Verteidigung der Missionarsstellung

Verteidigung der Missionarsstellung Benjamin Lee Baumgartner ist ein netter Kerl. Dennoch –er hat es nicht leicht in diesem Leben: “Als ich mich das erste Mal verliebte, war ich in England. und da ist die Rinderseuche ausgebrochen. Als ich mich dsa zweite Mal verliebte, war ich in China, und da ist die Vogelgrippe ausgebrochen. Und drei Jahre später war ich das erste registrierte Opfer der Schweinegrippe. Sollte ich je wieder Symptome von Verliebtheit zeigen, musst Du sofort die Gesundheitspolizei verständigen. Versprich mir das.”

Der solchermaßen innig gebetene Freund verspricht es ihm, alleine es hilft nichts. Baumgartner wird nicht klug, er verliebt sich immer wieder. Er leidet daran, aber irgendwie liebt er das Leiden auch. Mindestens so sehr wie sein Leben. Ein Leben voller unerwarteter Wendungen, die ihn selbst am meisten überraschen und ihm am Schluss des Romans eine nicht vorhergesehene Pointe bescheren. Aber es ist nicht die Geschichte über das Leben des Benjamin Lee Baumgartner, Sohn einer der letzten Hippiemädchen des Landes und eines geheimnisvollen Indianers oder auch nicht, welche diesen Roman so besonders macht. Sondern der Wortwitz des Autors, das Spiel mit der Sprache und die Liebe zu dieser.

Der Freund, den Baumgartner so innig bittet, ist wohl auch nur bedingt geeignet, den Mann vor den Fallstricken der Liebe zu bewahren. War schon dessen Streitschrift zur “Verteidigung der Missionarsstellung” kein Erfolg beschieden. Dieser Freund, er ist kein Geringerer als der Ich-Erzähler, der Autor, Wolf Haas selbst Er erzählt die Buch-im-Buch- Geschichte, die Geschichte von der Entstehung des Romans, eine zweite Leidensgeschichte gewissermaßen. Schliesslich wäre es ja viel einfacher, sich in Fiktion zu retten, als so eine unglaubwürdige Geschichte aus der Realität zu romantisieren.

Entstanden ist so das wohl mit Abstand coolste und unbekümmerteste Buch des Jahres, unglaublicherweise zugleich das am sorgfältigsten konstruierte Buch des Jahres. Ein Hinweis vorab, so leid es mir tut. Wer sich dieses Buch vornimmt, er sei gewarnt: Es hilft alles nichts, durch das erste Kapitel muss man durch. Das erste Kapitel – ich fand es grottenschlecht. Zäh, langweilig, es weckte nicht für 10 Cent mein Interesse. Es passiert mir wirklich selten, dass ich ernsthaft überlege, ein Buch schon nach wenigen Seiten auf Nimmerwiederlesen zuzuklappen. Doch für die zweite Chance, die ich dem Buch gab, wurde ich belohnt. Schon beim zweiten Kapitel zog ich zum ersten Mal meinen Hut, musste grinsen, danach war ich verloren. Chapeau, was für ein Parforceritt.

Benjamin Lees Flower Power Mutter gab ihrem Kind den ungewöhnlichen Namen zu Ehren des Sprachforschers Benjamin Lee Whorf. Dieser Whorf vertrat die These, dass Sprache das Bewusstsein formt. Haas spielt mit dieser These, benutzt und verwirft sie. Auf der einen Seite verblüfft er mit Sätzen zum Niederknien, auf der anderen ist er kein Autor, der Lust hat, sich lange mit Beschreibungen aufzuhalten. Will er eine bestimmte Atmosphäre erzeugen, gibt es eine in eckige Klammern gesetzte Notiz an sich selbst , so etwa “London-Atmosphäre, Blick from the bridge” Fertig. Weiß jeder, was gemeint ist. Wolf Haas geht aber noch weiter und entwickelt diese These dahingehend, dass es nicht nur die Sprache, sondern auch das Schriftbild ist, welches das Bewusstsein und das Verständnis seiner Leser formt. Sagt ein Protagonist einmal “nichts“,dann steht da eben auch nur “Nichts” und koste es eine ganze Buchseite. Berichtet eine Romanfigur, er habe etwas quergelesen, dann wird es eben quergeschrieben. Konsequenterweise ist die dichteste Stelle im Buch so verdichtet, dass man sie nur mit der Lupe lesen kann. Und so weiter und so fort. Ich werde hier nicht jeden skurrilen Einfall verraten, ist ja schließlich der halbe Spaß.

Neulich sah ich den Autor im Fernsehen. Auf dem blauen Sofa von Wolfgang Herles. Sinngemäß sagte er in diesem Interview, dass er es als Lob empfinden würde, wenn seine Leser während der Lektüre gelacht hätten. Ja, Herr Haas, ich kann Sie beruhigen. Ich habe gelacht. Vor Freude, über gelungene Pointen, anerkennend für Ihre Chuzpe.
In diesem Zusammenhang: Herr Herles, reizenden Dank für Ihre Bemerkung, dass man mit diesem Buch nicht unter Niveau lacht. Da bin ich ja beruhigt.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift.


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Sydney Bridge Upside Down

Sydney Bridge Upside Down Es ist Sommer in Neuseeland. Der 13jährige Harry und seine Freunde im kleinen Dorfe Calliope Bay am Rande der Welt vertreiben sich die Zeit mit vielerlei Unsinnigkeiten. Sie rauchen heimlich in einer Höhle, treiben sich in der Ruine einer Fleischfabrik herum und warten in der Hauptsache darauf, dass etwas passiert. Egal was. Die erhoffte Zerstreuung naht in Person von Harrys Cousine Caroline, die schnell die Aufmerksamkeit und Begehrlichkeit aller männlicher Personen in dem isolierten Dorf auf sich zieht.

Was sich wie eine leichte Erzählung über unschuldige Sommertage anlässt, wie eine der üblichen Coming-of-Age Geschichten, schlägt schon bald um in eine schauerliche, Grauen erregende Geschichte und wird dabei zu einem Märchen ohne Erlösung und Vergebung. Es passieren schreckliche Dinge in Calliope Bay. Die Ruine der Fleischfabrik bleibt nicht länger nur ein Denkmal längst vergangener, glorreicher Zeiten. Sie wird zu einem Ort, an dem Unfälle passieren. Einem Ort, an dem Menschen sterben.

Sydney Bridge Upside Down ist der sperrige Name eines sperrigen Pferdes. Ein alter Klepper, der einem ebenso sperrigen alten Mann gehört. Beide – das Pferd und der alte Mann stehen für den Niedergang des Ortes, aber auch für eine ganz besondere Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit. Am Ende werden es wohl diese beiden sein, die wissen, was in jenem Sommer passiert ist. So es denn überhaupt jemand jemals wissen wird.

Sydney Bridge Upside Down ist ein ebenso faszinierendes wie grauenerregendes Buch. Es begeistert an keiner Stelle, dafür ist der Stoff einfach zu hart. Dafür entwickelt der Kontrast zwischen der Beschwörung eines einsamen, auf sich selbst zurückgeworfenen Ortes an der Küste und dem allmählich zum Vorschein tretenden Grauen einen Sog, dem man sich als Leser nur schwer entziehen kann. Dabei ist in der Erzählung weniger das vordergründige Geschehen maßgeblich, sondern kleine eingestreute Hinweise hier und da. Die Grausamkeit liegt unter der Oberfläche, sie enthüllt sich erst nach und nach.

Holden Caulfield war ein Musterknabe gegen Harry Baird. Glaube ich. Denn der Kunstgriff Ballantynes ist so schlicht wie genial: Er erzählt die Geschichte aus der Sicht des 13-jährigen. Harry erzählt detailliert, aber bewusst saumselig und schleppend. Er lässt große Lücken, die er – vielleicht – später füllt, er verweigert sich jeder Norm einer realistischen Erzählung. Schnell ist klar, Harrys Blick auf die Welt ist zwar der eines Kindes, aber er blickt verheerend und destruktiv. Harry selbst kann man getrost als dysfunktional und auf eine beklemmende Art gefühllos bezeichnen. Ihm, dem die Küste und das Meer soviel bedeuten, fehlt jeder moralische Kompass.

Zum beklemmenden Ende wird zwar klar, es wird für keinen der Protagonisten eine Erlösung geben, aber es gibt auch keine Auflösung für den Zwiespalt, in den der Roman den Leser stürzt. Der atmosphärisch dichte Roman erzeugt beim Leser schleichend ein ungutes, beklemmdes Gefühl. Konsequent bis zum Schluss verweigert er sich dem Mainstreaum und lässt Interpretationen weiten Raum.

