Abschalten

Können Menschen, die sich für unverzichtbar halten, abschalten? Müssen sie Gefahr laufen, dass ihre Unentbehrlichkeit hinterfragt wird, wenn sie ein paar Wochen ausnahmsweise nicht ihren Arbeitsplatz verteidigen? Verlieren Sie an Ansehen, falls sie den Stress unterbrechen wollen? Dürfen sie überhaupt abschalten?

Martin Suter beantwortet diese Fragen mit Porträtminiaturen aus dem Management hierarchischer Unternehmen. Es geht um Manager, denen das Undenkbare widerfährt: Sie sollen Ferien machen!

Ein Entscheidungsträger, der sich wichtig nimmt, so lesen sich zumindest Suters Geschichten, setzt alles daran, seinen Urlaub zu verhindern. Er erfindet notfalls Projekte, um seiner Familie zu suggerieren, dass sie leider ohne ihn in Urlaub fahren müsse. Falls es dennoch gemeinsam auf Reisen geht, terrorisiert er seine Umwelt mit dem zwanghaften Versuch, die Freizeit zu managen. Denn das ist das Schlimmste: zur Untätigkeit gezwungen zu sein.

Dabei hält er ständig Kontakt mit seinem „Back Office“. Es könnte schließlich sein, dass der Betrieb untergeht, während er fort ist. Oder, noch krasser: Die Firma will nicht untergehen, obwohl er durch Abwesenheit glänzt. Am allerschlimmsten aber wäre, laut Suter, das Unternehmen wächst und gedeiht, gerade weil der angeblich Unentbehrliche nicht vor Ort wirbelt.

Mit seinen Geschichten beweist Suter, dass er sich in oberen Managementetagen auskennt. Seine Miniaturen lesen sich vergnüglich, wenngleich ihnen kräftigerer Biss gut bekommen würde. Der Autor erweist sich als ausgezeichneter Beobachter. Er kennt die sich häufig nur um sich selbst drehende Welt der Manager; er beherrscht ihren inhaltsleeren Jargon.

„Abschalten“ ist ein hübsches Geschenk für Zeitgenossen, die an der „Managerkrankheit“ zehren. Sie werden sich in manchen Storys wiedererkennen und darüber schmunzeln. Viel mehr allerdings auch nicht. Zudem sind die meisten der Texte bereits in anderen Suter-Büchern veröffentlicht: Lediglich 13 von den insgesamt 58 Kurztexten, also weniger als ein Viertel, wurden bislang noch nicht bei Diogenes veröffentlicht.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Diogenes Zürich

Divina commedia

Ein mächtiges Maß legt Autor Norman Nekro an, wenn er mit den drei in diesem Buch versammelten Episoden um Tod und Wiedergeburt direkt auf Dantes “Göttliche Komödie” und damit eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur Bezug nimmt.

Wie bei Dantes “Divina Commedia” macht der Leser auch bei Nekro eine Reise durch drei Reiche der jenseitigen Welt. Er führt ihn durch die Hölle, in der die Sünder in ewiger Verdammnis büßen, durch das reinigende Fegefeuer bis zum Paradies.

Schrieb Dante seine Erzählung in symbolisch arrangierten, gereimten Elfsilblern, die bei der abstoßenden Beschreibung der Hölle beginnt und bei den Freuden des Paradieses endet, so bedient sich Nekro der Prosa.

Der Autor beginnt mit der rabenschwarzen Betrachtung eines Unfallopfers, in dessen Eingeweide sich soeben das Blech einer herrlich metallic-orangefarbenen Motorhaube gefressen hat.

Er schildert einen Heiligabend auf der Intensivstation, wo ein zwölfjähriger Junge, den ein Gewirr von Schläuchen, Kanülen und Kabeln ans Bett fesselt, in andere Sphären gleitet.

Den poetischen Höhenflug aber liefert Nekros Beschreibung des Tanzes eines Pfauenauges zur Sonne. Er beschwört Himmel und Erde ebenso wie die glühende Farbenpracht des nahen Waldes oder das archaische Rot der reifen Äpfel. Die ganze Welt besteht für den Falter nur noch aus reiner Seligkeit, er erlebt seinen irdischen Garten Eden. Ermattet und glanzlos sinkt er schließlich zu Boden, stumpf, grau und leblos ähnelt er dem verwelkten Blatt, das der kräftig auffrischende Wind gerade vorbeiweht. Mit einem Seufzer schließt der Schmetterling die Augen und dämmert hinüber in die Unendlichkeit des himmlischen Paradieses.

Allein für diese letzte Geschichte lohnt sich der Erwerb des Buches.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Kindle Edition

Von Küchenpunk und Oberelend

Egidius Rosenzweig hatte in seinen knapp sechzig Jahren schon so einiges gesehen, doch dieses halbnackte Wesen mit den spitzen Ohren und den dünnen Beinchen unter dem runden Bauch, das auf seinem Bett saß, war ihm bisher noch nie begegnet. Mit dieser Szene beginnt Andreas Dresen seine Kurzgeschichte „Herr Rosenzweig trinkt Tee“.

