auch gleich sehr virtuos in ihrem neuesten Roman «Echos Kammern», wovon schon der Titel kündet. Ovid berichtet in seinen «Metamorphosen» von Narziss, dem in sein eigenes Spiegelbild verliebten Schönling, dem die Nymphe Echo, die nie ein eigenes Wort sagen kann und immer nur wiederholt, was der andere sagt, mit Haut und Haaren verfällt. Und so ist denn dieser Roman in seinem zweiten Teil auch ein diesem griechischen Mythos folgender Liebesroman, im ersten Teil jedoch erinnert er an den grandiosen New-York-Roman von John Dos Passos, er beschreibt fast hundert Jahre später das heutige urbane Leben in dieser faszinierenden Metropole.

Die fünfzigjährige Dichterin Sophonisbe aus Berlin, bekannt geworden durch ihren Gedichtband «Mythen in Tüten», reist zum Big Apple, um sich für ein neues Buchprojekt inspirieren zu lassen. Sie durchstreift die Stadt und notiert ihre Eindrücke in der 1925 erfundenen, deutsch-amerikanischen Kunstsprache ‹lengevitch›: «Ich will berichten von was ich habe gesehen und was ich habe erlebt in New York City, aber nicht in ganze Stadt New York, sondern nur in Stadtteil Manhattan …». Schon am zweiten Tag landet sie, einer seltsamen schwarzen Gestalt folgend, die sich schon bald als ihr ureigener Engel entpuppt, auf einer Party bei der Pop-Ikone Beyoncé. Dort lernt sie Josh kennen, einen ungewöhnlich schönen jungen Amerikaner, der an einer Dissertation über eine wissenschaftlich bisher vernachlässigte Periode der ukrainischen Geschichte arbeitet. Mit ihm zusammen besucht sie später auch alte Berliner Freunde, die eine feudale Wohnung in dem angesagten Wohnquartier Upper East Side besitzen. Durch Vermittlung dieses Paares findet sie dann auch Ersatz für ihre winzige Berliner Wohnung, die etwa gleichaltrige Roxana in Berlin, erfolgreiche Autorin von Ratgeberbüchern, suche jemanden, der zu ihr passt und in ihre riesige Altbauwohnung mit einziehen wolle. Im zweiten Teil des Romans wird von der ebenso desaströsen Gentrifizierung auch in dieser Großstadt berichtet, und als Josh schließlich zu Besuch kommt, verliebt sich Roxana prompt unsterblich in den langweiligen Schönling, der selbstverliebt darauf überhaupt nicht reagiert.

Gemeinsam ist beiden Städten, dass sie, angefeuert durch die Finanzkrise und die nachfolgende, nach Anlagemöglichkeiten suchende Geldschwemme, Stadtteil für Stadtteil einem permanenten Aufwertungsdruck ausgesetzt sind. Diese Viertel werden einerseits immer feudaler, verlieren gleichzeitig aber auch ihr besonderes Flair, werden unbezahlbar, verdrängen die ursprüngliche Bevölkerung und veröden letztendlich. Was hier nüchtern geschildert wird, ist im Roman durchaus streitbar und mit an Zynismus grenzender Ironie beschrieben, die oft sehr amüsant ist. Dem schließt sich die unerfüllte Liebesgeschichte an, wobei nicht erkennbar ist, was die beiden Romanteile thematisch verbindet, die Motive erscheinen völlig willkürlich aneinander gereiht.

Die Autorin treibt in heiterem Tonfall ein virtuoses Spiel mit verschiedenen Erzählstimmen, die das teilweise bizarre Geschehen distanziert beschreiben. Ihrer Figur Josh fehlt die Selbstverliebtheit von Narziss, die liebestolle Roxana wiederum kann sich im Gegensatz zu Echo sehr wohl sprachlich frei ausdrücken, und Sophonisbe muss anders als ihre antike Namensgeberin keinen Giftbecher trinken. Diese Anspielungen auf die mythologischen Vorbilder wirken allesamt wie intellektuelle Selbstbespiegelungen einer eitlen Autorin. Echokammern dienen in der Akustik der Verstärkung des Halls, ob dies analog hier im Roman auch literarisch funktioniert, darf für beide bedienten Genres mit Fug und Recht bezweifelt werden, für den New-York-Teil ebenso wie für die Liebesgeschichte. Ihr erklärtes Ziel, mal etwas völlig Sinnloses zu schreiben, hat Iris Hanika jedenfalls erreicht.

Fazit: miserabel

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Genre: Roman
Illustrated by Droschl

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Klamauk mit Katharsis

Wenn ein Roman wie der von Alina Bronsky mit «Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche» betitelt ist, erwartet man als Leser eine unkonventionelle, lustige Geschichte. Und der zweite Roman der russisch-deutschen Schriftstellerin zeichnet sich auch tatsächlich durch eine schon fast überbordende Komik aus, mit der über allerdings weniger lustige Probleme einer resoluten Tatarin in der UDSSR und späteren Migrantin in Deutschland berichtet wird. Der Buchtitel ist genau so ironisch gemeint wie der ganze Roman ironisch erzählt ist. Dessen oft verblüffender, manchmal kindlich anmutender Witz wird darin allein durch eine ebenso unerschütterlich selbstbewusste wie grotesk naive, ungebildete Protagonistin verkörpert.

Die Geschichte beginnt im Jahre 1978 mit einem gescheiterten Abtreibungsversuch, den die 40jährige Ich-Erzählerin Rosalinda Kalganowa von einer Engelmacherin aus der Nachbarschaft an ihrer hässlichen, dummen Tochter Sulfia vornehmen lässt. Der Abbruch gelingt nur zur Hälfte, es handelte sich nämlich um Zwillinge. Von denen überlebt einer den Eingriff und kommt wohlbehalten als Enkeltochter Aminat zur Welt, die zu einem wunderschönen Mädchen heranwächst. Was folgt ist die in rasantem Tempo chronologisch erzählte Geschichte dieser drei Frauen, in der die dominante Großmutter unangefochten das Kommando führt. Zunächst sorgt sie dafür, dass ihre Tochter Sulfia, die inzwischen Krankenschwester geworden ist, endlich einen Ehemann bekommt. Dabei kommt für Rosa, ihre Tochter hat da keinerlei Mitspracherecht, schließlich nur ein deutscher Patient Sulfias in Frage, der an einem Kochbuch über die tatarische Küche arbeitet. Mit dessen Hilfe erreicht sie dann auch tatsächlich für das Frauentrio die Auswanderung aus ihrem sozialistischen Mangel- und Korruptionsstaat in das aus tatarischer Sicht paradiesische Deutschland. Dabei nutzt sie völlig unerschrocken und skrupellos die pädophile Neigung von Dieter, dem künftigen Ehemann ihrer Tochter Sulfia, der ein Auge auf die schöne Aminat geworfen hat, – Vladimir Nabokov lässt grüssen!