Sydney Bridge Upside Down erschien 1968. Der Roman lässt nur in Ansätzen die malerischen Qualitäten Neuseelands erahnen und zeigt eine düstere, dunkle Seite der Insel. Mit seiner Entzauberung der vielbeschworenen Siedlerromantik brachte David Ballantyne die Neuseeländer gegen sich auf, ein Erfolg wurde der Roman erst später. Mittlerweile zählt er zu den Klassikern der neuseeländischen Literatur und man darf vermuten, dass sich wohl ganze Generationen an Interpretationsversuchen abgearbeitet haben. Neuseeland war in diesem Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse. Zu diesem Anlass wurde der Roman erstmals in einer deutschen Übersetzung veröffentlicht.

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Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Als Das Leben überraschend zu Besuch kam

Als das Leben überraschend zu Besuch kam
Jacqueline ist 73. Eines Morgens weiß sie es einfach beim Aufwachen: so kann es mit ihr und ihrem Leben nicht mehr weitergehen. Sie packt ihre Koffer, verläßt ohne ein Wort des Abschieds ihren Mann Marcel und steht nur wenige Stunden später vor einem bezaubernden kleinen Haus mit blauen Fensterläden auf der Ile d’Yeu. Dort in der Bretagne lebt ihre geliebte Cousine Nane, zu der sie an diesem Punkt ihres Lebens flüchtet. Über 50 Jahre hat sie Nane nicht gesehen, auch dies ein Teil ihres nicht beglückenden Lebenslaufs, dem sie nun zum Ende eine positive Wendung geben möchte, geben muss.

Mit als das Leben überraschend zu Besuch kam hat die französische Autorin Caroline Vermalle eine unaufgeregte Geschichte über das Leben geschrieben. Über das Leben und darum, dass man irgendwann Frieden mit seinem Schicksal schliessen sollte. Zu akzeptieren, was war und zuzulassen, was noch sein könnte. Ganz leicht kommt dieses Buch daher, wie getragen vom Wind, berührt von den leichten Schlägen eines Schmetterlings.

Dieser Eindruck kommt nicht von ungefähr, läßt Caroline Vermalle nicht ihre Romanfiguren Jacqueline und Marcel von ihrer Suche und ihren Aufbrüchen berichten, sondern Apeliotes, Zephyr und Skiron, die Winde der Bretagne sowie das große Ochsenauge, ein gewöhnlicher Schmetterling auf der Suche nach dem Liebestanz. Diese ungewöhnliche Perspektive entführt den Leser direkt an die bretonische Küste. Man meint, die Winde schmecken zu können, das Meer zu riechen und das Gras zu spüren. Es ist eine märchenhafte, ruhig erzählte Geschichte, die man mit einem Lächeln auf den Lippen liest und aus der man gerne die Erkenntnis mitnimmt, nicht immer auf den idealen Zeitpunkt zu warten, um sich seine Wünsche zu erfüllen.

Auch wenn zugegebenermaßen der Kunstgriff nicht durchgehend funktioniert und der poetische Ton der Geschichte bisweilen droht, ins Kitschige abzugleiten – ein lesenswerter Roman, der einem gerade im Winter etwas von der Leichtigkeit des Sommers zurückzugeben vermag.

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Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

Das Beste von allem

Das Beste von allem Von wegen Fernsehen hält vom Lesen ab. Von wegen Fernsehen stumpft ab und trägt nicht zur Bildung bei. Hätte ich nicht die grandiose Fernsehserie Mad Men gesehen, hätte ich dieses Buch nicht gelesen. Denn natürlich will man wissen, womit der gefährlich attraktive, geheimnisvolle Don Draper sich eine einsame Nacht verkürzt. So er denn mal ausnahmsweise eine hat. Natürlich will man mitreden können. Könnte ja sein, dass man den gefährlich attraktiven, geheimnisvollen Don Draper plötzlich im Aufzug trifft und er auf einen Whiskey Sour auf seine Bürocouch bittet.

Wer also aufmerksam den Mad Men zuschaut, sieht das Beste von allem. Sowieso, aber so lautet eben auch der Titel von Don Drapers Bettlektüre. Das Beste von allem ist ein amerikanischer Bestseller aus dem Jahre 1958, geschrieben von der 2005 verstorbenen Schriftstellerin Rona Jaffe. Anläßlich des überraschenden Erfolgs der Mad Men entstaubt, neu aufgelegt und für die deutsche Ausgabe auch neu übersetzt. Liebevoll verpackt in ein schickes Buchdesign, wahrscheinlich entworfen von Sterling,  Cooper, Draper, Price.

Sie verdienen das Beste von allem. Den besten Job, die beste Umgebung, die beste Bezahlung, die besten Kontakte. Inspiriert von dieser Stellenanzeige in der New York Times schrieb Rona Jaffe ihren Roman, der über einen Zeitraum von 3 Jahren 5 junge Frauen begleitet, die ihren Weg im New York der fünfziger Jahre suchen. Draper wollte wohl herausfinden, welche Wünsche junge,amerikanische Frauen in ihren Herzen tragen. Denn genau darum dreht sich letztendlich alles in diesem geschickt aufgebautem Roman. Der Leser lernt zunächst Caroline Bender kennen. Eine junge Frau, von der Liebe enttäuscht, klug, smart und natürlich hübsch. Sie beginnt als Schreibkraft in einem Verlag, arbeitet sich sehr schnell hoch und wird so eine der ersten Karrierefrauen ihrer Zeit. In ihrem Herzen sehnt sie sich aber immer noch nach der allumfassenden, allerfüllenden Liebe. Den anderen Frauen begegnet sie an ihrem Arbeitsplatz. Mary Agnes, die nur arbeitet, um ihre Aussteuer zu finanzieren. Barbara, eine junge, alleinerziehende, geschiedene Mutter – ein Skandal zu jener Zeit. Die flatterhafte April, die sich ins Showbusiness träumt und schließlich Gregg, eine junge Schauspielerin, die ein tragisches Ende finden wird.

5 junge Frauen auf der Jagd nach dem Glück und dem richtigen Leben in der großen Stadt. 5 junge Frauen, mit denen der Leser tief in die Moralvorstellungen und Werte jener Zeit eintaucht. Aber auch 5 junge Frauen, die der Leser durch das aufregende, pulsierende, alles möglich und machbar erscheinende New York der Nachkriegszeit begleitet. In den fünfziger Jahren war das Buch bestimmt ein Tabubruch und auch als solches konzipiert. Die Stadt und ihre Gesellschaft vibriert zwar vor Aufbruchsstimmung, aber das Frauenbild und die Geschlechterrollen sind noch klar determiniert. Wer außerehelichen Sex hat, gilt schon als Schlampe. Für die damalige Zeit war es eigentlich undenkbar, dass die fünf Frauen in dem Buch ihre Sexualität lebten und – noch schlimmer – darüber sprachen. Die Moralvorstellung heute ist sicher eine andere, aber das Buch funktioniert auch heute. Es überrascht, in wie vielen Aspekten das Buch heute genauso relevant ist wie damals.

In ihrem Geleitwort zur Neuauflage 2005 schrieb Rona Jaffe selbst: Das Buch handelt von Veränderung, wie sich die Träume verändern, wie sich das Leben verändert, wie alles, was einem zustößt, etwas anderes verändert Und das bleibt immer gleich. Genau so ist das. Das Buch berührt Frauen und Männer heute genauso wie in den 50er jahren. Es macht nachdenklich, es wühlt auf, aber es macht auch Spaß, die Frauen auf ihrem Weg zu begleiten. Ein bißchen ist es wie Sex and the City. Nur geschrieben und in den 50er Jahren angesiedelt. Aber genauso prickelnd. Womit sich der Kreis zum Fernsehen wieder geschlossen hätte.

 


Genre: Romane
Illustrated by Ullstein Berlin

Sternenreiter

Man muss die kindliche Anarchie in sich wiederentdecken, um auf den Sternen zu reiten

Der Autor Jando erzählt in seinem Buch „Sternenreiter – Kleine Sterne leuchten ewig“ davon, dass man heute noch an Wunder glauben soll.

Mats ist Angestellter eines renommierten, börsennotierten Unternehmens und glaubt nicht mehr an seine Träume – zu sehr ist er daran gewöhnt, in der Arbeitswelt, die aus Sitzungen, Kundenpräsentationen, Kursschwankungen und koffeinbetriebenen Überstunden besteht, zu funktionieren. Auch seine Frau Kiki erreicht ihn nicht mehr, die Arbeit geht vor, schließlich muss das Haus abbezahlt und der gehobene Lebensstandard gehalten werden. Doch dann kommt es unerwartet zu einem Ereignis, das Mats zwingt, innezuhalten. Ein kleiner Junge hilft ihm dabei, die Welt mit anderen Augen zu sehen und sein Leben neu zu gestalten.

