Die Erzählungen

33 literarische Fluchthelfer

Im Œuvre Thomas Manns nehmen seine Erzählungen und Novellen neben den Romanen einen wichtigen Platz ein. Nach seinem Debütroman «Buddenbrooks» von 1901 folgten zunächst 28 solcher Kurzprosa-Werke, ehe dann mit «Der Zauberberg» 1924 endlich sein beim Lesepublikum besonders erfolgreicher, dritter Roman erschienen ist. Ebenso positiv aufgenommen wurden aber auch Novellen wie «Tristan», «Mario und der Zauberer», «Tod in Venedig» und «Tonio Kröger». In der vorliegenden Taschenbuch-Ausgabe sind alle 33 Werke mit Kurzprosa Thomas Manns nach der Reihenfolge ihres Erscheinens zusammengefasst.

Es beginnt mit «Vision», einer 1893 noch für die Schülerzeitung geschriebenen Prosa-Skizze über verlorene Liebe. Dann folgt «Gefallen», seine erste größere Erzählung, Thema: Frauen-Emanzipation. In «Der Wille zum Glück» berichtet ein Ich-Erzähler von der tragischen Liebe eines in der Hochzeitsnacht verstorbenen Mannes. Auf dem Markusplatz in Venedig erzählt ein Unbekannter von den Enttäuschungen, die das Leben für ihn bedeutet. In «Der Tod» berichtet ein Graf in 15 Tagebuch-Einträgen von der fixen Idee eines ihm prophezeiten Todes. «Der kleine Herr Friedemann» scheitert als Krüppel daran, ein epikureisches Leben zu führen. Durchaus selbstironisch wird in «Der Bajazzo» ein junger Bonvivant geschildert, dem jede Anstrengung zuviel ist, «Tobias Mindernickel» ist ein menschenscheuer Mann, der vergebens Trost bei seinem Hund sucht. ‹Eine Geschichte voller Rätsel› lautet der Untertitel zu «Der Kleiderschrank, in der es um Visionen eines Todkranken geht, und «Gerächt» ist eine ‹novellistische Studie› über das zynische Verhalten eines jungen Mannes zum Erotischen. In «Luischen» macht sich ein Ehemann lächerlich, ähnlich wie «Professor Unrat» bei Heinrich Mann. Grotesk geht es zu in «Der Weg zum Friedhof», einer Novelle um einen verspotteten Choleriker, und in «Gladius Dei» wird der damalige Kunstbetrieb karikiert.

Zu den bedeutenderen und inhaltlich komplexeren Novellen gehört «Tonio Kröger», der von der tiefen Freundschaft des Protagonisten zu seinem Klassenkameraden Hans erzählt, den er wegen seiner Talente und seiner Unkompliziertheit sehr bewundert. In der Liebe hat er Pech, die lustige Inge ignoriert ihn völlig, sie bleibt unerreichbar. Tonio wird ein erfolgreicher Schriftsteller. Auf einer Reise nach Dänemark trifft er Jahre später auf ein Paar, das Hans und Inge sein könnten, der vergeistigte Künstler beneidet sie um ihre robuste Natürlichkeit. «Ich bin erledigt» konstatiert er resignierend in einem Brief an eine befreundete Malerin. In «Tristan» geht es, angelehnt an das Motiv aus Wagners Oper, um unglückliche Liebe, die in den Tod führt. Thematisiert wird hier parodistisch der Gegensatz zwischen zweifelndem, verletzlichem Künstlertum und selbstbewusster, vitaler Bürgerlichkeit. Auch vom Film her bekannt ist natürlich die Novelle «Der Tod in Venedig», in der ein asketisch lebender, 50jähriger Schriftsteller am Lido Urlaub macht und dort in verzehrender Liebe zu einem schönen Knaben entbrennt. Als Reiseerlebnis der besonderen Art entwickelt sich in «Mario und der Zauberer» während ihres Italienurlaubs der Besuch eines Paares mit zwei Kindern in einer Zauberschau, die ganz unerwartet tragisch endet.

Auch die übrigen, weniger bekannten Erzählungen Thomas Manns überraschen mit Motiven, die gedankliche Tiefe aufweisen, selbst wenn sie zuweilen eher parodistisch anmuten. Er sei, hat Doris Lessing angemerkt, der letzte Schriftsteller, der seine Werke für philosophische Aussagen benutzte. Erzählt wird all das in dem für ihn so typischen, von Kritikern als altväterlich bezeichneten, anspruchsvollen Stil. Dessen Merkmal ist nicht nur die syntaktisch komplexe Sprache, sondern auch ein im Deutschen von niemand anderem je erreichter, unglaublich üppiger Wortschatz. Dieser Sammelband bietet dem Leser folglich 33 ideale Möglichkeiten zur erquickenden Flucht aus den Niederungen der zeitgenössischen Erzählkunst!

Fazit: erstklassig

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Die wandernden Schatten

Unentschuldbare Ignoranz

Der in Frankreich hoch angesehene Schriftsteller Pascal Quignard hat für sein 2002 erschienenes Werk «Les Ombres errantes» den Prix Goncourt erhalten. Eine deutsche Übersetzung erschien erst 13 Jahre später unter dem Titel «Die wandernden Schatten». Als Verfasser eines umfangreichen, bedeutenden und in diverse Sprachen übersetzten, vielschichtigen Werkes aus Romanen, Erzählungen und Essays ist er jedoch nach wie vor in Deutschland weitgehend unbekannt. Der vorliegende Band ist der erste Teil eines Schreibprojekts unter dem Titel «Letztes Königreich», welches einer Wanderung durch die Biografie des Autors in permanentem Wechsel mit einer Tour d’Horizon durch die Geschichte der Menschheit gleicht. Dabei stehen die titelgebenden wandernden Schatten für das Verborgene in der Welt, für das mit Worten kaum Fassbare.