In einem ständigen Auf und Ab passieren in diesem Roman, der einen erzählerischen Zeitraum von etwa dreißig Jahren umfasst, die seltsamsten Dinge. Die Heldin Rosa ist in ihrem heroischen Kampf für die drei Frauen unermüdlich und mit scheinbar nie versiegender Kraft im Einsatz, um ein besseres Leben für sie alle zu erreichen. Männer sind im Roman-Geschehen allenfalls unbedeutende Randfiguren, ihren Ehemann Kalganov hat sie fest im Griff und nennt ihn demonstrativ nur beim Nachnamen. Überhaupt taugen Männer ihr persönlich allenfalls für gelegentliche Dienste im Bett und als potentielle Ernährer, mehr erwartet sie nicht von ihnen. Mit eisernem Willen lässt sie sich auch von den zahlreichen Rückschlägen nicht entmutigen, die das Leben für sie bereithält und sie bis zum elegischen Ende der Geschichte begleiten.

Ohne Zweifel ist dies eine Satire, eine mit viel schwarzem Humor karikaturhaft, manchmal sogar zynisch überzeichnete Familiengeschichte. Hinter deren amüsant «tatarischem» Duktus schimmert jedoch allzu deutlich das Elend des Sozialismus durch mit seiner absurden Mangelwirtschaft und der prekären Wohnungsnot. All das menschliche Elend, das daraus erwächst und das dieses erbitterte kämpferische Verhalten der Protagonistin zur Folge hat, wie es hier bewusst verharmlosend in beschwingt lustigem Ton geschildert wird, bildet den alles andere als lustigen Hintergrund dieses abgründigen, tragischen Romans. Und genau darin liegt seine große Schwäche, er leidet literarisch an der Ambivalenz zwischen Form und Inhalt. Nur die dem Geschehen zugrunde liegende Tragik rettet das Buch vor dem Verdikt «Klamauk». Amüsante Schundliteratur der anspruchslosen Sorte liegt hier also nicht vor, auch wenn das streckenweise so scheint und vom Buchtitel und Cover her auch suggeriert wird. Dass die Heldin am Ende schließlich resigniert, könnte man dann wohlwollend sogar als Katharsis deuten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z

Ein überraschend vielschichtiger Blick auf den Dirty Old Man

 

Pünktlich zum 100. Geburtstag, den Charles Bukowski am 16. August 2020 gefeiert hätte, veröffentlicht der Verlag Zweitausendeins das Buch „Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z“. Der Verlag kündigt es als ein „unlexikografisches Lexikon“, eine „persönliche Bukowskipedia“ an. Diese forsche Einordnung, die von Understatement und Übertreibung zugleich geprägt ist, hätte Bukowski sicherlich gefallen. Immerhin kann sich Zweitausendeins auf die Fahnen schreiben, im Dreigespann mit dem Augsburger Maro-Verlag und dem 2012 verstorbenen Übersetzer Carl Weissner Bukowski Ende der 1970er Jahre in Deutschland bekannt gemacht zu haben. Erst diese Aufmerksamkeit sorgte für eine weiter geschärfte Wahrnehmung in seiner Heimat Amerika.

Die Schattenseite des American Dream

Charles Bukowski, dessen Romane, Gedichte und Short Stories sich vornehmlich um Verlierer, Säufer, Außenseiter, Machos, Prostituierte, Schmuddelsex und Entmenschlichung drehen – also die Schattenseite des American Dream -, war für Zweitausendeins schon immer eine Herzensangelegenheit. Für das Buchprojekt konnte man Frank Schäfer gewinnen, seines Zeichens Schriftsteller, Popkulturexperte, Heavy Metal-Freak und Bukowski-Enthusiast.

„Charles Bukowski von A bis Z“ suggeriert etwas Umfassendes, Kompendienhaftes. Der Untertitel erinnert beispielsweise an die bei Metzler/Springer erschienenen „Personen-Handbücher Literatur“, etwa zu Robert Walser, Thomas Mann oder Franz Kafka. Genau ein solches Nachschlagewerk ist „Notes on a Dirty Old Man“ jedoch nicht. Und dennoch schafft es Frank Schäfer, einen überraschend vielschichtigen Blick auf Leben, Werk und Wirkung Charles Bukowskis zu werfen.

47 Stichwörter und profundes Wissen

Unter insgesamt 47 Stichwörtern, von „Ablehnungsbescheid“ bis „Weissner“, hat Schäfer jeweils ein- bis sechsseitige Essays verfasst und in zwei Fällen Interviews geliefert, die mit profundem Wissen zu Bukowski aufwarten. Dabei zeigt sich Schäfer nicht nur auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes, sondern es gelingt ihm auch, eine Fülle an Details in einer kurzweiligen Form und einem gut lesbaren, bisweilen ironisch-saloppen Schreibstil zu vermitteln.

Schäfer bestätigt zwar so manches Bukowski-Klischee, etwa den für die literarische Produktion nötigen Dauersuff (erst 1988 lebt er nach einer Therapie gegen Hautkrebs für sechs Monate abstinent). Doch zeichnet er das ebenso differenzierte Bild eines sensiblen, zu scharfen Beobachtungen fähigen Dichters, der schon in jungen Jahren aufgrund seiner schweren Akne-Erkrankung zum Außenseiter („Gesicht“) wurde. Zugleich machten ihn die fortwährenden Misshandlungen durch seinen gewalttätigen Vater zum desillusionierten Fatalisten („Vater“). Bukowski sprang nicht gerade zimperlich mit Zeitgenossen in seinem Umfeld um („Open City“), war erklärtermaßen apolitisch („Politik“) und hasste Dichterlesungen (und hielt sie doch des Geldes wegen, „Dichterlesungen“). Zudem hatte er ein merkwürdig ambivalentes Verhältnis zu den umfangreichen Textüberarbeitungen durch seinen Verleger John Martin („Verschlimmbesserungen“).

Reizthemen

Auch Kontroverses wird nicht eingeebnet: Bukowski war mitunter rassistisch, frauenfeindlich, homophob. Dennoch pflegte er eine Freundschaft zu dem schwulen Dichter Harold Norse („Homos“) oder arbeitete durchaus respektvoll mit vielen schwarzen Kollegen während seiner diversen Aushilfsjobs zusammen („Rassismus“). Gerade diese offensichtliche Beliebigkeit von Standpunkten und der nicht zu leugnende Opportunismus Bukowskis liefern seinen Kritikern bis heute genug Reizthemen für die Geringschätzung seines Werks. Doch nicht zuletzt in den unideologischen Abbildungen der Realität finden Bukowski-Fans dagegen ebenso viele Qualitätsaspekte. Die Polarisierung, die Bukowski nach wie vor erzeugt, hat unter anderem hier ihre Wurzeln.

Da es zu X, Y und Z keine Stichwörter gibt, präsentiert Schäfer unter „XYZ“ eine stichwortartige Biografie Bukowskis, die, nach Jahren geordnet, die wichtigsten Stationen in Leben und Werk nachzeichnet. Abgerundet wir der Band mit einem aufs Wesentliche beschränkte Literaturverzeichnis und mit einem Fototeil. Dieser bietet 20 Schwarzweißbilder, die der deutsche Fotograf Michael Montfort 1978 hauptsächlich während Bukowskis Lesereise nach Deutschland geschossen hatte. Diese Reise wurde seinerzeit von Zweitausendeins organisiert – so schließt sich der Kreis.