Die Welt mit anderen Augen sehen ist das Thema des Buches, für das der Leser die Bereitschaft aufbringen sollte. „Wenn wir anfangen, auf unser Herz zu hören, werden wir Dinge im Leben erkennen, die uns unvorstellbar erschienen.“, schreibt Jando als Ouvertüre in den Klappentext. Damit ist „Sternenreiter“ thematisch ein Buch, das sich kritisch mit dem Leistungsdenken und den negativen Erscheinungen wie Erfolgsdruck, Versagensangst, Gier und Einsamkeit im gegenwärtigen Neoturbokapitalismus beschäftigt. Das erinnert an Tom Hodgkinson der in „Die Kunst, frei zu sein – Handbuch für ein schönes Leben“ schreibt: „Karrieren gestatten uns nicht, wir selbst zu sein, denn ihr Erfolgsmaßstab sind nicht Spaß an der Arbeit und Kreativität, sondern Geld und Status. Ein Beruf dagegen – im Sinne von Berufung – ist eine Aufgabe, mit deren Erledigung du deinen Lebensunterhalt verdienst und die dir gleichzeitig Spaß macht.“
Wo Hodgkinson rational argumentiert und vorführt, wie man sich aus diesen Zwängen befreien kann, wählt Jando den Stil eines modernen, poetischen Märchens. Das ist logisch, denn er weiß, dass er diejenigen Leser, die am dringendsten darauf angewiesen sind wieder wie als Kind auf ihr Herz zu hören und an Wunder zu glauben, nur mit der Stimme des Herzens und der Poesie erreicht. Und damit erinnert er einerseits in seiner Vision an Friedrich Nietzsches Satz des Zarathustra: „Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“, dem der Titel dieser Rezension entlehnt ist: Denn es geht nicht darum, das eigene kindliche Chaos zu haben, sondern darum, es wiederzuentdecken und sich wieder anzueignen. Andererseits fühlt man sich an den vielzitierten Satz: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ von Antoine de Saint-Exuperys Kleinem Prinzen erinnert.
Diese Herzenssicht entwickelt Jando im Sternenreiter weiter, zu einer wahrhaften und poetischen Erziehung des Herzens:

„Der wertvollste Samen,
der in die Erde eingesetzt wird,
ist die Liebe.
Sie wächst überall dort,
wo sie gesät wird.“ (Sternenreiter, S. 5)

Gemeinsam mit dem anarchischen Ungehorsam gegen das Leistungssystem entsteht ein Plädoyer für Freundschaft, Menschlichkeit und die Verwirklichung von Träumen:

„Ihr großen Menschen hört irgendwann auf, an Träume zu glauben. Manchmal wäre es schön, wenn ihr wieder klein wärest. So könntet ihr euch erinnern, dass Träume nur entstehen, wenn man bereit ist, sie zu leben und zu akzeptieren.“ (Sternenreiter, S. 10)

Der Ausdruck des Sternenreiters von den „großen Menschen“ ist eine bewusst Adaption an „die großen Leute“ des Erzählers aus dem kleinen Prinzen. Stilistisch daran angelehnt setzt Jando die Begegnung des Erzählers mit dem Sternenreiter allerdings – im Gegensatz zu Exupéry – nicht in eine isolierte Situation, sondern in eine realistische Alltagssituation und schafft damit einen neuen poetischen Realismus. Dazu die Leseprobe aus dem Prolog:

Die Sterne leuchteten heller als sonst. Das Meer war ruhig. Im Mondlicht schimmerte es silbrig blau. Um mich herum war es still. Es war eine himmlische Ruhe, wie ich sie nur am Meer erlebte. Fünf Jahre sind vergangen, seit ich diesen sonderbaren – nein, sonderbar wird ihm nicht gerecht – vielmehr einzigartigen Jungen kennenlernen durfte. Schnell wird in unserer heutigen Zeit das Wort „Legende“ benutzt. Doch bei ihm trifft es zu. Seine Geschichte wird Generationen überdauern. Es ist eine Geschichte über Liebe, Mut und Hoffnung. „Na und? Das habe ich schon oft gelesen“, werden vielleicht einige sagen. Das mag stimmen und hat auch seine Berechtigung. Doch wenn ihr euch einlasst auf die Geschichte des Jungen − nur Gott allein weiß, woher er kam − können Träume wahr werden. Ich habe es selbst erlebt. Ich kann mich noch gut an seine Antwort erinnern, als ich zu ihm sagte: „Ach, Träume… Ich habe es aufgegeben, meine Kraft und den Glauben daran zu verschwenden.“ Der Junge antwortete, wie es seine Art war, langsam und bedächtig: „Ihr großen Menschen hört irgendwann auf, an Träume zu glauben. Manchmal wäre es schön, wenn ihr wieder klein wäret. So könntet ihr euch erinnern, dass Träume nur entstehen, wenn man bereit ist, sie zu leben und zu akzeptieren.“ Damals konnte ich wenig mit seiner Antwort anfangen. Na ja, wenn ich es mir eingestehe, schon ein bisschen. Doch zur damaligen Zeit war ich noch nicht bereit, mich damit auseinanderzusetzen. Aber dazu komme ich später. Mir war er der beste Freund, den ich mir wünschen konnte. Irgendwann erwähnte er in einem unserer zahlreichen Gespräche: „Wenn ich einmal groß bin, möchte ich gerne allen Menschen erzählen, wie einzigartig das Leben ist. Ich spreche und höre lieber zu, anstatt zu schreiben. Du wirst einmal ein beachtenswerter Schriftsteller sein. Ich wäre glücklich, wenn du es wärest, der meine Geschichten weiterträgt. Jeder sollte das tun, was er am besten kann und was ihm am meisten Freude bereitet.“ Das war das Geringste, was ich für meinen Freund tun konnte. Für ihn ging aber wieder einmal ein Traum in Erfüllung…“

Was diese Melodie des Textes auf der literarischen Ebene einlöst, begleiten die handgemalten Bilder der Kinder- und Jugedbuchillustratorin Antjeca auf der bildpoetischen Ebene: durch die schlichte Form einer Kalkulation größtmöglicher Einfachheit entsteht die Radikalität der Bildsprache hin zu einer ozeanischen Zärtlichkeit. Diese poetische Wirkung ist die Fähigkeit des Textes und der Bilder, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen. Dieses ist meine ganz persönliche Lesart.

Mit dem „Sternenreiter“ ist dem Autor – nach seinem Erstling Windträume – wieder ein wundervolles und poetisches Buch gelungen, das ich uneingeschränkt empfehle. Doch nicht nur das, denn ein gutes Buch sollte man empfehlen, ein sehr gutes seinen Freunden ans Herz legen und die wirklich besonders wichtigen Bücher sollte man seinen besten Freunden schenken. Ich freue mich darauf, meinen besten Freunden mit dem „Sternenreiter“ ein Herzensgeschenk zu machen.


Genre: Romane
Illustrated by Unbekannter Verlag

Karte und Gebiet

Houellebecq zählt zu den umstrittensten Literaten unserer Zeit. Für sein jüngstes Werk »Karte und Gebiet« erhielt er den Prix Goncourt, den bekanntesten französischen Literaturpreis. Der flüssig geschriebene Gesellschaftsroman über den Kunstbetrieb ist bizarr, verstörend und verfügt über eine unwiderstehliche Sogwirkung. Weiterlesen


Genre: Romane
Illustrated by dumont Köln

Im Winter Dein Herz

Lebert/ WinterRobert, ein junger Mann, der in seinem Leben schon manches schlucken musste und nun keinen Bissen mehr herunterbekommt, begibt sich für eine Zeit der Komtemplation in das Haus Waldesruh, eine Klinik für psychosomatische Erkrankungen. In die Zeit seines Aufenthaltes fällt der jährliche Winterschlaf, den die Menschen seit einigen Jahren den Tieren gleich halten. Eine jährlich wiederkehrende Zeit, in der “nichts, rein gar nichts zu tun war. Keine Grenzen zu passieren, keine Himmel abzusuchen”.