In 55 Kapiteln sehr unterschiedlicher Länge entwickelt Quignard ein grandioses Gedankengebäude, das er in Form von Notizen, literarischen Skizzen, Gedankensplittern, Aphorismen, rätselhaft Magischem, Naturbeobachtungen, exotischen Fremdzitaten, historischen Kurzgeschichten oder Auszügen aus Erzählungen vor dem Leser ausbreitet. Aus dieser Vielfalt heraus entwickelt sich beim Lesen ein dichtes Geflecht verschiedenartigster Assoziationen, das nicht immer leicht zu durchdringen ist. Ein thematischer Schwerpunkt dieser Prosa ist das Schreiben selbst, wobei der Autor beispielsweise solche Einsichten äußert: «Der Romanschriftsteller ist der einzige Lügner, der die Tatsache nicht verschweigt, dass er lügt». An anderer Stelle widmet er sich dem Lesen, mit sechs Kisten Wein aus Épineuil und zwei mit Büchern gefüllten Postsäcken zieht er sich in sein ländliches Refugium am Ufer der Yonne zurück, «Blieb nur zu hoffen, dass niemand zu Besuch kommen würde». Die Ruhe, die ihn umgab, war vollkommen. «Das Glück wurde immer größer. Ich las». Und er stellt fest: «Wenn man ein Buch öffnet, weiß man nicht, wohin man geht. Man lässt sich führen in Zeiten, an Orte, zu Gefühlen, mit denen man sich sonst nicht ohne weiteres eingelassen hätte».

Besonders die Werke der Alten sind für Quignard Inspirationsquelle, der Römer Lukrez zum Beispiel, die Chinesen Han Yu und Laotse, der Japaner Tanizaki. Aber auch Descartes und Walter Benjamin geben ihm Anregungen zum Denken, und sogar die Weisheiten der Eskimos. Ihn interessieren «nur Gedanken, die zittern», erklärt er dazu, keine feststehenden Erkenntnisse mithin, sondern dynamische Denkprozesse. Seine historischen Erzählschnipsel beginnen zeitlich beim letzten römischen Kaiser Syagrius, dessen Schattenanrufung bei der Hinrichtung er zitiert, ferner schreibt er über den Theologen Jean Duvergier de Hauranne, als Abt Saint Cyran genannt, der sich dem Jansemismus gewidmet hat. Der historische Erzählbogen reicht außerdem über die Mission des US-Seeoffiziers Matthew Perry von 1853 über den japanischen Überraschungs-Angriff auf Pearl Harbor bis zum nationalen Trauma 9/11 in New York. Die Kunst ist ein weiteres Thema für den Autor, mit dem er sich äußerst kritisch auseinandersetzt. Er zitiert in diesem Zusammenhang sogar Herman Göring mit dem Ausspruch: «Wenn ich das Wort Kultur nur höre, entsichere ich meine Browning». Sein philosophisches Credo ist die Unabgeschlossenheit, die Vergangenheit sei nichts weiter als eine einzige Verfallsgeschichte.

In all diesen Meditationen ist deutlich eine permanente Verweigerungs-Haltung von Pascal Quignard erkennbar, die zuweilen sogar in Defätismus ausartet. Als radikaler Aussteiger aus dem Literaturbetrieb hat er in der Normandie Zuflucht gefunden für sein konsequent dem Denken gewidmetes Lebenswerk. Seine hier als Buch vorliegende, fragmentarische Sammlung von Skizzen aus seiner Gedankenwelt sprengt den Rahmen sämtlicher literarischen Gattungen. Genau darin aber liegt der Reiz dieser außergewöhnlichen Lektüre. Unentschuldbar angesichts dessen, was hierzulande mit Buchpreisen geehrt wird, ist die dem Autor zuteil werdende Ignoranz!

Fazit: erstklassig

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diaphanes Verlag

Insomnia

Vom Bruder des Todes

Im Nachlass des jugoslawischen Schriftstellers Ivo Andrić fanden sich Notizbücher mit etwa 1500 Einträgen, von denen Michael Martens unter dem Titel «Insomnia» im vorliegenden Band mehr als zweihundert neu übersetzt herausgegeben hat. Der Nobelpreisträger von 1961 litt an Schlaflosigkeit, gehörte als Oneironaut jedoch zu jenen Menschen, die sich im Klaren sind, dass sie träumen und diese Klarträume sogar bewusst herbeiführen können. Was schon der Untertitel «Nachtgedanken» verdeutlicht und die Nachttischlampe auf dem Cover symbolisch unterstreicht. Der Klartraum-Forschung zufolge sind Introvertiertheit und Neugierde typische Persönlichkeits-Merkmale solcher Menschen, und in der Tat trifft denn wohl auch Beides auf den Autor zu.