Für Kenner und Einsteiger

„Notes on a Dirty Old Man” eignet sich für Bukowski-Kenner wie für -einsteiger gleichermaßen. Man kann die Essays chronologisch lesen oder sich auch bestimmte, ausgewählte Stichwörter vornehmen. Jeder Essay ist wie ein Teil eines sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügenden Puzzles.

Nach der Lektüre hat man den Eindruck, dem kontroversen Autor und seinem Werk nicht nur ein Stück näher gekommen zu sein, sondern auch ein differenziertes Bild fernab einseitiger Lobhudelei erlangt zu haben. Das ist eine Leistung, die eine ausführliche Bukowski-Biografie (von denen es einige gibt), nicht besser machen könnte. Insofern ist das Buch ein durchaus gelungenes und würdiges Geburtstagsgeschenk zu Charles Bukowskis Hundertstem. Der gute, alte Buk stößt sicherlich darauf an – im Himmel, in der Hölle oder irgendwo dazwischen.

 

Frank Schäfer: Notes on a Dirty Old Man. Charles Bukowski von A bis Z.
Leipzig: Zweitausendeins, 2020.
272 Seiten, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3963180675

Zweitausendeins


Genre: Amerikanische Literatur, Amerikanistik, Biographien, Kulturgeschichte, Lyrik, Roman, Sachbuch
Illustrated by Zweitausendeins Leipzig

Die Liebe der Väter

Bereichernd und erfreulich?

Thomas Hettche thematisiert in seinem fünften Roman «Die Liebe der Väter» die unlösbar scheinenden Konflikte eines unverheirateten Paares, das nach der Trennung in einem Dauerstreit um das damals zweijährige, gemeinsame Kind lebt. Die vom Gesetzgeber als alleinerziehende Mutter grotesk einseitig mit diktatorischen Befugnissen ausgestattete Frau macht in diesem Roman bösartig von ihrer Macht Gebrauch und treibt den Vater rachsüchtig immer wieder zur Verzweifelung. Ist es dem Autor, der für seine unkonventionelle Stoffwahl bekannt ist, wirklich gelungen, mit diesem eher für ein Ratgeberbuch taugenden Thema ein belletristisches Werk zu schreiben, das man als ‹bereichernd und erfreulich› und also als ‹lesenswert› bezeichnen kann?

Vor dem Hintergrund der Atmosphäre von Sylt wird erzählt, wie der Ich-Erzähler und Vater der dreizehnjährigen Annika zwischen Weihnachten und Sylvester zusammen mit seiner Tochter bei einem befreundeten Ehepaar in deren Ferienhaus eine Urlaubswoche verbringt. Für den freiberuflichen Vertreter einiger Buchverlage ist dies eine der seltenen Gelegenheiten, seiner Tochter nahe zu sein. Außerdem sieht er die Insel wieder, auf der er als Kind mit seiner Mutter viele Sommer verbracht hat. Annika kommt in den Gesprächen mit dem Vater immer wieder auf die quälende Frage zurück, warum er damals ihre Mutter und damit ja auch sie verlassen habe, aber es gelingt ihm nicht, darauf eine für die Pubertierende befriedigende Antwort zu finden. Es kommt zum Eklat, als er die schon leicht alkoholisierte Annika wegen einer patzigen Bemerkung während der pompösen Sylvesterfeier in einem Top-Restaurant vor allen Leuten ohrfeigt. Sie läuft davon und ist für mehrere Tage nicht auffindbar, er aber traut sich nicht, ihre Mutter darüber zu informieren.

Weite Teile des Romans beschäftigen sich mit der Ohnmacht des nahezu rechtlosen Vaters der sorgeberechtigten Mutter gegenüber, aber auch mit seinen quälenden Schuldgefühlen als berufsbedingt fast immer abwesender Vater. In diversen Rückblenden berichtet er von den tragischen Vorbedingungen dieses menschlichen Dramas und von der Liebe getrennt lebender Väter, die doch so ganz anders sei als die in intakten Familien. Thomas Hettche unterminiert mit der narrativen Form des unzuverlässigen Erzählers die Glaubwürdigkeit seines Protagonisten, und allzu oft erwischt man ihn denn auch dabei, wehleidig durchaus fragwürdige, egoistische Positionen zu vertreten. Seine Freunde beginnen sich allmählich zu distanzieren von ihm und legen ihm schließlich sogar nahe, abzureisen. Diese elegische Geschichte ist mit zweifellos gekonnten, aber leider viel zu ausschweifenden Beschreibungen von Sylt garniert, ohne dass dabei eine wie auch immer geartete motivische Verbindung zum eigentlichen Thema erkennbar wird. Die eher nüchternen, knappen Dialoge sind fast schon spröde zu nennen, sie werden von häufigen inneren Monologen des parteiischen Vaters ergänzt in diesem von Aggressionen und Verletztheiten beherrschten, psychologischen Roman.

Als mit suggestiver Dringlichkeit dargestellte Vater-Tochter-Problematik leidet die larmoyante Erzählung nicht wenig darunter, dass sich zu den Protagonisten keine emotionale Nähe aufzubauen vermag, die Figuren bleiben allesamt (nordisch?) unterkühlt. Die betont einseitige Vater-Perspektive unterstreicht den Impetus des Romans, die verkorkste familiäre Konstellation als Folge äußerst konträrer Lebenskonzepte der Beteiligten begreifbar zu machen. Abgesehen davon, dass die rein juristische Problematik inzwischen ja teilweise obsolet geworden ist, bestimmt die psychische Thematik unverändert die Lebenswirklichkeit in jenen Patchwork-Familien, denen wegen tiefer Verletzungen zum friedlichen Miteinander der Wille oder die Fähigkeit fehlt. Dieser Roman mag entsprechende Diskussionen anstoßen, seine Thematik wäre aber besser in einem Sachbuch aufgehoben, als belletristische Lektüre ‹bereichernd und erfreulich› ist dieses Buch jedenfalls nicht!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Léon und Louise

Ein Glücksfall der Gegenwartsliteratur

Man ist bei «Léon und Louise» von Alex Capus an den berühmten Liebesroman von Garcia-Marquez erinnert. In beiden Geschichten finden die Paare erst im Alter zu ihrem späten Glück, dem sie in den beiden jeweils grandiosen Schlussszenen, von der Welt abgeschottet, auf einem Schiff entgegenfahren. Als Handlungsgerüst dienen dem Schweizer Schriftsteller einige Details aus dem Leben seines Großvaters, um die herum er einen klug konstruierten Plot aufbaut, den man treffend auch mit «Die Liebe in den Zeiten der Weltkriege» betiteln könnte, beide politischen Katastrophen lauern als Menetekel über dem schicksalhaften Romangeschehen.