Früher empfand Robert diese Zeit als schön und wohltuend, doch in diesem Jahr ist alles anders. Es gibt Dinge, die zu tun, zu klären sind und die sich nicht aufschieben lassen. So verweigert er den Schlaf des Winters und begibt sich auf eine Reise quer durch ein schlafendes Deutschland. Gemeinsam mit seinem Mit-Patienten Kudowski, einem Mann von undefinierbarer Kraft und der jungen Kellnerin Annina, die Kudowski und er am Resopaltisch der nahegelegen Raststätte kennengelernt haben, werfen sie in einer befreienden Handlung die Tabletten der Winterschlaf-Medikation hinter sich, steigen in einen schwarzen Jeep namens Ritchie Blackmore und begeben sich auf eine Reise durch ein frostiges Land. Ein Land, in dem nur eine Minimalversorgung aufrechterhalten wird, welches ansonsten im Schlaf dahintaumelt und die wirklich wichtigen Fragen des Lebens aufschiebt. Mit dem I-Phone und der Winter-App verorten sie sich in der Zeit, ist diese Reise doch nicht nur eine zweckgebundene, sondern vor allem auch eine Reise zu sich selbst. Zu ihrer eigenen Persönlichkeit, die “sie dem Leben abringen müssen”, die sie wieder befähigt, “einem Montagmorgen ins Gesicht zu schauen”.

Ich hatte mir Unvoreingenommenheit vorgenommen, als ich mit “Im Winter Dein Herz” begann. Was war nicht alles über Benjamin Lebert in den letzten 15 Jahren geschrieben worden. Nach seinem umjubelten Erstling “Crazy” wurde er zum neuen Salinger hochgejazzt, zum Wunderkind des Literaturbetriebes. Schnell danach fanden Feuilletonisten oft harsche Worte für seine nachfolgenden Werke. Harsche Worte, die so schien es mir – ohne zugegebenermaßen die Bücher gelesen zu haben – aus überzogenen Erwartungen resultierten. Mir war der ganze Rummel suspekt, ich machte einen Bogen um Lebert, schob die Lektüre auf. Nun erreichte mich mitten im Hochsommer sein neues Buch über eine Reise im Winter. So objektiv wie möglich wollte ich sein. Objektiv und gerecht. Ging nicht. Vom ersten Moment an hatte ich eine subjektive, persönliche Meinung zu diesem Buch mit dem schönen Titel und ich änderte sie nicht mehr. Ich mochte das Buch vom ersten Satz an, ich fand es herzensklug, wahrhaftig, schmerzhaft ehrlich und bei aller beschriebenen Kälte wärmend.

Lebert ist kein Autor, der sich oder seine Leser schont. Bereitwillig teilt er seine Gedanken, seine Leiden, aber auch seine Erkenntnisse. “Im Winter Dein Herz” ist ein Stück weit autobiographisch, es ist aus jeder Zeile ersichtlich, dass der Autor Eiseskälte selbst erfahren und durchlitten hat. In fünf Heften und zwischengeschalteten Momentaufnahmen, in denen die drei Protagoisten sich wärmend an Momente der Geborgenheit erinnern, fängt Lebert den Leser ein. Dieser kann die Kälte der Zeit und des Landes jederzeit mitempfinden, kühl ist der Roman dennoch an keiner Stelle. Lebert ist von Zärtlichkeit und Liebe für seine Protagonisten getragen. Sanft, aber eindringlich, melancholisch, doch nie resignierend geleitet er sie durch hastigen Schneefall und kaltes klares Licht.

Dieses Buch so geschrieben zu haben, war mutig. Es so geschrieben zu haben, dass es den Leser berührt, ihn hoffnungsvoll zurücklässt und ihm den funkelnden Sternen auf dem See gleich Bilder mitgibt, die tragen – das ist durchaus Kunst. Ich werde nun die Lektüre der vorhergehenden Werke nachholen. Objektiv und unvoreingenommen. Vielleicht. Falls ich die Idee mit dem Winterschlaf nicht aufgreife….

 

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Hoffmann und Campe

Der langsame Walzer der Schildkröten

Der_langsame_Walzer_der_SchildkrötenVor einem Jahr faszinierten uns die gelben Augen der Krokodile, in diesem Jahr nun dürfen wir mit Joséphine den langsamen Walzer der Schildkröten tanzen. Teil zwei der Erfolgssaga von Katharine Pancol um Joséphine Cortès und ihre bunt chaotische Familie ist da! Klare Warnung vorab: Es besteht erneut erhöhte Suchtgefahr!

Zwei Jahre, nachdem Joséphine überraschend zur Bestseller-Autorin avancierte, hat sich in ihrem Leben einiges verändert. Mit Zoé, ihrer jüngeren Tochter ist sie in einen noblen Stadttteil von Paris gezogen. Hortense, ihre Älteste, studiert in London und verfolgt äußerst zielstrebig ihren Traum von einer Karriere als erfolgreiche Modedesignerin. Iris, Joséphines gleichermaßen schillernde wie farblose Schwester, hat sich selbst in eine Nervenheilanstalt weggeschlossen, kann sie sich doch in der guten Pariser Gesellschaft nicht mehr blicken lassen. Keine gute Zeit für die geheime Liebe zwischen ihrem Mann und Joséphine. Auch Liebhaber Luca sorgt für Komplikationen. Josephine selbst tut sich schwer, mit den Ereignissen Schritt zu halten, ihr geht das alles zu schnell. Sie ist noch dabei, sich in ihrem neuen Viertel einzuleben, zudem sind es merkwürdige Nachbarn, die sie dort vorfindet. Schlimmer noch, sie sind nicht nur merkwürdig, sondern auch äußerst gefährlich – für ihr eigenes und das Leben ihrer Liebsten. Mehr kann hier an dieser Stelle über den Inhalt nicht verraten werden, ohne die Freude am Buch zu schmälern.

Leben und Schreiben gehen oft Hand in Hand.” So sagt es Joséphine im Buch und bedauert dabei, dass heutzutage niemand mehr en Detail schreibe, niemand mehr sich richtig Zeit lasse. Katherine Pancol hat einen Roman geschaffen, der auch Joséphine gefallen würde. Denn genau das ist es, was den Stil der französischen Überraschungs-Erfolgsautorin ausmacht: Sie gibt einer Familiengeschichte Raum und Zeit, erzählt ihre Geschichten sorgfältig und mit großer Beobachtungsgabe aus, getragen von einer spürbaren, empathischen Liebe zum Leben und den Menschen. Auch der langsame Walzer ist wieder ein Schmöker im besten, traditionellen Sinne, mal bittersüß, mal fröhlich, gelegentlich auch grausam. An keiner Stelle gleitet Pancol ins Triviale, gerne aber ins Absurde, ja Phantastische. Aber ist es nicht genau das, was wir gerne lesen möchten? Gibt es Schöneres, als eine Geschichte erzählt zu bekommen? Gut erzählt zu bekommen, berührt von ihr zu sein, unterhalten, beglückt und gleichzeitig traurig. Eine Geschichte, deren Erzählerin das Kunststück fertig bringt, ihre Figuren bei aller Phantasie lebensnah so zu gestalten, dass man sich an jeder Stelle mit ihnen identifizieren kann.

Es ist ein ganzes Füllhorn wundersamer Überraschungen, die Katherine Pancol in die Waagschale des Buches wirft. Dazu bedient sie sich all jener Zutaten, die man seit jeher an guten Märchen schätzt. Es gibt die weiße Königin, die gute Fee, eine Hexe, einen schwarzen todbringenden Ritter, den Ritter in schimmernder Rüstung, böse Mütter und Stiefmütter, einen Fluch und den Tod als läuterndes Element, dazu Legionen von Nebenrollen und Nebenhandlungen. In diesem Sinne ist Katherine Pancol wohl so etwas wie die Scheherazade unserer Zeit. Eine Geschichtenerzählerin, die ein leidenschaftliches Plädoyer für das Leben hält und dafür, ihm eine Chance zu geben, sich langsam entwickeln zu dürfen. Sich wie Joséphine dem Tempo unserer Zeit, der Oberflächlichkeit und der Geltungssucht auch mal entziehen zu dürfen. So wie die Schildkröten, mit denen man einen Walzer auch nur langsam tanzen darf.

Teil zwei hält, was Teil eins versprach. Am Anfang kommt man schwer in die Geschichte hinein. Trotz der geschickt in Teil zwei eingebrachten Erklärungen und Verknüpfungen zu den gelben Augen ist es doch viel, was man aus seinem Gedächtnis kramen muss, um dem Roman folgen. Es empfiehlt sich daher meines Erachtens zwingend, die Trilogie in der entsprechenden Reihenfolge zu lesen. Es ist zwar möglich, den langsamen Walzer zu tanzen, ohne vorher in die gelben Krokodilsaugen geblickt zu haben, aber sicher nur der halbe Spaß.