Das Konvolut nachgelassener Notizen aus den Jahren 1915 bis 1974 war nicht zur Veröffentlichung bestimmt, die einzelnen Texte sind bis auf wenige Ausnahmen undatiert und lassen sich nicht chronologisch lesen. Die vielstimmige Zusammenstellung in diesem Band ist in zwölf Abschnitte aufgeteilt, in denen Notate enthalten sind, die zum überwiegenden Teil aus Reflexionen des Autors bestehen. Sie beschäftigen sich vornehmlich in immer wieder neuen Variationen mit den Qualen der Schlaflosigkeit selbst. Es finden sich darin aber auch viele Erinnerungs-Fragmente, Selbstbetrachtungen, Anmerkungen und Beobachtungen zur Vergänglichkeit, zu Schaffenskrisen, zum Alltaggeschehen. Ferner gibt es Rückblicke in die Kindheit, Begegnungen mit Menschen, Naturbetrachtungen. All das wird noch ergänzt um Kurzgeschichten, Anekdoten und Aphorismen. So schreibt er zum Beispiel über die knarzenden Geräusche, die sein Parkett bei nächtlichen Temperatur-Schwankungen erzeugt, registriert das Abflauen des munteren Gezwitschers der Nachtigallen im Morgengrauen oder berichtet über einen Konzertabend mit Werken von Mozart, Liszt und Brahms. Der eher elegische Schluss bei Brahms baue sich ganz auf das Vorhergehende auf, ganz so, wie er es sich denn auch von seinem Leben erwarte. Und er distanziert sich vehement vom kleinbürgerlichen Leben, «das in nichts Größe, Schönheit oder echte Freude zeigt, weil in ihm alles vergiftet ist von Vorurteilen und befleckt von Berechnungen, die sich noch in die entlegensten Tiefen des menschlichen Lebens hineinziehen».

Der von seinen Dämonen heimgesuchte Autor bezieht sich in puncto Schlaflosigkeit zuweilen auf seine schreibenden Kollegen und Leidensgenossen Franz Kafka und Fernando Pessoa, die er zum Teil wörtlich zitiert. Bei all seinen Selbsterkundungen bleibt Ivo Andrić aber auffallend distanziert, er wird nie wirklich persönlich, man erfährt nichts Intimes von ihm, und auch sein Arbeitsleben wird nicht thematisiert. Seine übermächtigen Selbstzweifel hingegen verdeutlicht der bemerkenswerte Satz: «Wenn ich nicht verzweifelt bin, tauge ich nichts». Keinesfalls hat er seine Meditationen als narrative Selbstzeugnisse aufgefasst, im Gegenteil: «Ein Schriftsteller sollte schreiben und erzählen, aber nicht aus seinem Leben eine Erzählung machen. Die dies tun, versündigen sich an sich selbst und an der Leserschaft, vor allem aber an der Wahrheit».

«Der Schlaf ist ein Bruder des Todes» heißt es im Volksmund, und auch wenn man diesen Spruch in Zweifel zieht, zeugt zumindest dieses düstere Buch von deren existentieller Nähe. Denn der Leser lernt hier einen seelisch gequälten Mann kennen, der sich selbst nicht ganz geheuer ist, ein stoisch resignierender Ivo Andrić voller innerer Spannungen, der sich die Vanitas-Rhetorik vollinhaltlich zu Eigen gemacht hat. Es ist gerade diese zutiefst existentielle Dimension seiner Skizzen, die das uneitle, aufrichtige Selbstzeugnis eines chronisch schlechten Schläfers lesenwert macht. Dass ein solch skeptisches Werk allerdings schwer zu lesen ist und alles andere als Wohlfühl-Literatur darstellt, das liegt auf der Hand. Den nobelpreis-gekrönten Autor grandioser historischer Romane wird man hier kaum wiedererkennen!

Fazit: lesenswert

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Zsolnay München

Aus den Papieren eines Wärters

“Aus den Papieren eines Wärters” ist sicherlich für Neulinge im Kosmos Dürrenmatt schwierig, aber um Dürrenmatts Werk zu verstehen und zu begreifen, ist meines Erachtens, dieser Band der Wichtigste. Hier finden wir die Urformen vieler späteren Werke. Werke, die immer wieder von ihm bearbeitet wurden, weil er noch mehr aus dem Stoff herausholen musste. Weiterlesen


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diogenes

Der Tokio-Montana-Express

In seinem 1979 erschienenen »Tokio-Montana-Express« bietet Richard Brautigan ein buntes Potpourri: Tagebucheinträge über Personen, die er beobachtet hat. Kleine Geschehnisse, die ihm widerfuhren. Gedanken, die sich spontan vordrängten, aber keine Durchsetzungskraft besaßen. Gesamt: 131 heterogene Prosabissen formen eine phantasievolle Textcollage mit deutlichen biographischen Bezügen. Schon der Buchtitel deutet auf das häufige Hin und Her zwischen seiner Wohnung in Tokio und seiner Ranch nahe Livingstone, Montana. Weiterlesen


Genre: Kurzprosa, Underground
Illustrated by Rowohlt Taschenbuch Reinbek

Ausgewählte Texte

Seltsam. Der Titel dieses mit reifen Erdbeeren bedruckten Buches besteht aus lediglich zwei Zeilen mit insgesamt zwölf Punkten. Und ebenso ungewöhnlich wie der geheimnisvolle Titel ist auch der Inhalt dieser Sammlung.

Mit den zur Veröffentlichung ausgewählten Texten in Lyrik und Prosa wird die Wiederentdeckung mit einem nahezu vergessenen Autor ermöglicht, dem eine Renaissance zu wünschen wäre:

Underground-Autor Richard Brautigan.

 

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Genre: Kurzprosa, Lyrik, Underground
Illustrated by Hoffmann und Campe

Kaffee und Zigaretten

In »Kaffee und Zigaretten« sammelt Ferdinand von Schirach 48 Gedankenschnipsel. Diese könnten aus Tagebüchern stammen oder als kurze Beobachtungen aufgezeichnet worden sein.