«Wir saßen in der Kathedrale von Notre-Dame und warteten auf den Pfarrer», lautet der erste Satz. Im offenen Sarg liegt Léon Le Galle, der Großvater des Ich-Erzählers, der in einem epilogartigen ersten Kapitel berichtet, wie plötzlich eine kleine graue Gestalt durch eine Seitentür eintritt, zum Sarg eilt, den Toten küsst, eine Fahrradklingel aus ihrer Handtasche nimmt, zweimal damit klingelt, sie in den Sarg legt, sich zur Trauerfamilie umwendet und jedem kurz in die Augen schaut, ehe sie genau so schnell verschwindet wie sie gekommen ist. Es ist der 16. April 1986, die zierliche alte Dame war Louise, die langjährige Geliebte von Léon, die keiner der Hinterbliebenen je gesehen hatte, – er hat ihr genau diese Klingel kurz nach ihrer ersten Begegnung ans Fahrrad montiert.

Im Frühling 1918 lernt der damals 17jährige Léon in der Normandie Louise kennen, ihre kurze Romanze wird jäh beendet, als sie bei einem Fahrradausflug ans Meer von Tieffliegern angegriffen werden. Beide werden schwer verletzt in verschiedene Lazarette gebracht und halten den jeweils anderen für tot, wobei ein eifersüchtiger Bürgermeister seine Hand im Spiel hatte. Zehn Jahre später sieht der inzwischen verheiratete Léon in der Pariser Metro Louise in einem Zug davonfahren. Es gelingt ihm, sie zu finden, nach einer Liebesnacht beschließen sie aber, sich mit Rücksicht auf Léons Ehe nie mehr wiederzusehen. Der Zweite Weltkrieg verschlägt Louise dienstlich nach Afrika. Léon wird noch mehrmals Vater und schlägt sich als Polizei-Chemiker mit den Besatzern herum. Ein schmuckes Hausboot, das eigentlich ungewollt plötzlich sein Eigentum ist, wird nach Kriegsende das behagliche Refugium des sympathischen Mannes.

Aus der Perspektive seiner Figuren wird in diesem ebenso unsentimentalen wie originellen Roman vor allem eine äußerst unruhige politische Epoche geschildert, die sich sehr anschaulich in den Begebenheiten und Schicksalen spiegelt, von denen die kleinen Leute in Frankreich betroffen waren. Besonders die Figurenzeichnung des eher gegensätzlichen Liebespaares mit dem gutmütigen, in sich gekehrten und phlegmatischen Léon und der burschikosen, selbstbewussten, lebenslustigen Louise ist überzeugend gelungen. Ihre Beziehung ist völlig frei vom schnulzigen Herz-Schmerz-Chaos gängiger Genre-Romane, wobei man trotzdem deutlich spürt, wie tief die Beiden über Jahrzehnte hinweg emotional verbunden bleiben, allen Widrigkeiten zum Trotz. Es sind nicht so sehr ihre individuellen Charaktere, die den Leser beeindrucken, es ist vielmehr die Unbedingtheit, mit der sie scheinbar gottgewollt zueinander gehören. Sogar Léons Frau, der er bis zu ihrem Tod unverbrüchlich verbunden bleibt als verlässlicher Ehemann, erkennt diese adhäsiven Kräfte und entscheidet sich nach anfänglichen Protesten schließlich lebensklug, sie zu akzeptieren. Beeindruckend ist die klare Haltung des Ehepaares, das nach so langer Gemeinsamkeit am Sakrament der Ehe festhält. Aber Léon kann nun mal seiner Vergangenheit nicht entfliehen, die Liebe zu Louise ist sein Schicksal und bestimmt auch ganz entscheidend ihr Leben. Mit großem Einfühlungsvermögen in einer angenehm lesbaren Sprache geschrieben, gewürzt mit einer wohldosierten Portion Humor, ist dieser Roman einer der seltenen Glücksfälle unserer höhepunktarmen Gegenwartsliteratur.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Georgs Sorgen um die Vergangenheit

Éducation sentimentale

Schon der monströse Doppeltitel des Romans «Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag» von Jan Faktor reizt zum Widerspruch. Sorgen macht man sich um die Zukunft, aber gerade die sieht der Ich-Erzähler als Alter Ego des tschechischen Autors ja in blühenden Farben, sie wird phantastisch sein, da ist er sich sicher. ‹Sex sells› wusste schon Charlotte Roche, die mit ihrem unappetitlichen Roman «Feuchtgebiete» dem Leser ihre Thematik aber wenigstens nicht dermaßen obszön und plakativ schon im Titel aufdrängt, wie es hier geschieht. Andererseits vermag ein Coming-of-Age-Roman aus Prag, – einziges Wort dieses unsäglichen Titelungeheuers, das aufhorchen lässt -, der zudem auch noch in bester Schelmenroman-Tradition geschrieben ist, ja durchaus die Neugier zu wecken.

Georg wächst in einem prominenten Prager Viertel bei seiner geschiedenen Mutter auf, die für eine liberale Zeitschrift arbeitet. Mit Großmüttern, diversen Tanten und Cousinen bewohnen sie gemeinsam eine provisorisch unterteilte, ehemals hochherrschaftliche Altbauwohnung. Einziger Mann in dieser femininen WG ist sein Onkel, ein unermüdlicher, aber nicht immer erfolgreicher Do-it-yourself-Handwerker, der bei der Spionageabwehr arbeitet. Durch die weibliche Dominanz ist der Pubertierende schon früh sexuell geprägt. Seine erste – und einzige – Geliebte wird die zwanzig Jahre ältere Dana, eine gute Freundin seiner Mutter, die als naturbegeisterte Objektkünstlerin in einem Bauernhaus auf dem Lande lebt. In der Adoleszenz bestimmen brutale Jugendbanden Georgs rebellischen Alltag, er lernt Kampfsport und sieht die Welt fast ausschließlich in ihrer rein materiellen Dimension. Wobei ihn besonders jede Form von Schmutz und Unrat fasziniert, er arbeitet folglich für einige Zeit als Müllmann, nachdem er seine schulische Ausbildung vorzeitig beendet hat. Später sattelt er auf Schlosser um und verbringt schließlich zwei Jahre als Bergführer und Hüttenwart in der hohen Tatra.

Prägendes Element dieses satirischen Romans in bewährter Nachfolge von Hasek oder Hrabal ist die unbändige Fabulierlust des Autors, der aus postsozialistischer Sicht hemmungslos die triste Lebenswirklichkeit seines Volkes anprangert. Dass er dabei häufig über das Ziel hinausschießt ist eine der Schwächen dieses ständig ins Groteske abdriftenden Romans. Ein weit schlimmeres Manko aber ist das Fehlen jedweden politischen Hintergrundes, Umbrüche wie der Prager Frühling 1968 und der Einmarsch der Roten Armee werden nur nebenbei erwähnt, Georg trifft auf keinen Panzer, selbst Alexander Dubček kommt nicht vor. Auch der Versuch, den Holocaust in Form einer Reise zu den polnischen Munitionsfabriken einzubinden, in denen Georgs Mutter für die Nazis arbeiten musste, bleibt unkommentiert und wenig überzeugend. Stattdessen gerät der Weg dorthin mitten durch die DDR zu einer Schilderung der grotesken Gastronomie dieses sozialistischen Bruderlandes. Weitaus bester Teil der Erzählung ist zweifellos das zufällige Zusammentreffen mehrerer befreundeter Intellektueller verschiedenster Couleur, die auf der Straße stehend eine hochinteressante Diskussion zu kulturellen und politischen Themen führen. Georg wendet sich vehement gegen das lustige Verschwejkeln der tschechischen Misere und fasst seinen politischen Frust in dem Satz zusammen: «Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden».