Gespannt darf man sein auf Teil drei, dessen poetischer Titel: “Am Montag sind die Eichhörnchen im Central Park traurig” neugierig macht, dem aufmerksamen Lesen aber auch schon ein klein wenig verrät, wer wohl im Mittelpunkt des dritten und letzten Teils steht.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by C. Bertelsmann München

Gutgeschriebene Verluste

Gutgeschriebene VerlusteIn seinem autobiographischen Werk »Gutgeschriebene Verluste« thematisiert Bernd Cailloux Einsamkeit als Gruppenerlebnis. Er beginnt und endet seine als Roman gewandeten Memoiren in einem Schöneberger Szene-Café, das er als »Treffpunkt der Übriggebliebenen« charakterisiert. Dort trifft der Erzähler auf ein werweißwie zusammengewürfeltes kontaktscheu-cooles Publikum, allesamt Virtuosen der Distanz. Wie einer anderen Rezension entnommen werden kann, handelt es sich dabei konkret um »Literatur-Professoren, die in der FAZ schreiben, Herausgeber von intellektuellen Zeitschriften, Maler, Suhrkamp-AutorInnen, taz-Redakteure, sonstige Künstler und eine Frau mit 2/5 Stelle bei einem Rundfunksender«.

Cailloux kommt in den gern als »wild« apostrophierten 68ern aus Hamburg ins damalige Westberlin. Der Hippie-Businessmann hält sich mit Beiträgen fürs Radio über Wasser und schreibt derweil an »freien« Texten; er fürchtet, die bezahlte Schreiberei zerstöre den literarischen Stil. Das in den Nachkriegswirren kompliziert aufgewachsene Scheidungskind, ein vom Zeitgeist geleiteter Twen(tysomething), kann sich »unter Einfluss des rebellischen Achtundsechzigergezerres an der Institution Famlie zur biologisch pünktlichen Gründung einer eigenen Familie nicht durchringen.«

Er bleibt – vielleicht unterstützt von einer kurzen Karriere als Drogenabhängiger – »ein Schwellenwesen, weder hier noch da wirklich drin und obendrein zu schwach, zu ängstlich …« Entsprechend farblos bleibt sein Auftritt bei einer Diskussionsveranstaltung, bei der er gemeinsam mit ehemaligen RAF-Mitgliedern und einstigen SDS-Führer zum Thema »68« sprechen soll und die einen zentralen Platz im Buch einnimmt. Letztlich landet er doch wieder in dem Schöneberger Café, um seine Wunden zu lecken und sein vermeintliches Leidkapital in einen weiteren Roman zu verwandeln.

Es wundert kaum, dass im Ergebnis ein melancholisch trübsinniges Lebensbild gezeichnet wird, das sich weitgehend negativ liest. Handelt das Buch also von jenen Verlusten, die dem Autor in menschlicher, charakterlicher und auch partnerschaftlicher Hinsicht widerfahren (es mäandert eine farblose »Ella« durch das Werk, die ihn wohl aus Gründen wieder verlässt), dann können sie am Ende kaum auf der Habenseite der Lebensbilanz auftauchen. Diese Verluste müssten, anders als der Titel behauptet, nicht »gutgeschrieben«, sie müssten abgeschrieben werden.

Ist dieser »Roman mémoire« gut geschrieben? Immerhin ist das Werk bei Suhrkamp erschienen; die Veröffentlichung wurde vom Deutschen Literaturfonds sowie dem Land Berlin finanziell gefördert, und das weckt hohe Erwartungen. Der Leser kämpft sich deshalb tapfer durch einen Dschungel von Phrasen »… ein durchaus verachtungswürdiges Geschäft, ein Anschlussgeschäft sozusagen, in dem die feinsten Formulierungen des einst rauhesten Geschehens, seine im nachhinein hartethische Verkunstung so wie der medienschnittige Zitatenprunk gehandelt wurden …«

Im Ergebnis kommt fast Mitleid mit dem Autor auf, der mit sich und den Zeitläufen hadert. Dabei hat der Rezensent die besten Voraussetzungen, dieses Buch anzunehmen: Er ist nur wenige Jahre jünger als der Autor, er ist ebenso wie er in den 68ern nach West-Berlin gezogen, er kennt das Milieu, über das Cailloux schreibt, er hat ähnliche Künstlerkandidaten, Lebenshungrige, Zauderer und Zweifler erlebt. Beide haben ähnliche berufliche Hintergründe. Mehr noch: Ein- und dieselbe Krankheit bedrohte beider Leben, sie haben sogar den gleichen Genom-Typ, durchliefen die gleichen grässlichen Therapien und Medikamentationen. Bessere Voraussetzungen kann ein Rezensent nicht haben!

Dennoch …

… hat all das nur gereicht, sich durch die 271 Buchseiten der Veteranen-Lebenssicht von Bernd Cailloux zu schleppen. Für eine Empfehlung aus vollem Herzen reicht es leider nicht.


Genre: Biographien, Romane
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main

Katzentisch

KatzentischExotischer Schauplatz des Geschehens: Ein Ozeanriese mit dem Prunk und Pomp der frühen fünfziger Jahre auf dem Weg von den Kolonien des britischen Empire heim ins geliebte Mutterland. An Bord eine bunt gemischte Gesellschaft, die noch ignorieren kann, dass die glanzvollen Zeiten des britischen Empire hinter ihnen liegen.

Unter diesen Passagieren sind die drei Kinder Michael, Ramadhin und Cassius, die auf dieser Reise ihre ersten Schritte heraus aus einer zwar wohlbehüteten, aber exotischen kolonialen Kindheit machen werden. Im Speisesaal sind die Kinder an den Katzentisch verbannt, gemeinsam mit anderen Außenseitern wie der altjüngferlichen Perinetta Lasquetti, die ihre Brieftauben an Deck spazieren führt oder dem melancholischen Pianisten Max Mazappa, der den Katzentisch mit obszönen Schlagern unterhält. Die Gesellschaft am Katzentisch ist gleichwohl geheimnisumwitterter, unterhaltsamer, spannender als die gepflegte Langeweile in der ersten Klasse, das merken die drei sehr schnell. Die drei Kinder sind alleine an Bord, fast ohne jede Aufsicht oder Kontrolle durch Erwachsene und für sie ist das alles ein großes Abenteuer. Sie beschließen, jeden Tag mindestens ein Verbot zu übertreten. Sie picknicken stibitzte Häppchen in den Rettungsbooten, tauchen des Nachts im Swimmingpool, assistieren einem charmanten, aber diebischen Baron, beobachten Michaels schöne Cousine Emily bei der ersten Liaison ihres Lebens mit dem Wahrsager der Artistengruppe und sind zu guter Letzt unbeabsichtigt verantwortlich für den Tod eines mit dem Fluch der Tollwut belegten steinreichen Großmoguls. Nach der Reise verlieren sich ihre Wege, kreuzen sich aber später wieder. Sie hören nicht auf den Rat der klugen Perinetta “Verzweifle jung und blicke nie zurück”, sondern interpretieren diese Reise als prägend für ihr ganzes Leben. Für sie waren es neben den Abenteuern die Fremden am Katzentisch, die sie an diesem frühen Wendepunkt ihres Lebens zu anderen Menschen machten.

Die Erzählung wirkt wie ein Märchen aus längst vergangenen Zeiten, eine Hommage an die Zeit, als Sri Lanka noch Ceylon hieß und das britische Empire führend in der Welt. Das Schiff wirkt wie das Sinnbild einer Arche für alle möglichen Typen von Menschen, die meisten davon entwurzelt. Den Kindern noch unbewusst stellt dieses Konglomerat die Weichen für ihre Entscheidung, an welchem Tisch des Lebens sie künftig sitzen wollen. Katzentisch ist ohne Frage ein klug konstruiertes Buch, gezielt die wehmütigen Gefühle im Visier, die solcherlei Kindheitserinnerungen beim Leser wecken mögen. Dabei schießt der Autor gelegentlich über sein Ziel hinaus. Ich empfand den Roman als überkonstruiert und in dieser Form berechnend.