Ferdinand von Schirach polarisiert mit seinem übersichtlichen Kaffeehaus-Büchlein. Ob er sich darin als »großartiger Erzähler« (New York Times) oder als »außergewöhnlicher Stilist« (Independent) zeigt, mag dahingestellt bleiben. Die in dem Band versammelten kurzen Notizen und Betrachtungen, Aperçus und Erzählungen hinterlassen einen flüchtig-schalen Eindruck. Weiterlesen


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Luchterhand

Farm der Tiere

Der Mensch ist ein Schwein

George Orwell ist durch seine 1945 veröffentlichte sozialkritische Fabel «Farm der Tiere» weltbekannt geworden, ihr folgte wenig später mit «1984» eine ebenso berühmte politische Dystopie. In scharfer Form attackiert der englische Autor in seiner märchenartigen Geschichte von der Machtübernahme der Tiere auf einer englischen Farm den sowjetischen Kommunismus, schon in seinem Buch «Mein Katalonien» über seine Kriegserlebnisse während des Spanischen Bürgerkriegs hatte er vehement gegen den Stalinismus angeschrieben. Nun war aber die UDSSR als Alliierter im Zweiten Weltkrieg quasi sakrosankt, jedwede Kritik unerwünscht, die Veröffentlichung dieser dezidiert sowjetfeindlichen Fabel erwies sich als recht schwierig. Was der überzeugte Sozialist Orwell zum Anlass nahm, in einem Nachwort ein leidenschaftliches Plädoyer für die Pressefreiheit zu halten und die Servilität seiner Landsleute dem verbündeten Russland gegenüber heftig anzuprangern.

Dieses Buch ist eine Parabel auf die Geschichte der Sowjetunion, die auch hier mit einer Revolution der Unterdrückten gegen die herrschende Klasse beginnt, auf dem Bauernhof der Fabel verkörpert durch den Menschen, der die Tiere brutal ausbeutet. Nach einem Traum von einer besseren Zukunft ruft der alte Eber als Primus inter Pares die Tiere der Farm zu einer nächtlichen Versammlung in die Scheune, er erzählt begeistert seinen Traum und fordert alle zur Revolution auf. Der Mensch sei die Wurzel ihres Übels, er müsse nur verjagt werden, dann könnten die Tiere die Farm übernehmen und in eigener Regie ausschließlich zum eigenen Nutzen betreiben, so seine Vision. Ihre Revolte ist erfolgreich, alle Menschen werden von der Farm verjagt. Charismatischer Nachfolger des verstorbenen alten Ebers wird nun Napoleon, er und seine Artgenossen erweisen sich als die schlauesten und übernehmen die Führung der tierischen Genossenschaft. Man legt Regeln für das künftige Zusammenleben fest, ein Denksystem, in dem alle gleiche Rechte und Pflichten haben, formuliert als «Animalismus» in sieben Geboten, die in Großbuchstaben an die Wand der Scheune gemalt werden. Trotz einiger herber Rückschläge gedeiht die «Farm der Tiere», allen geht es deutlich besser als unter den Menschen. Allmählich aber bröckelt der hehre Gleichheitsgrundsatz, Napoleon wird immer selbstherrlicher, die Schweine entwickeln sich zu einer neuen Oberschicht und bekommen ständig mehr Privilegien. Am Ende verbrüdern sie sich gar mit den Menschen, die sie eigentlich doch allesamt aus England fortjagen wollten. In einer feuchtfröhlichen ersten Zusammenkunft erklärt ihr menschlicher Nachbar den Schweinen: «Sie müssen sich mit unteren Tieren herumstreiten und wir mit den unteren Klassen», er löst damit bei allen schallendes Gelächter aus.

«Alle Tiere sind gleich, einige Tiere aber sind gleicher als andere» stand jetzt auf der Scheunenwand geschrieben, die sieben Gebote waren von dort verschwunden. In dieser allegorischen Darstellung des Bolschewismus stehen viele Figuren stellvertretend für Größen des Stalinismus, von Stalin selbst, den das Schwein Napoleon verkörpert, bis zu Lenin, Trotzki und Molotow. Es wimmelt nur so von politischen und soziologischen Anspielungen, ergänzt von einem hintersinnigen Symbolismus, ein reichhaltiges Feld also für Interpretationen aller Art. So ist der überraschende Angriff der Menschen auf die Farm eine Anspielung auf das Unternehmen Barbarossa, die Schlussszene weist auf die Teheran-Konferenz im Jahre 1943 hin.

George Orwell gelingt das Kunststück, seine entlarvende Gesellschaftskritik in einer lockeren, gar nicht märchenhaften Sprache sehr anschaulich zu erzählen, er versteckt seine brisante Thematik der menschlichen Korrumpierbarkeit geschickt in einer harmlos wirkenden, häufig sehr amüsanten Erzählweise. So wartet auf den Leser dieses weltberühmten Buches neben der wenig überraschenden Erkenntnis, der Mensch ist ein Schwein, auch einiges an Lesevergnügen.

Fazit: erfreulich

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diogenes Zürich

Berlin. Eine literarische Einladung

Berlin: Eine literarische Einladung

Berlin: Eine literarische Einladung

Ich gestehe zu, dass Libyen ausgenommen, wenige Staaten sich rühmen können, es uns an Sand gleich zu thun“, meinte Friedrich der Große 1776 über seine Hauptstadt.Das vorliegende Format, „die literarische Einladung“, ist aus Praktikabilitätsgründen für die reisenden BenutzerInnen stets auf 144 Seiten beschränkt, was sicherlich schwer fällt eingehalten zu werden, da es so viele spannende Geschichten um die jeweiligen Städte gibt. Inzwischen sind schon 23 solche literarischen Einladungen in die schönsten Städte Europas und auch der Welt ergangen und diesen Sommer ist auch endlich die deutsche Hauptstadt dran: der Zeitraum aus dem die Texte zu Berlin stammen umfasst 60 Jahre, also von der Teilung bis zur Wiedervereinigung. Die AutorInnen aus Ost-, West- und ganz Berlin haben teilweise sogar noch unveröffentlichte Texte beigesteuert, darunter welche von Fatma Aydemir, Jurek Becker, Wolf Biermann, Volker Braun, Jan Peter Bremer, Tanja Dückers, Günter Grass, dem GRIPS-Theater, Annett Gröschner, Durs Grünbein, Katharina Hacker, Christoph Hein, Monika Maron, Thomas Melle, Heiner Müller, Katja Petrowskaja, Tilman Rammstedt, Ingo Schulze, Anke Stelling, Ton Steine Scherben, David Wagner, Christa Wolf und anderen. Die Herausgeberin Susanne Schüssler ist seit 1991 beim Wagenbach Verlag und hat auch selbst schon Bücher im Verlag ihres Mannes publiziert.