Diese eher traurige Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, sie bewegt sich vielmehr in ständig wechselnden Zeitebenen, die eine altersmäßige Einordnung des «Kindes» Georg manchmal schwierig macht. Jan Faktor erzählt in einem geradezu übermütigen Stil, der mit kreativen Wortgebilden und unkonventionellen Gedankensprüngen eher an Hrabal als an Hasek erinnert. Eine tragische Éducation sentimentale im Flaubertschen Sinn also, die allerdings kaum bereichernd, wenig unterhaltend und viel zu lang geraten ist.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Kiepenheuer & Witsch Köln

Die Infantin trägt den Scheitel links

Die Infantin trägt den Scheitel links: Die Demontage eines Heimatidylls in den Salzburger Bergen ist einer neuen, jungen und auch experimentellen Sprache verfasst, die man gerne als Expressionismus bezeichnen würde, wäre da nicht schon diese Malerei. Immerhin Nitsch und Pollock kommen auch vor, aber eigentlich geht es um eine ganze andere Familie, die Anti-Trapp Familie vielleicht. Helena Adler stellt Klischees ihrer Heimat auf den Kopf und sie hat dabei (auch noch) sichtlich Spaß. Denn in der Rolle ihres kleinen Mädchen-Ichs lassen sich leicht ein paar Tabus brechen. Ein Wimmelbild nach Pieter Bruegel?

Anti-Trapp-Idylle einer Anti-Alpen-Heidi

Da wäre einmal ihr unbändiger Hass gegen ihre beiden älteren Zwillingsschwestern und ihre Abneigung gegen ihre frömmelnde, bigotte Mutter und einen Vater mit einem fatalen Hang zu Alkohol. Selbstverständlich ist diese Konstellation nur eine sprachliche Verdichtung ihrer tatsächlichen Kindheit, denn natürlich war alles eigentlich gar nicht so schlimm. Damals. Immerhin gab es Bechertelefone, die man jederzeit unterbrechen konnte, denn man muss ja nicht immer erreichbar sein, wenn man gebraucht wurde. „Es ist die Zeit, als Jeanny im Radio rauf und runter gespielt wird. Quit livin’ on dreams.“, schreibt Adler, aber auch sonst erwähnt sie viel Kram aus den Neunzigern, etwa Schwarzenegger oder Knight Rider und natürlich MacGyver. „Der Lauf der Filmgeschichte entspricht der Chronologie der Filmgeschichte“, schreibt Adler an einer Stelle. Was konnte man am Land auch anderes tun, als den eigenen „Staubmagneten“ und „Versorger des Herzens“ zu lieben?

Infantin: Arabeske und Attitüde

Ihre Eltern konnten ihr wohl nicht genug Unterhaltung sein: „Meine Mutter rastet nicht, habe ich immer geprahlt. Und wenn sie rastet, dann rastet sie aus.“ Da hilft es manchmal, aufgeblasene Luftballons als Sauerstoffspender unter dem Bett aufzubewahren. Früher wohnten da noch Krokodile. „Der Unterschied zwischen dem und Holz ist der, dass Holz arbeitet“, meint der Vater. Die zitierten Kalendersprüche, die wir alle aus unserer Kindheit kennen, werden von Adler mit viel Sprachwitz und Situationskomik konterkariert. Es geht mehr um das Vergnügen an der Sprache und am Lesen als um eine Handlung. Und die richtigen Eltern müssen auch nicht wirklich beleidigt sein. Die rasante Abhandlung ihrer Kindheit strotzt manchmal vor banalen Obszonitäten, dann wieder wird Absurdes gereicht: Die Schwarze Anna führt eine offene Beziehung mit Prinz Valium, den sie als ihre Mätresse bezeichnet. Sie sucht einen Mann, der ihr keine Toblerone reicht, sondern die Pyramiden mit Schokolade überzieht. Ahja und für die Bildungsbürger ist auch etwas dabei: jedes Kapitel des gerade mal 150 Seiten starken Büchleins ist mit Zwischenüberschriften übertitelt, die von malerischen Werken europäischer Künstler stammen. Tatsächlich keine Frau dabei, deswegen kein –innen.

Helena Adler

Roman
2020, 176 Seiten, gebunden mit SU

ISBN: 978-3-99027-242-8

€ 20,-

Jung und Jung


Genre: Jugend, Kindheitserinnerungen, Roman
Illustrated by Jung und Jung

Gutgeschriebene Verluste

Selbstgefälliges Palaver

Mit «Gutgeschriebene Verluste» hat Bernd Cailloux das hauptsächlich für Deutschland spezifische Genre der 68er-Romane um ein Werk bereichert, dessen Klassifizierung als «Roman mémoire» allerdings unzutreffend ist. Denn es handelt sich dabei nicht um einen in Form von Erinnerungen erzählten fiktionalen Lebenslauf, sondern um eine fiktional mehr oder weniger ausgeschmückte, ansonsten aber reale Autobiografie. Ein heute bei vielen Autoren sehr beliebter, narrativer Typus übrigens, der gemeinhin als Autofiktion bezeichnet wird.

Das Alter-Ego des Verfassers wird gleich zu Beginn bei einer Verabredung mit seinem besten Freund durch dessen «so schwerwiegend wie beiläufig» vorgebrachte Bemerkung geschockt: «Dieses Café ist das Café der Übriggebliebenen». Der 60jährige Ewige Hippie ist nach mehr als zehnjähriger, anfangs erfolgreicher Tätigkeit in Hamburg als Hersteller von Discokugeln und ähnlichem Equipment 1979 wieder in Berlin gelandet. Er schlägt sich nun als Autor von Rundfunk-Kommentaren und mit anderen Gelegenheitsaufträgen durchs Leben. Als Rahmenhandlung des Romans dient dem Autor die seit zwei Jahren bestehende Beziehung seines Protagonisten zu einer fünfzehn Jahre jüngeren Frau, die kurz vor dem Scheitern steht. Hella neigt zu starken Gefühlsausbrüchen und erhofft sich mit ihm ein spätes Glück. Der angestrebte gemeinsame Nestbau aber erweist sich als Illusion, er scheitert an der geradezu pathologischen Bindungsunfähigkeit des Helden. Daran kann auch eine gemeinsame Reise zum KZ Buchenwald nichts ändern, in dessen Nähe er als Kind lebte, einige der Leerstellen in seiner Vita können jedoch dank einer alten Nachbarin dort geklärt werden. Diese gemeinsame Unternehmung ändert aber nichts an dem ständigen Zank des Paares, der sich zum Krieg der Geschlechter hochschaukelt. Nicht von ungefähr sehen sich die Beiden 2005 im Deutschen Theater Edward Albees Drama «Wer hat Angst vor Virginia Woolf» an. Ein Erbe aus der Drogen-Vergangenheit ist die nicht überwundene Hepatitis-Infektion des Protagonisten, die er nach dreißig Jahren mit unsicherem Ausgang durch eine mit reichlich Nebenwirkungen belastende Interferon-Therapie bekämpfen muss, – die 68er-Vergangenheit holt ihn wieder ein. Und bei einer Podiumsdiskussion trifft er dann auch noch auf das RAF-Mitglied Peter Jürgen Book, der 25 Jahre im Zuchthaus gesessen hat und ihm inzwischen äußerst unsympathisch ist.