Nach dem englischen Patienten konnte Ondaatje nie wieder so recht an diesen großen Erfolg anknüpfen. Nachdem der englische Patient ein Mann ohne Erinnerung war, geht es im neuen Roman nun in erster Linie um die Erinnerung und was sie aus unserem Leben macht. Ondaatje betont in einer Nachbemerkung, die Erzählung sei reine Fiktion – gleichwohl, die Versuchung ist groß, autobiographische Züge in den Roman zu deuten.
Schon früh im Buch heißt es: “Wir haben alle einen alten Knoten im Herzen, den wir gern lockern und auflösen würden.” Von da an kann der Leser sich kaum des Eindrucks erwehren, Ondaatje habe sich mit diesem lyrischen Abenteuerroman von etwas befreien wollen. Dafür aber setzt er dem Leser enge Grenzen, an keiner Stelle gestattet er ihm, eigene Bilder und Phantasien zu entwickeln.  Die Erzählstränge reichen fragmentarisch bis in die Gegenwart, verlaufen aber oft im Unklaren. Gegen Ende des Buches wird es immer mühsamer, diesen zu folgen oder sie gar sinnvoll zu entwirren, zumal etliche Protagonisten sehr distanziert und kühl beschrieben werden. Empathie kommt so nicht auf.

Vom Pianisten Mazappa lernt der Junge Michael Du darfst Dich nie für unwichtig im großen Zusammenhang des Lebens halten. Dass man sich aber nie für zu wichtig halten sollte, hat keiner hinzugefügt. Obwohl dem Roman das sicher gut getan hätte. Was immer die Intention des Autors war – die Berechnung seiner Konstruktion hat Schönheitsfehler

Der Autor: Michael Ondaatje ist wurde 1943 in Colombo,Sri Lanka, damals Ceylon, geboren und lebt nach etlichen in England verbrachten Jahren heute als eingebürgerter Schriftsteller und Dichter in Kanada. 1992 gelangte er mit dem später verfilmten Roman Der englische Patient zu Weltruhm.


Genre: Romane
Illustrated by Carl Hanser München

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Der Hundertjaehrige der aus dem Fenster stieg und verschwand von Jonas Jonasson

Der skandinavischen Literatur wird gern eine depressive Schwere nachgesagt. Je nördlicher die Erzähler angesiedelt sind, desto lichtloser seien ihre Werke, hört man immer wieder. Jonas Jonasson, ein gebürtiger Schwede, brach nach 20 Jahren seine Zelte im Norden ab und zugvogelte gen Süden in den Schweizer Kanton Tessin. Vielleicht war das der entscheidende Grund, dass er mit »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« ein federleicht geschriebenes Roadmovie zu Papier brachte, das völlig verdient als Münchhausiade erster Ordnung in luftige Höhen der Hitparaden fliegt.

Hauptheld Allan Karlsson ist ein Aussteiger wie er im Buche steht: An seinem 100. Geburtstag entkommt der rüstige Senior aus dem Altenheim, während der Stadtrat samt Presse und Heimleitung zur Feierstunde wartet, um ihn wie ein Tier im Käfig zu begaffen, für ihn zu singen und ihn mit Torte zu füttern. Ohne Hut und in Pantoffeln schafft es Allan bis zum Bahnhof, wo er einen großen Koffer mitgehen lässt, der sich später als Depot eines Räuberschatzes offenbart.

Gejagt von einer Motorradgang, die den wertvollen Koffer wieder zurückhaben will, sowie von einem ehrgeizigen Staatsanwalt und der Polizei, die glaubt, der alte Herr sei entführt worden, gerät der Protagonist in immer neue wundervolle Situationen und lernt dabei Typen können, die allesamt aus eigenen Romanen entstiegen sein könnten. Denn jeder Einzelne von ihnen ist eben solch ein Sonderling, wie Allan einer ist. Deshalb ziehen sich die Figuren auch magisch an, stehen einander bei und erzeugen gemeinsam ein Tohuwabohu, dass an Spaß und Genussfreude nichts zu wünschen übrig lässt.

Geschickt eingeflochten in die absurde, sich orgiastisch steigernde Spielhandlung ist die Biografie des Hundertjährigen, die ebenso fantastisch und märchenhaft ist wie seine Flucht aus dem Siechenheim. Dabei schraubt sich auch diese Lebensgeschichte in immer groteskere Höhen: Aus einem Knaben, der gern mit Knallfröschen spielt, wird ein Sprengstoffexperte, der im spanischen Bürgerkrieg versehentlich dem Faschistengeneral Franco das Leben rettet, darauf unter dessen Schutz nach Amerika reist und erneut durch Zufall – stets verbunden mit einem Saufgelage und einer opulenten Mahlzeit – den entscheidenden Hinweis für den Bau der Atombombe gibt und damit Duzfreund von US-Präsident Truman wird, Stalin ärgert, Maos Geliebte rettet, Kim Il Sung trifft und sich mit vielen anderen Potentaten und Staatschefs betrinkt …

Im Ergebnis treffen der Hundertjährige, ein für unschuldig erklärter Gelegenheitsdieb, ein ewiger Student, seine schöne Verlobte und deren Haustiere, ein Elefant und ein Schäferhund, ein religiös gewordener Lebensmittelgroßhändler, ein einstmals einsamer Kriminalkommissar sowie ein ehemaliger Gangsterboss mitsamt Mutter aufeinander. Mittels Schnaps, vertrackter Zufälle und einem Lerneifer, der ihnen ein gemeinsames Überleben sichert, findet sich diese herrliche Truppe und beschert dem Leser, der an ihren Abenteuern teilhaben darf, ein Meisterwerk literarischer Hochkomik, das seinesgleichen sucht.

Ein wundervolles leichtes Stück Literatur, das Regenwolken vom Himmel bläst und die Sonne wieder scheinen lässt.

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Genre: Romane
Illustrated by Carl´s Books

Nachricht von Dir

Nachricht MussoFlughäfen sind hektische Orte. Am New Yorker Flughafen haben Madeline aus Paris und Jonathan aus San Fransico einen folgenschweren Zusammenstoß. Sie liefern sich einen kurzen, aber heftigen verbalen Schlagabtausch, sammeln ihre fallengelassenen Habseligkeiten ein und gehen jeder wieder ihres eigenen Weges.

Denken sie.  Dummerweise haben sie in der Aufregung des Getümmels ihre Smartphones identischer Bauart vertauscht, was sie aber erst nach ihren jeweiligen Flügen verärgert bemerken. Sie nehmen Kontakt auf und vereinbaren, die Smartphones per Post zu tauschen. Natürlich kann keiner der beiden widerstehen und beginnt, in den Untiefen des Smartphones des anderen zu stöbern. Es kommt, wie es kommen muss und schon Galileo wusste: Neugier steht immer an erster Stelle des zu lösenden Problems. Sie entdecken nämlich nicht nur die Geheimnisse des anderen, sie entdecken auch eine schier unwahrscheinliche Verbindung zwischen ihnen beiden. Eine Verbindung, die tief in ihre Vergangenheit reicht und schlussendlich zur Lösung ihrer beider Probleme führt. Mehr sei hier über den Inhalt nicht verraten, es würde den Spaß an den originellen Wendungen und Irrungen, die der blühenden, überbordenden Phantasie des Autor entspringen, erheblich schmälern.

Nachricht von Dir beginnt im Stil einer amerikanischen Screwball-Komödie und wechselt völlig unerwartet zu einem spannungsgeladenen Thriller samt Verfolgungsjagden, Entführungen und was sonst noch so alles in das Genre Thriller gehört. Die romantische Grundidee bleibt erhalten, auch der rasant beschleunigte Roman hat noch Platz genug für eine Liebesgeschichte. Madeline und Jonathan verbindet nicht nur das Geheimnis, sie verbindet auch ein ähnliches Schicksal. Beider Leben haben sich völlig anders entwickelt als geplant, beide haben einen Schock zu überwinden, beide haben sich ein zweites Leben völlig verschieden von ihrem ersten aufgebaut. Aber es ist noch nicht das Leben, was sie wirklich ersehnen. Wird der Krimi, in den sie unversehens geraten und der sie zunächst  zu Komplizen macht, die Wendung bringen? Nachricht von Dir trägt im französischen Original den Titel L’appel del’ange (der Ruf des Engels) und bietet auch die Chance zur Reflexion über Schicksal und die Gnade einer zweiten Chance.

Der französische Bestsellerautor Guillaume Musso wird seinem Ruf gerecht und hat mit seinem neuen Roman in erster Line eine unterhaltsame Geschichte abgeliefert. Eine Geschichte, die so vor 10 Jahren noch nicht möglich gewesen wäre und am Rande auch den Zeigefinger für den technikaffinen Leser hebt, dessen Smartphone für ihn die Welt bedeutet. Denn die Liste der Dinge, die Smartphones können und für die sie verantwortlich sind, wird schliesslich immer länger.