Metropolis und Jericho

Für Brigitte Reimann ist Berlin eine „ziemlich unappetitliche Sorte Babel“, aber die Linden düften dort süß. „Metropolis. Metropole der Macht“ nennt Christa Wolf Berlin in ihrer „Hadesfahrt“, für Durs Grünbein ist Berlin „der ganz große Bluff, ein täglich gebrochenes Versprechen“, Metropolis und Jericho. Er sieht Berlin als „Paradies für Hochstapler und Händler der heißen Luft“, ist vielleicht deswegen dort alles so „dufte“? Schließlich ist sogar die gute Berliner Luft sprichwörtlich, weht dort doch immer ein leichter Wind. Tanja Dückers moniert die Leerstellen der Stadt und singt ein Loblied auf die „Brachen“, die heute – in der gesamtdeutschen Hauptstadt – leider zusehends verschwinden. Günter Grass berichtet von den Mauerspechten, Katja Petrowskaja macht sich Gedanken darüber, warum in Berlin ankommende Reisende mit „Bombardier Willkommen in Berlin“ begrüßt werden und für wen die „Bomben“ denn wohl bestimmt wären. Günter Kunert definiert ein- und für allemal, worum genau es sich bei einem „Berliner Zimmer“ handelt und Ingeborg Bachmann hat sogar 1965 schon darüber geschrieben. Auch zwei Lieder über die Mauerstadt werden zitiert, das eine aus 1972 von den berühmten Ton Steine Scherben, das andere aus den Achtzigern von Ideal, „Rauch-Haus-Song“ und „Berlin“ fangen zwei wundervolle Stimmungsbilder der Stadt ein und sind so typisch für Berlin wie die Stulle oder der Türkenmarkt am Maybachufer. Aufhorchen lässt ein Beitrag von Adolf Endler, der schon 1981 (!) über die Zugerasten in Prenzlberch (sic) schimpft, dass es „een ja kalt den Rücken runterlooft“. Einen köstlichen WG-Dialog führt Anke Stelling in „Gemeinschaftsfläche“ und auch Peter Schneiders „Mauerspringer“ ist zum Brüllen komisch, wenn es nicht tatsächlich genau so passiert wäre.

Exkursionen in das alte und neue Berlin

In Acht nehmen sollte man sich in Berlin übrigens von den Kellnerinnen, meint Jakob Hein, denn die ständen den Kellnern von Wien in ihrem schlechten Ruf in nichts nach. Am eindringlichsten ist aber die Geschichte von Ingo Schulze, dessen Protagonist eine „Exkursion nach Berlin West“ macht und schon hinter dem Brandenburger Tor Heimweh bekommt. Mit beissendem Spott und gleichzeitig voller Ernsthaftigkeit schildert er darin die Vorzüge des kommunistischen Systems und erinnert daran, was wir seither alles verloren haben. Und damit meine ich jetzt nicht den Sand. „und wenn man wieder hinaussteigt“, schreibt Tilman Rammstadt über das Ausflugsziel Flughafensee Tegel, „wartet am kleine Strand eine stattliche Wildsau und schaut einen teilnahmslos an.“

Susanne Schüssler (Hrsg.), Linus Guggenberger (Hrsg.)
Berlin. Eine literarische Einladung
SALTO. 2017
144 Seiten. 11 x 21 cm. Rotes Leinen. Fadengeheftet. Gebunden mit Schildchen und Prägung
ISBN 978-3-8031-1328-3
Wagenbach Verlag
17,– €


Genre: Erinnerungen, Kulturgeschichte, Kurzprosa, Reiseführer
Illustrated by Wagenbach

Der Mensch in der Revolte

camus-1Ein intellektuelles Abenteuer

In der 1951 erschienenen Essay-Sammlung «Der Mensch in der Revolte» befasst sich Albert Camus mit dem Kampf des Menschen gegen die Unterdrückung. Als Autor setzt er sich mit seiner Thematik aber nicht nur in Essayform auseinander, die Revolte wurde von ihm als Stoff auch in seinem berühmten Roman «Die Pest» und im Bühnenwerk «Die Gerechten» bearbeitet, ein Triptychon literarischer Formen. Bei seinem Thema, das man vereinfacht als klassische Herr/Knecht-Problematik bezeichnen könnte, distanziert sich Camus strikt vom autoritären Sozialismus, insbesondere dem Kommunismus stalinscher Prägung, was denn auch prompt zum Bruch mit seinem Freund Jean Paul Sartre führte. Das Nobelkomitee zeichnete Camus 1957 aus für ein «wichtiges literarisches Werk, das mit klarsichtigem Ernst die Probleme des menschlichen Bewusstseins unserer Zeit erhellt». Das vorliegende Buch leistete dafür einen nicht unerheblichen Beitrag.