Als melancholische Lebensbilanz erzählt der Autor in Rückblenden von seiner schwierigen Kindheit, die Mutter hatte die Familie 1945 verlassen, als er wenige Monate alt war. Es folgen schlaglichtartige Erinnerungen an seine Jugend, erste Kontakte zum anderen Geschlecht, Erfahrungen mit Drogen, die Firmengründung 1968 und die Rückkehr ins Berlin des New Wave. Als Dauergast porträtiert er mit scharfem Blick für Details die skurrilen Gestalten in seinem Stammcafé, das ihm quasi als ‹ambulantes Wohnzimmer› dient. Seine ironisch-nüchternen Reflexionen aus der Schöneberger Subkultur sind gespickt mit köstlichen Anekdoten, bei denen Sex und Frauen das Hauptthema bilden. Aber auch die diversen Intellektuellen und Künstler aller Couleur und unterschiedlichsten Renommees ergeben reichlich Gesprächsstoff für den unentwegt sinnierenden und schwadronierenden Althippie, der sich im Seinstaumel dieses spinnerten Milieus als Mitglied etabliert hat.

Der Titel des Romans lädt zu allerlei Deutungen ein. Es sind zweifellos Verluste, die der unsympathische Alt-68er in seinem Katzenjammer zu verbuchen hat, gutgeschrieben aber werden sie ihm nicht, er steht am Ende seines Lebens mit leeren Händen da. Stilistisch gut geschrieben aber ist diese Geschichte sehr wohl, Bernd Cailloux schildert das Geschehen in einer saloppen Sprache, die besonders in den Dialogen durchaus überzeugen kann. Weniger überzeugend ist der schleppende Fortgang der Geschichte, die durch ein Übermaß an selbstgefälligem Palaver des grandios gescheiterten Helden sehr schnell sehr langweilig wird.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by Suhrkamp Berlin

Die Verlobten

Faktenbasierte Horizonterweiterung

Im Jahre 1827 erschien als wegweisendes Werk der Romantik die erste Fassung des Romans «I Promessi Sposi» von Alessandro Manzoni, es wurde auf Anhieb ein Publikumserfolg. Vorbild für den italienischen Schriftsteller war Sir Walter Scott, dem er bei einem Treffen gestand, «dass er sich durchaus als sein Schuldner fühle». Noch im gleichen Jahr ins Deutsche übertragen, folgten dann mehr als ein Dutzend weitere Übersetzungen dieses ersten dem Realismus zuzurechnenden historischen Romans, er gehört unbestrittenen zum Kanon der Weltliteratur. Einst von Goethe hoch gelobt, auch von Reich-Ranicki euphorisch zur Lektüre empfohlen, ist er in Italien als bester Prosa-Klassiker heute noch Pflichtlektüre an höheren Schulen.

«Die Verlobten» ist die Geschichte eines Liebespaares aus einem Dorf am Comer See, das heiraten will. Es beginnt protokollartig: Am 7. November 1628 wird der Dorfpfarrer bei einem abendlichen Spaziergang von Schergen des Lehnsherren aufgefordert, die geplante Hochzeit von Renzo und Lucia keinesfalls vorzunehmen, widrigenfalls ihm Schlimmes drohe. Der brutale Don Rodrigo hat selbst ein Auge auf die schöne Braut geworfen, die Beiden müssen fliehen. Lucia versteckt sich in einem Kloster, Renzo flüchtet nach Mailand. Er gerät dort in einen Volksaufstand wegen der hohen Brotpreise, wird als Aufrührer verhaftet, kann entkommen und findet jenseits der Grenze Unterschlupf bei einem Cousin in Bergamo. Lucia jedoch wird im Auftrag von Don Rodrigo von einem verbrecherischen Feudalherrn auf dessen Ritterburg entführt. Als aber der charismatische Mailänder Erzbischof sich persönlich für sie einsetzt, geschieht die wundersame Bekehrung des grausamen Tyrannen zum christlichen Wohltäter. Er bringt Lucia bei einer wohlhabenden Mailänder Familie in Sicherheit. In den Wirren des Dreißigjährigen Krieges schleppen 1630 marodierende Soldaten dort die Pest ein, verzweifelt macht sich Renzo trotz Haftbefehl auf die Suche nach ihr.

Die in 34 Kapiteln erzählte Geschichte widmet am Ende zwei Kapitel allein der Ausbreitung der Pest in Mailand, fast die Hälfte der damaligen Bevölkerung fielen ihr zum Opfer. Von der Corona-Pandemie geschädigte Leser werden in dieser exzellenten Darstellung vieles wiederfinden, was heute allenthalben die Schlagzeilen bestimmt. Alessandro Manzoni streut häufig auch eigene Gedanken zu den historischen Ereignissen ein, erläutert die ökonomischen Bedingungen, die zum ‹Mailänder Brotaufstand› geführt haben, oder zitiert aus Dokumenten der Zeit von den erfolglosen Maßnahmen der spanischen Fremdherrscher zur Bekämpfung des Angst und Schrecken verbreitenden Raubrittertums. Mit versteckter Ironie kommentiert er gelegentlich aber auch das fiktionale Geschehen und die allzumenschlichen Motive seiner lebensechten Figuren.

Ein Verdienst dieses berühmten Romans ist zweifellos der Verzicht auf die übliche Heroisierung des Rittertums, die hier vielmehr als Märchen entlarvt wird angesichts des unsäglichen Terrors, mit dem brutale Feudalherren erbarmungslos Tod und Elend verbreitet haben. Insoweit bietet die tragische Geschichte der Verlobten lediglich die narrative Basis für eine umfassende Analyse der komplizierten Stände-Gesellschaft jener Zeit und der nicht minder komplizierten politischen Verhältnisse. Sprachlich hat der Autor mit seinem sozialkritischen Werk Maßstäbe gesetzt für die italienische Literatur Anfang des 19ten Jahrhunderts. Er erzählt seine Geschichte gemächlich, mit üppigen Ausschmückungen und in langen, brillant formulierten Satzgebilden, denen man als Leser genüsslich folgt, – dafür sollte man allerdings die nötige Muße haben. Die damals neuartige Vermischung von historischen Fakten und Fiktion, von Goethe seinerzeit noch beanstandet, ist als literarischer Genretyp seit Sir Walter Scott jedoch fest etabliert. Sie erfreut all jene nach Belesenheit strebenden Buchfreunde, die neben fiktionaler Unterhaltung auch eine faktenbasierte Horizonterweiterung erwarten.