Verzweifelte Vampire gehören zum Alltag des freundlichen älteren Herrn, aber auch Hexen und Kobolde sind keine Seltenheit. An einem ruhigen verregneten Nachmittag war sogar einmal ein Einhorn vorbeigekommen und hatte seinen Rat gesucht. Nun soll Rosenzweig einem Ocko auf der Flucht helfen, und schon dringen brutale Häscher in seinen Laden, die ausssehen wie eine Kreuzung aus Schäferhund und verfaulten Lederlappen …

In Dresens zweiter Geschichte beäugen zwei Küchenkobolde einen jungen Mann, der seine Wochenenden mit immer neuem Damenbesuch versüßt. Diese One-Night-Stands werden allerdings ausschließlich zur Nachtschicht ohne Frühstück gebeten. Doch eine Besucherin ist hartnäckiger als ihre Vorgängerinnen und lässt sich nicht so leicht abwimmeln. Das ist der Punkt für die Heinzelpunks, einzuschreiten …

Auf den ersten Blick haben die beiden lustigen und angenehm lesbaren Kurzgeschichten lediglich den Auftritt außergewöhnlicher Wesen miteinander gemein. Auch der Titel der Sammlung erschließt den literarischen Kern nur bedingt. Denn unter „Küchenpunk“ und „Oberelend“ hatte ich mir schon etwas ganz anderes vorgestellt. Die Geschichten sind auf der anderen Seite aber wieder so launig und amüsant, dass dies dem Lesevegnügen keinen Abbruch tut.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by epospresse

Der Stimmenimitator

Ursprünglich nannte Thomas Bernhard seine Sammlung kurzer Prosatexte, die heute den Titel »Der Stimmenimitator« trägt, »Wahrscheinliches – Unwahrscheinliches«. Der Originaltitel beschreibt ziemlich genau das, was das Wesen der Veröffentlichung kennzeichnet: Es handelt sich um rund einhundert Texte im Stil lokaler Pressenachrichten, die ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich klingen.

Sachlich wird berichtet von denkbaren und undenkbaren, von möglichen und unmöglichen Ereignissen, die der Autor blitzlichtartig aufnimmt und wiedergibt. Fast immer münden die Kurzberichte im Unglück, und die Trennwand zwischen Komödie und Tragödie ist hauchdünn.

Bernhards Hauptfiguren sind Höhlenforscher, Professoren, Bürgermeister, Feuerwehrleute, Dompteure, Schauspieler, Wahrsager, Postboten, Chorknaben, Bankangestellte und Präsidenten. Es sind recht unterschiedliche Gestalten. Manche Berichte lesen sich wie Anekdoten, manche werden zur Parabel für die Zeit, in der wir leben. Immer aber scheinen die Ereignisse eindringlich und unausweichlich auf ein Ende zuzustreben, das zufällige Unglück wird notwendig, der Tod unumgänglich.

Ein Schauspieler verkörpert die Rolle des bösen Zauberers in einem Kinderstück so überzeugend, dass die kleinen Zuschauer die Bühne stürmen und ihn zu Tode trampeln. Zwei Herren füttern im Tierpark Schönbrunn die Affen, bis die Tiere die Futterreste sammeln und es den Zoobesuchern durch das Gitter hinaus reichen, die darauf entsetzt dem Tiergarten entfliehen. Höhlenforscher kehren aus einer unerschlossenen Höhle nicht zurück, Rettungsmannschaften werden ausgeschickt, bleiben aber ebenfalls verschollen, worauf die Behörde den Höhleneingang zumauern lässt.

Ein Denker tauscht mit dem Wirt eines vorzüglichen Gasthauses die Rollen, worauf naturgemäß weder Wirt noch Denker in ihren neuen Rollen funktionieren. Die Bürgermeister von Pisa und Venedig landen in ihren jeweiligen städtischen Irrenhäusern, weil sie, um die Touristen vor den Kopf zu stoßen, heimlich den schiefen Turm von Pisa mit dem Campanile von Venedig tauschen wollen.

Zum engen Wechselspiel von Tragödie und Komödie sagt Bernhard selbst: »Man kann in Verzweiflung, sage ich, gleich, wo man ist, gleich, wo man sich aufhalten muss in dieser Welt, von einem Augenblick auf den anderen aus der Tragödie (in der man ist) in das Lustspiel eintreten (in dem man ist), umgekehrt jederzeit aus dem Lustspiel (in dem man ist) in die Tragödie (in der man ist).«

Die feine Textsammlung eignet sich vorzüglich, um in die Gedankenwelt Bernhards einzusteigen.


Genre: Kurzprosa
Illustrated by Suhrkamp Frankfurt am Main