Mussos Sprachstil bewegt sich in gekonnter Erzählkunst, hohe Literatur ist es gleichwohl nicht. Er ist sich nicht zu fein, ausgelutschte Formulierungen zu bemühen, manche Wendungen sind an den Haaren herbeigezogen, manchmal schrammt er haarscharf an Übertreibungen vorbei, manche Parallelen gar sind arg überkonstruiert, die finsteren Mächte des Schicksals werden mehr als einmal zu oft beschworen. Störend auch, dass so mancher Faden kommentarlos fallen gelassen wird – einige klärende Sätze zum Schicksal von Madelines Verlobtem z.B. wären nett gewesen. Es scheint, als hätte der Autor diesen schlicht und ergreifend vergessen.

Was dem Buch ebenfalls gar nicht gut tut und beim aufmerksamen Leser das Gefühl der Flüchtigkeit erweckt, sind kleine Fehler, die sich möglicherweise aber auch bei der Übersetzung eingeschlichen haben. So gibt es keine Fernsehserie namens Bob, der Schwamm (sie heißt Spongebob Schwammkopf ) und es tut auch wirklich nicht not, Star Trek mit Star Treck zu übersetzen. Während so manche Ausdrücke zum Teil kleinlich wortgetreu übersetzt oder umschrieben werden, bleibt der da Vinci Code auch in der deutschen Übersetzung der da Vinci Code, obwohl er dem deutschen Leser und Kinogänger wohl eher als Sakrileg bekannt sein dürfte. Auch wenn ich als Übersetzer eher dem geschriebenen als dem bewegten Medium zugetan bin, ein wenig Recherche könnte nicht schaden. Diese Kritik mag kleinlich erscheinen, aber es sind solche Dinge, die einen Roman unrund und hingehuddelt wirken lassen. Denn das hat er eigentlich nicht verdient. Der Roman ist originell und schlägt jede Menge unerwarteter Finten und Volten, die Spaß machen. Dem unterhaltungssuchenden Leser bietet dieses Buch eine wunderbare Pause vom Alltag sowie Anregungen für weitere Pausen. Denn Musso ist ein Sätzesammler, jedem Kapitel stellt er einen Satz aus einem anderen Werk voran, welcher die Stimmung des jeweiligen Kapitels gut einfängt.

Musso ist ein Autor mit einem erkennbaren Spaß am Gschichtenerzählen. Mit einer Gesamtauflage von 1,5 Mio Exemplaren ist er DER Bestseller Autor in Frankreich und hat sogar den Branchenprimus Mark Levy deutlich überholt.
Nach eigener Aussage ist es ihm ein Anliegen, Geschichten für ein breites Publikum zu schreiben. Der Erfolg gibt ihm bisher Recht. Möglicherweise unterschätzt er allerdings das Risiko, dass ein Autor, der allen wohl und keinem wehe will, irgendwann Gefahr läuft, sich zu verzetteln. Hoffentlich erliegt er zumindest nicht der Versuchung, den Erfolg von Jonathan und Madeline zu wiederholen und die beiden zum neuen Ermittlerpäarchen in Fortsetzung zu stilisieren.

In Nachricht von Dir entlässt Musso seine Leser mit einem optimitischen Ende und gibt ihm Hoffnung mit auf den Weg: “Die schönsten Jahre eines Lebens sind die, die man noch nicht gelebt hat”.  Auch wenn ich an Nachricht von Dir durchaus Spaß hatte, gebe ich die Hoffnung an Musso zurück: Mögen die schönsten Bücher seines Lebens die sein, die er noch nicht geschrieben hat.

Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Pendo

Agnes

Luxus-Eisenbahnwagen sind auf Dauer nicht das ergiebigste Thema, dem man sich widmen kann. Ein Schweizer Autor, der sich mit Sachbüchern über abseitige Themen einen Namen gemacht hat, recherchiert über eben diese und ist dabei dankbar für jede Ablenkung. Zu Studienzwecken hält er sich in den USA auf und lernt im Lesesaal der Public Library Chicago die junge Agnes kennen. Agnes, eine Physikerin, fasziniert ihn durch ihre Rätselhaftigkeit und ihr elfenhaftes Wesen gleichermaßen. Zu seinem Erstaunen geht Agnes schnell auf sein Werben ein und die beiden werden ein Paar. Agnes zieht zu ihm, doch sie kommen sich nicht wirklich näher. Nicht so nahe, nicht so verschmelzend, wie der Sachbuchautor, dessen Name der Leser nie erfährt, es gerne hätte. Er versucht zu ergründen, was außer Agnes morbider, fast zwanghafter Beschäftigung mit dem Tod noch zwischen ihnen steht. Agnes Profession als Physikerin scheint nicht zufällig. Obsessiv will sie alles über das Leben und seine Begrenzungen wissen. Ihre Grundlagenforschung über atomare Kristallgitter wird ebenso von einem unerbittlichem Entschlüsselungswunsch getrieben, wie ihr Wunsch, ihre eigene Geschichte am besten schon vorab zu überblicken.

Die Liebe ist ihr unheimlich, sie ist ihr nicht begrifflich genug. Auch der Erzähler kann ihre Zweifel nicht zerstreuen, zumal er sich im Laufe der Erzählung auch immer wieder der burschikoseren Louise, dem exakten Gegenpart von Agnes, zuwendet. Agnes wird schwanger und verliert das Kind. Diese Tragödie bringt sie vollends um ihr subtiles Gleichgewicht. Sie drängt ihren Geliebten, ein mehr aus Spaß begonnenes Beziehungstagebuch wieder aufzunehmen und die Geschichte/ihre Geschichte fortzuschreiben. Sie wünscht sich von ihm, dass er ihr ein Leben aus Punkten male, wie die Bilder impressionistischer Künstler. “Glück malt man mit Punkten, Unglück mit Strichen.” Durch das Schreiben soll er es schaffen, “das Kind für sie zu machen”. Sie habe es ja nicht geschafft. Die Geschichte als Ersatz für das Leben, das ihr abhanden kam. So wird der Ich-Erzähler zum Erfinder, der Report zum Roman: “Jetzt war Agnes mein Geschöpf” – damit nimmt das Unheil seinen Lauf. Halbherzig wehrt er sich zunächst, doch bald schon erliegt er dem Reiz, nicht nur eine Geschichte, sondern auch Agnes nach seinem Willen und Wunsch zu formen. Was nicht gelebt werden kann, soll wenigstens geschrieben werden. Artig bemüht er sich um eine Wendung hin zu einem Happy End. In der Geschichte darf das Kind leben, sie werden eine glückliche Familie.

Doch diese Geschichte ist nicht authentisch, das spürt der Erzähler, das spürt auch Agnes. Er schreibt heimlich den Schluß 2.  Agnes, von einer manischen Suche getrieben, findet diesen schließlich auf der Festplatte: den folgerichtigen, wahrhaften Schluss der Geschichte und es ist an ihr, ob dieser Schluss wirklich der Schluss ihrer/dieser Geschichte werden wird.  “Agnes ist tot, eine Geschichte hat sie getötet”. So beginnt der Roman. Ist sie tot, ist sie nur innerlich tot, ist sie für den Erzähler tot, ist der Erzähler für sie tot? Im Buch wird es nicht entschieden, diese Entscheidung wird jedem Leser neu überlassen.

Das vorherrschende Thema des Romans ist Identität. Peter Stamms Roman zieht den Leser trotz seiner gleichwohl distanzierten und unterkühlten Sprache in einen Sog unerbittlicher Trauer. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zerfließen, bis einer der beiden Protagonisten daran zerbricht. Es sind zwei im Grunde gleiche Fragen, die zu unterschiedlichen Motiven werden: Agnes, die wissen will, was von ihr bleibt und der Ich-Erzähler, der der Verlockung, sich des Anderen zu bemächtigen, nicht widerstehen kann. Im Spiel der Charaktere läuft alles auf die Frage hinaus: Können wir ohne ein selbst gefertigtes Bild des Anderen auskommen?

Es geht aber nicht nur um die Identität einzelner Personen, elegant beleuchtet Peter Stamm auch die Frage nach der Identität eines Buches. Wie viel Erfahrung, wie viel Wahrheit muss einem Roman zugrunde liegen? Kann ein Roman ein Ersatz sein für ein nicht gelebtes oder ein nicht mehr lebbares Leben? Das Reale verwandelt sich ins Mediale, der Roman wird zum Sammelbecken. Es ist dies ein immer wiederkehrendes Dilemma in der Literatur, welches Stamm hier begreifbar vermittelt.