Fazit: erstklassig

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Genre: Roman
Illustrated by Manesse Zürich

Da sind wir

Rhetorische Floskel

Eigentlich sollte der Bestseller «Ein Festtag» sein letzter Roman bleiben, drei Jahre später nun ist vom britischen Erfolgsautor Graham Swift mit «Da sind wir» erneut ein Kurzroman erschienen, in dem er sein Zentralthema des Erinnerns aus anderen Blickwinkeln und in einem anderen Milieu nochmals aufgreift. Wie beim Vorgänger handelt es sich hier eher um eine Novelle, es ist nämlich eine ‹unerhörte Begebenheit› im Sinne Goethes, auf die diese neue Geschichte hinsteuert, was im Milieu des Varietés mit einem Zauberer als Held schon fast vorgezeichnet scheint. Ein weiteres literarisches Highlight?

Jack und Ronnie gelingt nach ihrer gemeinsamen Militärzeit der Sprung ins Showbusiness, sie bekommen 1959 im mondänen Seebad Brighton ein Engagement in einer berühmten Bühnenshow auf den Piers. Jack, der dort als Entertainer arbeitet, holt seinen Freund Ronnie erstmals als Zauberer auf die Bühne, und der verpflichtet als publikumswirksame Ergänzung für seine Show eine attraktive Assistentin. Die Drei haben großen Erfolg, sie ergänzen sich optimal, Ronnie und Evie rücken als ‹Pablo und Eve› immer mehr ins Rampenlicht, sie reüssieren als Zugnummer ihres Theaters, werden schon bald ein Paar und verloben sich. Bis passiert, was passieren muss in solcherart Konstellation, der berüchtigte Womanizer Jack bekommt Evie schließlich doch ins Bett, und völlig überraschend ist es für Beide die große Liebe. Sie heiraten, und ihre Ehe hält schließlich bis zu Jacks Tod fünfzig Jahre später. Ronnie aber ist damals, während seines letzten Auftritts, wie von Zauberhand spurlos von der Bühne verschwunden und blieb trotz intensiver polizeilicher Nachforschungen für immer unauffindbar.

Geschickt verknüpft Graham Swift in diesem neuen Roman das Schicksal seines Helden mit dem historischen Geschehen des Zweiten Weltkriegs. Wegen der ständigen Bombardierungen Londons musste der achtjährige Junge von seiner Mutter zu Pflegeeltern aufs Land evakuiert werden und wurde bei einem wohlhabenden, kinderlosen Ehepaar liebevoll großgezogen. Sein Pflegevater war vor dem Krieg ein erfolgreicher Zauberer gewesen, hat auch ihn für seine Kunst begeistern können und dem Pflegesohn bei seinem frühen Tod eine größere Summe hinterlassen. Die konnte Ronnie schließlich als unbedingt erforderliches Startkapital für seine eigene Bühnenshow mit Evie einsetzen. Mit einem melancholischen Grundton erzählt der Autor vom Leben im Varieté, das damals seinen beginnenden Niedergang erlebte, von Ronnies freudloser Kindheit und den glücklichen Jahren bei den Pflegeeltern.

Dabei springt er in diversen Rückblenden in die Vorgeschichte seiner Figuren zurück, erzählt seinen Plot zudem in stark fragmentierter Form und benutzt zuweilen das Stilmittel des unzuverlässigen Erzählers, was im Zusammenspiel mit Zauberei und Magie nicht wenig zur Verunsicherung des Lesers beiträgt. Seine Figuren wirken wenig empathisch und entsprechen diversen gängigen Klischees, vom draufgängerischen Frauenschwarm Jack über die kühl berechnende und leicht zu erobernde Evie in ihrem Glitzerkostüm bis zum hochsensiblen Zauberkünstler Ronnie, der sich seine treulose Verlobte kommentarlos ausspannen lässt. Zu den häufig verwendeten Metaphern im Roman zählt der Spiegel als trügerisches Symbol oder der bunte Papagei als krasser Gegenpol zur weißen Taube als dem typischen Überraschungstier beim Zaubern. Wenig erhellend sind auch die Erinnerungen der fünfundsiebzigjährigen Evie, die ein Jahr nach dem Tod von Jack, der mit ihr als seiner Managerin erfolgreich Karriere im Showbusiness gemacht hatte, immer wieder von Ronnie phantasiert. Der könne jeden Moment zur Tür hereinkommen, als Wiedergänger quasi. Gleiches denkt sie auch von ihrem toten Mann, derartige Illusionen begleiten sie also noch auf ihre alten Tage. «Hier sind wir» mag als rhetorische Floskel beim selbstbewussten Auftritt auf der Bühne funktionieren, dieser Roman jedoch kann mit dem Niveau seines Vorgängers nicht annähernd mithalten!

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by dtv München

Verirrungen

Impressionistisch hingetupft

Der 1895 erschienene Roman des schwedischen Schriftstellers Hjalmar Söderberg erschien unter dem Titel «Verirrungen» 2006 in neuer deutscher Übersetzung. Er gehört zu dem Mitte des 19ten Jahrhunderts von Edgar Allen Poe begründeten Genre des Flaneur-Romans und löste im prüden Fin de Siècle einen Skandal aus als «eine der unkeuschesten Hervorbringungen» der schwedischen Literatur, wie es in dem berühmten Verriss von Harald Molander hieß. Er sprach von «Dekadenzformen der niedrigeren Triebe des Menschen, ungezügelt, aber doch gleichzeitig ohnmächtig, Leidenschaften von wirklicher Intensität zu gebären».

Der Flaneur dieses Romans heißt Tomas, zwanzig Jahre alt, angehender Arzt, aus gutem Hause stammend, ein charmanter Tunichtgut mit Erfolg bei den Frauen, sein Flanierareal liegt im Herzen Stockholms. Gleich zu Beginn begegnen wir ihm nach dem Kauf roter Handschuhe, eine Alibihandlung, denn in Wirklichkeit geht es ihm um die nette Verkäuferin in dem Handschuh-Laden, die er bezaubernd findet. Bei einem Dinner trifft er wenig später die Gymnasiastin Märta, in die er schon länger verliebt ist und die er sich als seine künftige Frau vorstellen könnte. Söderberg nutzt das Dinner sehr geschickt für eine scharfsichtige Analyse der damaligen Stockholmer Bourgeoisie mit allen ihren Brüchen, wobei der Seelenzustand seiner Figuren hier nicht psychologisch analysiert wird, sondern sich allein durch ihr Handeln und ihre Äußerungen offenbart. Beide Mädchen erliegen schon bald dem Charme von Tomas. Neben der Liebe ist auch permanenter Geldmangel ein vordringliches Thema, der Vater von Tomas hält ihn eher knapp. Sein dekadentes Lotterleben aber ist teuer, und so gerät er schließlich in die Fänge eines Wucherers, mit dessen Hilfe er naiv seine diversen Schulden loszuwerden hofft.