«Zwei Jahrhunderte metaphysischer und historischer Revolte laden … zum Nachdenken ein» heißt es in der Einleitung. Der folgende Abschnitt beginnt mit der Frage «Was ist ein Mensch in der Revolte?» und der lapidaren Antwort: «Ein Mensch, der nein sagt». In den zwei großen Essays der Sammlung widmet sich Camus kenntnisreich zunächst der metaphysischen und dann der historischen Revolte, wobei er sich intensiv mit der Gedankenwelt vieler bedeutender Philosophen und den Werken berühmter Dichter auseinandersetzt, deren Figuren er zuweilen zur Verdeutlichung heranzieht, als Beispiel sei Iwan Karamasow aus Dostojewskis großem Roman genannt. Als Moralist ist Camus an der Frage interessiert, wie man in einer Welt ohne Gott überhaupt weiterleben kann und was den Menschen erwartet, wenn seine Revolte einen spannungslosen Endzustand erreicht hat. Aber weder die außerweltliche noch die innerweltliche Erlösung als Ergebnis der Revolte sind erreichbar, lautet sein deprimierendes Fazit.

Den Gedankengängen des Autors zu folgen setzt beim Leser volle Aufmerksamkeit voraus, macht bei nicht einschlägig vorinformierten Lesern umfangreiche Recherchen erforderlich und fordert darüber hinaus sehr viel Zeit und Muße. Alle diese Essays sind inhaltsschwere und hoch komprimierte Texte, so dass man als Leser, von philosophischen Insidern mal abgesehen, sich von Satz zu Satz vorantastet und zu verstehen sucht, welche Aussage, welche Anspielung, welcher Bezug darin enthalten ist. Wer sich dieser Mühe unterzieht, findet ein Füllhorn elegant und treffend formulierter Gedanken, an denen er sich abarbeiten kann bei einem wahnwitzigen Parforceritt durch zweihundert Jahre Geistesgeschichte. Vor allem aber wird er sich am Ende bereichert fühlen durch originelle Ideen und kluge Einsichten, denen man in diesem Buch so überaus reichhaltig begegnet.

Bleibt die Frage zu klären, ob dieser Essayband mehr als sechzig Jahre nach seinem Erscheinen nicht überholtes Gedankengut enthält. Was die metaphysische Revolte anbelangt kann man dies absolut verneinen, historisch allerdings ist der Erkenntnisstand inzwischen natürlich ein anderer, vor allem in Hinblick auf den Sozialismus, dem Camus nahe stand und dessen Niedergang er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nicht hat voraussehen können. Hinzu kommen die Entwicklungen der neueren Geschichte, vor allem die des Terrors als aggressivster Form der Revolte, gleichwohl sind in seinen Ausführungen bereits dessen Keime zu entdecken. In diesem Buch wartet also ein intellektuelles Abenteuer auf wissbegierige Leser.

Fazit: erfreulich

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Rowohlt

Zu viel Glück

munro-1Literarische Miniaturen

Vielen Romanlesern dürfte es genau so gegangen sein wie mir, Alice Munro kam auf meiner Leseliste bisher nicht vor, Kurzepik als literarische Appetithäppchen ersetzen mir nicht die gedankliche Weite und thematische Vielfalt eines klassischen Romans. Aber wenn eine Autorin mit dem Nobelpreis geehrt wird wie Alice Munro in diesem Jahr, sollte man ruhig mal eine Ausnahme machen von der Leseroutine. Man muss denn auch mindestens zwanzig Jahre zurück gehen zu Toni Morrison (1993), um preisgekrönte Schriftsteller US-amerikanischer Herkunft zu finden. Kanada, immerhin nordamerikanisch, hatte bisher noch keinen Nobelpreisträger gestellt. Nach seinem Stifter soll den mit fast einer Million Euro dotierten Literaturpreis derjenige Autor erhalten, der «das Vorzüglichste in idealistischer Richtung geschaffen hat», und für 2013 ehrte die Jury nun also eine «Virtuosin der zeitgenössischen Kurzgeschichte». So betrachtet, das sei vorwegschickt, geht der Preis auch völlig in Ordnung.

Zehn recht unterschiedliche Erzählungen sind in dem Band «Zu viel Glück» enthalten, dessen Titel schon darauf hindeutet, dass jedem Übermaß potenziell Leid, Unglück, Enttäuschung, Scheitern gegenübersteht, das Glück auf ein bescheideneres Maß zurückstutzend. Als Protagonisten begegnet man fast ausnahmslos Frauen in mittelständisch geprägten, meist ländlichen Milieus Kanadas. Alle sind in wenigen Worten sehr treffend geschilderte Charaktere, die oft in prekären Verhältnissen leben und Konflikten vielfältigster Art ausgesetzt sind. Wen wundert’s, dass meistens Männer den Gegenpol bilden, Ursache der Probleme sind oder gar Katastrophen auslösen wie in der ersten, sehr beklemmenden Geschichte. Munro schreibt jedenfalls aus weiblicher Sicht, ohne dass man ihr Feminismus vorwerfen könnte, sie liefert lediglich ihren Beitrag zu der These «Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen». Als Konfliktpotential zieht die Autorin neben dem ziemlich dominant im Vordergrund stehenden Geschlechterkampf auch das Miteinander der verschiedenen Generationen heran sowie gesellschaftliche Umbrüche. Es gibt bei ihr innere Spannungen und menschliche Konflikte zuhauf, sie beschreibt unsentimental und mit viel Hintersinn gekonnt die vielfältigen seelischen Probleme des Menschen.