Genre: Romane
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Fische füttern

Fische füttern “Ist das Leben ein Strom von Dingen, die an uns vorbeiziehen? Sind wir mitten in diesem Fluss, kommen die Dinge, ziehen sie vorbei und verschwinden?” Oder “ist das Leben vielleicht gar kein Fluss, sondern ein Kanal? Dann sieht die Sache schon anders aus. Ein Kanal führt nirgendwohin, er bliebt schnurgerade, ohne ein Ziel, und kann höchstens hoffen, andere Kanäle zu schneiden und sich ein Zeit lang mit ihnen zu vermischen.”
Man weiß es nicht. Auch Fiorenzo weiß es nicht. Fiorenzo steht kurz vor dem Abitur, schwänzt aber vielleicht ein bißchen zu oft die Schule, um wirklich viel zu wissen.Seine rechte Hand hat er bei einem sinnfreien Experiment mit Feuerwerksböllern verloren und ist auch ansonsten “ein noch größerer Dummkopf als Galileo Galilei.”

Fiorenzo lebt im kleinem toskanischen Muglione, einem trostlosen Kaff, gelegen
an einem stinkenden Kanal, fernab jeder Postkarten-Idylle. Seine Mutter ist gestorben, sein Vater besessen davon, Mirko aus dem Nachbardorf zum kommenden Radrenn-Champion zu formen,nachdem der einhändige Sohn des Vaters Traum nicht mehr erfüllen kann. Fiorenzo musste sein Zimmer dem ungeliebten kleinen Champion überlassen und nächtigt nun im väterlichen Geschäft, einem Kramladen für Anglerbedarf, zwischen all den Würmern und Maden, die nur darauf warten, an die Killerkarpfen im stinkenden Kanal verfüttert zu werden. Einziger Lichtblick sind seine selbst im Land des schmalzigen Italo-Pop bemerkenwert erfolglose Heavy Metal Band und die schöne Tiziana. Tiziana, die nach dem Studium auf ihrem so verheißungsvoll vorgezeichnetem Lebensweg falsch abgebogen ist und sich ebenfalls im trostlosen Muglione wiederfindet. Sie vertreibt sich die Zeit mit einem Blog ohne Leser und ansonsten in ihrem mit viel gutem Willen und keinem Geld eröffnetem Jugendzentrum damit, eine selbsternannte Wächter-Gang, bestehend aus gelangweilten Späthippie- Rentnern in Schach zu halten.

Ein sehr eigenwilliges Panoptikum skurriler Figuren hat der italienische Autor Fabio Genovesi da aus der trüben Pampa der Toskana gefischt und lässt diese einen Sommer lang in einer Geschichte ohne wirkliche Handlung in einer erstickenden provinziellen Welt mit Sehnsüchten und unerfüllbaren Träumen kollidieren. Keiner bleibt in diesem bemerkenswert politisch unkorrektem Buch verschont: Die Jungen nicht, die Alten schon mal gar nicht. Blogger, Angler, Radrennfahrer, Lehrer, Eltern, Gutmenschen, Ehrgeizige – bei keiner Gruppe lässt Genovesi Gnade vor Recht ergehen.

Ohne Zweifel ist “Fische füttern” ein hochintelligentes Buch, subversiv und unkonventionell, in seinen Glanzmomenten frech, witzig und poetisch. Aber – das Buch ist im Niveau höchst schwankend. Der Einstieg ist nur mit gutem Willen noch als holprig zu bezeichnen, bei der Unterteilung von über 400 Seiten in mehr als 70 Kapitel, sehr abrupten Perspektiv- und Stilwechseln wird der Leser auch im Fortgang immer wieder höchst unsanft aus seinem Lesefluss gerissen und ist mehr als einmal geneigt, den Schlusssatz der Danksagung vorwegzunehmen und des Autors Rat zu beherzigen: “Wir leben nicht ewig hier, hier sind wir fertig, also jetzt alle raus um zu sehen, was draußen los ist.”
Seitenweise quält man sich durch aufgeblasenes Schwadronieren von Jugendlichen und renitenten Alten, Palaver mit dem Aussagewert der flachen Landschaft, die der Roman ebenfalls ausführlichst zeichnet und beklagt. Dazu kommt, dass Genovesi gelegentlich der Versuchung eindeutiger Effekthascherei nachgibt, sowie dem anscheinend unbezähmbaren Drang, einfach alles aufzuschreiben, was ihm zu seiner Geschichte einfiel. Weniger wäre in diesem Fall definitiv mehr gewesen. Zu oft endet im Klischee, was als inspiriende Lebensweisheit gedacht war.

Und dann kommt das Schlusskapitel, welches dem Leser einen Einblick in das Leben der Protagonisten zehn Jahre später gibt. Ein Kapitel, das einem die Moral der Geschichte wunderbar formuliert an die Hand gibt: Man kann erst dann gewinnen, wenn einem vorher das Verlieren beigebracht wurde. Ein Epilog, der in seiner Einfachheit berührt und den Leser mit der Geschichte gleichzeitig versöhnt und mit der Frage zurücklässt: Warum nicht gleich so? Genovesi kann es doch. Genauso wie dieser Epilog. das wäre mein Roman gewesen.

So bleibt leider nur ein durchwachsenes Fazit: Interesse am Radsport und Angeln dürfte für durchgehenden Lesegenuss förderlich sein.Für den Rest: Lesenswert, aber kein Muss.

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Diskussion dieser Rezension im Blog der Literaturzeitschrift


Genre: Romane
Illustrated by Bastei Lübbe

The Mirage

Am 09. November 2001 steuern christliche Fundamental-Terroristen Flugzeuge in die Wolkenkratzer der UAS-Metropole Bagdad, ermorden damit Tausende von Menschen und erschüttern die wirtschaftliche und militärische Supermacht United Arab States bis ins Mark. Der Gegenschlag lässt nicht lange auf sich warten und so beginnt man mit dem Verbündeten Israel die Invasion Amerikas, einem unbedeutenden Drittweltland, das als Drahtzieher der Anschläge und Heimat der Terroristen vermutet wird.

Acht Jahre später ist die angestrebte Zivilisierung Amerikas und Überführung in eine Demokratie immer noch nicht abgeschlossen und die Gefahr von Terroranschlägen im eigenen Land unverändert hoch. Mustafa, Amal und Samir arbeiten für Homeland Security und es gelingt ihnen, einen christlichen Selbstmordattentäter dingfest zu machen, der eine unglaubliche Geschichte zu erzählen hat: In Wahrheit wäre Amerika die fortschrittliche Supermacht und die zerstrittenen arabischen Länder befänden sich auf unterentwickeltem Niveau, als Beweis zeigt er den Ermittlern eine amerikanische Zeitung vom 12. September 2001.

Mustafa und seine Kollegen bekommen von höchster Stelle der Regierung den Auftrag, diesen mysteriösen Fall zu untersuchen und stoßen schon bald auf weitere Spuren: Der dubiose Unterweltsboss Saddam Hussein ersteigert regelmäßig im Internet Artefakte aus der vermeintlichen Parallelwelt und auch Senator Osama bin Laden, dem enge Verbindungen zum Geheimbund Al Kaida nachgesagt werden scheint daran sehr interessiert. Eine Reise nach Amerika soll schließlich des Rätsels Lösung bringen…

Matt Ruff hat es wieder einmal geschafft, seine Fans mit dieser fantastischen Geschichte zu überraschen und begeistert wie gewohnt mit einem mitreißenden Plot, dessen Details liebevoll sorgfältig ausgearbeitet sind: Die beliebteste TV-Serie der UAS ist der Echtzeit-Thriller “24/7 Jihad”, die Musik-Charts werden angeführt von der Punk-Band Green Desert mit ihrem Hit “Arabian Idiot” und der Gouverneur des Libanon war in seinem früheren Leben ein populärer Action-Filmheld. Und natürlich fehlen auch nicht die Protagonisten auf der anderen Seite, zu viel soll hier allerdings nicht preisgegeben werden.

Indem der Autor die persönlichen Geschichten der drei Hauptfiguren mit den politischen Bedingungen verknüpft, zeigt er auch den ganz normalen Alltag in einem islamischen Land, das hin- und hergerissen ist zwischen Säkularisierungsbemühungen moderner Aufklärung und reaktionärer Reglementierung der traditionellen Religion, eben ganz so wie heute in den realen USA. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass Matt Ruff auch in seinem neuen Werk mit sprachgewaltigem Wortwitz glänzt, Bücher wie diese sorgen beim Leser für ungetrübte Freude!


Genre: Romane
Illustrated by Harper