Diese motivischen Verknüpfungen sind mit feiner Ironie und ganz ohne Pathos kühl und distanziert in einen Plot eingewoben, der erst ab der Mitte ein Minimum an Spannung erhält. Weite Strecken des Romans sind nämlich durch minutiöse Schilderungen dessen bestimmt, was Tomas als Flaneur auf seinen Streifzügen durch immer die gleichen Straßen an immer den gleichen Orten erlebt. Insoweit ist diese Hommage für das literarische Genre typisch, Stockholm-Kenner werden ihre helle Freude daran haben, ist doch diese Metropole von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs verschont geblieben und strahlt noch den Charme vergangener Epochen aus. Mit feinem Gespür für Details schildert Hjalmar Söderberg ebenso eindringlich immer wieder die Natur und benutzt gekonnt das Wetter als stimmungsmäßige Grundierung des Geschehens, ohne dabei je in naturalistische Schwärmerei abzugleiten.

Dieser die verlogenen Konventionen einer dekadenten bürgerlichen Gesellschaft anprangernde Roman gehört heute zu den Klassikern der schwedischen Literatur. Sprachlich federleicht werden die titelgebenden «Verirrungen» des antriebslosen Protagonisten realistisch und nüchtern geschildert, ohne moralistische Wertung also. Als Tagträumer irrt Tomas so lange unentschieden zwischen den beiden Mädchen hin und her, bis ihm das Heft des Handelns endgültig entglitten ist. Er wird als ein Getriebener und Gefangener gleichzeitig dargestellt, der sich zuweilen elegisch selbst bedauert, dann aber auch wieder lebensfroh neuen Mut schöpft. Der Autor arbeitet in seinem klug anlegten Plot mit allerlei Leitmotivik und Farbsymbolik, mit raffiniert eingebauten, insignifikant erscheinenden Szenen wie dem taumelnden Hochzeitsflug zweier Schmetterlinge oder andere nebensächliche Beobachtungen, die seine Motive gleichwohl vorausdeuten oder begleitend illustrieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die im Dinner-Kapitel vage angedeutete Verbundenheit zwischen der Mutter von Tomas und dem Konsul, der am Ende dann plötzlich auftaucht und kommentarlos die Schulden des Hallodris begleicht. Derart impressionistisch hingetupften Kontext übersieht man leicht, man sollte sich also Zeit lassen zur genüsslichen Lektüre.

Fazit: lesenswert

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Genre: Roman
Illustrated by Piper Verlag München

Sweetest Fruits

Heimatloser Literat

In ihrer literarischen Biografie «Sweetest Fruits» erzählt die in den USA lebende Schriftstellerin Monique Truong vom wechselvollen Leben des irisch-griechischen Reiseschriftstellers Lafcadio Hearn. Die erste Biografie über ihn erschien schon 1906, zwei Jahre nach dem Tod des 54jährigen Journalisten, geschrieben von Elisabeth Bisland, die damals insbesondere durch ihr spektakuläres Wettrennen auf den Spuren von Jules Vernes rund um die Welt bekannt war. Aus dem zweibändigen Werk dieser amerikanischen Journalistin über ihren Freund und Kollegen Hearn werden, als Zwischenberichte quasi, den drei fiktionalen Teilen des Romans jeweils einige Seiten mit Zitaten beigefügt, wodurch ein authentisches Erzählgerüst entsteht.

Monique Truong erzählt aus den Perspektiven dreier Frauen vom Leben ihres Helden, beginnend auf einer griechischen Insel, wo Rosa ihrem bedrückenden Leben durch die Ehe mit einem dort stationierten irischen Stabsarzt zu entkommen sucht und mit ihm nach Dublin geht. Als die Ehe scheitert, lässt sie notgedrungen ihren kleinen Sohn Patricio in der Obhut der Familie und kehrt mittellos auf ihre Insel zurück. Im zweiten Teil erzählt Alethea, eine ehemalige Sklavin, die in einer billigen Pension als Köchin arbeitet, wie sie Patricio Hearn als Gast kennenlernt. Er war nach seiner Schulzeit in Irland von den Verwandten, die ihn großgezogen hatten, mittellos nach New York geschickt worden, hat sich mit Gelegenheitsjobs durchgeschlagen und später in Cincinnati eine schlechtbezahlte Stelle als Journalist gefunden, der Anfang seiner literarischen Karriere. Alethea heiratet Pat, wie sie ihn nennt, aber die Ehe hält nur drei Jahre, ehe Hearn sich schließlich in Richtung New Orleans absetzt und sich scheiden lässt. Das Paar hat nur noch sporadisch Briefkontakt, zuletzt kommt ein Brief aus Martinique, wo der Weltenbummler inzwischen wohnt. Setsu, die Tochter eines Samurai, erzählt im dritten Teil schließlich, wie sie in der japanischen Hafenstadt Matsue den Englischlehrer Patrick Hearn kennenlernt, der sie heiratet, japanischer Staatsbürger wird und den Namen Yakumo annimmt. Sie haben vier Kinder miteinander, Hearn schreibt mehrere Bücher und wird Professor an der Universität von Tokio.

Es sind ganz unterschiedlichen Frauen, die diesen Globetrotter und Literaten porträtieren, wobei Monique Truong ihnen eine stilistisch jeweils ganz eigene Stimme verleiht. Rosa, die Mutter Hearns, diktiert auf dem Schiff einer Mitreisenden ihre Geschichte von der frühen Kindheit ihres Sohnes. Alethea, die gutgläubige Analphabetin, erzählt im Interview der Biografin naiv von ihrer Ehe, die letztlich scheiterte, als ihr Mann seine Stellung verlor, weil er mit einer Farbigen verheiratet war. Setsu schließlich rekapituliert nach dem Tod ihres Mannes sprachlich blumig in Du-Form das unstete Leben mit Hearn. Die auf drei Kontinenten lebenden Frauen offenbaren dabei mehr über sich selbst als über den Romanhelden. Sie hatten in der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts mit vielerlei Anfeindungen zu kämpfen, die nicht nur sexistischer Art waren, auch gesellschaftliche Unterdrückung, Standesdünkel und Rassenhass trübten ihr Leben. Hearn selbst bleibt als Figur seltsam farblos, er war nach einem Unfall als Kind auf einem Auge fast blind, liebte die Natur über alles und verabscheute das hektische, moderne Leben, dessen dunkle Seiten er als Journalist bestens kannte, über das er immer wieder seine Reportagen schrieb.

Die fraktionelle Erzählweise des Romans eröffnet einerseits interessante Perspektiven, erfordert aber auch die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Der sieht sich zudem vielen fremdsprachigen Begriffen gegenüber, mit denen er mangels Register allein zurechtkommen muss. Es sind drei liebende Frauen, die diesen Roman prägen, die Kinder aber sind es letztendlich, die als «Süßeste Früchte» den Lebensbaum veredeln. Sie stehen auch für Beständigkeit als Gegenpol zum unsteten Leben eines heimatlosen Literaten.

Fazit: mäßig

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Genre: Roman
Illustrated by C.H. Beck München