Wie ein Schlag ins Gesicht beginnt es gleich in der ersten Geschichte einer Frau, deren Mann ihre drei Kinder umgebracht hat, die sich aber trotzdem an ihn gebunden fühlt. Eine Musikschülerin geht ihre eigenen Wege und taucht plötzlich als Autorin wieder auf, eine Philosophie-Studentin liest einem reichen Lustgreis nackt Gedichte vor, eine Mutter steht ratlos ihrem völlig aus der Bahn geworfenen Sohn gegenüber, eine Frau verblüfft den in ihr Haus eingedrungenen Mörder mit einer Giftmord-Geschichte. Die tragische Liebe einer jungen Frau zu einem durch ein Muttermal abstoßend verunstalteten Mann wird ebenso knapp und pointiert erzählt wie die Zuneigung einer lebenslustigen Masseurin zu ihrem sterbenskranken Leukämie-Patienten, die kaltblütige Ermordung eines geistig zurückgebliebenen Mädchens durch zwei Schülerinnen oder ein Unfall im Wald, der ein Paar wieder näher zusammenbringt. Zuletzt folgt eine Geschichte aus dem Europa des 18. Jahrhunderts, in der eine Frau als erste eine Professur für Mathematik erhält, die längste und sicherlich auch schwächste Erzählung dieses Bandes.

Munro vermag Empathie zu wecken, sie erzählt in einfachen Worten, unaufgeregt, fast lakonisch Dramen ohne Katharsis, vor allem aber ohne Happy End, was ja nicht ganz selbstverständlich ist für die Kontinenthälfte, auf der sie lebt. Dabei bewegt sie sich immer haarscharf an der Grenze zur Trivialliteratur, hat aber mit ihrem inzwischen abgeschlossenen Lebenswerk, ihr erklärtermaßen letztes Buch erschien ja vor wenigen Tagen, ihre epischen Form zur Vollendung gebracht. Wer Munros komprimierte, humorlose Erzählweise mag, kommt jedenfalls voll auf seine Kosten.

Fazit: mäßig

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Genre: Kurzprosa
Illustrated by Fischer Taschenbuch Frankfurt am Main

Vor dem Gesetz

Im Mittelpunkt dieser kleinen Kunstsammlung steht Franz Kafkas Parabel \”Vor dem Gesetz\”, die seinem Roman \”Der Process\” entstammt. Wie so oft bei Werken dieses Autors lässt der Text den Leser zunächst einigermaßen ratlos zurück, denn er bekommt keine einfachen Lösungen geboten, sondern muss schon selbst das Gehirn einschalten und dann lohnt sich das auch.

Passend zum Thema findet man 21 kritische Karikaturen des französischen Illustrators Honoré Daumier, allesamt gelungen, wenn auch wenig schmeichelhaft für die Jurisprudenz.

Der Herausgeber Rupi Frieling höchstselbst hat ebenfalls eine Geschichte beigesteuert; \”Die Sprengung\”, ein reichlich kafkaesker Text, der somit natürlich perfekt in den Rahmen passt.

Abgerundet wird diese anspruchsvoll gelungene Zusammenstellung von Kleinodien durch interessante Kurzbiografien der Beteiligten; es bleiben also keine Wünsche offen.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Träume gehen nie in Rente

Aufgrund seiner liebevollen gestalteten Aufmachung springt dieses im Espresso-Table-Format produzierte Büchlein dem Leser sofort ins Auge. Dazu tragen vor allem die farbenfohen Collagen der DaDa-Künstlerin Ursula Bachmann bei, die der Publikation ein unverwechselbares Gesicht geben und sie zum Augenschmaus machen. Sie umspielen die Kurzprosa von KarlHeinz Karius, der sich mal als Aphoristiker, mal als Verseschmied präsentiert

Auf einem dem Buch beigefügten – ebenfalls grafisch perfekt gestalteten – Lesezeichen erfährt der geneigte Leser mehr über das vom Autoren ersonnene »Karius-Rating«. Damit sollen die einzelnen Aussagen des Buches hinsichtlich ihres Nutzens bewertet werden. Lege ich diese Latte an, dann bewegt sich der Band insgesamt zwischen »3 K« = »Olala! Schaun wir mal, dann sehn wir schon: prüfenswert!« und »Mega K« = »Hallelujah! PremiumErkenntnis! Kaum zu toppen!«


Genre: Kurzprosa
Illustrated by WortHupferl Leonberg

Best of E-Books Vol. 1

Der Siegeszug der Elektrobücher bringt nach und nach eine Demokratisierung des Literaturbetriebs mit sich, auch wenn manche Kulturbeamten hierzulande in Feuilletons oder Verlagen das nicht begreifen (wollen). Jeder, der sich dazu aufgerufen fühlt, kann nun seine Werke der bestimmt schon gespannt darauf wartenden Leserschaft präsentieren und zwar ohne Risiko, denn außer Hirnschmalz beim Schreiben muss nichts aufgewendet oder eingesetzt werden. Die Kehrseite der Medaille: Nicht alle, die auf den Markt drängen sind bisher unentdeckt gebliebene Literaturnobelpreisanwärter; ein großer Teil der selbst verlegten Bücher ist schlichtweg Schrott, nicht allein wegen fragwürdiger literarischer Qualität; vielen “Autoren” fehlt es einfach schon am Handwerkszeug (Orthografie, Grammatik etc.)

Was also soll der potenzielle Leser tun, der dem schier unübersehbaren Angebot zwar aufgeschlossen gegenüber steht, aber weder Zeit noch Geld verschwenden will um unter tausend Glasperlen den einen Diamanten zu entdecken? Dieses Buch liefert wertvolle Hilfe, da es auf ca. 350 Buchseiten 23 deutsche Autoren mit von ihnen selbst ausgewählten Texten (länger und individueller als die Amazon-Leseproben) vorstellt und dem Leser damit Gelegenheit gibt, sich zu einem Spottpreis selbst ein Bild zu machen über die diversen Inhalte und Schreibstile der Gladiatoren.

Etliche der hier versammelten Schriftsteller gehören zu den Stars der deutschen Indie-Szene und sind/waren in den Kindle-Bestsellerlisten vertreten; ebenso findet man die verschiedensten Genres einträchtig aneinander gereiht. Ich hatte jedenfalls viel Freude mit der Auswahl der Texte und holte mir direkt im Anschluss an die jeweilige Leseprobe einige komplette Bücher auf meinen Kindle runter.

Herausgeber Wilhelm Ruprecht Frieling (der in dieser Sammlung natürlich ebenfalls nicht fehlt) ist selbst ein Veteran der Verlagsszene und stets in der ersten Reihe zu finden, wenn sich neue Möglichkeiten im Literaturbetrieb auftun. Schon früh erkannte er auch das Potenzial der Kindle-Revolution und ist seit Beginn als Pionier aktiv mit dabei. Mit dieser großartigen Idee (die hoffentlich bald fortgeführt wird) ist er nicht mehr nur der “E-Book-Pate” (Die Zeit), sondern vielmehr der “E-Book-Papst” (Spieler7).


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Internet-Buchverlag Berlin

Ich bin ein Geschichtenzerstörer

Eins ist klar: Thomas Bernhard ist alles andere als ein Geschichtenzerstörer, mag er sich selbst auch mal in einem seiner gern provozierenden Interviews als ein solcher bezeichnet haben. Der schreibende Sonderling aus Oberösterreich ist vielmehr einer der größten Erzähler, die der deutsche Sprachraum aufzuweisen hat, und das beweist der vorliegende kleine Auswahlband mit dem provozierenden Titel anschaulich.

Bernhard hasste die idyllische Prosa, er schauderte vor belanglosen Erzählungen und wollte, »wenn ich nur in der Ferne irgendwo hinter einem Prosahügel die Andeutung einer Geschichte auftauchen sehe«, diese gleich »abschießen«. Dabei erzählte er selbst gern in dem ihm eigenen giftig-monologisierenden, mit atemlosen Bandwurmsätzen gefüllten Stil Geschichten, die er geschickt in seine Romane einbaute. Einige dieser Geschichten wurden für diesen Band aus ihrem bisherigen Umfeld ausgelöst, sie wurden quasi entbeint und funkeln nun wie Edelsteine im literarischen Raum.

Bernhards Geschichten verstören den Leser, wenn er mit ihm auf Pfaden der Kindheit zur Forchlermühle wandert, wo die Müllersöhne einem halben Hundert exotischer Singvögel, die zuvor Jahrzehnte lang in einer weitläufigen Voliere gehegt und gepflegt wurden, den Hals umgedreht haben, um sie auszustopfen und dann in das Zimmer ihres einstigen Herrn auszustellen. Das Geschrei der Exoten sei ihnen nach dem Tod des Onkels, der die Tiere betreut habe, auf die Nerven gegangen, wird dem Besucher beschieden, jetzt kehre wieder Ruhe ein in das Tal am Ende der düsteren Schlucht. Dem macht es der Geruch der Vogelleichen unmöglich, länger zu bleiben, er geht hinaus.

Großartig ist Bernhards Beschreibung einer Autofahrt, um ein Exemplar der Neuen Zürcher Zeitung mit einem ihn interessierenden Aufsatz zu erwerben. Rund 350 Kilometer fährt er mit zwei Freunden zuerst in die »sogenannte weltberühmte Festspielstadt« Salzburg, wo sie die Zeitung jedoch nicht bekommen, dann in den »weltberühmten Kurort Bad Reichenhall« sowie weitere kulturell hoch notierte Orte, um feststellen zu müssen, dass es dieses von ihm hochgeschätzte Blatt nirgendwo gibt. In einer meisterhaften Suada entzündet sich aufgrund der Nichterhältlichkeit der Zeitung sein Zorn gegen Österreich, »dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig geradezu abstoßend größenwahnsinnige Land«. Er wolle sich nur noch dort aufhalten, wo er wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekomme, tobt der Dichter, und dann bleibe in Österreich in Wirklichkeit nur Wien, denn in allen anderen Städten die vorgeben, das Blatt zu haben, bekomme man sie gerade dann nicht, wenn man sie unbedingt brauche.

Ein erzählerisches Kabinettstückchen liefert der Gmundener Autor, wenn er »Im Aufmachen der Kommode« eine gelbe Papierrose entdeckt und schwallartig erzählt, wie er mit einem Studienfreund ein Musikfest in Altensam besucht habe, wo sie sich »durch rasches Austrinken mehrerer Gläser Bier und Schnaps gleich in die für ein solches Musikfest notwendige gehobene Stimmung gebracht« hätten, dann jedoch von diversen bekannten Gesichtern endlos ausgefragt wurden, warum sie nicht in ihrem Heimatort geblieben, ja, ob sie überhaupt noch Österreicher seien, um sich dann schließlich, als sie es nicht mehr aushielten, einen Weg durch hunderte betrunkene Leute zu einem Schießstand zu bahnen, an dem der Freund, der doch ebenso wie Bernhard den Schießsport ebenso wie die Jagd verachtete, im Grund sogar hasste, eine Reihe Papierrosen abschoss, worauf er von den Umstehenden als der beste Papierrosenschütze, den sie jemals auf einem Musikfest getroffen hätten, bezeichnet wird.

Wer sich dem Bernhardschen Duktus vorsichtig annähern möchte und keine Angst vor meisterhaft gemachten, oft seitenlangen Satzungetümen hat, der wird mit dieser klitzekleinen Auswahl bestens bedient.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main